Das Geheimnis von Karlsruhe - Bernd Hettlage - E-Book

Das Geheimnis von Karlsruhe E-Book

Bernd Hettlage

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Beschreibung

Auf einem nächtlichen Stadtrundgang auf den Spuren von Verschwörungstheorien begegnet Lukas Arnold, Nachkomme Friedrich Weinbrenners, einem Sonderling, der sich mit den Geheimnissen Karlsruhes beschäftigt. Er berichtet von chinesischen Drachenpfaden, ägyptischen Königsstädten und keltischen Kultplätzen, die in den Grundriss der Stadt eingewoben sind. Arnold, der im Nachlass seiner Großmutter verschlüsselte Aufzeichnungen gefunden hat, zeigt dem Hobbyforscher einen Tagebuchauszug eines Vorfahren, der während der Stadtgründung Assistent des geheimnisvollen Kammerprokurators von Richtenfels war. Händler ist elektrisiert. Kurz darauf stirbt er unter mysteriösen Umständen. Gerade noch hatte er Arnold eine uralte Metallplatte geschickt, in die der Grundriss Karlsruhes graviert war - Jahrhunderte bevor die Stadt gebaut wurde. Arnold zeigt das Relikt einem Experten des Landesmuseums. Während neue Tagebuchfragmente und eine geheimnisvolle Frau auftauchen, dringt Arnold immer tiefer in die Phänomene der Stadt ein. Bei einer erneuten Verabredung im Museum findet er den Wissenschaftler erschlagen vor. Die Platte ist verschwunden. Arnold gerät unter Mordverdacht und muss fliehen. Noch ahnt er nicht, mit welchen Mächten er sich angelegt hat. Was hat es mit den mystischen Symbolen im Grundriss Karlsruhes auf sich? Warum ist das Wahrzeichen der Stadt eine Pyramide? Haben dunkle Mächte im Zeichen des Pentagramms seit der Stadtgründung die Hände im Spiel? Und was hat der Rücktritt des Papstes 2013 mit all dem zu tun?

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Bernd Hettlage

Das Geheimnis von Karlsruhe

Thriller

für Claudia, Feline und Anouk

Prolog

Dienstag, 21. Dezember 2021

Der letzte Gedanke von Holger Lenz galt den Glühweintrinkern. Genauer gesagt, den „Scheiß-Glühweintrinkern“. Weiter kam er nicht, denn in diesem Moment hob ein dumpfes, durchdringendes Grollen an und der gepflasterte Boden unter seiner Hütte begann zu vibrieren. Dann tat sich die Erde auf und Lenz verschwand mitsamt seinem Verkaufsstand in der Tiefe.

Mehr als dreißig Jahre lang hatte er seinen Kerzenstand auf dem Karlsruher Christkindlesmarkt betrieben. Sein Platz lag direkt gegenüber der Pyramide, dem Wahrzeichen der Stadt. Ein paar Meter links davon befand sich ein Pfälzer Glühweinstand.

Wenn es abends dort voll wurde, stellten sich die Leute nicht etwa ins Dunkle in den freien Raum vor der Pyramide. Nein, sie kamen in Scharen zu ihm herüber, offensichtlich magisch angezogen vom heimeligen Schein seiner Hütte. Seine Ware interessierte sie allerdings nicht. Im Gegenteil, sie drehten ihm den Rücken zu, sodass er auf eine Phalanx bunter Outdoorjacken und Kunstfellkragen schaute. Offensichtlich zog sie nur das Licht seiner Bude an. Archaische, unterbewusste Reize waren das, da war er sich sicher. Der Höhlenmensch, der sich nur im Licht des Feuers sicher fühlt.

Potentielle Kunden konnten spätestens ab 20 Uhr nicht mehr an den Stand, weil die Glühweintrinker ihn komplett versperrten, ohne auch nur irgendetwas davon zu bemerken. Stattdessen wurden sie, je nach Alkoholpegel, sogar richtig angriffslustig, wenn Lenz sie darauf ansprach und freundlich zum Beiseitetreten aufforderte. Gerne schwenkten sie dabei ihre mehr oder minder vollen Becher. Ein kleiner Schubs im Gedränge und die rote Mixtur spritzte über die Ware. Die Sachen konnte man dann wegschmeißen, das klebrige Zeugs bekam man nie wieder weg.

Ab 20 Uhr hätte Lenz seinen Laden also eigentlich zusperren können. Er musste jedoch, wie alle Betreiber auf dem Markt, seine Bude bis 22.30 Uhr offenhalten, als stimmungsvolle Kulisse für die Sauf- und Fressbuden, vor denen ein Lärmpegel herrschte wie weiland direkt neben einer Baustelle der U-Strab.

Ja, tatsächlich: Dieses Jahr war der Weihnachtsmarkt endlich auf den Marktplatz zurückgekehrt, nachdem die sogenannte U-Strab, die Karlsruher Untergrundbahn, endlich fertig geworden war. Zwei Jahre später als geplant und um mehr als zweihundert Prozent teurer. Was nichts gegen Stuttgart war, wie Oberbürgermeister Detlev Hoffmann nicht müde wurde zu betonen. Dort lagen die Bauarbeiten seit mehr als zwei Jahren still, nachdem die Innenstadt wegen der unterirdischen Tunnelarbeiten weiträumig einzubrechen drohte. Die Kosten waren inzwischen auf dreißig Milliarden Euro angestiegen und noch war kein Ende abzusehen, weder beim Preis noch bei der Bauzeit. Längst sprachen alle nur noch von „Stuttgate“ als Synonym für das größte anzunehmende Desaster.

Bundeskanzlerin Ursula von der Leyen kündigte einen „Notcent Bahn“ an, während Europaminister Manuel Sarrazin vom grünen Koalitionspartner auf die vehemente Ablehnung der fünf Mitglieder der Europäischen Zentralunion für eine solche Subvention verwies.

Es hatte einigen Widerstand gegen die Rückkehr des Christkindlesmarktes auf den Marktplatz gegeben, wie auch bei seinem baustellenbedingten Umzug auf den Friedrichsplatz acht Jahre zuvor. Doch der Friedrichsplatz hatte sich als Oase erwiesen, der Markt dort war viel „romantischer“, wie die Leute sagten, und der befürchtete Umsatzrückgang ausgeblieben.

Alle hatten den neuen Standort lieb gewonnen, Besucher wie Betreiber. Der Friedrichsplatz war während der Bauzeit der U-Strab zum Zentrum der Innenstadt geworden. Das und die vielen Veranstaltungen waren dem Rasen, den Bäumen und den Blumenrabatten allerdings nicht so gut bekommen, sodass die Naturschützer und die Grünen, der Koalitionspartner Hoffmanns, auf der Rückkehr des Weihnachtsmarktes auf den Marktplatz bestanden hatten. Der Aufschrei in den Medien war groß und die Kommentare im Internet überschlugen sich, was die Verwaltung aber nicht daran gehindert hatte, die Rückkehr durchzusetzen. Jetzt stand Lenz also wieder gegenüber der Glühweinbude, die während der Jahre am Friedrichsplatz an den Rand des Geschehens verbannt gewesen war.

Unter dem Kopfsteinpflaster des Marktplatzes, genauer gesagt, direkt unter der Pyramide, hatte schon den ganzen Tag lang beträchtliche Geschäftigkeit geherrscht. Auf dem Markt und in der ganzen Stadt bekam davon niemand etwas mit. Auch die leisen Klickgeräusche, die dieses Rumoren unablässig begleiteten, drangen nicht nach oben.

Holger Lenz war völlig ahnungslos, als sich um 20.32 Uhr die Erde unter ihm auftat. Er verschwand mit seinem Kerzenstand einfach im Untergrund. Mit ihm wurden auch der Glühweinstand mit all seinen Trinkern, zahlreiche andere Stände, die neue U-Bahn-Haltestelle Marktplatz und nicht zuletzt die altehrwürdige Pyramide in die Tiefe gerissen.

Varanasi

Donnerstag, 28. Februar 2013

Aus der Times of India: „Papst Innozenz XVII. ist heute zurückgetreten. Vor nicht einmal drei Wochen hatte er völlig überraschend bekanntgegeben, dass er sein Amt niederlegen wolle. Er sei zur Gewissheit gelangt, so der heilige Vater der Katholiken im Wortlaut, dass seine Kräfte infolge des vorgerückten Alters nicht mehr geeignet seien, um in angemessener Weise den Petrusdienst auszuüben. Er wird nach Angaben eines Vatikan-Sprechers in zwei Monaten in das Klausurkloster Mater Ecclesiae ziehen, das sich innerhalb des Vatikans befindet. Innozenz XVII. war der erste deutsche Papst seit 500 Jahren. Es ist das erste Mal seit dem Jahr 1294, dass ein Papst freiwillig von seinem Amt zurücktritt.“

Lukas Arnold senkte die Zeitung. Der Times of India war die Nachricht gerade einmal sechs Zeilen wert gewesen. Eine kurze Meldung auf der Seite „Global“, eingebettet zwischen einem längeren Text über David Beckhams neue Karrierestation Paris und einem Aufmacherbild über das wieder einmal angeblich nahe Beziehungsende von „Brangelina“, wie Angelina Jolie und Brad Pitt vom Boulevard genannt wurden.

Warum der Papst wirklich zurückgetreten war, konnte Arnold sich denken. Aber darüber stand natürlich nichts in diesem kurzen Bericht. Auch in deutschen und italienischen Publikationen, die sicherlich sehr viel ausführlicher darüber berichtet hatten, würde nichts über die wahren Gründe des Rücktritts zu finden sein. Die Kirche würde schon dafür sorgen, dass nichts davon an die Öffentlichkeit drang. Er, Lukas Arnold, war einer der wenigen Menschen außerhalb der katholischen Kirche, die darüber Bescheid wussten.

Unter anderem deshalb war er ja jetzt auch hier.

Arnold leerte den kleinen Wegwerfbecher aus Ton mit dem inzwischen kalten Rest Chai und warf ihn nach einem kurzen Zögern auf die Stufen vor sich. Alle machten das so. Abends, wenn der Chai-Shop schloss, fegte ein Angestellter die Reste zusammen und entsorgte sie. Dennoch widerstrebte es Arnold, jahrzehntelang mit deutscher Mülltrennung sozialisiert, seine Tasse einfach auf den Boden zu werfen. Vorsichtig spuckte er ein paar Gewürzreste hinterher, die sich auf dem Grund der Tasse befunden hatten und mit dem letzten Schluck in seinem Mund gelandet waren.

Auch das widerstrebte ihm eigentlich – etwas auf die Stufen zu spucken –, aber gleichzeitig fühlte er eine große Gleichgültigkeit darüber. Es war so egal ...

Seit vier Monaten war er jetzt in Varanasi. Noch immer wachte er morgens mit einem Gefühl von Fremdheit auf. Im ersten Moment glaubte er regelmäßig, in seinem alten Bett in Berlin oder auch im Haus seiner Großmutter in Karlsruhe zu liegen. Stattdessen blickte er auf eine weiße, grob gekalkte Wand. Statt Kirchenläuten und Verkehrslärm hörte er die Glocken aus dem Shiva-Tempel nebenan und statt nach Pizza aus dem Imbiss unten in seinem Berliner Wohnhaus roch es nach fauligem Gemüse aus dem Rinnstein, nach dem Kerosin, mit dem die Kocher betrieben wurden, und nach heißer Milch, mit der der Chai, der indische Tee, aufgekocht wurde.

Er hatte sich ein paar Gewohnheiten zugelegt. Abends zum Beispiel ging er regelmäßig ans Ghat, wie die Treppen hinunter zum Ganges hießen, holte sich einen Chai und sah sich den Sonnenuntergang an. Mit dem heißen Getränk ließ er sich auf den Stufen nieder und blinzelte auf das Wasser.

Nach alldem, was geschehen war, hatte er sich einen gewissen Fatalismus zugelegt, wie ihn auch die Hindus gegenüber dem Leben zeigten: Es war nun einmal, wie es war. Ein jeder hatte seinen Platz auf dieser Erde zugewiesen bekommen und seiner befand sich jetzt eben in Varanasi. Dass der Rücktritt des Papstes letztlich damit zusammenhing, war eine andere Geschichte, die ihm sowieso niemand glauben würde. Was auch wieder egal war.

Rom und Varanasi waren beides heilige Städte. Was Rom für die katholische Christenheit war, bedeutete Varanasi für die Hindus. Die Stadt galt als eine der ältesten der Menschheit. Es gab unzählige Tempel und reich geschmückte alte Maharadscha-Paläste. Und wie in Rom wurden seltsame religiöse Kulte praktiziert: Jeden Tag kamen zehntausende indische Touristen hierher, ließen sich den Kopf kahl scheren und nahmen anschließend ein rituelles Bad im heiligen Fluss Ganges, das damit endete, dass sie ein paar Schlucke aus dieser Kloake tranken, die im Himalaja entsprang und auf ihrem Weg über Kalkutta bis zum Meer so viel Abwässer und Chemie in sich aufnahm, dass sie bis Varanasi mindestens zweimal umgekippt war. Das störte aber kaum jemanden, denn der Fluss war doch heilig. Und wie kann heiliges Wasser jemandem etwas anhaben?

Viele der Alten, die als Pilger die Stadt erreichten, blieben deshalb gleich hier und bevölkerten fortan als Bettler die Stufen hinunter zum Wasser. Denn wer in Varanasi starb, am Ufer des Ganges verbrannt wurde und wessen Asche dann im Fluss zerstreut wurde, der erfuhr Moksha, die Erlösung: Er konnte das leidvolle Rad des Lebens und der Wiedergeburten sofort verlassen. Da machte es natürlich auch nichts, wenn man an dem Wasser starb, das man aus dem Ganges getrunken hatte.

Die Treppen hinunter zum Fluss glichen einer Theaterbühne, gegeben wurde ein Stück aus der Gegenwart mit mittelalterlicher Kulisse. Zur Bühnenausstattung gehörten die Zinnen der Paläste, die bunten Tücher der Pilger, die Rezitationen der Brahmanen, das Glockengeläut der Tempel, die ausgestreckten Arme der Sadhus – der Bettelmönche – und die zeternden Litaneien der zahnlosen Alten, die auf den Tod warteten. Kein modernes Geräusch, schon gar kein Autolärm drang bis hierher. Automobile passten nicht in die engen, jahrhundertealten Gassen der Altstadt, die dem Ufer vorgelagert war.

Das Stück, das hier jeden Tag aufgeführt wurde, handelte von Geld und Moral, von Täuschung und Neid und von Naivität und Betrug, wie man es überall auf der Welt erleben konnte. Nur war hier alles ungleich pittoresker und auch etwas grausamer.

Wie in allen heiligen Orten der Religionen, sei es Rom, sei es Mekka, sei es Jerusalem, Salt Lake City oder eben Varanasi, ließ sich viel Geld hier verdienen. Die örtliche Mafia beherrschte zusammen mit den Politikern die Geschäfte. Oder andersherum: Die Politiker waren zugleich auch alle Mafiosi. Beiden kam man besser nicht in die Quere, dann konnte man ein angenehmes Leben in dieser Stadt führen. So viel wusste Arnold bereits. Schon für 40 000 Rupien, umgerechnet etwa 500 Euro, so hieß es, finde man hier einen Auftragsmörder.

Auf der anderen Seite des Ganges versank die Sonne rasch hinter dem Horizont. Wie immer hatte sich auf den Stufen des Assi Ghats ein guter Teil der bunten Ausländergemeinde des Viertels, die hier die milden Wintermonate verbrachte, zum Sonnenuntergang versammelt. Nicht wenige der Frauen und Männer aus Deutschland, Italien, den USA oder Israel kamen wie indische Sadhus daher, mit Dreadlocks, Baumwolltüchern um die Hüften und einer Lota, einem verschließbaren, metallenen Essensgefäß mit Henkel in der Hand, in dem sie Wasser oder Milch transportierten. So ausgestattet wurden sie von indischen Touristen in westlicher Straßenkleidung und mit Mobiltelefonen in der Hand begafft.

Die Sadhus selbst, von denen einige wiederum nur Bettler waren, andere aber Gurus mit weltweiter Anhängerschaft, trugen zwar noch ihre Lota und ihre Shiva-Dreizacke wie eine Reminiszenz an alte Zeiten, spielten ansonsten aber am liebsten an ihren Smartphones herum, mithilfe derer sie ihre Facebookseiten pflegten.

Einige der Westler unterhielten sich miteinander, andere betrachteten schweigend den träge dahinziehenden Fluss und das Abendrot. Joints gingen herum, weiter unten in einer geschützten Mauerecke sogar Shillums. Leises Gelächter drang herauf.

Arnold blieb meistens für sich. Er kiffte nie mit, weil er Angst hatte, sich unter Drogeneinfluss oder allzu viel menschlicher Nähe zu verplappern. Das konnte er sich nicht leisten. Seine Geschichte würde ihm zwar sowieso niemand glauben, aber wer weiß, welche Kreise sie ziehen würde. Die Welt war manchmal auch nur ein Dorf. Trotzdem glaubte er sich hier zunächst einmal in Sicherheit. So schnell würden sie ihn hier schon nicht finden. Wenn sie ihn überhaupt noch suchten.

Na ja, da brauchte er sich wohl keine Illusionen zu machen.

Andererseits: Wenn ihm sowieso keiner glauben würde und er die Geschichte besser auch gar nicht erst erzählen sollte, weil er sonst am Ende nur in der Psychiatrie landen würde – was wollten sie denn dann noch von ihm?

Er schnaubte leicht und verzog den Mund zu einer Art Lächeln. Wie oft hatte er diese Gedanken schon durchgekaut? Natürlich würden sie nach ihm suchen. Sie überließen nie etwas dem Zufall. Und sie hatten Zeit. Sehr viel Zeit.

Ach ja, die Zeit ...

Auch so eine Fiktion der Menschen.

Arnold holte sich einen neuen Chai und gab dem Betreiber der mobilen Teeküche zwei Rupien in die Hand.

Die „Küche“ bestand nur aus ein paar Brettern, die auf Holzkisten gelegt wurden, und einem Kerosinkocher. Sie wurde allabendlich wieder abgebaut und alle dazugehörigen Utensilien wurden einer hölzernen Truhe verschlossen, die an ihrem Platz unterhalb des Shiva-Tempels und der Pizzeria stehen blieb. Trotzdem war dieser Laden mit Sicherheit eine Goldgrube. Der Eigentümer, ein beleibter Mann um die fünfzig mit dem obligatorischen Schnurrbart, beschäftigte drei Angestellte, zwei Jungs und einen alten Mann.

Arnold musste den Tonbecher am Rand anfassen, so heiß war der gewürzte Milchtee. Er nickte auf dem Rückweg zu seinem Platz Rudi zu, der sich ein Stück weiter oben mit zwei Einheimischen unterhielt. Der Schweizer Indologe war eine seiner wenigen näheren Bekanntschaften hier. Dann setzte er sich wieder auf die schmutzigen Stufen und stellte vorsichtig den Becher neben sich ab.

Sein Blick fiel auf die zusammengefaltete Zeitung zu seinen Füßen. Es war seltsam, dachte er zum wiederholten Mal, an einer Affäre beteiligt gewesen zu sein, welche die Welt, zumindest die westliche, sicher ein paar Wochen lang bewegt hätte – wenn sie denn davon erfahren hätte. Die Zutaten waren schließlich genau die richtigen dafür: ein paar Tote, ein uralter Pakt und sehr, sehr viel Mammon.

Ausgerechnet Karlsruhe. Arnold saß in Varanasi am Ganges und schüttelte beim Gedanken daran immer noch den Kopf. Seine Heimatstadt, die als eine der langweiligsten Städte Deutschlands galt, spielte eine Hauptrolle in diesem Stück. Das geheimnisvolle Karlsruhe. Es kam ihm immer noch absurd vor. Es war so absurd, dass es schon wieder zum Lachen war.

Na ja, nicht ganz.

Kurz vor seiner überstürzten Flucht aus Deutschland hatte er sich in Frankfurt noch einen Pass mit falschem Namen besorgt. Das war überhaupt nicht schwer gewesen und hatte nur eine Nacht gedauert. Unter dem Namen Markus Heinze arbeitete er nun als Fremdenführer für eine Münchner Firma, die Bildungsreisen veranstaltete. Er erklärte den Touristen die Tempel Varanasis, die Altstadt und die religiösen Rituale am Ganges. Eine leichte Arbeit, er hatte sich schnell eingelesen ins Thema und lernte zügig Hindi. Es ist eine junge Sprache und deshalb sehr logisch. Es gibt kaum Ausnahmen von der Regel, die einzige Schwierigkeit ist, dass manche Laute für Europäer nur schwer auszusprechen sind. Sich in Indien einzuleben, war ihm ebenfalls nicht schwer gefallen. Er war ja beileibe nicht zum ersten Mal hier.

Ein Fremdenführer. Das hätte er sich auch nicht träumen lassen. Mit einer Führung der etwas anderen Art durch seine Heimatstadt Karlsruhe hatte die Geschichte im letzten Herbst ganz harmlos angefangen. So schloss sich der Kreis.

Arnold lächelte still vor sich hin und nahm noch einen Schluck von der süßen, mit Ingwer und Kardamom gewürzten Brühe in seinem Becher.

Er wusste nicht, was aus seiner Wohnung und der Werkstatt in Berlin geworden war. Er hatte sich nicht getraut, dort jemanden anzurufen. Sie waren bestimmt auch dort gewesen.

Wahrscheinlich war alles längst gekündigt und aufgelöst, seine Einrichtung auf den Müll gewandert, sein Werkzeug und die antiken Möbel zum Begleichen der Kosten verkauft. In Karlsruhe erledigte eine Hausverwaltung die Geschäfte. Die kleine Wohnung im Mietshaus seiner Großmutter – er nannte es immer noch so, obwohl es jetzt schon so lange seines war – würde ihm bleiben. Doch wann er dorthin zurückkehren konnte, stand buchstäblich in den Sternen.

Er hatte nach ein paar Wochen in Varanasi eine kleine Zweizimmerwohnung in einem Mehrfamilienhaus am Assi Ghat gefunden, dem südlichsten Uferplatz der Stadt. Sehr bescheiden für westliche Verhältnisse, aber die Ausländer, die hier lebten, sagten ihm, dass er großes Glück gehabt habe. Die Miete betrug umgerechnet zweihundert Euro im Monat.

Glück hatte er auch damit, dass die Wohnung im zweiten Stock lag. Die sommerliche Regenzeit zerstörte hier nämlich vieles. Die Häuser und noch mehr die Straßen befanden sich allgemein in einem schlimmen Zustand, nicht nur wegen der grassierenden Korruption, die alle staatlichen Hilfsgelder für Denkmal- und Umweltschutz in dunklen Kanälen versickern ließ. Wenn es regnete, war alles eine einzige Schlammwüste. In den Häusern schimmelten die Wände bis zur Decke des Erdgeschosses. Bis zum zweiten Stock kam das Hochwasser jedoch nie.

Zwei Zimmer hieß hier nicht, dass es zusätzlich noch ein Bad und eine Küche gab. Dusche und Toilette befanden sich außerhalb der Wohnung einen Stock tiefer und wurden von allen Hausbewohnern gemeinsam benutzt. Seine Wäsche gab Arnold an eine Dhobi, eine Waschfrau, und bekam sie zwei Tage später gebügelt zurück.

Die Küche bestand aus einem steinernen Wandtisch mit einem Kerosinkocher und einem Regal und befand sich in dem Zimmer, den er auch als Wohnraum benutzte. Daneben lag ein winziger Schlafraum. Von den Wänden bröckelte der Kalk. Vielleicht würde er sie streichen, wenn er lange genug blieb. Auf den nackten Steinboden hatte er ein paar Sisalmatten gelegt. Vor die Fenster, die wegen der jeden Nachmittag um die gleiche Zeit durch die Altstadt marodierenden Affenbanden vergittert waren, hatte er Tücher gehängt.

Obwohl es hinter den Tüchern nichts zu verbergen gab. Frauenbesuch, der über freundschaftliches Geplauder hinausging, hatte er in diesen Räumen noch nicht gehabt.

Weiter unten am Fluss wurde jetzt das allabendliche Spektakel für die Touristen vorbereitet, ein farbenprächtiger, brahmanischer Ritus mit ohrenbetäubendem Glockengeläut und vielen Fackeln. „Sponsored by Bank of Baroda“ stand in Hindi-Lettern auf einem breiten Kunststoffbanner, das an hölzernen Stangen über der Szenerie hing. Arnold warf auch den zweiten Becher auf die Stufen vor sich, wo er zerschellte, stand auf, nickte Rudi noch einmal zu und ging zurück zu seiner Wohnung.

Es war ein kurzer Weg. Fünfzig Meter die Stufen des Assi Ghats hinauf, dann in eine schmale, gepflasterte Gasse hinein, deren rechte Wand die Mauer des Shiva-Tempels bildete, und in den dritten Hauseingang links einbiegen. Zwei halbe Treppen nach oben. Seine Sandalen hinterließen ein schürfendes Geräusch auf den Steinstufen. Aus dem Erdgeschoss, in dem die Hauseigentümer wohnten, eine vielköpfige indische Familie, begleitete ihn der Geruch von indischem Curry bis zu seiner Wohnung. Ein Kind rief etwas, die Mutter antwortete mit lauter Stimme, dann war es wieder still. Keiner der anderen Mieter schien zu Hause zu sein. Es war kühl im Flur.

Arnold schloss die Wohnungstür auf und tastete nach dem Lichtschalter. Er drückte ihn, doch der Raum blieb dunkel.

Mist, wieder ein Stromausfall, dachte er, als er aus dem Dunkel ein leises Klicken hörte, das ihm augenblicklich alle Haare zu Berge stehen ließ. Dann ertönte eine wohlbekannte, sehr angenehm temperierte Stimme: „Dachtest du wirklich, wir finden dich nicht?“

I.

Dienstag, 4. September 2012

Die Ankündigung kam eine Stunde vorher per SMS: „Suche mit uns den Gral. 21 Uhr, Karlsruhe, vor dem Schloss. Zünde eine Kerze an, CB“.

Eine Kerze. Wo fand er denn jetzt eine Kerze? Lukas Arnold kramte im alten Küchenschrank seiner Großmutter herum. In einer der hölzernen Schubladen, die ein Sammelsurium der unterschiedlichsten Dinge enthielten, fand er zwischen Nähgarn, Haushaltsgummis und einem Bogen Briefmarken ein paar Teelichter. Das musste genügen. Er steckte eins davon ein und nahm eine Packung Streichhölzer dazu. Vor dem Spiegel im Flur strich er sich einmal über die kurzen Haare, zog sich den Kapuzenpulli über und verließ die Wohnung. Von der Luisenstraße zum Schloss waren es zu Fuß ungefähr zwanzig Minuten, wenn man zügig ging.

Der Himmel schimmerte in Richtung Westen noch dunkelblau, aber die Nacht kam schnell. Es war ein schöner Spätsommertag gewesen, wenn auch etwas kühl für einen Septemberanfang in Karlsruhe.

Karlsruhe liegt im Oberrheingraben, an dem das mildeste Klima Deutschlands herrscht. Die Einheimischen sind stolz darauf und fühlen sich schon halb als Südländer. Allerdings stöhnen sie wiederum auch über die im Sommer mitunter subtropische Schwüle in der Innenstadt. Früher schickte man die angehenden Afrika-Missionare in die Stadt, um sie hier auf das tropische Klima des schwarzen Kontinents vorzubereiten. Die Wasserläufe am Altrhein galten bei der Weltgesundheitsorganisation noch bis in die sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts als Malaria-Gebiet. Im Sommer kann heute noch jeder Tümpel auf einer Baustelle in der Innenstadt eine wahre Stechmückenplage auslösen.

Arnold passierte die Pyramide auf dem um diese Zeit schon beinahe menschenleeren Marktplatz. Demnächst sollte er zur Großbaustelle werden für die sogenannte Kombilösung, Karlsruhes im Bau befindliche U-Bahn. Die ganze Innenstadt war eigentlich eine einzige Baustelle und jede Woche schien irgendwo eine neue Grube zu entstehen, eine andere Straße gesperrt und eine weitere Straßenbahnlinie umgeleitet zu werden. So manch einer hatte sein Ja bei der Volksabstimmung über die U-Strab wohl schon längst bereut.

Arnold lief weiter in Richtung Schloss. Auf dem Vorplatz knirschte der Kies unter seinen Schuhen. Es war jetzt ganz dunkel geworden. Das Schloss leuchtete orange, von Scheinwerfern angestrahlt.

Vor dem Haupteingang hatten sich um die hundert Menschen versammelt, die wohl alle die gleiche kryptische SMS erhalten hatten. Sie hielten brennende Kerzen in den Händen, die flackernd ihre Gesichter beleuchteten, was den einen ein andächtiges, anderen eher ein geisterhaftes Antlitz verlieh.

Er erkannte niemanden, aber das war nicht weiter verwunderlich. Er hatte Karlsruhe vor sechszehn Jahren, mit knapp über zwanzig, verlassen und besaß nur noch wenige Bekannte hier. Erst seit seine Großmutter vor zwei Jahren gestorben war, kam er drei-, viermal im Jahr für ein paar Tage hierher, um in dem kleinen Mehrfamilienhaus mit den fünf Wohnungen in der Luisenstraße nach dem Rechten zu sehen. Er hatte fast seine gesamte Kindheit und Jugend lang hier bei seinen Großeltern gewohnt, damals noch in einer größeren Wohnung. Nun hatte seine Oma ihm das Haus vermacht.

Die Regelung der Mietzahlungen, den Hausmeisterdienst und alles andere hatte er einer Hausverwaltung überlassen. Für ihn selbst blieben knapp 1200 Euro im Monat übrig. Eine schöne Grundlage, wenn es ihm auch nicht ganz zum Leben reichte. Selbst in Berlin nicht. Obwohl er, wie er fand, doch relativ bescheiden lebte. Allerdings musste er von diesem Geld außer seiner Wohnung auch noch eine kleine, wenn auch billige Ladenwerkstatt unterhalten.

Trotzdem hatten die monatlichen Mieteinnahmen und die Sicherheit dieser Immobilie einen ungemein entspannenden Effekt auf sein Leben: Er war raus aus dem Rattenrennen nach dem Geld. Er musste nicht funktionieren und zur Verfügung stehen. Er musste sich nicht biegen und kneten und womöglich brechen lassen in diesen Zeiten des Wettbewerbs, wo jeder als Einzelkämpfer agierte und der Darwinismus in allen Winkeln des Lebens zu herrschen schien. Konnte es ein größeres Privileg geben?

Zwei Männer betraten jetzt die Treppe vor dem Haupteingang des Schlosses und wandten sich an die Menge. Sie hielten Taschenlampen in der Hand, deren starken Strahl sie über die Menschen gleiten ließen. Der Jüngere war eher klein und schmal, der Ältere groß und breit.

„Meine Damen und Herren, willkommen in Gralsruhe, der Stadt der Atlantiden“, sagte der Ältere mit tiefer, wenn auch etwas brüchiger Stimme – als würde er zu viel rauchen oder leide an einer Erkältung. „Wir werden Sie heute Nacht auf einen verschwörungstheoretischen Nachtspaziergang durch die Stadt mitnehmen. Was erzählen uns die Pyramiden, Greifen und Sphinxe, die in der ehemaligen Residenz der badischen Markgrafen zu finden sind? Was hat es mit den heiligen und unheiligen Symbolen auf sich, die in die Architektur Karlsruhes eingeschrieben sind? Die Kreise, die Geraden, die Dreiecke, die den Grundriss dieser Stadt bestimmen. Sind das Versuche, Energie in diese Stadt zu lenken, hier etwas zu manifestieren, was dem oberflächlichen Betrachter verborgen bleibt? Haben Geheimgesellschaften ihr Wissen in dieser Stadt verborgen – zu einem höheren Zweck vielleicht? Ist hier womöglich der heilige Gral verborgen? Und was hat der arme Kaspar Hauser damit zu tun, der wahrscheinlich in diesem Schloss als badischer Prinz zur Welt kam, bevor sein Martyrium begann?“

Die Männer schwenkten die Lichtkreise ihrer Lampen theatralisch über den Vorplatz. Arnold meinte, im Dämmerlicht ein Grinsen auf ihren Gesichtern zu erkennen. Im Gegensatz zum Publikum, das stockernst wirkte.

„Wir werden versuchen, Ihnen so viel zu enthüllen, wie wir wissen. Löschen Sie nun Ihre Kerzen und folgen Sie mir und meinem Adlatus zunächst in den Schlosspark.“

Die beiden Männer stiegen die Buntsandsteinstufen vor dem Schlosseingang wieder hinunter. Die Gesellschaft blies folgsam ihre Kerzen aus und folgte ihnen. Ein leises Klicken schien aus der Menge zu kommen, das Arnold kurz irritierte, weil er es nicht einordnen konnte. Vielleicht waren es nur Absätze, die gegeneinander stießen, dachte er.

Die Mienen, die er aus der Nähe erkennen konnte, schienen teils belustigt, teils sehr ernst. Die Ernsten waren wahrscheinlich die Esoteriker unter den Besuchern – eine in Karlsruhe und Umgebung weit verbreitete Spezies.

Das Badische Staatstheater, den Veranstalter dieses Rundgangs, hatte er weit langweiliger in Erinnerung. Aber der Regisseur Conrad Birkenmeyer, der breit gebaute Mann auf der Treppe, hatte zuvor ein Offtheater in Berlin geleitet. Arnold war zweimal in seinen Stücken gewesen. Unter anderem deshalb war er auch dem Aufruf zu diesem Theaterabend in seiner Heimatstadt gefolgt.

Na ja, eigentlich gab es auch noch einen anderen Grund: Seine Familie beziehungsweise seine Vorfahren waren auf die eine oder andere Weise in ein paar entscheidende Vorkommnisse rund um die Stadtgründung und die Pyramide verwoben. Außerdem hatte er in der vorigen Woche ein Faltblatt in seinem Karlsruher Briefkasten gefunden, das auf die heutige Veranstaltung hinwies. Sonst hätte er vielleicht gar nicht davon erfahren. Es war neu, dass das Badische Staatstheater auf diese Art für seine Veranstaltungen warb. Das hatten sie, soweit er wusste, früher nicht getan.

Von dem Abend war vorher nur das Datum bekannt gewesen. Wer die Veranstaltung gebucht und bezahlt hatte, wurde dann per SMS über Zeit und Ort in Kenntnis gesetzt. Das Ganze sah eher nach einer Art Performance aus.

Vor dem hohen, schmiedeeisernen Tor zum Schlosspark bildete sich ein kleiner Stau. Arnold stieß versehentlich eine Frau mit langen, dunklen Haaren an, die ein rotes Tuch um den Hals trug.

„Entschuldigung“, sagte er.

Sie drehte sich kurz um, sah ihn aus blauen Augen an und nickte. Sie wirkte etwas jünger als er, so um die dreißig. Schnell verschwand sie in der sich im Park zerstreuenden Menge. Aus irgendeinem Grund hatte sie Eindruck auf ihn gemacht. Was war es? Ihr Blick? Ihr Geruch? Hatte er überhaupt einen wahrgenommen?

Ach was! Arnold schüttelte den Kopf. Er war einfach schon zu lange alleine, fünf Monate jetzt. Fünf Monate kein Sex. Wahrscheinlich hatte er die Trennung von Christine doch noch nicht verdaut.

Er konnte nicht mehr verstehen, was Birkenmeyer vorne erzählte, weil er ein wenig zurückgeblieben war. Neben ihm trat ein Gruftipärchen aus dem Gebüsch, beide trugen weiße Kontaktlinsen. Sie sahen ärgerlich aus, gestört bei was auch immer.

„Was ist denn hier los?“, fragte der Mann Arnold.

Er trug einen langen Ledermantel und offene Stiefel, beides in Schwarz. Seine Haare standen in alle Richtungen vom Kopf ab. Die Frau neben ihm trug schwarze Rüschen. Ihr Gesicht war weiß geschminkt.

Ob sie zum Theater gehörten?

„Wir sind den Geheimnissen Karlsruhes auf der Spur“, antwortete Arnold, als spiele er in dem Stück ebenfalls eine Rolle.

„Badisches Staatstheater“, sagte in amtlichem Ton jemand neben ihm, ein kleiner Mann mit runden Schultern und dünnem, zauseligem Haar.

„Hä?“, machte die Gruftifrau.

„Ein Theaterabend“, sagte der Mann.

Das Pärchen wirkte enttäuscht, sie schüttelten den Kopf und gingen ab. Ihre Mäntel und Rüschenkleider zogen sie wie Hochzeitsschleppen hinter sich her. Ein intensiver Duft nach Patschuli blieb zurück.

Als Arnold sich wieder nach vorne wandte, kam Birkenmeyer auf ihn zu. Die Theaterbesucher folgten ihm, alles strebte dem Ausgang zu. Der Ausflug in den Park schien schon wieder vorbei zu sein. Arnold ärgerte sich ein wenig, dass er sich hatte ablenken lassen.

Jetzt hatte er den Anfang verpasst.

Er hielt Ausschau nach der Frau mit dem roten Schal. Sie stand am Rand und schaute weg, als er sie fixierte. Aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein.

Er könnte sie fragen, was Birkenmeyer im Park erzählt hatte. Das wäre ein guter Ansatz, um sie anzusprechen.

„Ich habe leider alles verpasst wegen dem Gruftipärchen.“

Die Menge ging über den Vorplatz. Kies knirschte. Leises Gemurmel hing wie eine Wolke aus Worten über dem Pulk.

Vor dem Denkmal des Markgrafen Carl Friedrich am Ausgang des Schlossplatzes hielt Birkenmeyer an. Er stieg auf den Sockel der grünspanigen Figur und wandte sich ans Publikum: „Ich stehe hier unter der Statue des Enkels des Stadtgründers, den Napoleon zum Großherzog kürte.“

Birkenmeyer sah an ihm hoch.

„Carl Friedrich war Freimaurer, ebenso sein Großvater, Karl Wilhelm, der Karlsruhe im Jahr 1715 gründet hatte. Der Schlossturm ...“, er wies mit ausgestrecktem Arm nach vorne und alle wandten sich um, „der Schlossturm ist das Zentrum dieser Stadt, die einen europaweit, ja weltweit einmaligen Grundriss aufzuweisen hat. Zweiunddreißig Straßen und Wege gehen vom Turm aus in die Landschaft wie die Strahlen einer Sonne. Sie alle weisen auf Kirchen, Klöster und Heiligtümer in der Umgebung. Es sind Leylines, Drachenpfade, wie die Chinesen sagen. Sie führen dem Schlossturm und damit dem Herrscher über den Turm die Kraft dieser Plätze zu. Wir stehen hier direkt auf der stärksten Linie. Sie verbindet den Schlossturm mit dieser Statue, der Pyramide und dem Obelisken auf dem Rondellplatz.“

Alle schauten jetzt in Richtung Pyramide, die nachts ebenfalls angestrahlt wurde und matt im Dunkeln schimmerte.

„Pyramide und Obelisk, ägyptische Herrschaftssymbole in Karlsruhe“, sagte Birkenmeyer, während ein Windstoß die über seine Stirnglatze gekämmten Haare in die Luft wirbelte. Er strich sich über den Kopf, um sie wieder an die alte Stelle zu befördern.

„Über Deutschland, so eine Theorie, kann man ja ein Pentagramm legen“, fuhr Birkenmeyers Adlatus fort, der Regieassistent Ludo Fink, der neben ihn auf das Podest getreten war. Er war so schmächtig, dass er neben seinem Chef automatisch wie ein Lehrling wirkte, selbst wenn die Rollen vertauscht gewesen wären. „Die Eckpunkte dieses Pentagramms sind unter anderem die Karlsruher Pyramide und der Frankfurter Messeturm, der eigentlich ebenfalls ein Obelisk ist.“

Ein leicht belustigtes Raunen ging durch das Publikum. Fink hob die Hände, zur Stille gemahnend.

„Auch über Karlsruhe lässt sich solch ein Pentagramm legen. Die Eckpunkte sind dann die alte Dorfkirche in Eggenstein, der Bismarckstein in Ettlingen und Kirchen oder uralte heilige Stätten in den Orten Kleinsteinbach, Rastatt-Rheinau und Büchelberg in der Pfalz.“

Das Raunen nahm zu.

Fink wurde lauter: „Das Pentagramm – oder besser: das umgedrehte Pentagramm, also der Drudenfuß – gilt ja heute als Zeichen des Bösen. Es ist aber das Gegenteil. Es ist in Wirklichkeit ein Bannzeichen gegen das Böse. Nachzulesen schon bei Goethes Faust. Dort kann Mephisto nämlich Fausts Studierzimmer nicht mehr verlassen, weil ein Pentagramm auf der Tür zu sehen ist. ‚Das Pentagramma macht dir Pein?‘, fragt Faust den Mephisto.“

„Meine Damen und Herren!“, übernahm Birkenmeyer wieder. „All diese Phänomene sind belegbar, ja sie sind sogar offen sichtbar im Stadtbild – für den, der sehen kann und will. Nehmen Sie die Straßen des sogenannten Karlsruher Fächers. Sie bilden mit der Kaiserstraße, der zentralen Magistrale in Karlsruhe, ein gleichschenkliges Dreieck. Gleichzeitig führt um das Schloss herum – genauer: um den Schlossturm – ein Kreis, der wie mit einem Zirkel gezogen scheint. In weiten Teilen ist dieser Kreis bis heute eine Straße, die ‚Am Zirkel‘ heißt. Sie kennen sie alle. Noch heute kann man bei einem Blick auf den Stadtplan beides erkennen. Auf historischen Darstellungen Karlsruhes ist es auf den ersten Blick zu sehen. Es sind die zentralen geometrischen Formen der Anlage. Und jetzt frage ich Sie: Wessen Symbole sind denn Dreieck und Zirkel?“

Während Birkenmeyer anfing zu schwitzen und seine Rede mit ausholenden Gesten unterstrich, hörte ihm das Publikum aufmerksam zu.

Der Regisseur lächelte: „Die Freimaurer, meine Damen und Herren. Zirkel und Dreieck sind die Symbole der Freimaurer.“

Er blickte einmal rundum über die Menge und nickte befriedigt. Manch einer im Publikum blickte sich zum Schloss um, als sähe er es zum ersten Mal.

„Auch das Pentagramm spielt bei den Freimaurern keine ganz unwichtige Rolle. Denn die Vorläufer der Freimaurer waren ja die Bauhütten, die verantwortlich für den mittelalterlichen Kirchenbau, aber auch die Errichtung der Stadt Karlsruhe waren. Die Baumeister und die Handwerker, die zu den Hütten gehörten, hüteten eine Menge altes Wissen. Geheimwissen zum großen Teil, das sie nur an die jeweiligen Mitglieder ihrer Hütte weitergaben. Wissen, das bis in ägyptische Zeiten zurückreichte, manche behaupten, bis ins sagenhafte Atlantis. Dazu gehörte auch der Goldene Schnitt. Sie haben vielleicht schon davon gehört.“

Einige in der Menge nickten, jemand rief: „Leonardo da Vinci!“

„Richtig.“ Birkenmeyer kratzte sich am Kopf und strich sich dabei möglichst unauffällig über die Haare, um ihren Sitz zu prüfen. „Man findet ihn bei Leonardos berühmter menschlicher Proportionsstudie, die übrigens auf viel ältere Darstellungen zurückgeht. Ich will Sie jetzt nicht mit Mathematik langweilen, aber beim Goldenen Schnitt geht es, kurz gesagt, um ein bestimmtes Verhältnis, das zwei Streckenlängen zueinander haben. Dieses Verhältnis beträgt ungefähr 1 : 1,6 und wird mit dem griechischen Buchstaben Phi bezeichnet. Phi ist eine in vieler Hinsicht magische Zahl mit einer unendlichen Anzahl von Ziffern hinter dem Komma. Was darüber hinaus das Interessante daran ist: Man findet dieses Verhältnis in der Natur vielfach wieder, bei der Anordnung der Blätter von Pflanzen, bei der Außenhaut von Früchten wie der Ananas, ja sogar bei der Struktur von Galaxien.“

Birkenmeyer streckte theatralisch einen Arm in den Himmel. Nicht wenige Blicke folgten ihm, obwohl von hier aus, mitten in der hell erleuchteten Stadt, nur wenige Sterne zu erkennen waren. Arnold blickt auch kurz nach oben, dann wieder nach vorne und sah dabei den großen Schweißfleck unter der Achsel auf Birkenmeyers weißem Hemd.

Der nahm, als spürte er Arnolds Augen auf sich, den Arm schnell wieder nach unten.

„Auch in der Architektur, in der Malerei, ja sogar in der Musik findet man Strukturen nach dem Goldenen Schnitt. Man findet sie in der Königskammer der Cheops-Pyramide. Und im Pentagramm. In diesem fünfeckigen Stern lässt sich wirklich überall der Goldene Schnitt beobachten, jede einzelne Teilstrecke darin steht im Verhältnis der Zahl Phi zueinander. Und, meine Damen und Herren, wenn wir jetzt zusammen weitergehen ...“

Birkenmeyer beugte sich bei diesen Worten nach vorne, sodass sein Gesicht fast völlig verschattet wurde. Nur seine Augen wurden von einem der Bodenscheinwerfer beleuchtet.

Er hat das bestimmt vorher geprobt, dachte Arnold.

„ ... dann werden sie sich den Goldenen Schnitt im Stadtpan Karlsruhes sozusagen erlaufen. Denn alles hier auf dem Weg vom Schlossturm bis zum Ettlinger Tor steht im Verhältnis des Goldenen Schnitts zueinander. Zum Beispiel teilt die Kaiserstraße den Weg vom Schlossturm zum Obelisken am Rondellplatz direkt nach dem Goldenen Schnitt.“

Birkenmeyer richtete sich wieder auf.

„Das war Weinbrenners Werk. Das Werk Friedrich Weinbrenners, der diese sogenannte Via Triumphalis zwischen Schloss und Ettlinger Tor mit Pyramide, Obelisken, Rathaus und Stadtkirche geschaffen hat. Und, meine Damen und Herren, der Goldene Schnitt war durchaus auch zu Zeiten Weinbrenners, also Anfang des 19. Jahrhunderts, noch Geheimwissen. Das fand man in keinem der damals erhältlichen Lehrbücher. Aber ...“, er beugte sich wieder nach vorne, als wollte er dem Publikum flüsternd ein Geheimnis verraten, das nicht jeder hören sollte, „ ... auch damals waren die Freimaurer in unserer Stadt aktiv. Nicht wenige badische Honoratioren bis hin zum Markgrafen Carl Friedrich selbst hatten zuvor der geheimnisumrankten ägyptischen Loge des Grafen Cagliostro in Basel angehört.“

Birkenmeyer hob den Kopf und klatschte in die Hände. „Folgen Sie uns.“ Er stieg schwungvoll und mit wehender Jacke vom Sockel des Markgrafen herunter, der sich dies alles mit hatte anhören müssen, zur Stummheit verdammt. Die Menge folgte.

Während sie den sogenannten Platz der Grundrechte betraten, der aus Dutzenden Lampen, die im Boden eingelassen waren, beleuchtet wurde, diskutierten die Besucher leise miteinander. Der kleine Mann, der vorhin das Gruftipärchen über den Theaterabend aufgeklärt hatte, befand sich wieder an Arnolds Seite. Er schnaubte unwillig und murmelte vor sich hin.

„So kann man das doch nicht machen“, verstand Arnold.

Birkenmeyer drehte sich am Ende des Platzes noch einmal zur Menge um. „Wir stehen jetzt auf dem Platz der Grundrechte. Karlsruhe ist ja die Stadt des Rechts, hier befindet sich der Sitz der höchsten Gerichte Deutschlands. Wir lassen jetzt einmal außer Acht, warum das so gekommen ist. Stattdessen reden wir von Recht und Gerechtigkeit. Das sind ja zwei ganz verschiedene Dinge, wie jeder weiß, der schon einmal mit Gerichten zu tun hatte.“

Der Regisseur schmunzelte. Im Publikum gab es vereinzelte Zustimmung.

„Dem armen Kaspar Hauser jedenfalls ist weder Recht noch Gerechtigkeit widerfahren. Dort im Schloss wurde er vor beinahe zweihundert Jahren geboren als Sohn des Großherzogs Karl und seiner Frau Stéphanie de Beauharnais, der Adoptivtochter Kaiser Napoleons. Sie wurde auch ‚fille de France‘ genannt, die Tochter Frankreichs. Als ihr Sohn nur zweieinhalb Wochen nach seiner Geburt angeblich schwer erkrankte und dann rasch innerhalb weniger Stunden verstarb, ließ man sie nicht zu ihm. Auch die Amme hielt man fern vom Kind. Die beiden Personen, die dem Säugling am nächsten standen und ihm wohl am besten hätten beistehen können, durften nicht zu ihm. Warum? Weil es gar nicht Stéphanies Sohn war, der dort angeblich ganz überraschend so schwer krank wurde, obwohl er doch, als ihn die Amme am Vortag sah, noch ganz gesund war. Stattdessen lag in den markgräflichen Gemächern der kranke Sohn des Hofbediensteten Christoph Blochmann, Ernst mit Namen, den man mit dem Erbprinzen vertauscht hatte. Eine Intrige, eingefädelt von der Gräfin von Hochberg, der Stiefmutter des Großherzogs Karl und zweiten Ehefrau des verstorbenen Markgrafen Carl Friedrich: Sie wollte alle legitimen Nachfolger des Markgrafen zu Tode bringen, um ihre eigenen Söhne in die Erbfolge einzusetzen – was ihr letztlich ja auch gelang, wie wir alle wissen.“

Gemurmel hob an in der Menge.

„Ja, meine Damen und Herren, eine Intrige, eine sehr böse Intrige. Stéphanie und die Amme des kleinen Thronfolgers hätten den Schwindel mit dem vertauschten Kind natürlich sofort entdeckt, deshalb konnte man sie nicht zu dem sterbenden Säugling lassen. Eine Tragödie für die Mutter, sie sah ihren Sohn nie wieder. Nicht einmal seine Leiche, denn die gab es ja nicht. Stattdessen hatte man den Sohn Stéphanies, den rechtmäßigen Erben des badischen Thrones, längst an einen anderen Ort gebracht, nämlich zunächst einmal zur Familie Blochmann, als Austauschkind für deren in der Tat todkranken Säugling. Der Thronerbe tauchte erst 16 Jahre später in Nürnberg wieder auf und ist uns heute als Kaspar Hauser bekannt. Das Kind, das damals starb, liegt dagegen heute in der Schlosskirche Pforzheim begraben. Gehen Sie nur mal hin. Sie werden nicht hineinkommen, die Kirche ist fast immer verschlossen, obwohl sie mitten in Pforzheim liegt. Sie gehört bis heute dem Haus Baden und in deren Gruft kommt schon mal gar niemand hinein. Warum wohl? Eine DNA-Analyse des Kindes im Sarg würde sofort Klarheit schaffen, dass es nichts mit dem Haus Baden zu tun hat. Und warum erzähle ich Ihnen all das ...?“

Der Regisseur schaute wieder verschmitzt in die Menge.

„Recht und Gerechtigkeit. Der badische Erbprinz und der Gral. Was ist denn der Gral, frage ich Sie?“

„Halt, Einspruch.“

Ein älterer Mann löste sich auf einmal aus der Menge. Er hatte einen weißen Haarkranz und trug einen altmodischen Trenchcoat. „Das Kind, Kaspar, war nicht der badische Thronfolger. Es war nämlich gar nicht der Sohn Karls, sondern das Kind Napoleons und seiner Adoptivtochter Stéphanie.“

Der Regisseur neigte den Kopf.

„Aha. Interessant. Erzählen Sie uns, wie sie auf diese verwegene These kommen.“

Arnold reckte den Hals, um nichts von der Szene zu verpassen.

„Was heißt hier These?“ Der Mann schüttelte vehement den Kopf. „Das ist die Wahrheit. Stéphanie war ihrem Adoptivvater hörig, sie liebte ihn. Die beiden trafen sich immer im Gasthaus Laub in Berghausen, zehn Kilometer vor den Toren der Stadt. Dort zeugten sie auch Kaspar. Stéphanies Mann Karl war kalt wie ein Fisch. Dem lag nichts an Stéphanie. Die beiden haben sich nie vereinigt.“

„Haben Sie denn Beweise dafür?“

„Beweise, Beweise!“ Der Mann fuchtelte mit seinen Händen vor Birkenmeyer herum. Der blieb ganz ruhig.

„Gehen Sie doch mal nach Berghausen und fragen sie die Wirtsleute. Oder, wenn die nicht die Wahrheit verraten wollen, sprechen Sie mit ein paar alten Leuten im Dorf. Jeder dort weiß das.“

„Sie sind nicht zufällig auch aus Berghausen?“ Birkenmeyer lächelte süffisant.

„Ach!“ Der Mann winkte ab und entfernte sich wortlos. Arnold sah ihm nach, wie er unter den Arkaden in der Kaiserstraße verschwand.

Birkenmeyer klatschte wieder in die Hände. „So, jetzt sind wir ja alle schlauer. Weiter geht’s, meine Damen und Herren. Folgen Sie mir zur Pyramide.“

Und wie, dachte Arnold, war das nun mit der Verbindung zwischen Kaspar Hauser, dem Gral und Karlsruhe? Das schien Birkenmeyer nach dieser Unterbrechung ganz vergessen zu haben.

An der Kaiserstraße mussten sie kurz anhalten, um eine Straßenbahn passieren zu lassen. Dann ging es weiter zur Pyramide. Karlsruhes Haupteinkaufsstraße und der Marktplatz wirkten wie ausgestorben.

Vor dem Wahrzeichen Karlsruhes, unter dem der Stadtgründer begraben lag, hielt Birkenmeyer erneut an und wandte sich an sein Publikum: „Hier stehen wir vor dem größten Rätsel Karlsruhes: Warum wählt sich eine Stadt eine Pyramide als Denkmal an einer solch zentralen Stelle? Auch das gibt es in Europa nirgendwo. Warum liegt der Stadtgründer ausgerechnet unter einer Pyramide begraben? Welchen Sinn hat das?“

Auf einmal löste sich eine Frau mit roter Mähne und wallendem Umhang aus der Menge. Einer Megäre gleich stürzte sie auf Birkenmeyer los und drohte ihm zornentbrannt: „Rede nur weiter, Schamloser, Du! Erst Cagliostro, dann Kaspar Hauser und jetzt entweihst du auch noch das Grabmal. Aber wir kriegen euch alle!“

Birkenmeyer wich etwas zur Seite und hob abwehrend die Hände.

„Gute Frau ...“

„Wer die Toten stört, wird von ihnen besucht werden!“

Nach diesen Worten wandte sie sich an die Menge. Sie mochte um die fünfzig sein, vielleicht auch ein paar Jahre älter.

„Geht nach Hause“, forderte sie die Umstehenden auf, „Ihr habt genug gehört. Böse Dinge gehen hier in Karlsruhe vor, von deren Kräften ihr keine Ahnung habt. Geht nach Hause!“

Sie wedelte mit den Händen, als wollte sie Vögel verscheuchen, und verschwand dann ebenso rasch wie der Alte zuvor in Richtung des neu errichteten Volksbankgebäudes.

Einige im Publikum lachten nervös auf. Arnold, dem bei jedem Hollywood-Rührfilm gegen seinen Willen die Tränen kamen, spürte einen leichten Schauer auf dem Rücken.

Birkenmeyer dagegen fuhr scheinbar unbeeindruckt fort: „Nun gut. Sie haben es gehört. Wer gehen mag, soll gehen. Ich für meinen Teil möchte jetzt fortfahren. Die Aufklärung, meine Damen und Herren,“ der Regisseur straffte sich, „hat sich von ihren Gegnern noch nie aufhalten lassen. Und außerdem ...“, er grinste in die Runde, „wenn sie die Baustellen meint, hat sie ja recht.“

Erleichtert lachten die meisten Zuhörer auf. Niemand ging.

„Also“, fuhr er fort, „warum liegt der Stadtgründer Karl Wilhelm ausgerechnet unter einer Pyramide begraben? Ich kann es Ihnen erklären. Lassen Sie mich dazu ein wenig ausholen. Die badischen Markgrafen ließen sich nämlich über Jahrhunderte hinweg ohne ihre Organe begraben. Kommt Ihnen das bekannt vor?“