Das Geheimnis von Mayas Schwester - Katica Fischer - E-Book

Das Geheimnis von Mayas Schwester E-Book

Katica Fischer

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Maya versteht sich mit ihrer um achtzehn Jahre älteren Schwester und einzigen noch lebenden Verwandten nicht besonders gut. Als Wiebke jedoch wegen einer Herzerkrankung in einem Krankenhaus behandelt und dort von einem Unbekannten ermordet wird, steht die Welt für Maya plötzlich Kopf. Auf ihrer Suche nach Antworten und dem Mörder ihrer Schwester, merkt sie zunächst nicht, dass auch ihr Leben bedroht wird. Als sie schließlich erkennt, in welcher Gefahr sie schwebt, ist es fast zu spät.

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Seitenzahl: 436

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Katica Fischer

Das Geheimnis von Mayas Schwester

Kriminalroman

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutsche Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, einschließlich des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form sind vorbehalten.

©2013 Katica Fischer

www.katica-fischer.de

Covergestaltung: K. Fischer

Fotos: Clipdealer.de

Bereitstellung und Vertrieb:

Epubi (Neopubli GmbH, Berlin)

1

Donnerstag – 20. Juni 2013

„Ich lüge nicht!“

Ehe sich Maya versah, klatschte ihr eine kräftige Hand auf die rechte Wange, was ihren Kopf unkontrolliert zur Seite fliegen ließ. Erschrocken und verblüfft zugleich, sah sie zu dem zornigen Gesicht ihres Gegenübers hinauf und konnte nicht fassen, dass man sie tatsächlich geschlagen hatte, nur weil sie bei ihrer ursprünglichen Aussage geblieben war.

„Ich … Verzeih.“ Der groß gewachsene blonde Mann wollte nach Maya greifen, um sie an sich ziehen und mit einer liebevollen Umarmung seine Handgreiflichkeit wieder vergessen machen zu können, kam jedoch gar nicht erst an sie heran, weil sie jäh vor ihm zurückwich. „Das wollte ich nicht“, sagte er zerknirscht. „Es tut mir so leid. Bitte!“

„Warum hast du es dann getan?“ Ihre Stimme klang gepresst, so als würde sie jeden Moment zu weinen anfangen. „Ich habe dich nicht belogen. Das, was du zu sehen gemeint hast, war eine ganz harmlose und völlig unbedeutende Unterhaltung zwischen Kollegen. Volker hat mir einen Witz erzählt. Und ich hab’ darüber gelacht. Na und? Darf ich jetzt schon nicht mehr mit anderen Männern reden, oder was?“

„Das sah für mich aber ganz anders aus“, versuchte Ray seine Eifersucht zu rechtfertigen. „Dieser Kerl verschlingt dich doch praktisch mit den Augen. Und du … Du hast nichts Besseres zu tun, als Öl ins Feuer zu gießen, indem du ihn so nah an dich heranlässt, dass …“

„Dass was?“, hakte sie nach, als er mitten im Satz abbrach.

„Dass er dich anfassen kann“, platzte Ray heraus. „Offenbar macht es dir Spaß, alle Männer verrückt zu machen!“

„Ach! Jetzt ist es also nicht mehr nur Volker, sondern alle Männer?“, tat sie überrascht. „Du hältst mich also für eine Schlampe. Ja? Ausgerechnet du, der eigentlich ganz still sein müsste. Du, der du deine Frau seit Jahren betrügst!“ In ihrem Inneren entstand aus einem winzig kleinen Funken des Unmuts allmählich ein größeres und zunehmend heißer werdendes Feuer des Zorns. „Ja, ich weiß, sie ist krank, und kann dir daher nicht geben, was du brauchst. Ich weiß aber auch, dass es keineswegs normal ist, wenn der Ehemann einer todkranken Frau nicht nur eine Geliebte hat!“ Nu war es heraus. Sie hatte vor ein paar Tagen zufällig gesehen, wie er mit einer seiner Kolleginnen aus einem Restaurant kam. Na, ja, das war im Grunde nichts Besonderes. Dass er seine Begleiterin jedoch in die Arme nahm und leidenschaftlich küsste, sobald sie in seinem Auto saßen, war hingegen sehr aufschlussreich. Im ersten Moment nicht wissend, was sie tun sollte, hatte sie sich gleich darauf auf dem Absatz herumgedreht und war zu ihrer besten Freundin Leyla gerannt, um sich bei ihr auszuheulen. Nun – Leyla hatte ihr einen guten Rat mit auf den Weg gegeben, als sie endlich wieder in der Lage gewesen war, an die Rückkehr zu ihrem Appartement zu denken. Allerdings hatte sie diesen Rat gleich bei der nächsten Begegnung mit Ray wieder in den Wind schießen lassen, weil sie glaubte, nicht ohne ihn leben zu können. Doch jetzt sah die Sache plötzlich ganz anders aus. Es war nicht nur seine Treulosigkeit, die ihr doch mehr zu schaffen machte, als ihr bisher bewusst gewesen war. Es war vielmehr sein gesamtes Verhalten, was sie auf einmal abstieß. Er glaubte anscheinend, er sei absolut unwiderstehlich, und sie sein Eigentum, mit dem er nach Gutdünken verfahren konnte. Und die Tatsache, dass er sogar körperliche Gewalt anzuwenden bereit war, um seine Macht über sie deutlich zu machen, ließ erkennen, in welche Richtung ihre Beziehung sich entwickeln würde, wenn sie sich weiter still und zuvorkommend verhielt, nur damit er bei ihr blieb. Sie wollte aber weder eine gehorsame Leibeigene noch eine kuschende Dienerin sein, die ihrem Herrn in höriger Abhängigkeit die schlagende Hand küsste! „Weißt du was? Ich möchte, dass du jetzt gehst“, verlangte sie, bevor er den Mund aufmachen konnte, um eine Erklärung abzugeben. „Ich stehe nämlich nicht auf gewalttätige Liebesbeweise. Und ich hab’ keine Lust mehr, eine von ich weiß nicht wie vielen zu sein, die dir das Bett warmhalten.“

Ray sah sie an und erkannte, dass er wohl gut beraten war, ihre Forderung vorerst zu akzeptieren und ihr damit Gelegenheit zu geben, sich wieder zu beruhigen. Seinen Autoschlüssel an sich nehmend, den er bei seiner Ankunft auf dem kleinen Tisch gleich neben der Bettcouch abgelegt hatte, verließ er das Appartement im festen Glauben, in ein paar Stunden sei alles wieder vergeben und vergessen.

Maya indes stand eine Weile unbeweglich mitten im Raum und starrte durch den winzigen Flur hinweg auf die geschlossene Wohnungstür. Als ihr dann endlich bewusst wurde, dass sie dafür sorgen musste, dass Ray nie wieder einen Fuß in ihr Reich setzen und ihr somit auch nie wieder näher kommen konnte, als sie zuzulassen bereit war, ging sie zum Telefon und rief den Schlüsseldienst herbei.

Während der Eingang ihres Appartements ein anderes Schloss bekam, packte Maya die wenigen Sachen, die Ray im Laufe ihrer Beziehung bei ihr deponiert hatte, in eine Sport-Tasche und stellte diese im Hausflur ab, wohl wissend, dass er spätestens am Abend zurückkommen und seine Sachen finden würde. Da sie sich aber nicht mehr ganz sicher war, ob sie es tatsächlich aushalten konnte, ihn vor der Türe stehen und um Einlass betteln zu hören, beschloss sie, dass es wohl besser wäre, wenn sie ein oder zwei Nächte bei ihrer Freundin blieb. Besser gesagt, bei deren Eltern, denn die besaßen ein kleines Reihenhaus und boten ihrer Tochter kostenlose Logis an, damit sie möglichst lange zu Hause wohnen blieb.

Sie war kaum am Ziel angekommen, da verfiel Maya in haltloses Weinen, sodass sie lange Zeit nicht imstande war, ihren Kummer in verständliche Worte zu fassen.

Doch Leyla hatte längst begriffen, worum es ging.

„Du hast ihn also endlich abserviert.“

„Es sieht so aus, ja“, schniefte Maya. Seit sie sich kannten – sie hatten schon im Kindergarten miteinander gespielt – war Leyla, die temperamentvolle Tochter Iranisch-Deutscher Eltern, die einzige Person, der sie so gut wie alles anvertraute, und die stets mit Rat und Tat parat stand, wenn Not am Mann war. Folglich war Leyla auch die Einzige, bei der sie sicher sein konnte, dass sie nicht nur jederzeit willkommen war, sondern auch bleiben konnte, solange sie wollte. Und so saß sie nun schon seit Stunden auf der gemütlichen Couch der Freundin, trank würzigen Kräutertee, und presste zwischendurch mit kleinen Eiswürfeln gefüllte Gefrierbeutel auf die geschwollenen Augenlider.

„Braves Mädchen.“ Leyla hatte Ray vom ersten Augenblick an nicht leiden können. Eigentlich hieß er Raimund, ließ sich aber lieber mit der englischen Kurzform seines Vornamens anreden, weil dies angeblich besser zu ihm passte. Und solch ein selbstgefälliges Gehabe war ihr absolut zuwider. Dennoch sparte sie sich jetzt die Feststellung, sie habe ja gleich gesagt, dass er kein Mann für eine feste Beziehung sei. Stattdessen nahm sie die Freundin erneut in die Arme und wiegte sie dabei wie ein kleines Kind hin und her. „Es tut weh, ich weiß“, raunte sie dabei in das pechschwarze Haar hinein. „Aber das geht vorbei. Du wirst sehen. In ein paar Tagen wirst du ihn ansehen und dich fragen, was dich an diesem selbstherrlichen Lackaffen eigentlich so sehr fasziniert hat.“

Nein, sie war nicht nur fasziniert gewesen, erinnert sich Maya mit wehem Herzen. Sie war Ray gleich an ihrem allerersten Arbeitstag im Krankenhaus begegnet und ihm praktisch schon beim ersten Blick mit Haut und Haaren verfallen. Im ersten Moment nicht fassend, dass der große und umwerfend gut aussehende Mann überhaupt Notiz von ihr nahm, hatte sie zunächst kaum den Mund aufgekriegt. Als er jedoch deutlich machte, dass er sich in der Tat ernsthaft für ihre Person interessierte und sie deshalb auch einmal außerhalb des Krankenhauses wiedersehen wollte, hatte sie einer Verabredung zugestimmt. Es waren mehrere Treffen in verschiedenen Cafés und Restaurants gefolgt, zu welchen er stets mit einer langstieligen roten Rose gekommen war. Aber erst als er ihr eine teure Goldkette mit einem herzförmigen Diamant-Anhänger überreichte, und ihr schwor, nicht mehr ohne sie existieren zu können, waren auch die letzten ihrer Zweifel verflogen. Mittlerweile nicht mehr fähig, dem betörenden Charme des erfahrenen Mannes zu widerstehen, hatte sie geglaubt, endlich jemanden gefunden zu haben, der sie aufrichtig und bedingungslos liebte, sodass sie ihm den Zweitschlüssel zu ihrem Appartement gab. Fest davon überzeugt, die einzige Frau in seinem Leben und außerdem der glücklichste Mensch auf Erden zu sein, lebte sie danach über ein ganzes Jahr nur noch für ihn und die Stunden, die sie mit ihm verbringen konnte – bis sie erfuhr, dass er verheiratet war. Doch reichte diese niederschmetternde Erkenntnis nicht aus, um sie zur Vernunft zu bringen. Im Gegenteil. Von der Hoffnung beseelt, er würde sich ihr zuliebe scheiden lassen, hatte sie alles getan, um ihn zufriedenzustellen. Selbst als er ihr sagte, dass er seine todkranke Frau niemals verlassen würde, solange diese lebte, war die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft nicht erloschen. Aber jetzt war sie endgültig kuriert! Sie würde sich für ein paar Tage krankmelden und damit auch an ihrem Arbeitsplatz einer Begegnung mit Ray ausweichen. Nein, sie hatte keine Angst vor einer neuen Auseinandersetzung. Aber sie traute sich selbst noch nicht über den Weg. Er war stets ein Meister darin gewesen, sie so zu manipulieren, dass sie genau das tat, was er gerne wollte. Und im Moment waren der Schmerz über die Trennung und das Gefühl der Verlassenheit weitaus größer als die Wut, angesichts seines Verhaltens, was dazu führen konnte, dass sie ihm noch eine Chance gab. Und genau das durfte nicht sein! Wenn sie sich anschließend nicht selbst verachten wollte, musste sie von jetzt an absolut standhaft bleiben!

„Meinst du …“ Maya schnäuzte sich ausgiebig, bevor sie neu ansetzte: „Wären deine Eltern einverstanden, wenn ich ein paar Tage hier bliebe? Ich meine …“

„Lass sie bloß nicht hören, dass du auf einmal an ihrer Gastfreundschaft zweifelst“, unterbrach Leyla. „Du weißt genau, sie würden dir das eigene Bett anbieten, wenn es keine andere Möglichkeit gäbe.“ Sie wusste intuitiv, was in der Freundin vorging, und war zugleich froh darüber, nicht nur als Kummerkasten fungieren zu müssen, sondern auch tatkräftige Hilfestellung leisten zu können. „Das Heim der Pahlevis ist immer offen für dich. Also fühl’ dich wie zu Hause.“

Maya verbrachte ein paar Tage bei Leylas Familie und ließ sich in dieser Zeit konsequent verleugnen, wenn Ray anrief, um nach ihrem Verbleib zu fragen. Als sie jedoch zu ihrem Appartement zurückkehrte, ihren Briefkasten voller Entschuldigungsbriefe und den Eingang ihrer Wohnung mit teuren Blumenarrangements verstellt vorfand, rief sie ihn an.

„Es ist endgültig aus“, ließ sie ihn wissen. „Also lass mich zufrieden!“ Ohne eine Erwiderung abzuwarten, legte sie auf. Wäre die Ohrfeige nicht gewesen, es hätte ihm durchaus gelingen können, sich wieder bei ihr einzuschmeicheln. Aber er hatte sie nun einmal geschlagen! Und das war etwas, was sie nicht einfach hinnehmen oder gar als unbedeutenden Ausrutscher entschuldigen konnte. Selbst ihre Eltern hatten sie als Kind nie gezüchtigt! Warum also sollte sie es jetzt, wo sie eine erwachsene Frau war, einem Mann erlauben?

Ray konsequent aus ihren Gedanken verbannend, stopfte Maya seine Briefe und die Blumen in einen Müllbeutel, und brachte diesen gleich zur Tonne hinaus. Anschließend kehrte sie in ihr Appartement zurück und ging dort gleich ins Badezimmer, um sich fertig zu machen, da sie ins Krankenhaus gehen und ihre Arbeit wiederaufnehmen wollte. Doch fiel ihr Blick kaum auf die pechschwarze Mähne und den sonnengebräunten Teint ihres Spiegelbildes, da erinnerte sie sich urplötzlich an den Tag, da sie zum ersten Mal begriffen hatte, dass mit ihr irgendetwas nicht in Ordnung war, und dass der Vater sie deshalb nicht leiden konnte, ja geradezu hasste. Was genau ihn so sehr an ihr störte, vermochte sie damals noch nicht zu verstehen, denn sie war gerade mal fünf Jahre alt gewesen. Aber ein paar Jahre später hatte sie zufällig einen erbitterten Streit der Eltern belauscht, bei dem vonseiten des Vaters die Formulierung „dein dunkles Sündenkind“ mehrfach fiel, und war daraufhin zu der Erkenntnis gelangt, dass dieser Begriff wohl auf sie gemünzt war, denn sie sah in der Tat völlig anders aus als der Rest ihrer Familie. Nun – Sie war mit elf Jahren beileibe nicht mehr so unwissend, dass sie nicht verstanden hätte: Die Mutter hatte offenbar eine Affäre gehabt und wurde dafür mit einem Kind gestraft, welches nicht nur sie tagein tagaus an ihre Treulosigkeit erinnerte. Selbstverständlich hatte sie sich alle Mühe gegeben, ihre jüngere Tochter nicht spüren zu lassen, dass sie im Grunde unerwünscht war. Doch war das vergebliche Liebesmühe gewesen, denn der Vater zeigte es umso deutlicher. Es war ihr, Maya, keine andere Wahl geblieben, als sich in ihr Schicksal zu fügen, denn sie wollte auf gar keinen Fall in ein Heim abgeschoben oder gar zur Adoption freigegeben werden. Allerdings hatte sie sich so manches Mal ausgemalt, wie es sein würde, wenn sie nicht mehr von Vater und Mutter abhängig war. Und dann … Ein Polizist und ein Pfarrer waren gekommen, um sie abzuholen und zur Schwester zu bringen, weil die Eltern bei einem Autounfall getötet …

Die Haarbürste beiseitelegend, lenkte Maya ihre Gedanken gewaltsam in andere Bahnen. Es war lange her, redete sie sich selbst gut zu. Außerdem brauchte sie in ihrer derzeitigen Situation alles andere als trübsinnige Erinnerungen.

2

Sonntag – 28. Juli – 15:04 Uhr

Die Lautstärke des Fernsehgerätes anhand der Fernbedienung drosselnd, stemmte sich Maya gleichzeitig aus ihrem Sessel, um zur Wohnungstür zu gehen, nicht länger fähig, das Greinen der Schelle weiter zu ignorieren. Doch tat sie kaum einen kurzen Blick durch den Spion, da erschien auch schon eine unmutige Falte auf ihre Stirn, angesichts der sichtlich ungeduldig wirkenden Blondine, die wartend im Treppenhaus stand.

„Was willst du?“ Die Eingangstür bloß einen Spaltbreit öffnend, musterte sie anschließend die unwillkommene Besucherin von Kopf bis Fuß mit einem schnellen Blick, fand sie wie gewohnt in einem geschmackvoll zusammengestellten Outfit vor, und konnte trotz ihres Widerwillens gegen die sorgfältig zurechtgemachte Schwester nicht leugnen, dass diese eine makellose Figur und zudem ein sicheres Gespür dafür besaß, was sie besonders vorteilhaft kleidete. „Ich wollte heute eigentlich Ruhe haben“, stellte sie mit abweisender Miene fest.

„Ich will dich gar nicht lange stören.“ Wiebke merkte durchaus, dass ihre Anwesenheit nicht erwünscht war. Dennoch schob sie mit sanfter Gewalt die Tür ein wenig weiter auf und sich selbst sogleich in den Flur des winzigen Apartments hinein, was deutlich machte, dass sie nicht bereit war, sich unverrichteter Dinge wegschicken zu lassen.

„Also gut“, schnaubte Maya gereizt. „Jetzt bist du also drinnen. Und? Was willst du?“

„Ich wollte dir nur sagen, dass ich morgen wieder nach Venedig fliege. Ich …“ Wiebke hatte mittlerweile den Eingang zum Wohnraum erreicht und blieb plötzlich wie versteinert stehen. Den Blick auf den Bildschirm des Fernsehapparates geheftet, von wo aus ihr die Großaufnahme eines südländischen Männergesichtes entgegen prangte, fasste sie sich mit zitternder Hand an die Kehle. Dabei schluckte sie mehrere Male heftig, und sackte dann ohne jede Vorwarnung in sich zusammen.

Die Stimme des Nachrichtensprechers in den Ohren, der immer noch von einem heimtückischen Attentat auf einen prominenten italienischen Geschäftsmann und der darauffolgenden Großfahndung nach dem Verantwortlichen berichtete, starrte Maya zunächst völlig verdattert auf die Ohnmächtige hinunter. Aber dann stürzte sie ins Badezimmer, um ein nasses Handtuch herbeizuholen, mit welchem sie der Bewusstlosen Stirn und Nacken zu kühlen begann. Verdammte Hitze, schimpfte sie dabei im Stillen. Seit Tagen zeigte das Außenthermometer fast vierzig Grad an, was schon an sich genügte, um die Menschen wie schlaffe Säcke wirken zu lassen, die keinerlei eigenen Antrieb mehr zu besitzen schienen. Aber hier, direkt unter dem Dach, war es momentan um einiges heißer als draußen, weil es so gut wie keine Isolierung gab, die die Strahlungswärme der aufgeheizten Dachziegel abgehalten hätte. Auch während der Nacht fiel die Temperaturanzeige nichtunter dreißig Grad! Trotz offener Fenster und ununterbrochen laufendem Ventilator! Sie selbst hatte sich mittlerweile mit den extremen Temperaturschwankungen innerhalb ihrer Behausung abgefunden – notgedrungen, weil sie sich keine andere Wohnung leisten konnte! Allein darum trug sie momentan nur das Notwendigste am Leibe. Aber Wiebke war in voller Montur, bestehend aus einer langen Leinen-Hose und dazugehöriger Weste über einem Edel-Shirt, in den sprichwörtlichen Hexenkessel geraten, sodass sie durch die Wucht der Hitze und den daraus resultierenden Kreislaufkollaps im wahrsten Sinne des Wortes niedergestreckt wurde.

Ein paar Sekunden lang versuchte Maya, die Ohnmächtige wieder zur Besinnung zu bringen. Dabei tastete sie wiederholt nach dem Puls der Schwester und entschied am Ende, dass sie doch lieber einen Arzt herbeiholen wollte, weil ihr die ganze Sache nicht mehr geheuer war. Ein durch Hitze bedingter Schwächeanfall war eine Sache, stellte sie fest. Aber ein kaum noch fühlbarer Puls und kalter Schweiß auf allen tast- und sichtbaren Hautflächen war etwas völlig Anderes – zumal weder Schock-Lagerung noch kalte Umschläge etwas nützten!

Ein paar Minuten später drängten sich in Mayas kleinen Wohnzimmer mehrere Menschen, die sich um die immer noch bewusstlose Wiebke bemühten. Als der Notarzt schließlich mit der Erstversorgung seiner Patientin fertig war, wandte er sich an deren geduldig wartende, aber sichtlich verunsicherte Schwester, um ihr seine vorläufige Beurteilung der Ohnmächtigen mitzuteilen.

„Herzinfarkt? Aber ... Aber … Sind Sie sicher?“ Alles hätte Maya glauben können, aber nicht das. Nicht bei Wiebke, der sportlich aktiven Frau, die so sehr auf den Erhalt ihrer schlanken Linie achtete, dass sie sich hauptsächlich von Rohkost und fettarmen Joghurt ernährte.

„Absolut sicher bin ich mir erst, wenn ich sie in die Klinik gebracht habe und alle erforderlichen Untersuchungen gemacht sind“, erwiderte der Notarzt. „Aber wenn ich mir die Symptome so ansehe, möchte ich meinen, dass es genau auf diese Diagnose hinauslaufen wird.“

Maya nickte bloß, immer noch nicht fähig, die Aussage des Arztes als glaubhaft zu akzeptieren. Gleichzeitig nahm sie die Handtasche der Schwester an sich, damit sie aus dem Weg war, während die Sanitäter Wiebke vorsichtig aufhoben, um sie gleich darauf auf die mitgebrachte Trage zu legen. Während die Männer dann mit ihrer Last bereits die enge Treppe hinunterstiegen, langte sie nach ihrer eigenen Umhängetasche und dem Haustürschlüssel. Anschließend schloss sie die Wohnung ab, und eilte dem Rettungsteam hinterher, um mit in den Krankenwagen zu steigen.

Obwohl sie im Vorfeld kein besonders gutes Verhältnis zur Schwester gehabt hatte, fühlte Maya jetzt echte Sorge um Wiebke. Zudem stieg auch Mitleid in ihr auf, während sie das ungewohnt bleiche Gesicht der Besinnungslosen betrachtete. Leichte Fältchen um die Augen herum verrieten, dass die Enddreißigerin nicht mehr ganz so jung war, wie sie auf den ersten Blick erschien. Und der bittere Zug, der sich um ihren Mund eingegraben hatte, machte deutlich, dass sie keineswegs so glücklich und zufrieden war, wie sie nach außen hin immer tat.

Der letzte Gedanke war kaum zu Ende gebracht, da stieg vor Mayas innerem Auge das Bild einer stets arrogant auftretenden Schwester auf, sodass sowohl Sorge als auch Mitgefühl schwanden. Wiebke war eine Kämpfernatur, ja! Sie würde wahrscheinlich schon morgen wieder auf den Beinen sein, um ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen, denn sie wollte immer die Kontrolle über alles haben. Sie war ein herrschsüchtiges, egozentrisches Frauenzimmer! Eine zu emotionalen Bindungen unfähige Karrierefrau, die praktisch nur für die Arbeit als Galerie-Assistentin lebte. Anfangs hatte sie angenommen, dass Wiebkes anhaltendes Single-Dasein etwas mit ihrer eigenen Person zu tun hätte, denn nach dem tödlichen Autounfall der Eltern war Wiebke zu ihrem Vormund und alleinigen Erziehungsberechtigten bestimmt worden, womit sie auch gezwungenen gewesen war, die kleine Schwester in ihrer Wohnung aufzunehmen. Als sie jedoch älter und verständiger wurde, war sie dahintergekommen, dass Wiebke offenbar gar keine feste Beziehung wollte, weil sie viel lieber ungebunden und nach eigenen Vorstellungen lebte. Nun – Die letzten Jahre ihres Zusammenlebens waren als nicht besonders erfreulich zu bezeichnen, denn Wiebke mutierte im Laufe der Zeit zu einer tyrannischen Despotin, die von der kleinen Schwester penible Ordnung, absolute Pünktlichkeit und ausschließlich Bestleistungen in der Schule forderte. Im Gegenzug war sie, Maya, immer aufmüpfiger geworden, was wiederum endlose Streitereien und rigorose Sanktionen vonseiten Wiebkes nach sich gezogen hatte. Also hatte sie an ihrem achtzehnten Geburtstag beschlossen, dass sie nicht länger wie ein lästiges Anhängsel betrachtet werden wollte, das man notgedrungen ernähren und kleiden musste, weil es nun einmal existierte. Nein, Wiebke hatte sie keineswegs vergrault. Im Gegenteil hatte sie wahrlich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, damit die kleine Schwester zu Hause wohnen blieb und einen höheren Schulabschluss machte – oder doch wenigstens eine Berufsausbildung begann. Aber das hatte sie selbst nicht gewollt, weil sie es leid gewesen war, sich ständig bevormunden und gängeln zu lassen. Es hatte einen hässlichen Streit gegeben, nach welchem sie einfach auf und davon gerannt war, um zunächst bei Leylas Familie Zuflucht zu suchen, bis sie eine Arbeit und eine bezahlbare Bleibe fand. Zwei Jahre vergingen, ohne dass eine von ihnen Kontakt gesucht hätte. Doch dann – es war jetzt etwa zwei Monate her – waren sie sich durch Zufall wieder begegnet und hatten zum ersten Mal wieder ruhig miteinander sprechen können.

Es war reine Höflichkeit gewesen, die sie veranlasst hatte, Wiebkes Einladung zu einem Cappuccino zu folgen, erinnerte sich Maya nun. Aber seit diesem Tag hatte sich ihre Beziehung verändert. Nein, herzlich oder gar liebevoll war diese nach wie vor nicht zu nennen. Es war eher so, als wären sie ein altes Ehepaar, welches sich zwar nicht mehr allzu viel zu sagen hatte, das aber trotzdem nicht aufeinander verzichten wollte, allein weil es keine andere Bezugsperson gab. Die Initiative ging ausschließlich von Wiebke aus, was – wie heute – nicht immer erfreut aufgenommen wurde, weil sie meist zu den unmöglichsten Zeiten anrief, um nach einem Treffen zu fragen, oder aber unangemeldet vor der Tür stand. Mal brauchte sie jemanden, der sie in ein Restaurant oder zu irgendeiner Vernissage begleitete, weil sie nicht alleine gehen wollte. Ein anderes Mal war es einfach nur der Drang, jemanden mitschleppen zu müssen, der, wenn auch nur widerwillig, ihren guten Geschmack bewunderte, während sie in den sündhaft teuren Boutiquen der Stadt Kleidungsstücke kaufte, die sie dann doch nicht trug, sondern der kleinen Schwester anbot, oder in einem ihrer Schränke auf die nächste Altkleider-Sammlung warten ließ.

Sonntag – 28. Juli – 17:00 Uhr

„Der Zusammenbruch Ihrer Schwester hat in der Tat mit ihrem Herzen zu tun. Zum Glück ist es aber kein Infarkt, sondern nur eine Herzklappen-Schwäche“, berichtigte der diensthabende Kardiologe die Erstbeurteilung des Notarztes. „Ich will Ihnen jetzt keinen Vortrag über die Kranken-Geschichte Ihrer Schwester halten. Aber es ist so, dass sie vor gut einem Jahr ziemlich spät wegen akuten rheumatischen Fiebers behandelt wurde, und dass man schon damals festgestellt hat, dass sich eine ihrer Herzklappen bereits irreparabel verändert hat. Das hätte im Grunde gleich operiert werden sollen, verstehen Sie. Aber sie wollte damals partout nicht unters Messer, was ich bis heute nicht begreifen kann, denn es wäre innerhalb weniger Stunden überstanden gewesen. Wie auch immer. Sie kam regelmäßig zu den Kontrolluntersuchungen und nahm auch die Medikamente, die ich ihr verschrieb, schob die Operation aber immer weiter hinaus, weil sie angeblich keine Probleme hatte. Aber der heutigen Untersuchung zufolge ist es tatsächlich so, dass es wirklich allerhöchste Zeit ist, dass etwas passiert. Also schnippeln wir, sobald ein OP frei wird.“

Maya war viel zu schockiert, um irgendetwas darauf erwidern zu können. Krank? Wirklich ernstlich krank? Das konnte doch gar nicht sein. Nicht Wiebke. Nicht dieser hyperaktive Wirbelwind, der Probleme im Vorbeirauschen löste und bösen Überraschungen stets gelassen gegenüberstand, weil sie sie als eine besondere Herausforderung ansah.

„Sie …“ Endlich gehorchten ihre Zunge und ihre Stimmbänder wieder, wenn auch widerwillig. „Sie wird doch wieder gesund?“

„Eine Garantie gibt’s nicht“, erwiderte der Arzt. „Aber ich denke doch, dass wir verhindern können, dass Ihre Schwester vorzeitig zu Wurmfutter wird.“ Weil sein Gegenüber mit einem Mal kreidebleich war und sichtlich um Beherrschung rang, fasste er die junge Frau am Ellenbogen, um sie dadurch zu stützen. „Na na, Sie werden mir doch jetzt nicht zusammenklappen! Dachte immer, Sie wären eine von denen, die durch nichts zu erschüttern sind.“

„Ist … Ist schon gut.“ Maya rang immer noch um ihre Fassung. Sie kannte Doktor Niehaus gut, denn er war nicht nur ein gefragter Kardiologe und exzellenter Chirurg, sondern auch berühmt-berüchtigt für seine schrägen Witze. Sie mochte ihn gerne, weil er stets geradeheraus sagte, was er dachte, wäre ihm jetzt allerdings dankbar gewesen, wenn er sich den Spruch mit den Würmern gespart hätte, denn das Bild, welches sich nach seinen Worten vor ihrem inneren Auge aufgebaut hatte, war nicht nur gruselig, sondern auch ziemlich eklig.

„Steht noch die Frage offen, ob Ihre Schwester vielleicht eine Verfügung hinterlassen hat, falls bei dem Eingriff doch etwas Unvorhergesehenes passiert.“ Die Augenbrauen fragend erhoben sah der Mediziner sein Gegenüber aufmerksam an.

„Ich …“ Maya schluckte hart, bevor sie neu ansetzte: „Ich hab’ keine Ahnung. Aber ich kann gerne nachsehen, wenn Sie möchten. Allerdings wird das ein bisschen dauern, weil ich erst in Wiebkes Wohnung muss.“

„Na, dann machen Sie sich mal auf die Socken, schöne Frau“, empfahl er mit einem Augenzwinkern.

Maya war längst aus Doktor Niehaus’ Büro hinaus, als ihr endlich klar wurde, was er da von sich gegeben hatte. Und mit der Erkenntnis, dass er sie für gut aussehend hielt, wo sie sich selbst eher als eine graue Maus ansah, stellte sich bei ihr wieder einmal die Verwunderung über den männlichen Geschmack ein, sodass sie kopfschüttelnd weiterging. Schön? Sie? Lachhaft! Sie war doch viel zu klein und bei Weitem nicht so schlank, wie sie es gerne gewesen wäre. Außerdem war ihr Busen für ihre Größe ein wenig zu üppig, ihre Hüften zu breit, ihre Beine nicht gerade genug und ihre Füße viel zu groß geraten. Das Einzige, was wirklich ansehnlich an ihr war, war ihr glänzendes, schwarzes Haar und die grünen Augen. Aber sonst gab es absolut nichts Aufregendes an ihr. Sie war nicht so schön und gepflegt wie Wiebke. Und sie war auch nicht so klug und weltgewandt, wie die Schwester. Allein die Tatsache, dass sie aus eigener Kraft überleben konnte, machte sie ein wenig stolz, weil sie sich sicher war, dass sie niemals wieder auf die Gnade und das Wohlwollen eines anderen Menschen angewiesen sein würde, um sich satt essen zu können.

Die Gegebenheiten der schwesterlichen Wohnung waren Maya noch wohl vertraut. Also sah sie sich gar nicht erst um, während sie Wiebkes Handtasche in den Garderobenschrank legte und anschließend zum Arbeitszimmer ging, mit der Absicht, alle persönlichen Unterlagen durchzusehen. Dabei kam sie auch an dem Sekretär vorbei, auf welchem sowohl die Telefonstation samt Mobilteil als auch das Faxgerät standen. Weil da aber nicht nur der Anrufbeantworter, sondern auch das Faxgerät wie verrückt blinkten, blieb sie stehen und füllte zunächst das fehlende Papier auf. Anschließend schaltete sie den Anrufbeantworter auf Wiedergabe. Während dann nacheinander verschiedene Stimmen hörbar wurden, die mehr oder weniger wichtige Nachrichten für Wiebke hinterlassen hatten, öffnete Maya den Aktenschrank und zog die erste Mappe heraus, um sie sogleich durchzublättern. Was die einzelnen Anrufer sagten, nahm sie zunächst gar nicht wahr, bis plötzlich eine sonore Männerstimme erklang, die mit eindeutig italienischem Akzent von einer Terminänderung sprach. Aufmerksam geworden, weil ihr der Klang der Stimme ungemein schön vorkam, stellte sie ihre Tätigkeit ein und ging zur Telefonstation hinüber, um besser hören zu können.

„… habe die Reservierung noch nicht storniert, weil ich nicht wusste, wie deine weiteren Pläne aussehen. Ich wäre dir dankbar, wenn du mich zurückrufen würdest.“

Maya wunderte sich über den merkwürdig drängenden Tonfall, zuckte dann jedoch die Schultern und richtete ihre Aufmerksamkeit erneut auf das, was sie eigentlich vorgehabt hatte. Eine halbe Stunde lang suchte sie, fand jedoch nichts Brauchbares, und entschied am Ende, dass sie, in Ermangelung eines schriftlich festgelegten Wunsches, notfalls selbst über Wiebkes Behandlung entscheiden würde. Also packte sie alle notwendigen Dinge für einen Krankenhausaufenthalt in eine kleine Reisetasche und machte sich anschließend wieder auf den Weg.

Sie war kaum angekommen, da wollte man Maya auch schon wieder nach Hause schicken, da sie ja ohnehin nichts Anderes machen konnte, als zu warten, dies jedoch weit bequemer im eigenen Bett tun könne. Allerdings dachte sie nicht im Traum daran, zu gehen, bevor sie nicht wusste, was mit Wiebke war. Außerdem hätte sie jetzt eine gute Stunde durch die Nacht laufen müssen, um zu ihrem Appartement zu kommen, weil in diese Richtung nach Mitternacht keine Busse mehr fuhren. Und genügend Geld für ein Taxi hatte sie auch nicht bei sich. Also saß sie im Wartebereich vor den Operationssälen, bis man ihr mitteilte, dass man Wiebke nach erfolgreichem Eingriff auf die Intensivstation verlegen wollte. Durch diese Information ein wenig beruhigt, machte sie sich ein weiteres Mal auf den Weg zur schwesterlichen Wohnung, die nur zehn Gehminuten vom Krankenhaus entfernt war.

Montag – 29. Juli – 02:30 Uhr

Viel zu aufgeregt, um ins Bett gehen zu können, versuchte Maya ein wenig fernzusehen. Da das Nachtprogramm jedoch nichts Vernünftiges zu bieten hatte, schaltete sie das Gerät wieder aus und begann anschließend eine ruhelose Wanderung durch die Räume. Als sie schließlich im Arbeitszimmer anlangte, fiel ihr Blick sogleich auf die Faxe, die sich mittlerweile stapelten und die fast allesamt den Briefkopf eines Fünf-Sterne-Hotels in Venedig trugen. Und weil da ein und dieselbe Mitteilung mehrere Male ausgedruckt war, beschloss sie spontan, dass sie den Absender der Nachrichten anrufen wollte, denn dessen Anliegen schien in der Tat sehr dringend. Also wählte sie die Rufnummer, die im Absendertext angegeben war, um anschließend eine geraume Weile auf eine Verbindung zu warten.

Dass am anderen Ende der Telefonleitung schließlich eine verschlafen klingende Männerstimme erklang, die sich bloß mit einem kurzen Si meldete, irritierte Maya zunächst ein wenig, weil sie im Vorfeld davon ausgegangen war, dass der Portier eines erstklassigen Hotels abheben und sich mit einem wohl einstudierten Spruch melden würde. Als sie sich jedoch klarmachte, dass es in der Tat bereits halb vier Uhr in der Frühe war, bat sie den vermeintlich nachlässigen Mann im Stillen um Verzeihung.

„Ich möchte Ihnen bloß mitteilen, dass Frau Tannhäuser aus Düsseldorf nicht kommen wird“, erklärte sie langsam. „Verstehen Sie? Frau Tannhäuser wird nicht kommen.“

„Und wer sind Sie, wenn ich mir die Frage erlauben darf?“ Ein leises Gähnen machte deutlich, dass man zwar nicht unfreundlich sein wollte, im Grunde aber nichts lieber wünschte, als das Gespräch zu beenden und sich sogleich wieder hinzulegen.

„Ich bin die Schwester“, erwiderte Maya geduldig. „Und ich rufe an, weil Frau Tannhäuser das im Moment nicht selbst kann. Sie ist nämlich schwer erkrankt und wird die nächsten Wochen weder reisen noch geschäftliche Termine wahrnehmen können.“ „Können wir Sie zurückrufen, um uns zu vergewissern, dass Sie kein Scherzbold sind, der uns mitten in der Nacht zum Narren machen will?“ Wieder begleitete ein Gähnen die Worte.

„Natürlich können Sie das.“ Maya nannte ihren vollen Namen, sowie Wiebkes Rufnummer. Gleich im Anschluss legte sie auf, um auf den Rückruf zu warten. Weil dieser aber nicht gleich erfolgte, schimpfte sie den Mann nun doch einen schlampigen Faulenzer. Es folgten noch einige andere unschmeichelhafte Bezeichnungen, während sie es sich auf der breiten Eck-Couch bequem machte, welche nahezu ein Viertel des Wohnzimmers einnahm. Sie war jetzt zum Umfallen müde und wollte die Lider nur für einen kurzen Moment schließen, damit das Brennen ihrer Augen ein bisschen nachließ. Allerdings fiel sie augenblicklich in einen tiefen Schlaf der Erschöpfung, der erst durch das anhaltende Rappeln des Telefons am hellen Morgen beendet wurde.

Noch völlig benommen nahm Maya das Mobilteil zur Hand, ließ ein knappes Ja hören, und wurde sogleich mit den Worten überfallen: „Sie sagen, Sie sind die Schwester von Signora Wiebke Tannhäuser? Und Ihr Name ist Maya Tannhäuser? Hab’ ich das richtig verstanden?“

„Ja, das stimmt alles.“ Derselbe Italiener hatte auf den Anrufbeantworter gesprochen, erinnerte sie sich. Aber es war nicht die Stimme des Nachtportiers. Offenbar hatte am anderen Ende der Leitung bereits ein Schichtwechsel stattgefunden. Oder … Möglicherweise sprach sie jetzt mit dem Hotelmanager selbst? „Wer sind Sie?“, fragte sie. „Und wieso wollen Sie es so genau wissen?“

„Verzeihung“, erklang es von der Gegenseite. „Ich bin wirklich sehr unhöflich. Io …, äh, mein Name ist Giovanni Avorio. Und ich bin der Mann, der für die Organisation eines für Signora Tannhäuser wichtigen Treffens verantwortlich ist. Also: Signora Tannhäuser ist krank, sagen Sie. Darf ich fragen, was genau ihr fehlt?“

„Ich bin weder befugt noch gewillt, Ihnen darüber Auskunft zu geben. Was für Sie wichtig ist, wissen Sie. Ciao!“ Maya beendete das Gespräch, ohne eine Erwiderung abzuwarten, denn der Anblick der Uhr sandte eine heiße Welle des Schreckens durch ihren Körper. Gleich darauf sprang sie von der Couch und hastete ins Badezimmer, um sich zunächst unter die Dusche zu stellen. Anschließend rubbelte sie ihr langes Haar so gut es ging trocken, und flitzte dann ins Schlafzimmer. Die eigene verschwitzte Bluse wollte sie nicht noch einmal anziehen. Also nahm sie sich Unterwäsche und ein leichtes Wickel-Top aus dem Kleiderschrank der Schwester, und war in diesem Moment höchst dankbar dafür, dass die Sachen aus hochelastischem Material bestanden. Den Reißverschluss ihrer dünnen Jeans schließend, betrachtete sie sich kurz in dem großen Wandspiegel neben der Garderobe, fand ihre Aufmachung ein wenig zu freizügig, weil das Top mehr zeigte, als ihr lieb war, verzichtete jedoch darauf, ein anderes Teil herauszusuchen, weil sie so schnell als möglich ins Krankenhaus wollte.

Montag – 29. Juli – 10:00 Uhr

„Wir haben getan, was wir konnten. Und jetzt müssen wir einfach abwarten.“ Doktor Niehaus musterte sein Gegenüber ausgiebig von Kopf bis Fuß, wobei er nicht zum ersten Male zu dem Schluss kam, dass die junge Frau durchaus eine Sünde wert war. Weil ihm aber gleich darauf auch sein eigenes Eheweib einfiel, welches zwar nicht mehr ganz taufrisch, dafür aber überaus temperamentvoll und leidenschaftlich war, und außerdem ziemlich rachsüchtig auf einen Fehltritt seinerseits reagiert hätte, nahm er sich zusammen. „Ihre Schwester schläft noch“, erklärte er im geschäftsmäßigen Ton. „Also würde ich raten, dass Sie erst einmal nicht zu ihr reingehen. Sie braucht sehr viel Ruhe, um sich erholen zu können.“

„In Ordnung.“ Maya war froh, dass man ihr diesen Gang vorerst ersparte, denn sie hätte ohnehin nicht gewusst, wie sie in dieser besonderen Situation mit der Schwester umgehen sollte. Natürlich war sie glücklich, dass Wiebke lebte und wieder gesund werden würde. Andererseits war sie auch wütend, weil die Schwester aus Angst vor einer entstellenden Narbe – es konnte einfach keinen anderen Grund für ihr Zögern geben! – leichtfertig ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatte. Außerdem musste sie sich jetzt sputen, wollte sie rechtzeitig zum Dienst erscheinen. Sie war bis jetzt noch nie zu spät gekommen und seit ihrer Einstellung auch nur einmal krank gewesen. Dennoch wollte sie es nicht darauf ankommen lassen, dass man sie wegen Unzuverlässigkeit abmahnte. Sie war einfach heilfroh, die Stelle als sogenannte Empfangsdame bekommen zu haben, zumal sie keine schwere körperliche Arbeit zu verrichten hatte, dafür aber guten Lohn erhielt. Wollte sie also nicht auf die Abschussliste des Personalchefs gesetzt werden, musste sie täglich wechselnde Arbeitszeiten in Kauf nehmen, und stets zur Stelle sein, wenn man sie brauchte.

Die folgenden Stunden vergingen wie im Flug, denn viele Leute riefen an oder kamen persönlich, um zu fragen, wo ihre Angehörigen zu finden seien, die in der zurückliegenden Nacht und dem Morgen eingeliefert worden waren. Am späten Nachmittag wurde es dann endlich ein wenig ruhiger, sodass Maya zwischendurch auch mal die Zeit fand, an dem belegten Brötchen zu knabbern, welches sie nach dem Besuch bei Doktor Niehaus in der Krankenhaus-Kantine gekauft hatte.

„Ich hab’ dich ein paar Mal angerufen. Aber du warst wieder die ganze Nacht nicht da. Wo warst du?“

Die Angesprochene hatte nicht mitbekommen, dass jemand in die Empfangsloge hereingekommen war, weil ihre Aufmerksamkeit durch die Annahme und anschließende Weiterleitung eines Telefonanrufes gefesselt wurde. Entsprechend erschreckt schaute sie zu dem großen Mann hinauf, der direkt neben ihr aufragte, so als sei er just in diesem Augenblick aus dem Boden gewachsen. Dass er sehr aufgebracht war, konnte sie an seinen Lippen erkennen, die er zu zwei schmalen weißen Strichen zusammenpresste. Dennoch war sie weit davon entfernt, sich irgendwie schuldig zu fühlen. Warum auch? Sie gingen jetzt schon seit sechs Wochen getrennte Wege. Also sollte er endlich akzeptieren, dass sie ihm weder Rechenschaft über ihre Lebensweise schuldig war noch bereit, ihm eine zweite Chance zu geben!

„Du spionierst mir also immer noch nach? Wird das nicht allmählich langweilig?“ Der Schrecken des Überraschungsmoments war mittlerweile überwunden, sodass sie nicht nur wieder normal atmen und sprechen konnte, sondern auch Ärger in sich entstehen fühlte. „Ich war nicht zu Hause. Na und?“

„Ich spioniere nicht“, stellte er richtig, während er die Augenlider zu schmalen Schlitzen zusammenzog, um sie von Kopf bis Fuß zu mustern. Am Ende blieb sein Blick am Ausschnitt ihres Tops hängen, in dem sich der Ansatz ihrer Brüste und ein schmaler Spitzensaum des Büstenhalters zeigten. „Ich wollte dich bloß ins Kino einladen, weil dein Lieblingsfilm im Rahmen des Sommerfestivals gezeigt wird. Außerdem hab’ ich mit dir reden wollen.“ Die Hände tief in die Taschen seines weißen Kasacks gebohrt, löste er endlich die Augen von ihrem Busen und sah ihr wieder direkt ins Gesicht. „Ich dachte … Wir sollten vielleicht doch noch einmal über alles sprechen. Ich liebe dich nämlich immer noch. Trotz allem.“

Trotz allem?

Das klang ja gerade so, als hätte sie ihm irgendwie Unrecht getan!

„Wir haben nichts mehr zu bereden“, beschied sie ihm mit abweisender Miene. „Was zu sagen war, ist alles schon gesagt worden. Und ich sehe keinen Sinn darin, alles noch einmal durchzukauen. Unsere Wege haben sich getrennt, weil du mir nicht länger vertraut hast. Und jetzt habe ich tatsächlich jemand anderen kennengelernt.“ Eine Lüge, ja. Aber vermutlich das einzige Argument, das in seinen Augen glaubhaft genug war, warum sie nicht wieder zu ihm zurückwollte. „Also bitte, lass mich in Ruhe.“

Für einen Moment sah es so aus, als wolle Ray nach ihr greifen, sodass Maya unvermittelt vor ihm zurückschreckte und dann schleunigst von ihrem Stuhl aufstand, um notfalls weglaufen zu können. Weil aber just in diesem Moment eine Schwesternschülerin die Empfangsloge betrat, um aus einem der Postfächer einige Papiere zu entnehmen, entspannte sie sich ein wenig. Ein verkniffenes Lächeln auf den Lippen, beschloss sie dennoch, jeden möglichen Ärger vermeiden zu wollen, und umging daraufhin den immer noch stocksteif dastehenden Mann. Erst an der Tür blieb sie stehen, um sich kurz umzusehen.

„Bin gleich wieder da“, ließ sie in die Richtung der Jung-Schwester verlauten, und war auch schon draußen, bevor diese etwas erwidern konnte. Albern, schoss es ihr durch den Sinn, während sie gleich darauf die benachbarte Türe aufstieß, um sich dann auf der Besucher-Toilette einzuschließen. Absolut idiotisch, was sie da tat. Aber immer noch besser, als sich Rays Geschwätz anzuhören, rechtfertigte sie sich.

Die große Digitaluhr, die mitten im Stationsflur von der Decke hing, zeigte bereits einundzwanzig Uhr an, als Maya endlich dazu kam, nach Wiebke zu sehen. Aus dem Schwestern-Stützpunkt heraus lugte sie zunächst durch die Lamellen der Jalousie hindurch in das benachbarte Überwachungszimmer hinein. Doch hatte sie den Raum kaum überblickt, da fühlte sie mit einem Mal einen dicken Kloß in ihrer Kehle stecken. Die schmächtig wirkende Gestalt in dem großen Krankenbett sah nämlich so erbarmungswürdig aus, dass es ihr im Herzen weh tat. Nichts erinnerte mehr an die Agilität der ehedem unverwüstlich anmutenden Blondine, deren Benehmen in der Öffentlichkeit stets untadelig war, die in ihren Privaträumen jedoch wie ein Marktweib herumschreien und vor lauter Wut wahllos Dinge an die Wand werfen konnte. Umgeben von unzähligen Schläuchen und Kabeln, wirkte Wiebke nun sehr bleich und ziemlich verloren, während der Blick ihrer grünen Augen wie festgenagelt an der Decke klebte. Selbst als die diensthabende Schwester neben ihr stehen blieb, um sie etwas zu fragen, ließ sie keinerlei Regung erkennen.

Auf Mayas Stirn bildeten sich nachdenkliche Falten. Dass Wiebke sauer sein würde, weil man sie ohne ihre ausdrückliche Einwilligung operiert hatte, war klar gewesen. Dass sie sich aber aus lauter Protest gegen die vermeintliche Entmündigung völlig hängen ließ, war ganz und gar untypisch für sie. Selbstverständlich hatte sie noch nicht die nötige Kraft, um ihrem Zorn freien Lauf zu lassen. Aber es wäre sehr beruhigend gewesen, hätte sie ihrer Umgebung wenigstens böse Blicke angedeihen lassen.

Merkwürdige Gedankengänge, stellte Maya im Stillen für sich fest, während sie sich auf den Weg ins Nachbarzimmer machte. Man wollte fast meinen, sie wünsche sich das rechthaberische Weib zurück, mit welchem sie während ihrer gesamten Teenager-Zeit unzählige Machtkämpfe ausgefochten und dabei fast immer den Kürzeren gezogen hatte! Nein, stellte sie es sogleich richtig. Sie wollte nicht die launische Gouvernante wiederhaben. Sie wollte bloß, dass ihre Schwester sich nicht aufgab – nicht wegen einer albernen Narbe auf der Brust. Schließlich gab es Wichtigeres auf der Welt!

„Hallo. Ich wollte …“ An der Seite des Bettes angekommen, blieb Maya stehen, nicht wirklich wissend, wie sie sich weiter verhalten sollte, denn Wiebke schien jetzt wieder tief und fest zu schlafen. Die Schwester betrachtend, die ihr jetzt noch bleicher und zerbrechlicher erschien, schluckte sie einige Male hart und beugte sich dann vorsichtig über die Kranke, um ihr eine vorwitzige Haarsträhne aus der Stirn zu streichen. Du bist bald wieder auf dem Damm, wollte sie sagen, brachte jedoch keinen Ton hervor, weil ihr die Kehle plötzlich wie zugeschnürt war. Als ihr dann auch noch Tränen in die Augen schossen, wandte sie sich hastig ab und ging hinaus. Merkwürdig, dachte sie. Da hatte sie immer geglaubt, Wiebke sei ihr vollkommen egal, und hatte doch Panik davor, dass es vielleicht doch nicht so rosig um die Schwester stand, wie Doktor Niehaus versichert hatte.

Es war schon später Abend. Dennoch war es immer noch heiß und stickig als Maya aus dem Foyer des Krankenhauses trat, um zur nächstgelegenen Bushaltestelle zu gehen. Trotzdem fröstelte sie und schaute sich dabei mehrfach um, weil sie plötzlich das Gefühl hatte, sie würde verfolgt – oder zumindest aus einem guten Versteck heraus beobachtet. Es nutzte gar nichts, sich einzureden, sie registriere in ihrem Rücken bloß die Blicke der Leute, die in die gleiche Richtung wollten, wie sie. Das Empfinden einer undefinierbaren Bedrohung wurde immer stärker, sodass sie hörbar aufatmete, als der erwartete Bus endlich kam.

3

Mittwoch – 31. Juli – 11:50 Uhr

Der Tag war angenehm, denn in der Nacht war ein Sommergewitter über die Stadt hinweg gezogen, welches nicht nur die Lufttemperatur abgesenkt, sondern auch den Staub weggespült hatte, der zuvor alle Grasflächen und Baumkronen grau und müde aussehen ließ. Entsprechend frisch sah auch Maya aus, denn sie hatte zum ersten Mal seit Tagen tief und traumlos, vor allem aber lange genug geschlafen, um sich zu regenerieren.

„Können Sie mir sagen, ob eine Wiebke Tannhäuser hier zu finden ist?“

Maya fuhr wie elektrisiert zusammen, als sie die sonore Männerstimme vernahm. Gleich darauf starrte sie völlig verblüfft und fasziniert zugleich zu dem großen Mann hinauf, der auf der anderen Seite des Empfangstresens stand, welcher den Eingangsbereich des Krankenhauses vom Inneren der Empfangsloge trennte. Ihr Gegenüber besaß eine hochgewachsene sportliche Statur, dunkle Augen, schwarz gelocktes und trotz sorgfältigem Kämmen leicht zerzaust wirkendes Haar, ein markantes Gesicht mit Römernase, einen sinnlichen Mund und strahlend weiße Zähne. Sein Anzug wirkte zwar auf den ersten Blick eher schlicht, musste aber ein Vermögen gekostet haben – so wie auch der gigantische Blumenstrauß, den er in Händen hielt. So hatte sie sich ihren Märchenprinzen vorgestellt, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, schoss es ihr durch den Sinn. Doch schob sie diesen Gedanken gleich wieder beiseite, weil er in der Tat höchst albern anmutete.

„Ich … Was …?“ Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich selbst. Was soll er denn von dir denken, wenn du wie ein hirnloses Trampel herum stotterst und ihn dabei angaffst, als wäre er das achte Weltwunder? „Sind Sie ein Verwandter?“ Es war eine Routinefrage, die sie an jeden Auskunft-Suchenden stellen musste. Außerdem verschaffte sie sich so ein bisschen mehr Zeit, um sich fangen zu können. Sein Name war Giovanni Avorio, erinnerte sie sich. Und seine Stimme hatte ihr schon einmal Gänsehaut gemacht!

Der große Mann hatte bisher ein nichtssagendes Lächeln zur Schau getragen, wurde jetzt aber zusehends ernst. Die junge Frau hinter dem Empfangspult näher in Augenschein nehmend, war er für ein paar Sekunden ein wenig fassungslos, weil sie jemandem zum Verwechseln ähnlich war, den er gut kannte. Allerdings führte er diese Tatsache gleich darauf auf eine verrückte Laune der Natur zurück.

„Nein, ich bin kein Angehöriger von Signora Tannhäuser“, erklärte er höflich. „Aber ich bin ein langjähriger Freund. Und ich …“ Er brach ab, um sich einmal ausgiebig zu räuspern, bevor er neu ansetzte: „Mein Name ist Giovanni Avorio. Man hat mir telefonisch mitgeteilt, dass Signora Tannhäuser ernstlich erkrankt ist. Und nachdem ich fast zehn Minuten lang vergeblich an ihrer Wohnungstür geklingelt habe, bin ich auf die Idee gekommen, sie könnte vielleicht in einer Klinik sein. Also bin ich erst einmal auf gut Glück zum nächstbesten Krankenhaus gefahren, in der Hoffnung, nicht erst die ganze Stadt abklappern zu müssen, um sie zu finden. Nun, es sieht so aus, als sei ich hier richtig. Si?“

„Ja.“ Er war offenbar ein Freund der besonderen Art, mutmaßte Maya, während ihre Augen über den Blumenstrauß huschten, der hauptsächlich aus langstieligen Edelrosen bestand. Möglich, dass er genau die Person war, die Wiebke jetzt ein wenig aufmuntern konnte! „Sie ist hier.“

„Und wo finde ich die Signora?“, wollte er wissen.

„Intensivstation. Zimmer drei.“ Sie kam sich wie ein hypnotisiertes Kaninchen vor, welches kurz davorstand, von einem hungrigen Reptil verschlungen zu werden. Unfähig dem Blick des dunklen Augenpaares auszuweichen, schaute sie ihr Gegenüber an und fühlte dabei ihre Hände feucht werden.

„Vielen Dank, Signorina.“ Die Lippen zu einem offenen Lächeln verziehend, zwinkerte er ihr gleichzeitig zu und wandte sich dann ab, mit der augenscheinlichen Absicht, zu gehen. Doch gleich darauf drehte er sich wieder herum, machte eine hilflos anmutende Geste, und kam wieder zum Empfangspult zurück. „Wie komme ich hin?“

„Gleich um die Ecke ist ein Aufzug“, antwortete sie mit belegter Stimme. „Sie können aber auch die Treppe benutze, die gleich neben dem Lift ist. Folgen Sie einfach den Hinweisschildern.“

„Grazie. Danke, vielmals.“ Er hätte nun losmarschieren können, blieb jedoch auf der Stelle stehen und taxierte seine Gesprächspartnerin mit einem undeutbaren Blick. „Sagen Sie, wir sind uns nicht zufällig schon einmal begegnet?“, fragte er schließlich. „Ich meine … Es kommt mir so vor, als würde ich Sie kennen. Ist das möglich?“ Er konnte es sich nicht erklären, aber da war etwas an ihr, was ihn kribbelig machte.

„Nein.“ Maya fühlte ungewohnt starke Hitze in ihre Wangen schießen, angesichts der eingehenden Musterung, die nicht nur ihrem Gesicht, sondern auch dem Rest ihres Körpers galt, der nicht vom Empfangstresen verdeckt wurde. „Begegnet sind wir uns noch nie. Aber ich war diejenige, mit der Sie am Montag telefoniert haben.“

„Madonna mia!“ Signore Avorio hatte Mühe, seine Verblüffung nicht allzu deutlich werden zu lassen. Es war also keine völlig Fremde, die er da vor sich hatte! „Sie sind die Schwester von Signora Tannhäuser, nicht wahr?“ Er tat, als sei ihm der Blumenstrauß zu schwer, sodass er ihn ein wenig umständlich in die andere Hand verlagerte, wollte mit seiner unbeholfen wirkenden Aktivität aber nur überspielen, dass er innerlich zutiefst aufgewühlt war. „Die Frau mit der wunderschönen Stimme, die einfach aufgelegt hat, als ich zu neugierig wurde.“ Sie sah sehr jung aus, schoss es ihm unvermittelt durch den Kopf. Er konnte aber auch gut sein, dass sie eine von den Glücklichen war, denen man ihr wahres Alter nicht ansah.

„Sie wollen also zu Wiebke?“ Maya wollte das Gespräch beenden, weil sie davon ausging, dass es ohnehin nur aus purer Höflichkeit geführt wurde. Zudem wurde ihre Aufmerksamkeit jetzt von einem anderen Besucher gewünscht, der sichtbar ungeduldig von einem Bein aufs andere trat.

„Si, natürlich.“ Giovanni merkte, dass seine Gesprächspartnerin keine Zeit mehr für ihn hatte, und trat zunächst ein wenig beiseite. Sobald sie jedoch die Frage des nächsten Besuchers beantwortet und ihn verabschiedet hatte, stellte er sich wieder vor den Empfangstresen. „Sie müssen verstehen: Als ich erfuhr, dass Wiebke ernsthaft krank ist, hab’ ich mir große Sorgen gemacht. Und weil ich weder sie noch Sie“, er zeigte mit dem Zeigefinger auf sein Gegenüber, „telefonisch erreichen konnte, hab’ ich mich entschlossen, selbst nach dem Rechten zu sehen. Also hab’ ich mich kurzerhand in den Wagen gesetzt. So. Und nun bin ich hier und kann kaum glauben, dass ich Wiebkes kleine Schwester vor mir habe. Wissen Sie was? Ich gehe jetzt erst einmal zu Wiebke und liefere meine Blumen ab. Und danach gehen wir einen Kaffee trinken, si?“

„Ich kann aber nicht so einfach weg.“ Jetzt war Mittagszeit, stellte sie nach einem kurzen Blick auf ihre Armbanduhr fest. Und ihr Dienst ging an diesem Tag von sechs Uhr früh bis um vier Uhr am Nachmittag. Außerdem war sie sich gar nicht sicher, ob sie die Einladung überhaupt annehmen wollte. Was hatte sie schon mit Wiebkes Lover zu bereden? Andererseits könnte er eine lohnende Informationsquelle sein, aus welcher sie möglicherweise ein paar unbekannte Details über ihre Schwester herausholen konnte!

„Dann warte ich, bis Sie hier fertig sind. Si? Bitte sagen Sie nicht No.“ Er verzog das Gesicht zu der hoffnungsvollen Miene eines Bittstellers, wohl wissend, dass dies bei den meisten Frauen wirkte. Da man diesmal jedoch keinerlei Anstalten machte, in erwarteter Weise zu reagieren, verlegte er sich aufs Schmeicheln: „Ich möchte Sie so gerne näher kennenlernen. Wissen Sie, Sie sind das schönste Mädchen, das ich je gesehen hab. Also wäre ich der stolzeste Mann auf Erden, wenn ich mit Ihnen an meiner Seite durch die Stadt laufen dürfte, sodass mich alle anderen Männer um mein Glück beneiden.“

Ein zurückhaltendes Lächeln auf den Lippen nickte Maya bloß, um ihre Einwilligung deutlich zu machen, schimpfte ihn insgeheim jedoch einen aalglatten Schleimer, dessen Sprüche bereits mehr als ein Jahrhundert auf dem Buckel hatten. Nein, ganz so naiv war sie nicht mehr, um ernsthaft zu glauben, das Interesse eines so umwerfend gut aussehenden Mannes könnte tatsächlich ihrer Person gelten! Aber neugierig war sie jetzt doch. Sie wollte mehr über ihn erfahren, und vielleicht auch über die Beziehung, die ihn mit Wiebke verband. Außerdem hatte sie nach Feierabend ohnehin nichts Besseres vor, rechtfertigte sie sich.

Mittwoch – 31. Juli – 16:50 Uhr

„Wie haben Sie Wiebke denn kennengelernt?“ Maya wusste, es war unhöflich, so direkt zu fragen. Aber es fiel ihr im Moment nichts Anderes ein, womit sie die Konversation hätte beginnen können. Er war nach dem zweistündigen Besuch bei Wiebke gegangen, um einen Spaziergang durch Düsseldorfs Innenstadt zu machen. Doch zu ihrem Dienstschluss war er wiedererschienen, um sie abzuholen. Auf dem Weg zu ihrem Lieblings-Café war jedoch nur ein Small Talk zustande gekommen, weil er sich plötzlich sehr zurückhaltend gab, und sie nicht gewusst hatte, wie sie damit umgehen sollte. Und jetzt saßen sie schon eine ganze Weile im Café-Garten unter einer der ausladenden Linden, ohne dass einer von ihnen etwas gesagt hätte. Allein die Tatsache, dass er sie die ganze Zeit über sehr aufmerksam gemustert und dabei immer wieder auf seiner Unterlippe herumgekaut hatte, machte deutlich, dass ihm irgendetwas durch den Kopf ging, was ihre Person betraf.

Bei anderer Gelegenheit wäre Maya solch eine gründliche Begutachtung vonseiten eines fremden Mannes unangenehm gewesen. Doch an diesem Tag wurde diese Tatsache völlig ignoriert, weil sie davon ausging, dass er bloß über ihre fehlende Ähnlichkeit mit ihrer Schwester nachdachte.

„Ich habe Wiebke Anfang der Achtziger kennengelernt, sie dann aber wieder aus den Augen verloren“, antwortete Giovanni endlich. „Und vor etwa neunzehn Jahren trafen wir uns wieder. Es war purer Zufall, verstehen Sie. Damals hatte ich gerade das Gästehaus meines Großonkels übernommen und somit auch seine Stammgäste. Na ja, ich muss zugeben, ich war anfangs sehr angetan von ihr. Als ich aber erfuhr, dass sie in festen Händen ist, musste ich alle meine Hoffnungen begraben und mich mit ihrer Freundschaft begnügen.“ Dem Blick seines Gegenübers bewusst ausweichend, welches ihn plötzlich mit unverkennbar verblüffter Miene ansah, fingerte er ein silbernes Zigarettenetui aus der Innentasche seines Jacketts, und zog dann ein Zigarillo heraus, um es danach äußerst umständlich anzuzünden.

„In festen Händen? Sie …“ Maya war ein wenig irritiert, da sie sich nicht daran erinnern konnte, Wiebke jemals von einer ernsthaften Beziehung sprechen zu hören. „Wer ist denn der Glückliche?“ Sie hatte kaum ausgesprochen, da hätte sie sich am liebsten die Zunge abgebissen. „Ich meine … Sie hat mir nie etwas von einem festen Freund erzählt. Dabei hatte sie eigentlich nie Geheimnisse vor mir.“ Lügnerin! Wie konnte man nur so schamlos schwindeln? Im Grunde wusste sie so gut wie nichts über ihre Schwester – mal abgesehen von bestimmten Charaktereigenschaften, üblen Angewohnheiten, Geburtstag und Adresse. Aber von welchen Träumen, Wünschen oder gar Sehnsüchten Wiebke geleitet wurde, danach hatte sie sich nie zu fragen gewagt, weil sie sich stets sicher gewesen war, sofort eine rüde Abfuhr zu bekommen.