Das Geräusch des Werdens - Aléa Torik - E-Book

Das Geräusch des Werdens E-Book

Aléa Torik

4,4

Beschreibung

Aus Marginime verschlägt es den in seiner Jugend erblindeten Marijan nach Berlin. Dort verliebt er sich in Leonie. Sie überredet ihn zur Ausstellung seiner Fotografien. Diese sind in Berlin entstanden, nachdem ihm ein Fremder eine Kamera geschenkt hatte. Auf der Vernissage spricht Marijan über sich. Das ruft in ihm Stimmen der Vergangenheit wach. Aus verschiedenen Blickwinkeln wird ein anrührendes Bild entworfen, in dem sich die Schicksale der Menschen seines Heimatdorfes mit denen aus Berlin verknüpfen. Mit großer poetischer Kraft fängt die Autorin Sinneseindrücke ein und verdichtet sie sprachlich so, dass ein neuer Lebenskosmos entsteht, der seine Wurzeln nicht verleugnet.

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ALÉA TORIK

DAS GERÄUSCH

DES WERDENS

OSBURG VERLAG

Erste Auflage 2012 © Osburg Verlag Berlin 2012www.osburgverlag.de Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie die Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Lektorat: Ulrich Steinmetzger, Halle (Saale) Herstellung: Prill Partners producing, Berlin Umschlaggestaltung: Toreros, Lüneburg Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde E-Book ISBN: 978-3-95510-010-0 Weitere E-Books vom Osburg Verlag

Inhalt

Berlin am Meer

Das Geräusch des Werdens

Dass einem das Blut in den Adern gefriert

Je größer die Stadt, desto jünger die Leute

Wie ein Mensch

Mach was Einfaches, mach Kopfstand oder Ballett, aber hör bloß mit Liegen auf

Dass die Seele mit den Zähnen zu Fuß geht

Das Geräusch des Werdens

Schöne Beine, wunderschöne lange Beine, schöne Augen und meterlange Wimpern

Andalusien, Eine, Küste

Zu heiraten, vor dem Spiegel zu stehen und glücklich zu sein

Als wenn ihr die Lider fehlten

Die mesio-bukkale des vorderen Höckers des ersten oberen Molars

Das Geräusch des Werdens

Der Salon Sucre

Es war dasselbe, es fühlte sich nur vollkommen anders an

Es war wie seit Jahren genau sieben Uhr

Die dritte Hälfte

All die Qual der letzten Jahre wird dann vorüber sein

Das Geräusch des Werdens

Liebe ist so ne Sache

Saubere Fingernägel und ein wohlproportionierter Bizeps brachialis

Jeder versucht doch das Leben auf seine Weise, nicht wahr?

Als sei man nicht älter geworden, sondern immer schon gewesen

Ein mediterranes Fluidum und in der Ferne das Meer

Schöne große runde Kreise

Das Geräusch des Werdens

Das Paradies im Zentrum von Marginime

Über die Autorin

Berlin am Meer

Marijan saß auf einem Stuhl einen halben Meter unter der Meeresoberfläche. Er spürte einen Anflug von Panik. Musste er als Nächstes ein- oder ausatmen? Oder etwas dazwischen? Konnte man unter Wasser ersticken? Ertrank man? Musste man das tun oder konnte man es einfach unterlassen? Er wollte schreien, aber er konnte den Mund nicht öffnen. Es war warm. Ihm war kalt. Er schwitzte. Er fror. Er erstickte und ertrank. Das war ein erbärmlicher Zustand und das Erbärmlichste war, dass Leonie meinte, es sei lediglich Lampenfieber und er stürbe nicht wirklich.

Es wird sicher kein Mensch kommen, um sich die Fotografien anzuschauen, die hier an den Wänden hingen. Vielleicht hingen die dort gar nicht. Wozu Fotos aufhängen, wenn keiner kommt, um sie sich anzuschauen? Da es die Fotos eines Blinden waren, konnte man auf ihnen sicher nur das sehen, was Blinde sehen, nichts nämlich. Um sich das anzuschauen, musste man aber nicht herkommen. Möglicherweise würden sie auch im Laufe des Abends von den Wänden fallen, eins nach dem anderen, achtundzwanzig splitternde Geräusche. Später würden er, Leonie und der Galerist zwischen den Scherben sitzen und sich wundern, dass niemand gekommen war. Die beiden würden sich wundern, er hatte es ja vorher gewusst.

Marijan fühlte sich elend und krank. Er wollte ins Bett gehen. Er wollte mit Leonie ins Bett gehen. Diesen Vorschlag hatte er bereits gemacht, als sie ihn abholte.

»Wir könnten zu mir hochgehen und miteinander schlafen«, hatte er vorgeschlagen.

»Nein, können wir nicht«, hatte sie geantwortet.

»Schade.«

»Das finde ich auch.«

»Warum machen wir es dann nicht? Ich hätte da so eine Idee, ziemlich akrobatisch und auch ein kleines bisschen pervers«, hatte Marijan noch einen Versuch unternommen.

»Solche Ideen habe ich dauernd.«

»Ach ja?«

Auf dem Weg in die Galerie sprachen sie nicht viel. Es war noch warm, aber man spürte bereits den Abend. Sie wollten gegen sieben Uhr ankommen, eine halbe Stunde später war Einlass. Die offizielle Eröffnung war dann um acht.

Die Galerie »Berlin am Meer« lag in einem Innenhof. Man ging von der Straße durch eine Hauseinfahrt, die Schritte hallten von allen Seiten. Marijan hatte das Gefühl, seitlich an der Wand oder kopfüber an der Decke entlang zu gehen. Man überquerte einen gepflasterten Hof und betrat über zwei Stufen den Ausstellungsraum. Dort war ein kleines Podest errichtet worden. Er war in den letzten Tagen mehrfach hier gewesen, um ein Gefühl für den Raum zu bekommen. Die Fotografien hingen in großen Rahmen hinter Glas. Er hatte sie berührt, aber nichts dabei empfunden. Wer war eigentlich auf die absurde Idee gekommen, dass er bei der Ausstellungseröffnung etwas sagen sollte?

Als sie ankamen, führte Leonie, die noch etwas mit dem Galeristen besprechen wollte, Marijan zu einem Stuhl. Sie ging wieder in den Hof zurück. Er hörte die beiden miteinander reden. Dann hörte er sie nicht mehr.

Leonie und er kannten sich jetzt seit beinahe einem Jahr. Sie waren, nachdem sie sich kennengelernt hatten, einige Tage gemeinsam durch Berlin gezogen. Jeden Morgen waren sie losgefahren, ins Grüne oder ins Blaue. Die Farbe war Marijan nicht wichtig. Leonie hatte sich um ihn bemüht. Wenn sie unterwegs waren, hatte sie ihn geführt. Er hakte sich bei ihr unter oder sie hielt seinen Arm, manchmal auch nur den Ärmel. Sie gingen nebeneinander, aber Leonie war ein kleines Stückchen voraus. Manchmal spürte Marijan die Verbindung kaum noch, aber sie riss nie ab. Sie saßen in einem Café, am Wasser oder auf einem Steg, Marijan legte seine Hände auf den Tisch oder auf seine Oberschenkel und Leonie schob ihre Hand ganz nah an seine heran, bis ihre Fingerspitzen sich berührten. Sie ließ ihn ihre Nähe spüren. Sie achtete auf den Weg, auf Stufen, Bürgersteige und auf andere Menschen. Marijan spürte sie sechs Tage lang neben sich. Er hörte sie sprechen und lachen. Sie war da. Sie war anwesend. Jede Bewegung und jede Berührung an diesen Tagen war von ihr ausgegangen, jeder einzelne Schritt.

Dann hatten sie sich gestritten. Marijan hatte sich abrupt umgedreht und war gegangen. Er kannte den Weg, aber er spürte ihn nicht. Er ging schneller als er gehen konnte und stolperte wiederholt. Er hoffte, dass Leonie ihm folgte, und er hoffte, dass sie es nicht tat. Zu Hause angekommen, legte er sich aufs Bett. Er atmete schwer. Er hatte Leonie nicht verlassen wollen, aber er wusste nicht, was er sonst hätte tun sollen. Dieser Streit hatte seit geraumer Zeit in der Luft gelegen. Am ersten Tag hatten sie sich geküsst, aber das war nicht wieder vorgekommen. Die folgenden sechs Tage hatten sie einander nur noch mit den Fingerspitzen berührt, mit den Händen und den Schultern. Zufällige Berührungen, die nichts beabsichtigten. Sie wussten beide, dass sich etwas ändern musste. Es musste mehr oder weniger werden. Es musste endlich anfangen. Oder es musste aufhören. Sechs Tage lang war jede Bewegung und jede Berührung von ihr ausgegangen, jeder einzelne Schritt. Nun musste er den letzten machen. In die eine oder in die andere Richtung. Marijan wusste das. Dennoch war er wie erstarrt. Er lag auf dem Bett ohne sich zu rühren.

Es klingelte mitten in der Nacht. Obwohl er wach da lag, bewegungslos seit Stunden, dauerte es, bis er aus dem Bett gefunden hatte. Er ging in den Flur und betätigte den Türöffner. Keine Minute später stand sie schwer atmend in der Tür. Sie sagte nichts, aber Marijan wusste, dass es Leonie war. Die Wohnungstür fiel ins Schloss. Er hörte ein langsames Rutschen.

»Wenn du mich suchst, ich bin hier unten«, sagte sie.

Unten? Etwa auf dem Boden? Wieso saß Leonie auf dem Boden? Warum sollte er sie suchen, wenn er doch wusste, wo sie war? Marijan spürte etwas wanken. Oder war er es, der wankte? Er rutschte ebenfalls zu Boden. Sie saßen mitten in der Nacht im Flur auf dem Boden, jeder an einen Türrahmen gelehnt. Er hörte Leonie atmen. Er streckte die Hand aus und zog sie wieder zurück. Da lag etwas. Er streckte sie erneut aus. Das musste ein Schuh sein. Er hob ihn auf und hielt ihn in der Hand. Das war keiner seiner Schuhe. Er fiel zu Boden. Marijan spürte etwas anderes, es bewegte sich zwischen seinen Fingern. Er hielt einen Fuß in der Hand. Marijan lag mehr als er saß. Leonies Fuß war jetzt ganz nah an seinem Gesicht. Er konnte kaum atmen, so sehr schlug sein Herz. Es schlug ihm im Hals. Es bewegte sich an seinem Mund, an seinen Lippen. Das war nicht sein Herz, das sich bewegte, das waren ihre Zehen! Er hielt inne. Was sollte er bloß tun?

»Los, weiter!«, sagte Leonie flüsternd.

»Was weiter?«, flüsterte Marijan zurück.

»Weiter lächeln.«

Er versuchte ein Lächeln. Es war sicher dunkel im Flur. Sie konnte das nicht sehen. Er atmete jetzt heftiger. Er lag auf dem Boden und hatte das Gefühl, sich festhalten zu müssen. Aber er wusste nicht wo. Da war nur Leonies Fuß. Er öffnete den Mund und spürte ihre Zehen an seinen Lippen. Er spürte seine Hände und ihre Beine. Oder er spürte nur ihre Beine. Etwas bewegte sich und dann bewegte es sich sehr heftig. Das war Leonie. Er zog an etwas, er zerrte. Er hörte wie etwas riss. Und dann war Leonie plötzlich da. Sie war überall. Sie war über und unter ihm, sie rollten über den Boden, er roch ihre Haut und ihre Haare, er spürte ihre Brüste an seinem Gesicht, er spürte ihren Mund, ihre Zähne und ihre Zunge. Leonie stöhnte laut. Sie schrie beinahe. Marijan hatte das Gefühl, ohnmächtig zu werden.

Er schlug die Augen auf. Er hörte seinen Atem. Nein, das war nicht sein Atem! Das war der Atem neben ihm. Er spürte eine andere Hand in seiner und einen anderen Körper neben seinem. Er spürte seinen eigenen, indem er den anderen spürte. Dieser Umstand hatte ihn in der vergangenen Nacht verwirrt. Und er verwirrte ihn noch immer. Neben ihm schlief Leonie und er hielt sie im Arm! Marijan hatte noch nie eine Frau im Arm gehabt. Jedenfalls nicht so. Sie war vollkommen nackt. Unglaublich, dass ein Mensch so nackt sein konnte. Das war grandios! Da lag eine nackte Frau neben ihm. Da lag ein fremder Atem neben seinem. Er erinnerte sich an die vergangene Nacht, an den Anfang im Flur. Auch da hatte er Leonie atmen gehört. Jetzt atmete sie ruhig und gleichmäßig. Marijan wollte sich nicht bewegen. Er wusste nicht, was er tun oder sagen sollte, wenn sie wach wurde. In diesem Moment drehte sie sich, löste ihre Hand aus seiner und legte ihren Kopf an seine Schulter. Sie gab einen Ton von sich, einen tiefen Ton, dann rutsche sie näher an ihn heran und auf ihn drauf. Sie schlief gar nicht, sie war wach und lag auf ihm, ihre Hände in seinen Haaren.

»Kennen wir uns eigentlich? Mir scheint, ich habe dich schon mal gesehen«, sagte sie.

»Ich habe dich noch nie gesehen. Das weiß ich ganz sicher.«

»Sind wir zwei also doch noch im Bett gelandet!«

Marijan musste lächeln.

»Leonie?«

»Ja?«

»Ich schäme mich.«

»Wofür denn?«

»Für heute Nacht.«

»Hats dir nicht gefallen?«

»Doch! Sehr sogar. Aber ich schäme mich trotzdem.«

»Ich schäme mich ebenfalls.«

»Ich meine es ernst«, sagte Marijan.

»Ich auch!«, sagte Leonie lachend. »Wirklich wahr. Scham ist nicht schlimm. Das muss man lernen.«

»Was muss man lernen?«

»Seiner Lust freien Lauf zu lassen«, sagte sie.

»Und du hast es gelernt?«

»Hast du das nicht gemerkt?«

Marijan antwortete nicht. Er versuchte sich vorzustellen, wie sie das gelernt hatte. Er erschrak und versuchte, es sich nicht mehr vorzustellen. Dann spürte er ihre Lippen auf seinen. Von einer auf die andere Sekunde war alles wieder so wie am Abend zuvor. Als ginge man sonst im Leben immer um etwas herum, das mit einem Mal genau in der Mitte lag.

»Gibts kein Frühstück?«, fragte Leonie später.

»Hast du Hunger?«

»Und wie! Ich muss essen. Ich bin zu dünn.«

»Bist du dünn?«, fragte Marijan.

»Ich bin groß und dünn. Hast du das nicht bemerkt?«

»Wie hätte ich das bemerken sollen?«

»Durch deine Berührungen.«

»Ich konnte nichts dergleichen spüren. Ich habe etwas anderes gespürt.«

»Was denn?«

»Weiß ich nicht genau.«

»Woher weißt du dann, dass es etwas anderes war?«

Marijan lachte. Leonie lachte auch. Sie stand auf. Marijan hörte, dass sie sich raschelnd etwas überzog und aus dem Zimmer ging. Er hörte ihre nackten Füße im Flur, sie ging ins Bad. Hatte er gestern Nacht wirklich ihre Füße geküsst? Er roch an der Bettdecke. Einige Minuten später kam sie wieder aus dem Bad und ging in die Küche. Er hörte sie und er roch sie. Sie war hier in seiner Wohnung, mitten in seinem Leben.

»Bin ich auch groß und dünn?«

Marijan stand im Türrahmen der Küche. Dort wo er gestern Nacht gestanden hatte, bevor er auf den Boden gerutscht war.

»Du weißt nicht, wie groß du bist?«

Er wusste nicht, ob er groß, dick oder dünn ist. Weil er nicht wusste, wie groß und dick oder dünn andere Menschen sind.

»Ich bin mit dreizehn Jahren erblindet. Danach bin ich noch gewachsen. Aber ich weiß nicht, wie viel und wie lange.«

»Du redest mit anderen Menschen. Du weißt doch, aus welcher Höhe ihre Stimmen kommen.«

»Aber ich weiß nicht, ob es die Stimmen großer oder kleiner Menschen sind.«

Leonie antwortete nicht. Dachte sie darüber nach? Oder hatte sie es vergessen? Hatte sie ihn vergessen?

»Bin ich nun groß und dünn?«, fragte Marijan ein wenig ungeduldig.

»Weiß ich nicht«, sagte Leonie, »wenn ich dich sehe, sehe ich etwas anderes.«

»Woher weißt du, dass es etwas anderes ist?«

Sie lachten erneut. Marijan hörte ein Messer auf einem Brett. Er hörte etwas klappern. Eine Metalldose, ein Glas. Er hatte keine Vorstellung, wie spät es war.

Beim Essen saßen sie am Küchentisch. Leonie hatte ihren Fuß auf seinem Bein abgelegt. Sie bewegte die Zehen in seiner Hand. Marijan lächelte.

»Was machen wir jetzt?«, fragte er.

»Wir schämen uns noch mal«, antwortete sie, »aber richtig doll.«

Marijan versuchte sich erneut vorzustellen, wie Leonie gelernt haben mochte, mit ihrer Lust umzugehen. Und mit der anderer. Mit der Unterscheidung zwischen doll und nicht so doll.

An den vorhergehenden Tagen hatte etwas in der Luft gelegen. Es war wie eine gegenseitige Hemmung. Das war schwer zu beschreiben. Obwohl es nach dieser Nacht sehr einfach war. Es ließ sich auf ein einziges Wort reduzieren und solchermaßen reduziert, ließ sich kaum noch verstehen, warum es sich zuvor als schwierig dargestellt hatte. Dieses Wort lautete Krisztina.

Leonie hatte Marijan gezwungen, sich an das Mädchen zu erinnern. Er hatte zehn Jahre nicht an Krisztina gedacht. Er hatte nicht an sie denken wollen. Als er an dem Abend nach ihrem Streit allein auf dem Bett lag, konnte er sich nicht mehr dagegen wehren. Ihr Bild wurde deutlicher. Er sah Mărginime, wie man es von der Anhöhe sehen konnte, das Tal, die Häuser, den Marktplatz mit der Kirche und dem Schulgebäude daneben. Clara, die Lehrerin, stand im Schulzimmer vorn an der Tafel und stellte eine Frage. Nicolae rief die Antwort in die Klasse. Clara ermahnte ihn wie so oft, sich zu melden und zu warten, bis er aufgerufen würde. Sie lächelte über seine ungestüme Art oder über ihre vergeblichen Versuche, ihn zu bändigen. Marijan sah zu Krisztina hinüber, die ebenfalls lächelte. Er erkannte die Situation sofort. Es war Freitag, die letzte Stunde vor dem Wochenende. Gleich musste es klingeln. Clara drehte der Klasse den Rücken zu und schrieb etwas an die Tafel. Marijan sah die weiße Kreidespur. Einen Meter davor stand das Pult, auf der einen Seite lag ein Stapel Hefte und auf der anderen das Klassenbuch. Nicolae sah verschwörerisch zu ihm herüber. Krisztina benahm sich, als bemerke sie nicht, dass die beiden einander Zeichen gaben. Es klingelte. Marijan und Nicolae sprangen auf. Sie hatten gehofft, vor Krisztina aus dem Schulzimmer zu kommen. Dabei saß sie direkt an der Tür. Im Flur stand sie dann vor ihnen. Die Klassenkameraden gingen vorbei und selbst Clara lief ohne ein Wort zu sagen nach draußen. Krisztina schaute von einem zum anderen. Nicolae wich ihrem Blick aus, er kramte in seiner Schultasche. Marijan sah Krisztinas große, dunkle Augen, die fragend schauten. Er wollte, er hätte ihr Gesicht mit den Händen berührt. Aber er wusste auch, dass er diese Regung damals nicht gespürt hatte. Das Berühren von Gesichtern war erst nach seiner Erblindung wichtig geworden. Was mochte ihr in diesem Augenblick durch den Kopf gehen? Warum sagte sie nichts? Sie sah die beiden Jungen an, trat dann einen Schritt beiseite und ließ sie vorbei. Wusste sie da bereits, dass sie einander nicht wiedersehen würden? Diese Szene war so nah, dass Marijan meinte, er müsse lediglich die Hand ausstrecken, um sich selbst, Nicolae oder Krisztina zu berühren. Als wäre es erst gestern geschehen.

Diese Erinnerung und die darauf folgende Nacht mit Leonie, das war jetzt schon ein ganzes Jahr her. Hatte er inzwischen gelernt, mit seiner Nacktheit und seiner Scham umzugehen? Oder mit der Leonies? In diesem Moment hörte Marijan sie draußen auf dem Hof mit dem Galeristen sprechen.

Er konnte die Worte nicht verstehen. Er zitterte. Warum war er bloß so nervös? Er ertastete die Zeit an seinem Handgelenk. Es war halb acht. Er saß noch immer auf seinem Stuhl. Er wollte weglaufen, aber ihm fehlte die Kraft aufzustehen. Er spürte einen Windzug. Das Tor zur Straße war wahrscheinlich geöffnet worden. Wie sinnlos, es würde sowieso niemand kommen! Er wollte Leonie bitten, die Tür wieder zu schließen. Er würde sich erkälten. Ihm war kalt. Dann hörte er Schritte. Er schwitzte. Es kamen Leute! Die wollten bestimmt zu einer anderen Ausstellung. Vielleicht war das hier nur so eine Art Durchgangszimmer.

Es kamen immer mehr Menschen in den Raum. Es waren Stühle aufgestellt worden, aber die meisten Personen standen offenbar. Er war wohl der Einzige, der saß. Er saß einen halben Meter unter den Stimmen, einen halben Meter unter der Meeresoberfläche Berlins. Auf der Höhe der Münder, schwappte es hin und her. Es war laut dort oben und es wurde immer lauter. Das Atmen fiel ihm schwer.

Dann hörte Marijan Leonies Stimme am anderen Ende des Raums. Mit einem Mal waren alle auf der Suche nach Stühlen. Oder suchten sie nicht? Es ging nun sehr schnell. Er hörte überall Stühle rücken. Man nahm offenbar die Plätze ein. Es wurde allerdings nicht leiser. Obwohl die Personen längst alle sitzen mussten, schienen die zu ihnen gehörenden Geräusche noch immer aufgeregt durcheinanderzulaufen und nach den besten Plätzen Ausschau zu halten.

Ihm war übel. Er musste dringend zur Toilette. Jetzt kamen Schritte auf ihn zu. Leonie berührte ihn an der Schulter und beugte sich zu ihm herunter.

»Bist du soweit?«, fragte sie.

Er hatte das Gefühl, gleich in Tränen auszubrechen. Er schüttelte den Kopf. Nein, er war nicht soweit. Ganz und gar nicht.

»Ja! Also ich glaube.«

Seine Stimme zitterte. Warum hatte er ›Ja‹ gesagt? Er wollte doch ›Nein‹ sagen. ›Lass uns gehen‹, wollte er sagen. ›Lass uns miteinander ins Bett gehen.‹

»Keine Angst«, sagte Leonie, »ich bin in deiner Nähe. Ich gehe nicht weg. Ich sitze vorne in der ersten Reihe, ganz links.«

Ihre Stimme war nah an seinem Gesicht. Er spürte ihren Atem. Sie hatten das oft besprochen. Dennoch war es gut, dass sie es noch einmal sagte.

»Los, weiter!«, sagte sie flüsternd an seinem Ohr.

»Was weiter?«, flüsterte Marijan zurück.

»Weiter lächeln!«

Sie richtete sich auf.

»Leonie!«

Sie beugte sich erneut zu ihm herunter.

»Ich weiß nicht, wo die Flossen sind«, sagte Marijan.

»Welche Flossen denn?«

»Die Schwimmflossen und der Schnorchel. Ich weiß nicht, wo sie sind. Ich glaube, wir haben sie im vergangenen Sommer verloren.«

»Wozu brauchst du die denn jetzt?«

»Ich brauche sie, falls ich ertrinke.«

»Du ertrinkst nicht.«

»Woher willst du das wissen? Ich kann nicht schwimmen.«

»Du kannst nicht schwimmen?«, fragte Leonie erstaunt.

»Nein. Ich habe es nie gelernt.«

»Ja, zum Teufel, warum hast du das denn nicht früher gesagt?«

Leonies Stimme klang vorwurfsvoll, beinahe erbost.

»Ich weiß nicht«, sagte er, »ich habe nicht daran gedacht.«

»Marijan!«

»Was denn?«

Sie antwortete nicht. Marijan spürte, dass sie den Kopf schüttelte. Dann lächelte sie. Vielleicht tat sie das. Er wusste es nicht. Er stellte es sich vor. Sie richtete sich erneut auf.

»In Ordnung«, sagte Leonie mit erhobener Stimme in Richtung des Galeristen, »wir fangen an.«

Das Geräusch des Werdens

»Sehr geehrte Damen und Herren! Was Sie an den Wänden ringsum betrachten können, sind die Fotografien eines Blinden. Ich habe sie gemacht. Schön und gut, sagen Sie sich jetzt vielleicht. Jeder nach seiner Fasson. Aber eigentlich ist das übertrieben. Ein Blinder wirkt immer übertrieben blind. Ein Blinder kann nicht essen oder trinken, ohne dass es übertrieben blind wirkt. Aber ein Blinder, der fotografiert, ist geradezu überspannt. Blind oder nicht, er drückt ja bloß auf den Auslöser. Schließlich hat er es an den Augen und nicht an den Händen.

Womöglich empfinden Sie das auch als ein interessantes Experiment. Denn diese Bilder bilden nur ab, ohne Veränderung durch das Auge. Das reine Sehen eines Blinden. Ohne geradezurücken, was in Wirklichkeit krumm ist. Oder, werden Sie sich vielleicht fragen, verändert man immer, weil nicht das Auge allein Veränderungen vornimmt? Es ist vielmehr die lange Kette der Modifikationen, die vom Auge bis zum Gehirn, von der Hand bis zur Handlung reicht. Unmerklich werden überall kleine Veränderungen vorgenommen. Bis man, was man gesehen hat, kaum mehr wiedererkennt, bis aus Gelb Grün geworden ist und aus Beleidigung Belobigung. Das Sehen ist geradezu absurd, und das gilt nicht nur für die, die im physiologischen Sinne sehen können, sondern das gilt auch für Blinde. Ein Blinder kann nämlich seine Augen nicht verschließen: Auch wenn er nichts mehr sieht, seine Blindheit sieht er überall.

Sie können nicht von mir erwarten, dass ich etwas zu den Fotografien sage. Ich sehe tatsächlich nicht, was Sie dort sehen. Ich kann etwas zu den Bedingungen sagen, unter denen diese Bilder entstanden sind. Das will ich im Folgenden auch tun. Wobei Sie sich daran gewöhnen müssen, dass ich vieles anders erlebe als Sie. Bei Sehenden liegen die Dinge, die Ereignisse und Personen sehr eng beieinander. Bei mir hingegen ist dazwischen viel Platz. So viel, dass ich manchmal nicht weiß, ob und wie die Dinge zusammengehören. Ein Blinder ist oft mit nichts anderem beschäftigt, als die Verhältnisse der Personen und Umstände, der Geräusche und Gerüche in einen Zusammenhang zu bringen.

Im Zentrum meiner Fotografien steht, was auch im Zentrum meines Lebens steht: die Erblindung. Ich hätte damals lieber alle anderen Sinne verloren als den Sehsinn, denn mit den Verbliebenen spürte ich sowieso nichts als das Fehlen dieses einen. Ich nahm den Verlust viel intensiver wahr, als ich zuvor das Sehen wahrgenommen hatte. Die Blindheit war an genau der Stelle, an der zuvor mein Sehen gewesen ist. Hatte ich ein Sehen? Ich hatte es jedenfalls nie bemerkt. Als ob ich vor der Erblindung blind war, nicht nachher. Die Auseinandersetzung damit wird mich wohl mein Leben lang begleiten. Ich werde das niemals so akzeptieren, wie man das Sehen akzeptiert. Das liegt vielleicht daran, dass die Blindheit viel umfassender ist als das Sehen, denn man sieht nur mit den Augen, blind aber ist man mit seiner gesamten Existenz. Die Konfrontation mit meiner Blindheit ist auch eine mit dem Sehen der anderen. Nicht die eigene Blindheit, sondern das Sehen der anderen ist das Beunruhigende.

Nicht, dass mir etwas entgeht, sondern dass es den anderen nicht entgeht. Das war mir lange Zeit unbegreiflich: Wie kann das sein, dass die anderen Menschen tatsächlich noch immer so sehen können, wie ich es auch einmal konnte? Als ob die anderen sich in all den Jahren nicht verändert hätten und noch immer an derselben Stelle stünden, wo ich sie im Alter von dreizehn Jahren verlassen habe.

Eines Morgens bekam ich starke Kopfschmerzen. Ich sagte meiner Mutter nichts und ging wie an anderen Tagen hinunter ins Dorf zur Schule. Die Schmerzen würden schon nachlassen. Sie ließen aber nicht nach, sie wurden stärker. Die Lehrerin schickte mich nach Hause. Meine Mutter war beunruhigt, als ich ihr das erzählte. Sie bat den Bürgermeister, uns zum Arzt ins Nachbardorf zu fahren. Der untersuchte mich und meinte, der Schmerz käme möglicherweise von den Zähnen.

›Nein, es liegt nicht an den Zähnen‹, sagte meine Mutter.

Mir war es egal, woher der Schmerz kam. Ich wollte, dass er aufhörte. Als ich aufwachte, war da lediglich ein unangenehmes Drücken. In der Schule verwandelte sich das in ein Pochen, zwischenzeitlich in ein Quietschen und nun war es zu einem metallischen Hämmern geworden. Der Arzt gab mir ein Schmerzmittel und das Hämmern verwandelte sich in ein dumpfes, aber erträgliches Dröhnen. Auf dem Rückweg veränderte es sich erneut. Es hörte auf, ein Geräusch zu sein, und verwandelte sich in puren Schmerz. Ich begann zu schluchzen. Zu Hause angekommen, verständigten sich meine Mutter und der Bürgermeister darauf, mich ins Krankenhaus zu fahren. Als wir zwei Stunden später in der Stadt ankamen, zitterte ich am ganzen Körper.

In der Notaufnahme des Krankenhauses wurde ich in ein Bett gelegt und bekam eine Kanüle in den Unterarm und einen Tropf neben das Bett. Der Schmerz nahm daraufhin sehr schnell ab. Mir wurde flau im Magen und ich hatte das Gefühl, in etwas Weichem zu versinken. Meine Reise durch die Nacht begann. Vielmehr die Reise des Bettes, das die ganze Nacht durch die Flure geschoben wurde. Oder mehrere Nächte. Ich verlor das Gefühl für die Zeit und für mich. Ich lag nur dort und schaute an die Decke. Am Rande meiner Aufmerksamkeit bemerkte ich, dass noch andere Betten unterwegs waren. Sie wurden von einer zur nächsten Station geschoben, von einem Flur in den nächsten, wo die Deckenbeleuchtung genauso schummrig war wie in dem zuvor. Vor jeder dieser Stationen stauten sie sich. Dann wurden sie einzeln in einen Raum geschoben und später wieder in den Flur zurück. Dort warteten sie darauf, dass es weiterging, durch die Flure, unterhalb der immergleichen Deckenbeleuchtung, auf die nächste Station, wo sie sich erneut in eine Schlange einreihen mussten.

Meine Mutter blieb in meiner Nähe und beantwortete die Fragen der Ärzte. Mir schien, dass es immer derselbe Arzt war, der lediglich sein Gesicht wechselte. Man schob mich durch die Nacht und statt eines frischen Kittels zog sich der Arzt ein anderes Gesicht über. Das ging schneller als ein Kittel, er musste nicht die vielen Knöpfe auf- und zumachen. Er zog das neue Gesicht einfach über das alte. Immer derselbe Kittel und immer dieselbe Prozedur. Der Arzt nahm sich die Akte, warf einen Blick hinein, legte sie beiseite und machte seine Untersuchungen. Dann trug er etwas in die Akte ein und klemmte sie mit immer dem gleichen Geräusch an das Fußende des Bettes. Mit einem Schnappen rastete etwas ein. Wir kamen in ein Zimmer, wo der Arzt meine Augen untersuchte.

›Nein, nicht die Augen‹, wollte ich sagen. Aber ich bekam kein Wort heraus. Meine Mutter reagierte nicht. Warum sagte sie nichts? Sie hatte doch auch bei den Zähnen Widerspruch eingelegt. Vielleicht wurde man solange hin und her geschoben, bis man den Widerspruch aufgab. Dann blieb man auf der jeweiligen Station, bis eine Besserung der Symptome eintrat. Vielleicht gab es hier gar keine Zimmer, sondern nur diese Gänge, man war zeit seines Aufenthaltes unterwegs. Über diesen Gedanken schlief ich ein.

Als ich erwachte, hatte ich noch immer die Kanüle im Arm. Tropft das in meine Venen oder in meine Arterien, wollte ich fragen. Meine Zunge lag schwer in meinem Mund. Ich konnte sie kaum bewegen. Dann bemerkte ich meine Mutter. Sie stand neben meinem Bett und unterhielt sich mit einem Mann. Ich hatte das vergessen, wir waren ja im Krankenhaus, das musste ein Arzt sein. Was ist eigentlich mit meiner Zunge? Die Ärzte haben doch meine Augen untersucht und meine Zähne. Haben die auch meine Zunge untersucht? Reden die beiden über mich? Ich verstand nicht, was sie sagten. Meine Ohren funktionierten nicht richtig. Sie nahmen keine Notiz von mir. Es kam ein weiterer Arzt herein, der meine Mutter begrüßte. Ich wollte auf mich aufmerksam machen, aber ich war so müde, dass ich wieder einschlief. Ich schlief mit offenen Augen ein, denn das Bild meiner Mutter mit den beiden weiß gekleideten Männern blieb überdeutlich.

Ich erwachte erneut. Oder hatte ich nicht geschlafen? Die beiden Ärzte waren verschwunden. Meine Mutter saß neben meinem Bett. Sie lächelte. Warum lächelt sie, dachte ich. Sie sagte, die Ärzte vermuteten einen Virus. Hat sie das gesagt oder habe ich es mir eingebildet? Einen nicht gutartigen Virus, sagte sie, der die Augen angreife. Ein Virus, der die Nerven schädige, die Nervenbahnen. Gibt es eigentlich gutartige Viren? Welche Nervenbahnen denn? Tropft mir diese Flüssigkeit in die Venen oder in die Arterien? Zu viele Fragen für meine Zunge, obwohl das taube Gefühl nachgelassen hatte. Zu viele Fragen, die mir durch den Kopf gingen, während meine Mutter einfach weiterredete, von den Ärzten, den Prognosen bei dieser Art Viren und bestimmten Medikationen und Wirkstoffen. Oder redete sie nicht?

›Was ist da eigentlich drin?‹, fragte ich.

Ich deutete mit dem Kopf auf die Flasche, aus der noch immer eine Flüssigkeit heraustropfte in einen Schlauch, der in meinem Arm steckte. Meine Mutter sah mich an und brach in Tränen aus. Warum weinte sie denn? Sie hat doch gerade noch gelächelt. Ein nicht gutartiger Virus, der die Augen angreift, sagte sie. Also ein bösartiger Virus! Oder gab es auch mittlere Viren, die weder gut- noch bösartig waren, die einfach nur existierten? Hatte sie von Erblindung gesprochen? Mir war so, als hätte sie dieses Wort gebraucht. Wir waren also noch immer auf der Augenstation!

›Sind wir etwa noch bei den Augen?‹, fragte ich wütend.

Hatte meine Mutter nicht bemerkt, dass ich auf der falschen Station war? Ich musste auf die Kopfschmerzstation oder die mit den schweren Zungen! Wahrscheinlich hatte man einfach die Akten verwechselt. Kein Wunder bei dem Durcheinander von Betten und Zimmern, Ärzten und Gesichtern. Am Fußende meines Bettes steckte die Akte eines anderen Patienten. Nicht ich habe ein Problem mit den Augen, sondern ein anderer Patient, der in dieser Nacht ebenfalls durch die Flure geschoben wurde und der wahrscheinlich bei den Kopfschmerzen gelandet ist und nun nicht wusste, wie er zu den Augen kommen sollte.

›Wo ist meine Akte?‹, fragte ich meine Mutter, ›ich bin auf der falschen Station, ich will zu den Kopfschmerzen.‹

Meine Mutter schaute mich verständnislos an.

›Der mit den Augen muss hierher. Wir müssen einfach nur die Stationen tauschen. Ich will zu den Zungen.‹

Ich wollte meiner Mutter die Sache mit den vertauschten Betten erklären. Ich wollte sie bitten, sich auf die Suche nach meiner Akte zu machen, die sicher Auskunft über meine wirkliche Krankheit geben würde. Da fing sie wieder zu weinen an. Sie schluchzte so sehr, dass ich ihr nichts erklären konnte. Über ihren Tränen schlief ich erneut ein.

Als ich aufwachte, war meine Mutter nicht mehr da. Eine Krankenschwester wechselte gerade die Kanüle. Ich erklärte ihr den Sachverhalt. Sie versprach, sich darum zu kümmern. Ich war beruhigt. Die beiden vertauschten Patienten kämen nun auf die richtigen Stationen. Ich stellte mir vor, wie wir auf dem Flur aneinander vorbeigeschoben würden und uns anlächelten, beide gleichermaßen froh, endlich unseren Krankheiten entsprechend behandelt zu werden. Ich sah die Krankenschwester später noch einmal. Ich nahm an, es ginge alles seinen Gang. Am Nachmittag kam eine andere Schwester ins Zimmer, die nichts von meinem Gespräch mit ihrer Vorgängerin wusste. Offensichtlich vertauschte man hier nicht nur die Patienten, sondern auch die Schwestern. Bei der Visite am späten Nachmittag schaute mich der Arzt freundlich an, als ich ihm die Sache mit den vielen Betten auf dem Flur, den vertauschten Akten und den vertauschten Schwestern erklärte. Er nahm die Akte zur Hand, überflog die Seiten, steckte sie wieder zurück in die Hülle und schüttelte langsam den Kopf.

›Nein, das ist deine Akte. Da ist keine Verwechslung vorgekommen.‹

Am folgenden Tag kamen die Kopfschmerzen zurück. Die Schwester holte den Arzt. Es war ein anderer als am Tag zuvor. Er untersuchte meine Augen, notierte etwas in der Akte am Fußende meines Bettes und gab mir eine Tablette. Die wollen mich vergiften, dachte ich. Seit Tagen tropfte mir diese Flüssigkeit in die Venen. Oder in die Arterien. Nicht einmal das konnte man hier auseinanderhalten. Ich wollte mir die Kanüle entfernen. Ich wusste nicht wie. Der Arzt wartete, bis ich die Tablette heruntergeschluckt hatte. Dann schlief ich erneut ein.

Als ich aufwachte, konnte ich schlecht sehen. Kein Wunder, es waren ja auch die falschen Medikamente. Im Laufe des Tages nahm meine Sehkraft rapide ab. Gegen Abend lag sie bei nur noch zehn Prozent. Man misst die Werte, statt etwas gegen ihre Verschlechterung zu unternehmen. Mein Augenlicht reichte gerade noch, um hell und dunkel voneinander zu unterscheiden. Am Abend des folgenden Tages war nicht einmal mehr das möglich. Es trat ein, was die Ärzte prognostiziert hatten, die vollständige und irreversible Erblindung. Meine Erblindung und nicht die eines anderen Patienten. Ich war blind und nicht der andere, der bei den Kopfschmerzen gelandet war oder möglicherweise noch immer durch die Flure geschoben wurde.

So, wie ich bis dahin von einer Verwechslung ausgegangen war, ging ich in den nächsten Tagen davon aus, dass die Erblindung auch wieder vorübergehen würde. Das hier war nur eine Phase, die nicht ewig dauern konnte. Kein Mensch lag ewig im Krankenhaus. Ich würde wieder entlassen werden. Natürlich würde ich dann auch wieder sehen können! Ich hatte es ja auch gekonnt, als ich hergekommen war. Die Schwestern und die Ärzte taten in den folgenden Tagen wahrscheinlich das, was man in einem Krankenhaus so tut, Betten machen, Medikamente verteilen, Essen bringen und einem freundliche Worte sagen. In meinem Erleben bestanden sie nur noch aus ihrer Stimme. Und da die Welt nun einmal nicht nur aus Stimmen bestehen konnte, nahm ich die Sache nicht ernst.

An dem von mir sehnlich erwarteten Morgen nahm meine Mutter meinen Arm, wie wir es in den vergangenen Tagen geübt hatten. Auch das hatte ich nicht ernst genommen. Sie führte mich aus dem Krankenzimmer in den Flur und nach draußen. Dort wartete, wie ich wusste, der Bürgermeister mit seinem Wagen. Ich kannte seinen Wagen, er war rot. Er war immer rot gewesen, solange ich mich erinnern konnte. Wir gingen durch den Flur auf die Eingangstür zu, die sich vor uns öffnete. Ich hörte die Stimme des Bürgermeisters. Ich spürte seinen Arm auf meiner Schulter, die Hand meiner Mutter in der meinen. Aber ich sah kein rotes Auto. Also blieb ich stehen.

›Wo ist das Auto?‹, fragte ich.

Da die beiden nicht antworteten, fragte ich noch einmal, etwas lauter dieses Mal. Vielleicht hörten sie nicht gut. In diesem Krankenhaus nahmen sie einem ja alles ab, was man zum Leben brauchte.

›Wo ist das Auto? Es ist rot. Ich kann es nicht sehen.‹

›Marijan …‹, begann meine Mutter.

›Ich gehe keinen Schritt, bevor ich das Auto nicht sehe. Das Auto ist rot. Wo ist es? Wo ist das Auto?‹

›Junge‹, sagte meine Mutter und fing erneut zu weinen an.

Ich würde hier erst wieder weggehen, wenn ich es sehen konnte. Wenn ich jetzt ohne mein Augenlicht wegginge, hätte ich später die größten Schwierigkeiten, es zurückzubekommen. Hier und jetzt war ich auf jeden Fall näher dran, als ich je wieder sein würde.

›Nein!‹, habe ich auf alle Versuche meiner Mutter geantwortet, die mich dazu bewegen wollte, in das Auto einzusteigen. ›Ich steige in kein Auto, das ich nicht sehen kann!‹

Ich setzte mich auf den Boden. Ich weinte. Ich schrie.

›Nein! Ich kann es nicht sehen. Ich gehe hier nicht weg. Nein!‹

An diesem Morgen vor dem Eingang des Krankenhauses habe ich zum ersten Mal verstanden, was ich bis heute immer wieder ansatzweise verstehe, ohne es je zur Gänze zu begreifen: Ich bin blind! Bis auf den heutigen Tag denke ich, dass ich noch sehen könnte, wenn es damals nicht zu dieser fatalen Verwechslung gekommen wäre. Ich werde den Gedanken nicht los, dass ich seither nicht mehr mein Leben lebe. Dass mein Leben von jemand anderem gelebt wird. Jemand, der meine Augen benutzt und der sieht, was doch eigentlich ich hätte sehen sollen.

Zu Beginn meiner Blindheit konnte ich einen schönen nicht von einem schlechten Tag unterscheiden. Ich wollte nicht, dass draußen die Sonne schien. Ich wollte, dass statt des Wetters ein einheitliches Etwas herrschte, ohne sich unentwegt ändernde Besonderheiten. Wetter als Konstante, ein unbestimmter Luftdruck und ein grauer Brei. Erst viele Jahre später in Berlin habe ich gelernt, den Regen zu lieben. Am liebsten habe ich es, wenn er mich weckt. In der Nacht, wenn es draußen dunkel ist. Dann stehe ich auf, öffne das Fenster und lausche. Was zuvor nur leerer Raum war, füllt sich mit Geräuschen. Es beginnt zu leben, was leblos gewesen ist. Es entstehen Umrisse, Strukturen und Konturen. Es werden Gegenstände erahnbar, eine Kontinuität, wo zuvor nur Ausschnitte, Zusammenhänge, wo nur Fragmente gewesen sind.

Ich höre einfach nur hin. Der Regen fällt auf das Hausdach, läuft in die Dachrinne und von dort durch das Metallrohr neben meinem Fenster. Ich höre, wie es rauscht und rinnt und rieselt. Der Regen fällt auf das Vordach des Schuppens im Innenhof, auf die Plastiktonnen, die dort stehen und bildet Pfützen und Rinnsale. Ich höre, wie es quillt und quellt. Der Regen fällt auf die Metallrohre eines Klettergerüstes das hinter dem Haus steht, es klingt, als würde ein Instrument gespielt. Ich höre, wie es schwimmt und schwappt und spritzt und sprudelt. Der Regen fällt gegen die Hauswand und die Fenster, heller gegen Schrägen und dunkler gegen Ebenen. Ich höre, wie es prasselt, plätschert und platscht. Der Regen fällt weiter vorne auf die Fahrräder und weiter hinten auf die Autodächer. Ich höre, wie es läuft und leckt. Neben dem Haus ist eine Toreinfahrt, wo sich bei Regen manchmal Leute unterstellen. Ich höre, wie es tropft und trieft und tröpfelt. Ich höre ein sanftes Flüstern, ein leises Lachen, eine zerstiebende Gischt, eine Brandung, ein Meer, einen gewaltigen Sturm, eine Flutwelle. Manchmal ist der Regen verzagt oder verzweifelt, er ist verhalten oder besonnen oder beschämt oder betreten. Und manchmal ist er einfach gleichgültig und die Tropfen fallen lediglich von oben nach unten.

Ich stehe gebannt am offenen Fenster und höre, wie eine Umgebung entsteht, wie Gegenstände wachsen und werden. In solchen Momenten wird der Raum, den ich oft nur als drückende Masse empfinde, die auf mir lastet, zu einer Umgebung und einem Gefüge, in das ich eingebettet bin. Ein Leben, zu dem ich gehöre und an dem ich teilnehme. An ihren Geräuschen kann ich erkennen, dass da draußen tatsächlich eine Welt existiert und nicht nur unendlicher Raum. Man müsste all das, was wird, was entsteht oder vergeht, alles, was eine Entwicklung nimmt, einen Verlauf oder eine Veränderung, man müsste alles dazu zwingen, dabei ein Geräusch zu machen. Denn nur am Geräusch des Werdens kann ich erkennen, das etwas ist.«

Dass einem das Blut in den Adern gefriert

Heute wie damals nähert man sich Mărginime auf jenem Weg, der vom Nachbardorf zu uns führt. Unsere Gegend hat ein hügeliges Profil, ein sanftes Auf und Ab der Landschaft. Der Weg ins Dorf ist noch derselbe wie zu meiner Kindheit, der, den wir seit eh und je gehen. Die Erhebungen ringsum scheinen jedoch ein wenig flacher geworden zu sein, als hätten Zeit und Wind die Kuppen abgetragen und das Relief der Landschaft verschliffen. Auf dem letzten Teil steigt dieser Weg an, dann steht man auf einer Hügelkuppe und sieht in einem Tal ein kleines Dorf vor sich liegen. Man bleibt unwillkürlich stehen und verweilt für einen Moment. Der Blick wandert über die Landschaft, die Wiesen und Felder bis zur bewaldeten gegenüberliegenden Seite. Mărginime liegt im letzten grünen Tal, bevor es dann steil in die Berge geht. Unser Dorf ist ein malerisches Ensemble mit einer kleinen Kirche aus dem vorletzten Jahrhundert und etwa dreihundert Häusern mit gekalkten Fassaden und roten Schindeln auf den Dächern. Gegenüber der Kirche liegt das Schulgebäude und dazwischen der einzige Platz Mărginimes, der unter der Woche als Schulhof dient.

Oben auf der Hügelkuppe stehend erkennt man, dass die Menschen hier im Einklang mit sich und ihrem Dasein leben. Auf eine selbstverständliche, unspektakuläre Weise füllt jeder die Stelle aus, die ihm entspricht. Wir lebten in Harmonie mit uns selbst. Das war jedenfalls früher so. Diese Harmonie wurde gestört, als man anfing, glücklich sein zu wollen. Da musste man zum eigenen Erstaunen feststellen, dass man es nicht war. Die jungen Leute in unserer Gegend begannen, ihre Dörfer zu verlassen, um in die Stadt zu gehen und dort ihr Glück zu suchen. Von Glück ist zu meiner Zeit nicht die Rede gewesen.

Ich kenne die Geschichte Mărginimes in allen Einzelheiten, war ich doch lange Zeit seine getreue Chronistin. Ich habe mir diese Rolle nicht ausgesucht. Sie ist mir zugefallen. Ich war beinahe fünfzig Jahre lang die Lehrerin dieses Dorfes. Vor einigen Jahren habe ich meine Stelle für eine Jüngere geräumt. Clara, meine Nachfolgerin, kommt aus der Stadt und kennt unsere Geschichte nur aus Erzählungen. Sie kennt das nur vom Hören, was uns anderen, die wir in Mărginime geboren sind und seit jeher hier leben, in Leib und Seele steckt, in jeder Faser unserer Existenz, und was vor vielen Generationen mit einem erhobenen Arm anfing. Mit dieser unscheinbaren Geste sind wir alle hier auf Jahrhunderte in diese Erde hineingerammt worden.

Damals war dies eine unberührte Landschaft. Guter, saftiger, dunkelbrauner Boden. Jene Menschen, die auf der Durchreise waren und einen Ort und eine Zukunft für sich suchten, haben genau dasselbe empfunden, was wir heute empfinden, wenn wir dort oben auf dem Hügel stehen: dass dies ein idealer Ort zum Leben ist. Ihr Anführer hob die Hand und brachte so den Zug der drei Dutzend Familien zum Stehen. Er war der Ururgroßvater unseres heutigen Bürgermeisters, der von Beruf Schuhmacher war. Dieser Mann erkannte, dass er und die Leute an diesem Ort in Frieden und Harmonie würden leben können. Oder die anderen erkannten es. Ihr Anführer wollte nämlich nichts als gehen bis zum Ende seines Lebens. Er konnte sich nicht erinnern, die Hand gehoben zu haben. Da die Ersten aufgrund der langen Wanderung jedoch zu murren begannen, Wochen und Wochen waren sie unterwegs gewesen, und da ihnen außerdem drohend das Gebirge vor Augen stand, das sie, wollten sie weitergehen, passieren müssten, einigte man sich darauf, dass der Schuhmacher seine Hand gehoben und den Zug damit zum Stillstand gebracht hatte.

So siedelten sich unsere Vorfahren in diesem Tal an. Sie begannen Häuser zu bauen, Äcker anzulegen und Vieh zu züchten. Sie schlugen Holz und sammelten Steine von den Feldern und aus dem Bach, der sich durch das Tal schlängelte. Sie überstanden den ersten und den zweiten Winter und dann auch den dritten. Die Häuser, die zu Anfang Hütten waren, wurden standfester. Es dauerte nicht lange und die erste Hochzeit fand statt, das erste Kind wurde geboren und dann starb der Erste. Die Leute begruben ihn außerhalb des Dorfes am Hang, knapp unterhalb des Waldrands, genau gegenüber jener Stelle, wo sie einige Jahre zuvor innegehalten hatten. Auch von dort hatte man einen guten Blick über das Tal. Nicht, dass die Toten ihn brauchten, die Lebenden brauchten diesen Blick, der ihnen die Landschaft, das Dorf und ihr ganzes Leben vor Augen führte und ihnen den Sinn ihres Daseins erschloss. Dort ist noch heute unser Friedhof. Dort oben liegen alle unsere Ahnen begraben, von Anbeginn an. Alle außer denen, die auf der Suche nach dem Glück Mărginime verlassen haben. Und denen, die der Teufel holte.

Die erbarmungslose Kälte der Winter, die Einsamkeit der Landschaft und die Angst vor der Zukunft ließen uns instinktiv die Nähe der anderen suchen. Wir bauten unsere Häuser möglichst nah beieinander. Einer jedoch suchte sich eine Stelle für sein Haus, die in beträchtlicher Entfernung lag. Ein Sonderling war er, ein Einzelgänger. Er war Tischler und damit der wichtigste Handwerker der kleinen Gemeinschaft. Die Leute brauchten ihn dringender als jeden anderen. Dennoch war er ihnen nicht geheuer. Seine Augen standen zu eng beieinander. Er hatte einen Silberblick. Es dauerte nicht lange und es gingen die ersten Gerüchte im Dorf um, nach denen es bestimmte Erwägungen gewesen waren, die ihn sein Haus so weit abgelegen hatten bauen lassen, knapp unterhalb des Friedhofs. Die Männer behaupteten, der Tischler könne einen Menschen so anschauen, dass einem das Blut in den Adern gefriert. Als er starb, vermachte er seinem Ältesten alle Güter, Haus und Hof und die Werkstatt. Mit den materiellen Dingen erbte der Sohn auch jenen Blick, der den Männern das Blut in den Adern gefrieren ließ. Und das der Frauen zum Kochen brachte.

Wie der Vater war auch sein Sohn ein Sonderling. Er ging bisweilen durchs Dorf spazieren wie ein wildes Tier auf der Suche nach Beute. Wenn er einen neuen Dachstuhl zimmerte, die Fenster reparierte, wenn er Tische und Stühle brachte oder hinter dem Haus einen Schuppen errichtete, hielten die Männer ihre Frauen und Töchter auf Abstand. Sie schlossen sie in die Kammer ein und warteten, bis der Tischler wieder fort war. Allerdings wussten sie sehr gut, dass sie nicht jederzeit über sie wachen konnten. Der Tischler würde, wenn er es wollte, einen Weg finden. Als er starb, erbte sein Erstgeborener mit den Gütern seines Vaters auch dessen Blick. Die Macht über die Frauen ging vom Vater, vom Großvater und vom Urgroßvater auf die Söhne über. Von Generation zu Generation hatte dieser Blick jedoch weniger Wirkung. Die Frauen waren schon lange nicht mehr Feuer und Flamme, sie erröteten lediglich noch. Die Macht, mit der der Urahn die Frauen beherrscht hatte, nahm ab und der letzte Urenkel musste feststellen, dass seine Blicke nahezu wirkungslos blieben. Das Blut der Frauen kochte nicht, wenn er sie anschaute. Sie erröteten nicht einmal mehr. Sie erblassten.

Lange sah es so aus, als könne dieser Mann keine Frau zu irgendeiner Reaktion bewegen und als müsse die Sippe mangels Nachfahren aussterben. Aber die Tischler brauchte man, man brauchte ihr Handwerk. Schließlich fand der Mann doch noch eine Frau, die ihn heiraten wollte. Er fand sie nicht aus eigenem Antrieb, und sie wollte wohl auch nicht so richtig. Man drängte sie vielmehr oder man drängte die Einwände, die sie vorbrachte, beiseite. Womöglich wurde sie nicht einmal gefragt. Die Angelegenheit wurde unter den Männern geregelt. Man versammelte sich eines Abends, hörte den Tischler und den Vater des Mädchens und dann die anderen, die etwas zu sagen hatten, und da alle miteinander meinten, sich äußern zu müssen, konnte man bald sein eigenes Wort nicht mehr verstehen. Einigen konnte man sich nicht. Dann schwieg man, wiegte den Kopf hin und her, neigte ihn zur einen, dann zur anderen Seite, man trank ein Gläschen oder zwei, dann trank man noch eins, und zu später Stunde verkündete der Schuhmacher das Ende der Auseinandersetzung, alle nickten zufrieden, oder sie nickten nicht, und drei Wochen darauf wurde geheiratet.

Wenige Monate später wurde die Frau des Tischlers schwanger. In der Nacht der Niederkunft sah man vom Dorf her Licht in der Werkstatt auf dem Hügel knapp unterhalb des Friedhofs. Einer der Männer schlich den Weg dorthin hoch, die letzten Meter kroch er auf allen Vieren. Er drückte sich an die Hauswand und schaute durchs Fenster der Werkstatt. Er konnte beobachten, wie der Tischler in ein kindsgroßes Stück Holz ein Gesicht schnitzte. Am nächsten Morgen wusste ganz Mărginime, dass der Mann in der Nacht an der Werkbank gesessen und sich einen Nachkommen gemacht hatte. Durch einen Geschlechtsakt war das Kind jedenfalls nicht entstanden. Monatelang hatte man nachts auf der Lauer gelegen, aber nicht das kleinste Stöhnen, kein noch so verhaltener Lustschrei war vom Hügel her zu vernehmen. Seelenruhig schliefen der Tischler und seine Frau in ihren Betten.

Indem die Männer das erzählten, rächten sie sich für die Jahrzehnte und Jahrhunderte hindurch erlittene Schmach, dass die Tischler ihnen die Frauen und Töchter verführt hatten und die Kinder, die sie großzogen, nicht unbedingt die waren, die sie selbst gezeugt hatten. So groß der Einfluss der Tischler auf die Frauen früher auch gewesen sein mochte, heute bekam es der Letzte der Sippe nicht einmal fertig, die eigene Frau zu befriedigen. Als im Laufe des Tages bekannt wurde, dass sogar zwei Kinder geboren worden waren, veränderte sich das Gerücht dahingehend, dass der Tischler einen zweiten Versuch hatte machen müssen. Oder ein anderer hatte das getan. Einer der keine Versuche machen musste, sondern der Manns genug war, das, was es da zu tun galt, auch zu tun. Die Männer lachten laut. Sie rieben sich die Hände. Das fühlte sich an, als hätten sie es der Tischlerin höchstpersönlich besorgt. Sie alle sahen ihren drallen Leib vor sich, die schönen prallen Brüste, die geöffnete Frucht ihrer gespreizten Beine, in die man nur hineinstoßen musste, um sich wie im Himmel zu fühlen. Sie alle konnten sich an das lustvolle Stöhnen der Frau erinnern, die man zum Abschied nochmal umgedreht hatte, um ihr auf den prachtvollen Hintern zu hauen. Sie erinnerten sich in ihrer Begeisterung allerdings nicht mehr daran, dass man sie dem Tischler untergeschoben hatte, weil sie kein anderer haben wollte. Von Hintern und Brüsten konnte keine Rede sein und von prall und prachtvoll schon gar nicht.

Am nächsten Tag erfuhren wir, dass die beiden Kinder den gleichen Namen tragen sollten. Ich suchte den Tischler am Nachmittag in seiner Werkstatt auf. Er war an seiner Werkbank beschäftigt, vielleicht beseitigte er gerade die Spuren der Geburt. Ich ärgerte mich, dass dieser Unsinn auch in meinem Kopf Platz fand. Er sah nicht auf, als ich den Raum betrat, aber er wusste, dass ich es war.

»Was du beabsichtigst, ist nicht gut«, sagte ich ohne Einleitung, »du kannst nicht zwei Kindern den gleichen Namen geben.«

Er hörte mit der Arbeit auf und sah mich an.

»Wieso nicht?«

»Ein Name ist etwas Individuelles.«

»Auch Ioan gibt es in unserem Dorf mehr als einmal«, sagte er.

Da hatte er recht.

»Die sind aber keine Brüder«, wandte ich ein.

»Es sind nicht wenige, die wie ihre Väter heißen und ihre Großväter.«

Auch da hatte er recht.

»Man muss sie auseinanderhalten können«, sagte ich.

»Muss man das?«, fragte er.

»Denselben Namen für zwei Kinder, auch noch für Zwillinge, das ist ausgeschlossen.«

»Sie sind im selben Moment auf die Welt gekommen, warum sollen sie nicht denselben Namen tragen?«

»Sie sind nacheinander zur Welt gekommen.«

»Sind sie das?«

Er sah mich provozierend an. Die Tischler waren seit jeher schwierige Charaktere. Ich drehte mich ohne weitere Worte um und ging aus der Werkstatt hinüber ins Haus, wo ich seine Frau besuchte und die beiden Babys.

Der Vater der Zwillinge fand eine Möglichkeit, meine Forderung zu erfüllen und seinen Wunsch durchzusetzen. Zwei Tage später stand er vor dem Schulhaus. Ich bat ihn ins Klassenzimmer. Ich sah keine Möglichkeit, ihm etwas entgegenzuhalten, und so schrieb ich in seinem Beisein in jenes dicke und in Leder gebundene Buch, das wir seit Generationen führten, die Namen Varian I und Varian II. Der Vater nickte, drehte sich um und verließ den Raum. Ich ließ die Tinte trocknen und klappte das Buch zu. Ich hatte kein gutes Gefühl bei der Sache. Später hatten wir dann auch tatsächlich die größten Schwierigkeiten, die beiden zu unterscheiden. Wir wussten nicht einmal, ob wir sie ihres Namens oder ihres Aussehens wegen nicht auseinanderhalten konnten.

Als ich selbst noch ein junges Mädchen war, wurde bei uns die Schulpflicht eingeführt. Alle Kinder sollten sechs, später neun Jahre lang in die Schule gehen. Es musste also jemanden geben, der diese Kinder beschäftigte, wie mein Vater sich damals ausdrückte. Er hielt mich für geeignet, weil mir das, wie er meinte, die Flausen austreiben würde. Niemand hatte etwas gegen seinen Vorschlag einzuwenden und so fuhr er mich eines Tages in die Stadt. Er suchte eine geeignete Unterkunft. Mit den ersten beiden Pensionen war er nicht zufrieden, dann fand er etwas, das ihm zusagte. Die Frau des Haushaltes sollte ein Auge auf mich haben. Sechs Wochen später holte er mich wieder ab. Da war der Kurs, den die künftigen Lehrerinnen aus unserem Landstrich besuchten, zwar noch lange nicht beendet, aber mein Vater war der Meinung, dass das reichen müsse, um ein paar Kinder vormittags in der Schule zu beaufsichtigen. Nach dem Verbleib meiner Flausen fragte er nicht.

Wieder in Mărginime, hatte der Vater des heutigen Tischlers fünfundzwanzig Tische und Stühle angefertigt. Aus einem Haus neben der Kirche war eine Wand herausgerissen worden. In dem so entstandenen Raum sollte ich unterrichten. Eine Woche später kam eine große Kiste im Nachbardorf an. Mein Vater holte sie ab. Sie enthielt Bücher, jeweils fünfundzwanzig Exemplare, eine Schiefertafel und ein mehrere Pfund schweres Paket weißer Kreide. Über dem Schulzimmer war der Boden ausgebaut und eine Wohnung eingerichtet worden, sodass ich fortan im Schulhaus wohnte.

Mein Vater war es auch, der dafür sorgte, dass sich alle Kinder pünktlich am ersten Tag des Schuljahres einfanden. An diesem Morgen lieferten die Väter ihre Kinder persönlich ab. Obwohl man sich sonst kaum Sorgen um sie machte, war der Aufenthalt der Jungen und Mädchen in der Schule etwas anderes. Die Männer standen an diesem Tag auf dem Kirchhof, der von nun an auch der Schulhof war, und versuchten durch die Fenster zu schauen. Sie wussten nicht, was im Klassenzimmer vor sich ging, aber dass die Kinder den ganzen Vormittag nahezu bewegungslos herumsaßen, schien eher unwahrscheinlich. Sitzen konnte man schließlich auch woanders. Das wiederholte sich an den kommenden Tagen, die Väter brachten morgens ihre Kinder und lungerten dann auf dem Schulhof herum.

Bald aber hatten alle verstanden, dass die Schule den Kindern nicht schadete. Einige Jahre später gab es genug Menschen, die selbst in die Schule gegangen waren. Sie alle wussten dasselbe und hatten es auf dieselbe Art und Weise gelernt. Es war ein nicht unbedeutender Teil unserer Auffassung von Harmonie, dass ein jeder seine Stelle im Leben fand. Sie war ja auch nicht schwer zu finden. Wir lebten die durch die Eltern vorgeprägten Linien weiter. Linien, die einen mit seinen Eltern über deren Tod hinaus verbanden und die über den eigenen Tod hinaus die Kinder mit einem selbst verbinden würden. Wir erstreckten uns nicht nur über die Jahre des eigenen Lebens, sondern wir steckten im Vorher und im Nachher.

Ich war seit vielen Jahren Lehrerin. Niemand untersuchte seine Kinder mehr auf etwaige Schäden durch den Schulbesuch. Viele, die ich als Kinder unterrichtet hatte, führten längst den Hof ihrer Eltern. Es waren uns einige Jahre lang üppige Ernten beschert worden. Die Witterung war für die Getreidesorten denkbar günstig gewesen. Die Männer kauften in der Stadt einen Traktor, den sie gemeinsam nutzten. Wir stellten die Viehzucht auf Kühe und Schafe um. Es begann eine Zeit wirtschaftlicher Prosperität. Den Leuten ging es gut und immer besser. Die Linien, die uns mit unseren Vorfahren und unseren Nachkommen verbanden, wurden enger, die zu unseren Nachbarn bisweilen jedoch gespannter. Wir waren eine überschaubare Anzahl Menschen, die seit langer Zeit sehr eng zusammenlebten. Da ergeben sich Zu- und Abneigungen. Es entstehen Freundschaften und Feindschaften, Liebe und Hass, Missgunst und Neid.

In den Jahrzehnten meines Lehrerinnendaseins habe ich viele Freundschaften entstehen und wieder vergehen sehen. Eine so enge Bindung wie die zwischen Ioan, Emil und Valentin war allerdings ungewöhnlich. Sie waren während ihrer Schuljahre befreundet und blieben es auch danach. Die meisten Freundschaften haben eine kurze, intensive Hochzeit, dann gibt es einen Knick. Man bleibt dem anderen freundschaftlich verbunden, geht einander ansonsten aber aus dem Weg. Das war bei den dreien anders. Sie verbrachten jeden freien Moment miteinander. Eines Tages jedoch, Jahre nach dem Ende der Schulzeit, war Valentin unauffindbar. Ioan und Emil suchten ihn. Sie schauten in jede Scheune, in jeden Kuhstall und in jeden Koben. Sie fragten die Leute im Dorf, sie kamen auch zu mir ins Schulhaus. Alle schüttelten die Köpfe, keiner wusste etwas Genaues. Bis wir uns dann eingestehen mussten, dass Valentin verschwunden war. Er war nicht etwa krank, er war auch in keinen Graben gefallen und wartete auf Hilfe. Er war einfach nicht mehr da.

Mit Valentin begann das Phänomen, dass manche ihre Existenz hier aufgaben, ihre Eltern und Familien, ihre Vergangenheit, ihre Zukunft und damit die Stelle, die sie im Leben einnahmen und mit der sie verwachsen waren. Offensichtlich verspürten sie die Bindung und Verwurzelung nicht mehr im erforderlichen Maße. Sie gingen in die Stadt. Auf der Suche nach dem Glück oder nach etwas, das sie mangels einer treffenderen Beschreibung als Glück bezeichneten. Bisweilen hörten wir einen Monat oder ein Jahr später etwas von ihnen. Sie schrieben einen Brief oder eine Karte. Manche wollten wohl nur ein Lebenszeichen von sich geben. Andere hatten womöglich Angst, vergessen zu werden. Einer schrieb alle paar Monate Ansichtskarten aus Wien, auf denen verschiedene Ausschnitte der Stadt zu erkennen waren, das Schloss Schönbrunn, das Burgtheater oder ein Riesenrad. Wir lasen die Karten auf dem Marktplatz laut vor und reichten sie dann herum. Neugierig wurden sie betrachtet, als könne man auf den Abbildungen irgendwo den Absender erkennen oder einen der anderen, die das Dorf verlassen hatten. Von den meisten hörten wir jedoch nie wieder etwas.

Als einige Jahre später aus der Stadt die Anweisung kam, einen Verantwortlichen für die Administration zu benennen, schlug ich Ioan vor. So wie mich mein Vater damals vorgeschlagen hatte. Noch einmal fügte sich, was für uns viele Jahrzehnte charakteristisch gewesen ist: dass ein jeder seine Stelle im Leben fand. Ioan war die ideale Wahl. Sein Handwerk und die damit einhergehenden Verpflichtungen in der Werkstatt seines Vaters ließen sich gut mit den Anforderungen an das Amt des Bürgermeisters verbinden. Er verbrachte zwei, drei Jahre viel Zeit in der Stadt. Das war eine Zeit einschneidender wirtschaftlicher und politischer Veränderungen überall in unserem Land. Dank Ioans Gespür verliefen diese Veränderungen bei uns recht moderat.

Die Schuhmacher kannten die Menschen besser als diese sich selbst. Das war auch bei Ioan so. Man schätze ihn als Redner und als Zuhörer. Er sprach bei Beerdigungen und bei Geburten, an Weihnachten, Ostern und Erntedank. Jenen Gelegenheiten, die man auf dem Land eben so hat. Geburt und Tod waren allerdings die wesentlichen Ereignisse, die unsere kleine Gemeinschaft bestimmten. Zu unser aller Kummer waren mehr Todesfälle als Geburten zu verzeichnen. Zu viele starben und zu wenige heirateten. Zu viele Abgänge in die Stadt, zu wenige Kinder, zu viele Alte und vor allem zu viele Tote. Man hatte den bedrückenden Eindruck, dass jeder nur einmal geboren würde, aber mehrmals starb.

Eines Tages starb überraschend auch der Tischler. Seine Söhne, die beiden Varianten, wie sie inzwischen von allen genannt wurden, waren gerade vierzehn Jahre alt. Sie mussten frühzeitig die Schule verlassen. Der eine wurde zur Ausbildung weggeschickt, der andere half der Mutter, Haus und Hof zu versorgen. Drei Jahre später hatte der eine seine Lehre beendet und kehrte nach Mărginime zurück. Am nächsten Tag bereits ging der andere fort. Er ging auf eine endgültige Weise, er verabschiedete sich nicht, er drehte sich nicht um, er sprach kein Wort. Wir Zurückbleibenden wussten nicht, wer von den beiden gegangen war. Aber wir hatten sowieso nie gewusst, wer der eine und wer der andere war. Und da wir sie auch sonst nicht auseinanderhalten konnten, wurde der Name Varian in der folgenden Zeit zu einer Verdichtung all dessen, was wir mit den beiden in Verbindung brachten. Wir wussten nicht, welcher der Erstgeborene und traditionell der Erbe war. Wir wussten nicht, welcher der erste und welcher der zweite Versuch des Tischlers war, und wir wussten auch nicht, welcher der beiden Söhne vom Ehemann und welcher von allen anderen Männern gezeugt worden war.