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Schottland, Winter 1900. Am Strand von Skerry wird ein lebloser Junge angeschwemmt. Als der Fischer Joseph ihn ins Dorf trägt, erntet er ungläubige Blicke, denn das Kind ähnelt auf unheimliche Weise dem Sohn der Lehrerin Dorothy, der in einer längst vergangenen Nacht ans Meer ging und nie mehr gesehen wurde. Ausgerechnet Dorothy erklärt sich bereit, das rätselhafte Kind aufzunehmen, bis seine Herkunft geklärt ist. Doch die Anwesenheit des Jungen wühlt nicht nur Dorothy auf, sondern stellt die gesamte Dorfgemeinschaft vor Fragen. Weshalb war Joseph sowohl an dem Tag am Strand, als der fremde Junge angespült wurde, als auch in der Nacht, als Dorothys Kind verschwand? Worüber haben Dorothy und Joseph damals so erbittert gestritten? Und warum wurden sie nie ein Paar, obwohl sie sich für jedermann offensichtlich liebten?
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Seitenzahl: 447
Veröffentlichungsjahr: 2025
Julia R. Kelly
Roman
Aus dem Englischen von Claudia Feldmann
Für Oliver, Calum und Emily
»Komm hinfort, o Menschenkind!
Auf zu Wassern, Wildnis, Wind
Mit einer Fee an deiner Hand,
Denn auf der Welt gibt es mehr Tränen,
als je ein Kind verstand.«
William Butler Yeats
Prolog
schottland, 1900
Jetzt
dorothy
öffnungszeit
joseph
dorothy
joseph
Damals
dorothy
die kirche
agnes
dorothy
agnes
der fischer
agnes
dorothy
Jetzt
dorothy
joseph
was vergessen war, kehrt zurück, wenn das meer bereit ist
Damals
agnes
der laden
dorothy
joseph
Jetzt
der laden
dorothy
mrs brown
dorothy
Damals
dorothy
joseph
Jetzt
dorothy
joseph
dorothy
die pfarrersfrau
dorothy
Damals
dorothy
joseph
dorothy
Jetzt
dorothy
Damals
dorothy
agnes
dorothy und die wellenkinder
jeanie
Jetzt
dorothy
Damals
dorothy und william
joseph
dorothy und william
agnes
Jetzt
dorothy und der regenpfeifer
moses und der igel
Damals
dorothy
Jetzt
dorothy und der regenpfeifer
Damals
dorothy
Jetzt
dorothy
der postjunge
Damals
dorothy und jane
dorothy und joseph
der laden
agnes
dorothy
Jetzt
dorothy und der junge
joseph
dorothy
Damals
dorothy
agnes
Jetzt
der laden
Damals
joseph und moses
dorothy und jane
Jetzt
dorothy und der pfarrer
joseph und der regenpfeifer
dorothy
mrs brown und das kinderfest
dorothy
die nachricht des pfarrers
dorothy und der junge
die kirche
der laden
Damals
agnes und moses
Jetzt
dorothy und der junge
dorothy und der bahnhofsvorsteher
der pfarrer
dorothy und das telegramm
Damals
joseph
agnes
jeanie
joseph
Jetzt
agnes und der pfarrer
joseph
dorothy
das pfarrhaus
der laden
dorothy und jane
dorothy und joseph
agnes und jeanie
der letzte morgen
dorothy
Damals
moses und die wellenkinder
Jetzt
der laden
ladenschluss
Epilog
dank
zitatquellen
Über das Buch
Joseph weiß, der Sturm kommt. Er sieht den gelben Hof um den Mond und das eisige Glitzern des Winterhimmels, als er vom Strand hinaufgeht und ein paarmal innehält, um seinen schmerzenden Knien eine Pause zu gönnen.
Später dreht der Wind von West nach Ost, und als er in der Nacht aufwacht, spürt er das Ungeheuer, das weit draußen auf See lauert, seinen arktischen Atem, seinen eigentümlichen Salzgeruch. Er hätte die Leute im Dorf warnen können, die die Zeichen nicht mehr zu lesen wussten – den tiefen Flug der Möwen, den Nachthimmel, den Wind. Aber warum sollte er? Mochte der Sturm doch ihre Schornsteine abreißen, ihre Hunde aufscheuchen, Hemden und Laken wie geflügelte Todesfeen über die Dächer sausen lassen. Was hatten sie damals schon getan, als der Sturm ihm so viel mehr genommen hatte?
Oben bei der Klippe, wo das Vieh sich in der Scheune duckt und die Schafe sich auf der Wiese zusammendrängen, ist eine kräftige Bö aufgekommen. Sie braust zwischen den Häusern und Geschäften an der Copse Cross Street hindurch und an dem offenen Fenster über dem Lebensmittelladen vorbei, wo Mrs Brown, noch wach, die schmale Straße hinunterblickt und dann zu der schwarzen, sternenbeschienenen Weite des Meeres. Sie riecht die Veränderung im Wind, schließt die Läden und kehrt an ihren Ofen zurück, wo sie ihren Hund Rab auf den Schoß nimmt und wartet.
Hügelabwärts, in ihrem Haus unweit der Stufen, die zum Strand von Skerry hinunterführen, zündet Dorothy eine Lampe an und stellt sie in eines der oberen Fenster, ein Licht in der Dunkelheit, um jene, die in den mächtigen Wogen des Meeres umherirren, nach Hause zu leiten.
Als der Sturm kommt, stiehlt er einiges aus dem kleinen Fischerdorf, das sich an die Klippe klammert. Er nimmt sich Dachschindeln und Schafe; er fällt Bäume und zerschmettert zwei Boote an den Felsen. Doch er bringt auch etwas, das Joseph finden wird, wenn er im wässrigen Licht des anbrechenden Tages zum Strand geht, um nach seinem Boot zu sehen.
Ein Geschenk.
Begierig darauf, heim zu ihren Öfen und Töpfen zurückzukehren, drängen sich die Frauen in Mrs Browns Laden. Schmutziger Schneematsch dringt durch den Schlitz unter der Tür, und der Wind ist noch scharf vom Sturm. Wie üblich beachtet Dorothy das Auf und Ab der Stimmen am Tresen nicht. Erst die Stille lässt sie aufmerken. Ihr Korb ist noch fast leer, nur ein paar Kartoffeln und Zwiebeln. Sie blickt auf, sieht, wie sich alle am Schaufenster drängen, und mit einem Mal überkommt sie ein merkwürdiges Gefühl. Die Härchen auf ihren Armen richten sich auf, ihr läuft ein kalter Schauer über den Rücken, und sie stellt ihren Korb ab und geht ebenfalls zum Fenster. Sie wischt ein Stück der beschlagenen Scheibe frei und späht hinaus. Schneeregen setzt sich zwischen das Kopfsteinpflaster, und der Himmel ist bleigrau. Sie blickt den Hügel hinauf, wo die Dorfleute sich mit gesenktem Kopf und zusammengekniffenen Augen die schmale Straße hochkämpfen, dann blickt sie hinunter Richtung Strand, und da sieht sie ihn.
Joseph.
Er geht mitten auf der Straße. Als sie erkennt, was er trägt, entfährt ihr ein Schrei, wie von einem verletzten Tier. Josephs Gesicht ist bleich, vom Schock gezeichnet, wie ihres jetzt wohl auch. Das Haar des Jungen auf seinen Armen ist dunkelsilbern, der Körper schlaff, die Haut grau. Er ist tropfnass, die Kleider kleben ihm am Körper. Und dann hört sie, wie die anderen Frauen nach Luft schnappen, spürt, wie sie sich zu ihr wenden. Mrs Brown fasst sie mit ihrer rauen roten Hand am Arm, und Dorothy dreht sich um. Sie begreift, dass die Ladenbesitzerin ihren Namen sagt, aber in ihren Ohren ist ein Rauschen, denn sie hat es schon gesehen –
Der eine kleine Fuß, noch in seinem braunen Stiefel, und der andere, der blau und kalt und nackt herabhängt.
Wie in einem Traum tritt sie nach draußen. Die anderen Frauen tun es ihr gleich, einige blicken zu ihr und einige zu dem Mann mit dem Jungen. Dorothy ist, als würde sie sich auflösen, denn sie muss einen Geist gesehen haben. Sie bewegt sich auf die beiden zu und streckt die Hand aus, aber er geht weiter, die Kopfsteinpflasterstraße hinauf, und die Frauen aus dem Laden folgen ihm wie Trauernde bei einer Beerdigung. Er bleibt stehen und schüttelt den Kopf, um sie davon abzuhalten, und da sehen sie es alle – der nackte Fuß zuckt, der schlaffe Arm spannt sich an, und plötzlich stößt der Junge ein ersticktes Husten aus. Joseph läuft los, so schnell es bei dem Wetter möglich ist, um die Ecke zum Haus des Pfarrers und außer Sicht.
Dorothy rührt sich nicht. Sie versucht, damals von heute zu trennen, aber es misslingt ihr. Fast folgt sie ihnen, fast glaubt sie, er ist es, doch dann taumelt sie nach Hause, schleppt sich die Treppe hinauf, ohne auch nur die Haustür zu schließen. Ihr Körper fühlt sich zugleich bleischwer und viel zu leicht an. Sie erkennt ihr Schlafzimmer kaum, als sie an dem Schrank vorbeigeht, den sie niemals öffnet, und auf die Kommode zusteuert.
Der Graupel, der waagerecht vom Meer herüberweht, prasselt gegen die Fensterscheiben, und der Wind heult durch die Haustür hinein, die Stufen hoch und findet sie auf den Knien, wie sie die unterste Schublade aufzieht. Sie tastet sich durch wollene Leibchen und Unterhosen, bis ihre Fingerspitzen ihn berühren. Im ersten Moment ist sie verwirrt, weil er nicht mehr nass ist. Sie fühlt die vertrauten Falten des Leders, zieht ihn hervor und legt ihn in ihre Schürze, sanft umfangen von ihren Händen. Sie schließt die Augen, lehnt die Stirn an die Kommode und atmet den Geruch des kleinen braunen Stiefels ein, noch immer mit einem Hauch von Salzwasser, selbst nach all den Jahren.
Im Laden hebt Mrs Brown Dorothys Korb auf, legt die Kartoffeln und Zwiebeln zurück und dreht, obwohl es noch früh ist, das Schild an der Tür auf »Geschlossen«.
In der Nacht träumt Dorothy zum ersten Mal seit Jahren von Moses. Er spielt im Wasser, in den flachen Wellen. Sie lehnt am Felsen, spürt dessen Wärme durch den dünnen Baumwollstoff ihres Kleides, lässt sie in die Haut an ihren Schulterblättern sickern. Sie schaut ihm zu, das silbrige Haar erleuchtet von der Sonne, vom Glitzern des Meeres, von all den Erinnerungen, die sich vermischen. In ihrem Traum schläft sie ein, und als sie wieder aufwacht, ist es Winter, der graue Himmel hängt tief, der Sturm tost. Die Wellen türmen sich auf, und sie läuft am Ufer auf und ab und ruft nach ihm, aber der Wind entreißt ihr die Stimme und schleudert sie in die Luft. Und gerade als sie denkt, er ist verloren, sieht sie ihn im Sand stehen, von der Flut umspült, und immer wieder brechen die Wellen über ihn hinweg. Er dreht sich zu ihr um, mit seinem kleinen, stillen Lächeln, die Augen grün und changierend wie das Meer.
»Mamma?«
Als sie aufwacht, wirklich aufwacht, heult der Wind vor dem Fenster, und das Kissen, das sie mit ihrer kalten Hand umklammert, ist nass.
Am nächsten Morgen beschäftigt es alle im Dorf, obwohl sie aus Gründen der Schicklichkeit versuchen, sich nichts anmerken zu lassen. Die Frauen eilen über das eisige Pflaster zu Mrs Browns Laden, um ein paar Dinge zu kaufen, die sie nicht brauchen, bevor die Straßen ganz überfrieren und sie vom Rest der Welt abschneiden, wie jeden Winter.
Sie legen dies und das in ihre Körbe, stellen sich an, um zu bezahlen, und warten darauf, dass Mrs Brown wie üblich das Startsignal gibt, indem sie sich mit einer Hand auf den Tresen stützt und sich mit dem Bleistift ein paar lose graue Haarsträhnen hinters Ohr streift. Doch heute ist sie ungewöhnlich schweigsam, während sie mit undurchdringlicher Miene die Summen addiert.
»Herrgott noch mal, traut sich denn keiner, es zu sagen?«, platzt Norah heraus. Sie ist dünn und kantig, das Gegenteil von Mrs Brown. Die anderen entspannen sich und stellen ihre Körbe ab, froh, dass jemand ausspricht, was sie alle denken. »Der Herr steh mir bei – ich dachte, ich hätte einen Geist gesehen!« Sie schließt die Augen, öffnet sie aber sofort wieder, um sich zu vergewissern, dass alle sie anschauen. »Dieser Junge sieht genauso aus wie – ich meine – ich dachte, er wäre es – aber er hat ja dasselbe Alter. Wie viele Jahre ist das jetzt her? Fünfzehn? Zwanzig?«
»Wo hat er ihn denn gefunden?«
»Unten am Strand, vom Sturm angespült, hat der Pfarrer gesagt –«
»Und noch am Leben, kaum zu glauben!«
»Ich hab gehört, der Junge hat erzählt –«
»Ach was, ich war heute Morgen da. Kein Wort hat er gesprochen!«
»Hast du ihn denn gesehen?«
»Nein, aber Martha hat gemeint –«
Die anderen wechseln wissende Blicke, die verraten, was von dieser Information zu halten ist.
Norah senkt die Stimme zu einem geheimnisvollen Flüstern. »Das hat was zu bedeuten, ganz bestimmt. Sogar der Stiefel …«
Da verstummen sie alle; die Ähnlichkeit ist einfach zu verblüffend. Selbst Mrs Brown hat aufgehört zu addieren, eine Zwiebel in der einen Hand, ihren Bleistift in der anderen, gebannt von der Eigentümlichkeit des Ganzen.
Norah wagt sich weiter vor. »Nun, ich hab ja immer gesagt, dieser Junge –«
Nun endlich bricht Mrs Brown ihr Schweigen. »Das reicht jetzt. Habt ihr kein Mitgefühl? Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber ich habe keine Zeit, den ganzen Tag zu plaudern. Der Schnee kommt, und ich will vor Sonnenuntergang hier fertig sein.«
Münzen klimpern vorwurfsvoll auf den Tresen, als die Frauen bezahlen, ihre Körbe nehmen und gehen, gekränkt und auch ein wenig überrascht. Denn wenn es im Dorf jemanden gibt, der im Lauf der Jahre wenig Mitgefühl für Dorothy Gray gezeigt hat, dann war es Mrs Brown.
»Wie geht's dem Jungen?« Joseph steht vor der Tür und dreht seine Mütze zwischen den Händen.
Jenny, die Pfarrersfrau, weicht vor dem Eishauch zurück, den er mit hereingebracht hat. Ihr Blick huscht über sein Gesicht, dann rechts und links auf die Straße. Sie seufzt. »Kommen Sie besser rein, zumindest aus der Kälte.«
Zum zweiten Mal in dieser Woche tritt er über die Schwelle, doch beim letzten Mal hatte der Schock über seinen Fund ihn für alles andere blind gemacht. Nun bemerkt er, wie bald die Niederkunft bevorstehen muss, so prall und tief, wie Jennys Bauch ist; er bemerkt den Kinderwagen, der im Flur bereitsteht, und dass Jenny ihn mit leisem Widerstreben hineinführt. Martha, die Küchenmagd, blickt von dem Teig auf, den sie knetet, und lächelt höflich.
Jenny entschuldigt sich. »Warten Sie hier, Joseph, ich hole meinen Mann.«
Obwohl die Hitze des Herdes seine Hände schmerzhaft prickeln lässt, rückt er näher heran, dankbar für die Wärme. Sobald Jenny die Tür geschlossen hat und ihre Schritte verklingen, wischt sich Martha die mehligen Hände an der Schürze ab.
»Wollen Sie was Heißes zu trinken, Joseph? Sie sehen halb erfroren aus.« Ihr Lächeln wirkt jetzt natürlicher.
»Nein, ich bin ja gleich wieder bei mir im Warmen.« Er sieht zur geschlossenen Tür, lauscht auf die Stille im Flur. »Und, wie geht's dem Jungen?«
Martha sieht ebenfalls nervös zur Tür, dann sprudelt sie hervor: »Er hat kein Wort gesagt. Die meiste Zeit schläft er. Ich hab ihm Rinderbrühe gekocht und eingeflößt und aufgepasst, dass das Feuer nicht ausgeht.«
»Er schafft es also? Er stirbt nicht an der Kälte oder an all dem –« Er schluckt mühsam.
Im Flur nähern sich Schritte, und Martha beugt sich wieder über ihren Teig. Joseph hält die Hände in die Wärme, und Jenny scheint sich zu freuen, dass sie sie beide in derselben Position vorfindet, Joseph noch in seiner Jacke und nicht auf einem Stuhl, es sich bequem machend.
»Der Pfarrer ist beschäftigt«, sagt sie knapp und blickt nachdrücklich auf den geschmolzenen Schnee, der jetzt auf ihren Küchenfußboden tropft. »Der Junge wird es schaffen, Joseph – es war gut, dass Sie ihn zu uns gebracht haben. Sobald es ihm besser geht und das Wetter es zulässt, wird er in ein Krankenhaus gebracht und dann, so Gott will, nach Hause.« Sie wendet sich zur Küchentür. »Wie Sie sehen, haben wir einiges zu tun, also …«
Er nickt kurz zum Dank und geht wieder hinaus in den Schnee. Er ist sicher, dass sie über ihn geredet haben, als hätte das, was damals in jener Nacht geschehen war, etwas mit ihm zu tun gehabt. Und nun würden sie wieder über ihn reden. Man sollte meinen, dass er mittlerweile daran gewöhnt wäre, aber das ist nicht der Fall, und so tritt er im Gehen gereizt gegen die Steinstufe des Pfarrhauses.
Unten am Strand stürzt er sich in die Arbeit an seinem Boot, reißt mit zusammengebissenen Zähnen am vermoderten Holz des Decks, die Hände kaum gewärmt vom mageren Feuer des Kohlenbeckens.
Und dann sieht er sie. Dorothy. Sie steht am Fuß der Stufen, den Blick aufs Meer gerichtet. Noch hat sie ihn nicht bemerkt, und er nutzt den Moment, um sie zu betrachten.
Sie ist nicht mehr die kühle junge Frau, die damals vor all den Jahren ins Dorf gekommen war, der Blick scharf wie ein Messer und jeder Gesichtsausdruck eine Herausforderung. Er erinnert sich, wie sein Herz gepocht und wie es ihm den Atem verschlagen hatte, als er sie zum ersten Mal sah, genau da, wo sie jetzt steht, die Hand im Haar. So anders als die Mädchen von Skerry mit ihrem Geschäker, ihrem Kichern und ihrer Leichtigkeit.
Wann hat sie begonnen, alt auszusehen?
Er hat sie all die Jahre in der Kirche beobachtet; sie ist immer vor allen anderen da und bleibt, wenn die anderen gehen, tut ihre Pflicht, bringt Essen zu den Armen und zu Jeanie in ihrem Häuschen oben auf der Klippe, und er weiß, dass sie immer noch in der Schule unterrichtet und für die Fischer strickt, aber er weiß nicht, wer ihre Pullover trägt. Ihr Mann ist nie zurückgekommen, und er hat sich schon oft gefragt, warum sie, nachdem sie auch noch Moses verloren hat, in Skerry geblieben ist.
Er holt seine Gedanken in die Gegenwart zurück.
Etwas an ihr ist anders als sonst. Er lehnt sich in der Hocke zurück und kneift die Augen zusammen. Das ist es. Sie hat keine Stiefel an, und ihre Jacke – er runzelt die Stirn und sieht noch einmal genauer hin –, ja, ihre Jacke ist falsch zusammengeknöpft, die eine Seite hängt tiefer als die andere. Und als sie nun am Strand entlanggeht, bewegt sie sich nicht zielstrebig, wie er es von ihr kennt, sondern scheint gar nicht zu wissen, wohin sie will; immer wieder bleibt sie stehen und blickt aufs Meer hinaus. Sie ist blass, ihr Mund wirkt verkniffen, sie hält sich nicht mehr so gerade, die schmale Taille, von der er sich einst vorgestellt hatte, wie er sie mit seinen Händen umfasst, ist breiter geworden, und ihr rotes Haar wirkt matt und ist von Silberfäden durchzogen.
Er wendet sich ab und zerrt wieder an dem maroden Holz des Decks. Ihretwegen ist ihm die Liebe verwehrt geblieben. Das Frühstück, das morgens bereitsteht, das Feuer, das ihn beim Heimkommen empfängt, das Abendessen auf dem Tisch, der warme Körper, der sich im Schlaf an ihn schmiegt – all diese einfachen Freuden, die ein Mann erwarten kann, wurden ihm vorenthalten.
Sie sieht nicht in seine Richtung, das hat sie nie mehr getan, seit Moses fort ist, und bisher war ihm das auch recht so, aber jetzt ist es an der Zeit, sie dazu zu bringen, ihm wieder in die Augen zu sehen.
Denn er hat den Streit nicht vergessen und das Unrecht, das ihm angetan wurde. Und er weiß, dass sie es auch nicht vergessen hat.
Sie kann nicht anders, sie muss ihn sehen. Dabei weiß sie in ihrem Herzen, dass er es nicht ist. Herrgott, sie ist Lehrerin. Eine logisch denkende Frau. Ein Kind kann nicht – ihr Herz verweigert sich dem brutalen Wort, das nötig wäre –, es kann nicht verschwinden und Jahre später im gleichen Alter zurückkehren. Das weiß sie. Ja, das weiß sie. Sie atmet erleichtert aus und stützt sich auf den Holztisch, dessen Solidität ihren Gedanken Gewicht verleiht. Doch dann sieht sie wieder das Gesicht des Jungen, als er die Copse Cross Street hinaufgetragen wird, und einen Moment lang kriegt sie keine Luft.
Bevor sie ihre Meinung ändern kann, greift sie nach ihrer Jacke, zieht die Stiefel an und öffnet die Haustür. Die Häuser entlang der Straße und auch die Straße selbst sind kaum zu erkennen, so heftig schneit es aus dem bleigrauen Himmel, aber Dorothy eilt dennoch den Hügel hinauf. Sie blickt nicht in Mrs Browns Laden, als sie daran vorbeikommt, will sie nicht alle dort am Tresen stehen sehen und diese Frau, wie sie hinausstarrt. Dann spürt sie wieder die Hand auf ihrem Arm, und eine Mischung aus Zorn und Verwirrung steigt in ihr auf. Bisschen spät für Freundlichkeit, denkt sie und schüttelt in Gedanken die Hand ab.
Als sie zum Pfarrhaus kommt und an die Tür klopfen will, zittert sie. Martha singt in der Küche schief vor sich hin. Dorothy versteht die Worte nicht, doch begleitet vom Klappern der Töpfe vermittelt das Lied eine Atmosphäre einfachen häuslichen Lebens, und nun klopft sie laut, als hätte man sie warten lassen.
Martha öffnet ihr ein wenig überrascht. »Mrs Gray – Sie sind heute schon die zweite Besucherin. Joseph war gerade hier.«
Dorothys Herz zieht sich zusammen.
Als Jenny eintritt und Dorothy in ihrer Küche stehen sieht, legt sie instinktiv die Hände auf ihren runden Bauch, wie um das Kind darin vor dem langen Schatten von Dorothys Verlust, dem Unvorstellbaren zu schützen. »Mrs Gray. Was kann ich für Sie tun?«
»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie … Könnte ich den Jungen vielleicht mal sehen?« Sie mag nicht betteln und hält sich sehr aufrecht in dieser Küche, wo eine Schwangere ihr ungeborenes Kind umfasst und eine Magd sich am Herd zu schaffen macht und der gute, warme Geruch nach Eintopf den Raum erfüllt.
Die Tür geht auf, und der Pfarrer kommt herein. Als er Dorothy erblickt, bleibt er abrupt stehen.
»Sie will den Jungen sehen«, sagt seine Frau und wirft ihm einen bedeutungsvollen Blick zu.
Einen Moment lang scheint es, als wüsste er nicht, was er tun soll, doch dann huscht ein Ausdruck von Verständnis über sein Gesicht, und er nickt. »Dann kommen Sie mal mit, Dorothy.«
Als er sie beim Vornamen nennt, brennen ihr plötzlich die Augen, und sie blinzelt rasch, während sie ihm durch den mit Steinplatten ausgelegten Flur und die Treppe hinauf folgt. Dann stehen sie vor einer Tür, und sie weiß, dahinter ist der Junge. Kurz ist ihr, als läge hinter der Tür ihre eigene Kammer mit dem kleinen Holzbett an der Wand unter dem Fenster und sie könnte hineintreten, in die Vergangenheit.
Aber natürlich kann sie das nicht. In diesem Zimmer flackert eine Petroleumlampe auf dem Nachttisch, und im Kamin knistert ein Feuer. Die Vorhänge sind zugezogen, sodass es warm und gemütlich ist, und der gelbe Schein der Flammen tanzt über die Wände.
Dorothys Augen brauchen einen Moment, um sich an das Licht anzupassen, dann sieht sie, dass der Junge schläft. Wieder versetzt ihr das silbrige Haar auf dem Kissen einen Schock. Sie betrachtet seine Wangen, deren kindlicher Flaum sanft schimmert. Er wirkt erschöpft und mager, hat blaue Flecken auf der Haut. Er öffnet die Augen. Sie sind grün. Ihr stockt der Atem.
Er lächelt ihr zu, sein kleines, stilles Lächeln, die Augen grün und changierend wie das Meer.
»Mamma?«
Er starrt sie ausdruckslos an, während sie nach Luft ringt.
»Er ist es nicht, Dorothy, sehen Sie?« Der Pfarrer legt ihr sanft die Hand auf den Arm, und plötzlich schämt sie sich. Wie kann sie, eine erwachsene Frau, nur solchen Unsinn denken? Aber sie spürt die Leere in ihrem Bauch, als sie nickt.
»Natürlich nicht.«
Seine Hand ist noch immer auf ihrem Arm und drückt ihn leicht. »Es war furchtbar, Dorothy.« Sie spürt, dass er sie ansieht, aber sie blickt weiter geradeaus. »Nie zu wissen, ihn nicht einmal begraben –«
»Vielen Dank, wirklich sehr freundlich von Ihnen. Der Junge ist hier gut aufgehoben. Ich weiß eigentlich gar nicht, warum ich gekommen bin«, sagt sie mit sprödem Lachen. Sie macht kehrt, läuft die Treppe hinunter und durch den Flur zur Haustür. Als sie sich umdreht, um sich zu verabschieden, sieht sie den Gesichtsausdruck des Pfarrers, verwirrt und ein wenig erschrocken. Und hinter ihm, auf dem Boden neben dem Kinderwagen, den einzelnen braunen Stiefel. Sie stürzt nach draußen, wo der Schnee jetzt überfriert und Eis in ihrem Atem glitzert.
Die kalte Luft trifft sie mit solcher Wucht, dass sie meint, sie müsse sich übergeben.
Als sie sich ihrem Haus nähert, beginnt sie zu laufen, und sobald sie drinnen ist, knallt sie die Tür zu, lehnt sich dagegen, die Hand auf ihrem pochenden Herzen, und ringt nach Luft.
Sie spürt die Vergangenheit vor der Tür, die versucht hereinzukommen, und kneift die Augen zu.
Sie hatte es sofort gewusst, als sie in jener Nacht aufwachte, so wie man weiß, dass niemand zu Hause ist, bevor man an die Tür klopft – Moses war nicht da. Der Sturm heulte, der Wind zerrte an jedem Fenster, jeder Tür, das Haus war wie ein Schiff, das sich vom Anleger losgerissen hatte. Sie kann nicht erklären, woher sie es gewusst hatte, aber der panische Blick in sein Zimmer sollte es bestätigen.
Nicht heute Nacht. Nicht in diesem Sturm.
Und mit schreckgeweiteten Augen war sie durch die beiden Zimmer unten gelaufen.
Aber weiter kann sie nicht gehen, hat sie noch nie gehen können. Sie atmet tief und langsam durch, um ihren Herzschlag zu beruhigen. Sie wartet eine Weile, bis sie wieder sie selbst ist, dann schürt sie das Feuer im Ofen und stellt die klare Suppe darauf, um sie aufzuwärmen. Nein, auch wenn die Vergangenheit vor der Tür steht, es ist zu lange her, um sie hereinzulassen. Auch wenn es ihr nicht gelingt, die erschreckenden Ähnlichkeiten zu ignorieren, gibt es überhaupt keinen Grund, all das wieder hervorzuholen.
Joseph hätte zu Hause ein Glas trinken können, aber heute Abend zieht es ihn in das Gasthaus im Dorf, zum Auf und Ab menschlicher Stimmen. Der Schnee ist wieder mit Regen vermischt, legt sich dick und nass auf seine Jacke, die er eng um sich zieht. Da kommt noch mehr Schnee, denkt er.
Die Tür knarzt beim Öffnen, dann schlägt der Wind sie mit einem Knall hinter ihm zu. Der Schein des Feuers flackert über die Gesichter der Fischer, als sie sich zu ihm umwenden. Joseph tritt in einen Dunst aus Biergeruch, Tabakrauch und feuchter Wärme.
Nach einem Moment der Überraschung, der ein klein wenig zu lange dauert, ruft jemand: »He, Joseph, lange nicht gesehen!«, und Agnes, die gerade über den Tresen wischt, hält in der Bewegung inne und starrt ihn an. Dann fasst sie sich und fragt: »Was darf's sein?«
Joseph geht auf einen Tisch zu, an dem einige von seinen Bootsleuten mit ein paar anderen sitzen. Es ist noch Platz, aber Scott, Agnes' Mann, strafft die Schultern und macht sich breit.
»Bisschen eng hier«, sagt er.
Die Blicke der anderen lassen ihn verstummen, und ein Schemel wird geholt. Joseph setzt sich, die Männer rücken ein wenig zur Seite. Einen Moment lang schauen sie auf ihre Gläser, dann wechseln sie verstohlen Blicke.
Jemand räuspert sich. »Und, wie geht's dir?«
»Gut. Kalt draußen. Da kommt noch mehr Schnee«, sagt er.
»Übler Sturm«, sagt jemand anders, und alle murmeln etwas Zustimmendes und beugen sich vor, nun, da das Thema angeschnitten ist.
»Er lag einfach da auf dem Strand?«
Joseph saugt den Schaum vom Bier und nickt.
»Wo den n?«
»Drüben bei den Felsen?«
Lärmend bricht die Wut jenes anderen Sturms damals über ihn herein, und Joseph schließt kurz die Augen.
»Schon seltsam, dass ausgerechnet du –«
»Komm, es hätte jeder von uns sein können.«
»War aber keiner von –«
»Ich hab gehört, es geht ihm ganz gut. Warst du schon bei ihm, Joseph?«
Joseph gibt ihnen nur einen Teil von dem, was sie hören wollen. »Ich war im Pfarrhaus. Er hat geschlafen. Jenny meint, er schafft es.«
Eine leise Stimme sagt: »Pass auf, Junge«, und Joseph legt die Hand um sein Glas, als Scott seinen Schemel zurückschiebt und ihn anrempelt, bevor er zum Tresen zurückkehrt. Einer der Gründe, warum Joseph das Gasthaus meidet.
Joseph trinkt sein Bier, macht sich so uninteressant wie möglich, und das Gespräch wendet sich anderen Dingen zu: dem Schaden, der entstanden ist, den Dächern, die geflickt werden müssen, und dem Sand, den der Sturm vom Strand gerissen hat, sodass die Landschaft darunter bloßgelegt worden ist, mit Felsen aus versteinertem Wald, die das Ufer durchbrechen.
Als die Tür erneut knarzt und Joseph das Gasthaus verlässt, hat auch ihn die Vergangenheit eingeholt.
»Komische Geschichte, nicht?« Die Frage ist so vage formuliert, dass nicht klar ist, ob der Mann den Jungen von damals meint oder den von jetzt.
»Er war danach nie wieder derselbe.«
»Joseph ist ein guter Mann, still zwar, aber das ist ja nichts Schlimmes. Ein Fischer, auf den man sich verlassen kann.«
»Klar, dass du das sagst – schließlich arbeitest du mit ihm zusammen.«
»Ja, und ich bin stolz darauf.« Der Mann nickt, als wäre das Thema damit erledigt.
Aber das ist es natürlich nicht. Nicht, wenn Scott in der Nähe ist.
Er kann es nicht dabei belassen. »Dann verrat mir doch mal eins: Woher wusste er, wo er war? Ich meine, der Stiefel von dem Jungen.«
Mit einem Seufzen stützt Agnes sich auf den Tresen. »Können wir bitte heute Abend über was anderes reden?«
Angespannte Stille breitet sich aus. Ein paar halbherzige Versuche, ein Gespräch anzufangen, scheitern. Scott geht zum Tresen, stellt sein Glas mit mehr Kraft als nötig ab und wischt sich den Schaum von der Oberlippe. »Na ja, wir wissen doch immer noch nicht, was wirklich passiert ist, oder? Und zwar heute genauso wenig wie damals. Alle wissen, wie Joseph zu Dorothy stand, und Eifersucht treibt einen Mann schon mal zu verzweifelten Taten. Mag ja sein, dass er ein guter Fischer ist, aber einige von uns wüssten schon gern Bescheid.«
Ein paar zustimmende Grunzer ertönen, gefolgt von etlichen verärgerten, als Agnes zur Glocke greift.
»Zeit zu gehen«, sagt sie, obwohl es nicht stimmt, und Jacken werden angezogen und Mützen aufgesetzt, denn tatsächlich ist aus dem Schneeregen wieder Schnee geworden, weiße Flocken vor schwarzem Himmel, und die Männer gehen hinaus in die wirbelnde Nacht.
Als sie endlich allein ist, sinkt Agnes gegen den Tresen. Nicht das wieder, nach all der Zeit. Mag ja sein, dass manche immer noch wissen wollen, was damals geschehen ist, aber hat sie nicht genug gelitten?
Und es ist das Wissen, was sie am meisten gequält hat.
Der Pfarrer holt Dorothy vom Bahnhof ab und trägt ihren Koffer, als sie zu Fuß nach Skerry gehen. Die Straße ist ein wenig abschüssig, das Meer nur ein Glitzern in der Ferne. Es duftet nach Ginster, und als die Straße einen Bogen nach rechts beschreibt, kommt unter ihnen das Dorf in Sicht. Nun ist sie also da, in ihrem ersten eigenen Zuhause. Das einsame Begräbnis ihrer Mutter in Edinburgh kommt ihr in den Sinn, die pflichtbewussten Trauergäste, die kalte Kirche, aber dieses Leben liegt jetzt hinter ihr.
Dorothy atmet tief durch. Sie passieren das Pfarrhaus und eine Reihe von Armenhäusern, dann die Kirche, ein Stück von der Straße zurückgesetzt, und daneben das Schulhaus, in dem der Pfarrer sowohl Leiter wie auch Lehrer ist. Als Erstes will der Pfarrer ihr das Haus zeigen, das zu der Stelle gehört, und alles ist so, wie sie gehofft hat, ordentlich und sauber, frisch gestrichen, und in der Küche steht sogar schon das Nötigste bereit. Sie ist aufgeregt, aber auch erschöpft bis in die Knochen von der langen Reise. Nach allerlei höflichen Verabschiedungen und der nachdrücklichen Einladung, abends zum Essen zu ihm und seiner frischgebackenen Frau Jenny ins Pfarrhaus zu kommen, geht der Pfarrer, und Dorothy setzt sich auf einen Stuhl an dem kleinen Küchentisch und stößt einen langen Seufzer aus.
Und als sie schließlich in dem noch fremden Zimmer zu Bett geht und die kühle Stille der Nacht das Haus umschließt, kann sie das Meer hören, wie es immer wieder an das Ufer rauscht, das sie noch nicht gesehen hat. Sie stellt es sich vor, schwarz unter dem Nachthimmel, das Funkeln der Sterne auf den Wellen, bis sie schließlich in einen tiefen Schlaf sinkt.
An ihrem ersten Morgen, einem Samstag, beginnt sie, ihr Klassenzimmer so zu organisieren, wie sie es für den Montag haben möchte, geleitet von der eisernen Regel, die sie am College gelernt hat – Ordnung und Disziplin, und das gilt für die Lehrerin, das Klassenzimmer und die Kinder – und die ihr schon ihre Mutter eingetrichtert hat, als sie noch klein war. Sie sortiert die Bücher nach Größe, säubert die Tafeln, rückt die Tische zurecht und streicht ihr Kleid glatt. Vor lauter Aufregung und Nervosität hält sie immer wieder inne, lässt den Blick über das Muster gleiten, das die Tische bilden, betrachtet das Dorf durch die geputzten Fenster, nimmt den Geruch nach frischer Farbe wahr. Sie dreht den Globus, vergewissert sich, dass die Glocke glänzt, bereit, die Schüler am ersten Tag zum Unterricht zu rufen, und atmet die klare, saubere Luft ihres eigenen Lebens ein, obwohl die Stimme ihrer Mutter nie weit weg ist: Skerry? Wo ist das denn? Kein Wunder, dass ich noch nie davon gehört habe – das ist ja winzig! Da wirst du wohl eher auf die Kinder aufpassen, als sie zu unterrichten, aber das ist für dich wahrscheinlich auch besser, bis sie es dort drinnen plötzlich nicht mehr aushält.
Vor dem Mittagessen bleibt Dorothy noch ein wenig Zeit, um das zu tun, was sie schon seit ihrer Ankunft tun wollte. Sie konnte das Meer riechen, in der Ferne sehen und sogar von ihrem Haus – ihrem Haus! – oberhalb des Dorfes hören, aber sie war noch nicht unten am Strand. Skerry Sands.
Als sie den Hügel hinabgeht, nimmt sie wahr, dass die Leute sie anstarren. Einige der Männer tippen sich an die Mütze, die Frauen schauen und beugen sich dann zu ihren Freundinnen oder Ehemännern und murmeln etwas. Sicher wissen sie alle, wer sie ist, und natürlich sind sie neugierig, also setzt sie eine Miene distanzierter Höflichkeit auf, wie es ihrem Beruf geziemt, und geht weiter, obwohl sie ihre Blicke noch im Rücken spürt. Zur Rechten befindet sich Browns Lebensmittel und Backwaren, hinter dessen sauberer Schaufensterscheibe sich vertraute Waren stapeln – Lipton-Tee, Colman-Senf, Quaker-Haferflocken –, und aus einer Laune heraus beschließt Dorothy hineinzugehen, um zu sehen, was es dort sonst noch gibt. Vielleicht findet sie ja etwas fürs Mittagessen. Sie malt sich aus, wie sie am Strand sitzt, eine Pastete isst und den Booten zuschaut. Dann schiebt sie den Gedanken beiseite. Draußen essen? Allein? Was für eine unsinnige Idee. Sie stößt die Tür auf, ein Glöckchen bimmelt, und sie wartet einen Moment, bis ihre Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt haben.
Vor dem Tresen auf der rechten Seite stehen einige junge Frauen, die von einem Sonnenstrahl beschienenen Gesichter zu ihr gewandt. Dorothy lächelt und nickt, spürt, wie sie ihr neues Kleid mit dem breiten Spitzenkragen und die blank geputzten Schuhe mustern, und sieht, wie sie untereinander Blicke wechseln.
»Sie sind also die neue Lehrerin?« Alles an der Frau ist eckig und kantig, und in ihrer Stimme kann Dorothy keine Freundlichkeit entdecken.
»Ja, Miss Aitken – Dorothy Aitken.« Sie tritt mit ausgestreckter Hand auf sie zu.
Ein spöttisches Schnauben, dann ein Husten und wieder diese Blickwechsel. Das sind sie also, denkt Dorothy, genau wie Mutter gesagt hat – halte dich von den Klatschbasen fern, du hast schließlich eine Stellung inne. Ihr Lächeln wird steif, und sie hebt ganz leicht die Augenbrauen.
Die Frau hinter dem Tresen rattert die Namen herunter: »Miss Bell – Ailsa Bell; Miss Barclay – Norah Barclay …«, und es dauert einen Moment, bis Dorothy merkt, dass sie dezent verspottet wird. Nun, das war wohl nicht anders zu erwarten, und so begrüßt sie eine nach der anderen und schlendert dann langsam durch den Laden, nimmt Schachteln in die Hand und liest, was darauf steht, um zu zeigen, dass es sie nicht verunsichert. Schließlich entscheidet sie sich für etwas, das sie nicht einmal braucht, eine Packung Cadbury-Kakao, wartet vor dem Tresen, bis die Frauen ihr Platz machen, und legt die Münzen auf die hölzerne Oberfläche, das steife Lächeln noch immer auf den Lippen. Sie ist froh, dass sie diese kleine Schlacht gewonnen hat. Schon auf dem Spielplatz hat sie gelernt, angesichts spöttischer Bemerkungen und Blickwechsel ein Lächeln aufzusetzen und die Augenbrauen hochzuziehen, als kümmere sie die Bosheit der anderen gar nicht. Doch als sie den Laden verlässt und die Tür sich hinter ihr schließt, hört sie die Worte: »Na, da können wir uns ja glücklich schätzen, dass Fräulein Hochwohlgeboren uns mit ihrem Besuch beehrt hat«, gefolgt von schallendem Gelächter. Sie tritt hinaus ins Sonnenlicht und geht mit schnellen Schritten davon.
Am Fuß des Hügels beschreibt die Straße einen Bogen nach links, an der Klippe entlang, und mit einem Mal steht Dorothy an einer steilen, in den Fels gehauenen Treppe, die zum Strand hinunterführt, und vor ihr breitet sich das glitzernde, sonnenfunkelnde Meer aus. Der frische Wind riecht nach Salz und Fisch, ein Stück entfernt sind Boote zu sehen, und sie hört die Schreie der Möwen, die durch die Luft segeln.
Ihre Schuhe sind vollkommen ungeeignet, und sie hofft, dass niemand sieht, wie sie mit dem Korb in der Hand die Stufen hinunterkraxelt, bis sie schließlich auf dem Sand steht. Sie betrachtet dieses gewaltige, atmende, wogende Ding, sein mächtiges Auf und Ab, und weiß nicht, was sie mit der eigentümlichen Erregung anfangen soll, die sie verspürt. In einem der Boote richtet sich ein Mann auf und sieht zu ihr hinüber, die Hand gegen die Sonne über die Augen gelegt. Sie blickt ebenfalls zu ihm, und so stehen sie da und betrachten einander. Er hebt die Hand, und plötzlich besinnt Dorothy sich. Was würde ihre Mutter dazu sagen? Sie blickt hinunter auf ihre verschrammten Schuhe und den feuchten, sandigen Saum ihres Rocks. Ohne noch einmal aufzuschauen, macht sie kehrt und eilt die Felsstufen hinauf.
Dorothy freut sich auf den Kirchgang am nächsten Morgen. Sankt Peter, Schutzheiliger der Fischer, und vielleicht der einzige Ort, an dem sie genau weiß, wer sie ist und wohin sie gehört. Der Kirchhof ist gepflegt, wie sie beifällig zur Kenntnis nimmt, die Arbeit vieler Hände, die Kirche selbst ist schlicht, mit einem zinnenversehenen Turm und keinerlei Schmuck, abgesehen von den hübschen Bogenfenstern, die in der Sonne blitzen. Leute strömen herbei, und Dorothy hält Ausschau nach den Kindern, die sie unterrichten wird. Sie stellt sich vor, wie sie sie an der Tür ihres Klassenzimmers begrüßt, alle ordentlich in einer Reihe aufgestellt, und jedes sich mit Lehrbuch, Tafel und Kreide seinen Platz sucht.
Der Pfarrer steht an der Eingangstür der Kirche und heißt die Gemeinde willkommen. Als er Dorothy erblickt, hebt er die Hand.
»Miss Aitken – wunderbar! Kommen Sie, ich stelle Sie einigen der Dorfbewohner vor.«
Dorothys Herz rast, aber sie streicht ihr Kleid über den Hüften glatt, wie sie es immer tut, um sich auf etwas vorzubereiten, und geht mit einem höflichen Lächeln zu ihm. Sobald sie neben ihm steht, nennt der Pfarrer ihr die Namen der Leute, die die Kirche betreten, ergänzt durch eine persönliche Bemerkung.
»Das sind Norah und Ailsa«, und dann: »Norah ist eine unserer besten Strickerinnen, wissen Sie, und Ailsas Backwaren – ach, Sie werden schon sehen.« Dorothy kennt sie von ihrem Besuch im Laden am Tag zuvor, und ihr Magen zieht sich ein wenig zusammen. Hinter ihnen folgt die Ladenbesitzerin, ohne Begleitung. »Das ist Mrs Brown.« Dorothy bemerkt die förmliche Anrede und Mrs Browns kühl musternden Blick, den sie ihr im Vorbeigehen zuwirft. Ihre eigenartige Kleidung überrascht Dorothy. Das zu weite Kleid, mit einer einfachen Schnur statt eines Gürtels, und … sind das etwa Männerstiefel? Aber der Pfarrer spricht schon wieder. »Mrs Brown kennt alles und jeden, wenn Sie also etwas brauchen, wenden Sie sich am besten an sie. Das habe ich schnell gelernt. Ah, und das sind Jane und William. Traurige Geschichte, aber die erzähle ich Ihnen ein andermal.«
Die Frau ist älter als der Mann, der trotz seiner Größe noch etwas Kindliches an sich hat. Die beiden bleiben stehen und geben ihr die Hand. Die Frau, Jane, steht sehr dicht neben ihrem Begleiter, und Dorothy kann nicht erkennen, ob sie Bruder und Schwester sind oder Mann und Frau. William lächelt und kneift wegen der Sonne die Augen zusammen. »Guten Morgen, Miss Aitken. Schön, ein neues Gesicht im Dorf zu sehen«, aber Jane zieht ihn mit verkniffener Miene und einem »Ja, gewiss« fort.
Also wohl seine Frau.
Sie wird Tischlern und Netzmachern vorgestellt, Bauern und Croftern, Küfern und Fischern. Die Frauen spinnen und weben, nehmen Fisch aus und salzen ihn; eine ist Näherin – das merkt Dorothy sich –, und sehr viele haben Kinder, die an ihren Händen oder Röcken hängen. Dorothy verliert bald den Überblick über all die Namen, und sie sehnt sich danach, ihren forschenden Blicken und dem endlosen Kommentar des Pfarrers im kühlen Eingang der Kirche zu entfliehen.
Alle anderen sind bereits drinnen, als Dorothy schließlich hineingeht, und sie setzt sich neben einen alten Mann in eine der hinteren Bänke, froh über die Stille, die sich ausbreitet, als der Pfarrer die Bekanntmachungen verliest: Strickabende, wer mit der Kirchenpflege an der Reihe ist, wer die Almosen zu den Armen bringt. Seine Stimme tritt in den Hintergrund, während Dorothy den Blick über die Dorfbewohner wandern lässt, die unruhigen, zappelnden Kinder, die Familien und Paare, all die Leute, mit denen sie künftig auskommen muss, und sie redet sich ein, dass sie nicht Ausschau nach jemand ganz Bestimmtem hält: dem Fischer, die eine Hand über die Augen gelegt und die andere zum Gruß erhoben, dort unten am Strand, als es für einen Moment nur sie beide gegeben hatte.
Er ist nicht da.
Das Besondere an Joseph ist, denkt Agnes, während sie das Wasser erhitzt und die Seife auspackt, dass er anders ist. Anders als ihr Vater, anders als die anderen Jungs. Oh, sie hat durchaus Spaß mit ihnen, und sie mag das Flirten, ihre derben Scherze, ihre Anzüglichkeiten, aber Agnes weiß, was dahintersteckt und wohin es führt. Heute Morgen war wieder ein Bluterguss auf der Wange ihrer Mam, die Haut ganz geschwollen, sodass sie ihr eines Auge kaum aufbekam.
Eine übereilte Heirat mit dem falschen Mann.
Joseph wird später zum Abendessen kommen, wie jeden Freitag. Manchmal bringt er einen Taschenkrebs oder einen Hummer mit, wenn einer beim Fang dabei war. Das Wasser ist jetzt fast warm genug, und da die Kleinen in der Schule sind, die Größeren bei der Arbeit und Jeanie noch im Fischschuppen, zieht Agnes sich aus und legt Waschlappen und Handtuch bereit. Die Frage ist nur: Wie kann sie ihm klarmachen, dass sie jetzt erwachsen ist und nicht mehr eine Art kleine Schwester? Sie ist zwar fünf Jahre jünger als er, aber andere Mädchen sind mit achtzehn schon verheiratet und haben Nachwuchs. Sie seufzt. Eine Freundin hat ihr gesagt, dass Lavendel gut zum Baden ist, deshalb zerbröselt sie die Blüten, die sie hat, in der Schale und gießt das Wasser darüber. Der erdige Duft erfüllt den Raum. Sie wäscht sich das Gesicht und unter den Armen und Brüsten, pult den Schmutz unter den Fingernägeln hervor und säubert sie mit der Waschbürste. Dann wäscht sie sich zwischen den Beinen, und zum Schluss stellt sie die Schale auf den Boden und badet ihre Füße. Ein kräftiges Rubbeln mit dem Handtuch, dann zieht sie ihre Strümpfe an und das andere Kleid. Ihr Arbeitskleid wird am nächsten Morgen zusammen mit den Sachen der anderen gewaschen. Sie bürstet ihr Haar – dieselbe Freundin hat gesagt, hundert Bürstenstriche lassen es glänzen. Als Agnes bei dreiundzwanzig ist, hört sie oben auf dem Hügel die Schulglocke zum Unterrichtsende läuten.
Hastig läuft sie mit der Schale in den Garten, kippt das schmuddelige Wasser in eine Ecke beim Schweinestall und eilt wieder ins Haus, um die Zwiebeln für das Abendessen zu hacken, als hätte sie nichts Besonderes getan, um sich auf Josephs Besuch vorzubereiten.
Sie sieht, wie ihre Fingernägel auf dem Messer im Nachmittagslicht schimmern, und genießt das Gefühl ihres jungen Körpers, sauber und duftend in ihrem frisch geflickten Kleid. Eines Tages wird sie das Abendessen für ihren Ehemann zubereiten, mit einem Kind im Bauch und vielleicht einem zweiten an ihrem Rock, einem kräftigen Jungen, und sie wird eine eigene Familie haben, eine gute, in der niemand Angst hat und die Kinder sich nicht unter der Decke verstecken und Geschichten erzählen oder Lieder singen, um nicht hören zu müssen, wie ihr Vater ihre Mutter durch die Küche prügelt.
Und vielleicht, denkt sie, während die Zwiebeln zu brutzeln beginnen und sie ein paar Stückchen Fleisch dazugibt, vielleicht ist heute ja der Abend, an dem Joseph sie endlich bemerkt.
Sie hat niemanden klopfen gehört, aber da ist der Zettel, halb unter der Tür durchgeschoben, mit ihrem Namen in säuberlicher Schrift darauf. Miss Aitken.
Ihr Herz setzt einen Schlag aus, als sie ihn aufhebt, und einen lächerlichen Moment lang denkt sie wieder an den Fischer.
Miss Aitken,
Sie sind eingeladen, sich donnerstags dem Strickabend der Damen bei Browns Lebensmittel und Backwaren anzuschließen.
Mrs Brown
Sie seufzt.
Miss Aitken, nicht Dorothy.
Mrs Brown.
Dorothy schluckt mühsam. Das unmissverständliche Echo ihrer förmlichen Begrüßung und die entsprechende Reaktion der Frauen im Laden jagen ihr die Röte in die Wangen.
Sie setzt sich in die Küche und liest die Nachricht noch einmal. Vielleicht irrt sie sich ja.
Damen.
Fräulein Hochwohlgeboren.
Sie muss an die Mädchen auf dem Spielplatz denken, die Köpfe zusammengesteckt, und sie, steif und allein. Genau wie ihre Mutter, die am Ende des Tages stets abseits der anderen Eltern am Schultor gewartet hatte. Dorothy war unter ihrem kühlen Blick auf sie zugegangen, während die anderen gerannt waren. Mamma hatte es nicht leiden können, wenn sie rannte. Oder spielte. Oder laut war. Ein Kniff in das weiche Fleisch ihres Arms hatte sie daran erinnert, wenn sie es vergaß.
Als Kind hatte sie sich immer geschämt, weil sie so oft weinte und weil sie sich so sehr danach sehnte, ein wenig Liebe zu bekommen. Es hatte lange gedauert, bis sie begriffen hatte, wie ihre Mutter es genoss, sie zappeln zu lassen, wie sie Dorothys Gefühle manipulierte und welche Macht sie daraus zog.
Das Muster war immer dasselbe gewesen. Das wachsende Schweigen, das langsam das ganze Haus erfüllte, bis Dorothy kaum noch wagte, zu atmen oder sich zu bewegen, die ängstliche Frage, was sie getan hatte, um das versteinerte Gesicht, die zur Schau getragene Enttäuschung, die zu einem Strich zusammengepressten Lippen zu verdienen.
Die Versuche, ihre Mutter mit kleinen Gesten zu besänftigen – der Tee, den sie machte, wurde mit kalter, kritischer Selbstgerechtigkeit getrunken –, verstärkten Dorothys Anspannung und Nervosität nur noch.
Wenn ihre Mutter sich schließlich dazu durchrang, ihr zu vergeben, breitete sie die Arme aus, als Zeichen, dass die Bestrafung zu Ende war und dass Dorothy nun vor Dankbarkeit und Reue über das Vergehen, von dessen Existenz sie nicht einmal gewusst hatte, weinen durfte. Zur Belohnung umarmte ihre Mutter sie dann. Dorothy hasste sich dafür, dass sie das Spiel mitspielte und ihrer Mutter diese Macht verlieh.
Der Tag, an dem sie sich weigerte zu weinen, hatte alles verändert.
Es war der Tag, als sie die Zuckerstange stahl. Die Süßigkeiten im Lebensmittelladen in ihrer Straße in Edinburgh hatten sie schon immer gelockt. Auf dem Weg zur Schule blieb sie oft am Schaufenster stehen und betrachtete die vielfältigen Leckereien in den Gläsern: Humbugs mit ihren glänzenden schwarzen und weißen Streifen, die bunten Kugeln der Gobstopper, Zuckerstangen, Lakritzschnecken – allein die Namen schmeckten schon köstlich. In den Pausen holten die Mädchen ihre raschelnden Papiertüten heraus, spähten in die der anderen, eine Süßigkeit bereits in der Backe, die Lippen vom Lutschen gespitzt, und tauschten untereinander. Und sie hätte so gerne auch etwas zum Teilen oder Tauschen gehabt, was, war ihr ganz egal, sie wollte einfach nur dabei sein, an ihrem Geplauder teilhaben, an ihren Wettspielen, drei Bonbons gleichzeitig im Mund zu haben, eins in der einen Backe, eins in der anderen, und das dritte – wohin damit? Stattdessen stand sie abseits und spielte allein das Fadenspiel, tat ganz konzentriert, blickte aber immer wieder verstohlen zu den anderen.
Und dann kam der Tag, als sie in den Laden ging, um Tee zu besorgen, und auf dem Tresen lag eine neue Lieferung Zuckerstangen. Sie waren noch nicht in das Glas gefüllt worden, das ebenfalls auf dem Tresen stand, mit Zuckerkrümeln auf dem Boden, und außer ihr war niemand zu sehen, weder die Ladenbesitzerin noch ein anderer Kunde. So etwas hatte sie, Dorothy, die die Bibelverse kannte, in der Kirche Dienst verrichtete und immer zur Sonntagsschule ging, noch nie zuvor getan, aber nun nahm sie eine, steckte sie in ihre Jackentasche und rannte aus dem Laden und nach Hause, wo sie sie an einem sicheren Ort versteckte. Die ganze Nacht lag sie wach, sorgte sich wegen der Sünde, die sie begangen hatte, und fragte sich, ob sie bestraft werden würde, aber darunter mischten sich Bilder von der Pause, wenn sie endlich auch eine Süßigkeit haben würde, die sie den anderen zeigen konnte.
Während der morgendlichen Unterrichtsstunden schob sie immer wieder die Hand in die Tasche ihres Schulkittels und betastete die Zuckerstange, an der mittlerweile allerlei Fusseln klebten. In der ersten Pause hatte sie draußen auf dem Hof gestanden, und die Stange in ihrer Tasche hatte sich riesig angefühlt.
In der zweiten Pause stand sie am selben Platz, die Hände außerhalb der Taschen, um keine Aufmerksamkeit darauf zu lenken.
»Ist alles in Ordnung, Dorothy?« Die Lehrerin sah sie mit gerunzelter Stirn an, und Dorothy nickte voller Angst.
Am Ende des Schultags liefen einige der Mädchen wie üblich in einer munter lachenden, plaudernden Runde nach Hause, und auf die anderen warteten die Mütter mit einem Lächeln. Ihre Mutter stand wie immer abseits, und Dorothy sah sofort, dass sie Bescheid wusste. Ihr stockte der Atem. Die Ladenbesitzerin musste sie beobachtet und verraten haben, und nun war es zu spät, ihr blieb nicht einmal mehr Zeit, die Zuckerstange wegzuwerfen. Der Weg zu ihrer Mutter wurde immer enger, und Dorothy hatte das sonderbare Gefühl, mit jedem Schritt zu schrumpfen, sodass sie, als sie schließlich vor der strengen Miene ihrer Mutter stand, ganz winzig war.
Der Kniff war brutal. Ihre Mutter hatte scharfe Nägel, die blutige Halbmonde auf der Haut zurückließen.
Auf dem Heimweg sprachen sie kein Wort. Dorothy war zittrig vor Angst, während die Zuckerstange bei jedem Schritt gegen ihr Bein schlug. Als sich die Tür hinter ihnen schloss, dachte sie, sie müsste ohnmächtig werden, doch ihre Mutter ließ sie einfach wortlos stehen.
Und so begann das Muster von Neuem – das anschwellende Schweigen, die spürbare Enttäuschung. Und für Dorothy die Suche nach einem Zeichen des Erweichens im Gesicht ihrer Mutter, das Teekochen, die Versuche, ein Gespräch in Gang zu bringen, und dazu der quälende Drang zu gestehen und das verzweifelte Bedürfnis nach Vergebung, denn diesmal hatte sie wirklich etwas Böses getan.
Schließlich kam ihre Mutter in ihr Zimmer. Sie stand im Türrahmen, den Kopf zur Seite geneigt, ein angedeutetes Lächeln engelsgleicher Geduld auf den Lippen. »Nächstes Mal denken wir daran, unser Bett zu machen, nicht wahr, Dorothy? Dafür bist du doch nicht zu hochwohlgeboren, oder?«
Dorothy rauschte das Blut in den Ohren, und sie stand stocksteif da. Ihr Bett. Ihre Hand fuhr zu der schmerzenden Stelle an ihrem Arm. Sie sah die anderen Mädchen vor sich, die nach Schulschluss auf ihre lächelnden Mütter zugelaufen waren, und die Lieblosigkeit ihrer eigenen Mutter.
Und da durchbrach sie das Muster.
»Dorothy?«
Ihre Mutter kam ins Zimmer und breitete die Arme aus, aber die Falte zwischen ihren Augenbrauen verriet Verwirrung.
Sie brauchte einen Moment, bis sie sprechen konnte, aber sie hielt dem Blick ihrer Mutter stand, auch wenn sie ihre ganze Selbstbeherrschung brauchte, um nicht zu weinen. »Ja, Mamma?«, sagte sie und zwickte sich in die schmerzende Stelle, um die Tränen zurückzudrängen. Sie hob die Brauen, als wundere sie sich, was ihre Mutter von ihr wollte, und mit einem kleinen, kalten Lächeln griff sie wieder nach dem Besen und fegte weiter, als wäre nichts.
Diesmal schien ihre Mutter zu schrumpfen, während sie unsicher dort im Zimmer stand, sich dann abwandte und hinausging.
Als sie wieder allein war, sank Dorothy zitternd aufs Bett.
Am nächsten Tag auf dem Weg zur Schule hatte sie die Zuckerstange mit ihrem Absatz zermalmt, und von da an hatte sie in jeder Pause allein dagestanden und ihr Fadenspiel gespielt, ohne einen einzigen Blick zu den anderen Mädchen mit ihrem Geplauder, den raschelnden Papiertüten und den Süßigkeiten zu werfen, die ihr Übelkeit verursachten.
Fräulein Hochwohlgeboren.
Als sie nun, all die Jahre später, in ihrer Küche sitzt, blinzelt sie schnell. Wie dumm von ihr, zu glauben, hier würde alles anders sein, und ohne die Nachricht noch einmal zu lesen, knüllt sie sie zusammen und wirft sie in den kalten Ofen.
An diesem Freitag bringt er Blumen mit – Glockenheide, Storchschnabel und Ginster –, die sie in einen Krug und dann auf den Tisch stellt. Ihre Mutter hat versucht, den Bluterguss mit Puder zu überdecken, und Agnes lauscht ängstlich auf die Schritte ihres Vaters draußen auf dem Weg; sie hofft, dass es keine Szene gibt.
Sie stellt den Topf mit Graupensuppe auf den Tisch und beugt sich dabei an Joseph vorbei, damit er vielleicht den Lavendel riecht, mit dem sie sich gewaschen hat.
»Was stinkt denn hier so?« Ihr Bruder hält sich die Nase zu, als Agnes ihm Suppe in die Schale füllt. Er macht ein würgendes Geräusch, und die anderen lachen. Agnes' Herz gerät ins Stolpern. Hat sie zu viel davon ins Wasser getan? Sie setzt sich auf ihren Schemel und senkt den Kopf, um zu essen.
»Wie war der Fang diese Woche, Joe?« Jeanie ist die Einzige, die Josephs Namen abkürzt; sie darf das, behauptet sie, weil seine Mutter ihre beste Freundin war, bis sie an Krebs gestorben ist.
»Ganz ordentlich, Jeanie.« Er lächelt auf seine einnehmende Art. »Und leckere Suppe, Agnes.« Er hebt anerkennend seinen Löffel. »Du wirst eines Tages einen Mann sehr glücklich machen.«
Später, kaum dass sich die Tür hinter Joseph geschlossen hat, fährt sie zu ihrer Mutter herum. »Hast du gehört, was er gesagt hat?«
Ihre Schwestern machen große Augen. »Was denn? Was hat er gesagt?«, und: »Ich hab nichts gehört!«
Agnes scheucht sie aus der Küche. »Wascht euch Gesicht und Hände, und dann ab ins Bett.« Sie weiß, dass sie sofort in den Garten laufen, um zu spielen und die Schlafenszeit so weit wie nur möglich hinauszuschieben, aber so hat sie vielleicht ein paar ungestörte Augenblicke mit ihrer Mutter.
»Du hast es gehört, oder? Was er gesagt hat?« Agnes sieht sie verzweifelt um Zustimmung heischend an.
»Ja, das habe ich. Ich hab's dir doch schon gesagt, Agnes – Joe ist längst ein Teil der Familie. Für mich ist er wie ein Sohn. Nur noch ein Schritt, dann ist er es auch in Gottes Augen.« Jeanie lächelt, wenn auch etwas erschöpft, und zuckt zusammen, als sie Agnes eine Schüssel zum Abtrocknen reicht.
Schweigend waschen sie ab, räumen auf, legen die Wäsche für den nächsten Morgen bereit und weichen die Haferflocken ein – all die Aufgaben, die zu ihrem langen, arbeitsreichen Tag gehören.
»Bring die Kleinen besser nach oben, dein Vater kommt.«
Agnes hält inne, bemerkt, wie sich die Augen ihrer Mutter weiten, wie sie den Atem anhält, während sie auf die schweren Schritte ihres Vaters lauschen. Draußen verblasst der Tag in Striemen aus mattem Blau und Gelb. Die Kinder haben sich noch nicht gewaschen, aber jetzt ist es dafür zu spät.
»Schnell – ab ins Bett. Papa ist da.« Sie taucht ihre Schürze in den Wasserbottich und wischt damit über ihre Gesichter und Hände, während sie an ihr vorbei und nach oben drängen. »Ich bin gleich bei euch. Still jetzt.«