Das Geschenk eines neuen Glücks - Carmen Romero Dorr - E-Book
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Das Geschenk eines neuen Glücks E-Book

Carmen Romero Dorr

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Beschreibung

Eine Familie zwischen Spanien und Deutschland. Ein ergreifendes Schicksal. Eine mutige Frau.

Berlin, 1938. Paulina Hoffmann ist noch ein junges Mädchen, als sie miterleben muss, wie ihre jüdische Herzensfreundin Anna spurlos verschwindet. Als der Vater und die beiden Brüder an der Front fallen, versinkt ihre Mutter in tiefer Trauer, und Paulina findet bei Verwandten in Madrid eine neue Heimat.

Berlin, 2016. Nach dem Tod ihrer geliebten Großmutter Paulina erbt Alicia eine Wohnung in Prenzlauer Berg, von deren Existenz niemand in der Familie etwas wusste. Alicias Reise von Madrid nach Berlin wird bald zur spannenden Begegnung mit der unbekannten Vergangenheit ihrer Großmutter. Dabei kommt Alicia einem Geheimnis mit weitreichenden Folgen für ihr eigenes Leben auf die Spur ...

"Ein beeindruckendes Debüt voller Emotionen, das einen eintauchen lässt in die berührende Geschichte einer Frau, die sich mutig ihrem Schicksal stellt" EL PERIÓDICO DE CATALUNYA

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Seitenzahl: 351

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Inhalt

CoverÜber das BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungZitatDie Wohnung123Das Spiel1234Das Erbe12Das Ungeheuer12345Der Eindringling12345Die Hölle12345Das Paradies12345Das Geheimnis12Der Abschied123Der Handel123Das Glück12Die Augen1234Der Entschluss123Die Schuld123Die Bibliothek12345Die Lüge12345Die Freundin1Der Kreis1234Das Geschenk1234567Danksagungen

Über das Buch

Eine Familie zwischen Spanien und Deutschland. Ein ergreifendes Schicksal. Eine mutige Frau. Berlin, 1938. Paulina Hoffmann ist noch ein junges Mädchen, als sie miterleben muss, wie ihre jüdische Herzensfreundin Anna spurlos verschwindet. Als der Vater und die beiden Brüder an der Front fallen, versinkt ihre Mutter in tiefer Trauer, und Paulina findet bei Verwandten in Madrid eine neue Heimat. Berlin, 2016. Nach dem Tod ihrer geliebten Großmutter Paulina erbt Alicia eine Wohnung in Prenzlauer Berg, von deren Existenz niemand in der Familie etwas wusste. Alicias Reise von Madrid nach Berlin wird bald zur spannenden Begegnung mit der unbekannten Vergangenheit ihrer Großmutter. Dabei kommt Alicia einem Geheimnis mit weitreichenden Folgen für ihr eigenes Leben auf die Spur … »Ein beeindruckendes Debüt voller Emotionen, das einen eintauchen lässt in die berührende Geschichte einer Frau, die sich mutig ihrem Schicksal stellt« EL PERIÓDICO DE CATALUNYA

Über die Autorin

Carmen Romero Dorr, geboren 1981 in Madrid, hat Journalismus studiert und arbeitet als Lektorin für den spanischen Verlag Ediciones B (Penguin Random House). Die Geschichte ihrer deutschen Großeltern, die während des Zweiten Weltkriegs von Berlin nach Madrid ausgewandert sind, inspirierte sie zu ihrem Romandebüt.

CARMENROMERO DORR

Das Geschenkeines neuenGlücks

Roman

Aus dem Spanischenvon Ursula Bachhausen

LÜBBE

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

  

Deutsche Erstausgabe

  

Für die Originalausgabe:

Copyright

© Carmen Romero Dorr, 2018

© Editorial Planeta, S. A., 2018

Titel der spanischen Originalausgabe: »El último regalo de Paulina Hoffmann«

Originalverlag: Planeta

  

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Einband-/Umschlagmotive: © shutterstock.com: Olena Zaskochenko | Enrique Pesqueira; © arcangel.com: Ildiko Neer

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7517-1035-0

www.luebbe.de

www.lesejury.de

 

Für meine Großmutter, die nicht mehr da ist,

und meinen Vater, der immer da war

 

Wenn wir nicht durch das, was wir verlieren und wonach wir uns sehnen, was wir uns wünschen und nicht haben können, stark werden könnten, dann könnten wir nie stark genug werden, oder? Was sonst macht uns stark?

John Irving, DAS HOTEL NEW HAMPSHIRE

DIE WOHNUNG

Berlin, August 2016

1

Seit sie den Bund mit vier Schlüsseln und einem Anhänger in Form eines blau emaillierten P vor ein paar Wochen in der Kanzlei des Notars zum ersten Mal gesehen hat, kreisen Alicias Gedanken nur noch um ihn.

Sie steigt aus dem Taxi, das sie vom Flughafen hergebracht hat. Das vanillefarbene Haus, die grünen Bäume, das geschäftige Viertel, alles ist neu für sie, in allem scheint eine ihr noch unbekannte Bedeutung zu stecken.

»Was soll diese Geheimniskrämerei, Oma?«, murmelt sie.

Kastanienallee 14, erster Stock links.

Mit einem tiefen Seufzer öffnet Alicia die schwere Holztür und verschwindet im Halbdunkel des Hausflurs.

2

Die Wohnung ist Neuland, ein unerforschtes Terrain. Jetzt hier zu sein ist, als würde sie an ein Fenster treten, das Paulina für sie aufgestoßen hat, oder den Anfang einer ihrer Geschichten von früher hören. Beim Aufwachen muss sich Alicia erst einmal orientieren. Es ist schon fast zehn, sie hat lange geschlafen und lebhaft geträumt. Natürlich von Paulina. Sie hat ihre Stimme gehört und auf der Zunge den Geschmack von heißer Schokolade gespürt.

Am Tag zuvor ist sie in Madrid in einen dieser Billigflieger gestiegen, in denen Passagiere wie Vieh zusammengepfercht werden, und hat knapp drei Stunden lang versucht, sich auf den Roman von John Irving in ihrem Handgepäck zu konzentrieren. Aber es war aussichtslos. Ihre Gedanken schweiften immer wieder zu dieser Stadt, zu diesem Haus, zu dem, was sie erwartete. Wie getrieben tastete sie alle paar Minuten in ihrer Handtasche nach dem Schlüsselbund.

Die Wohnung ist großzügig geschnitten, mit geräumigen Zimmern, was durch die hell gestrichenen Wände und das hereinflutende Morgenlicht noch betont wird. Sonnenstrahlen sickern durch die Blätter einer großen Kastanie vor dem Balkon und werfen muntere Sprenkel auf den Dielenboden. Wenn sich die Zweige im Wind wiegen, huschen die Lichtpunkte spielerisch über das Holz.

Gestern Nachmittag ist Alicia einen Moment stehen geblieben und hat die Fassade betrachtet, bevor sie das Haus betreten hat. Es ist ein typischer Gründerzeitbau, wie es sie in Prenzlauer Berg so oft gibt, mit einem hübschen Innenhof, in dem die Bewohner ihre Fahrräder abstellen. Gleich nebenan ist ein Café – das Café Blume –, vor dem bunte Stühle und Tische stehen. Auf der Straße waren Väter und Mütter mit Kinderwagen, Händchen haltende Pärchen und Frauen mit Mobiltelefonen unterwegs.

Die Wohnung ist spärlich eingerichtet. Außer dem großen Bett im Schlafzimmer gibt es nur wenige, mit Kennerblick ausgewählte klassische Jugendstilmöbel: ein eleganter Büfettschrank, ein Tisch, ein paar Stühle mit gedrechselter Rückenlehne. Ganz nach Omas Geschmack, denkt Alicia, als sie an diesem Morgen durch die Wohnung schlendert.

Sie macht ein paar Fotos und schickt sie ihrem Vater. Bereits gestern hat sie ihm ein paar erste Bilder geschickt, doch auf denen sei kaum etwas zu erkennen, hat er sich beschwert. In der Küche findet sie ein Schildpatt-Tablett, das ziemlich alt wirkt, und geht damit ins Wohnzimmer. Ein Kaffee und Rührei mit Toast, das ist jetzt genau das Richtige.

Sie hat sich kaum hingesetzt, als sie von Marcos eine WhatsApp-Nachricht bekommt mit einem Foto von Jaime im Garten ihrer Schwiegereltern in El Escorial. Der Kleine sitzt mit einem breiten Lächeln auf seinem Kinderstuhl, vor ihm ein Teller mit klein geschnittenem Hähnchen. Vermutlich ist er frisch gebadet, denn er trägt einen blauen Schlafanzug und sein Haar schimmert feucht. Alicia verspürt im Magen eine Leere, ein flaues Gefühl: Es sind Schuldgefühle, wieder einmal.

Gestern war sie so erledigt, dass sie gerade mal auspacken und in aller Eile einen Supermarkt aufsuchen konnte, um das Nötigste einzukaufen. Heute früh jedoch verspürt sie seit dem Aufwachen ein eigenartiges Gefühl. Sie ist zum ersten Mal in dieser Wohnung und hat nicht die leiseste Ahnung, was sie für ihre Großmutter bedeutet hat, aber sie spürt deutlich Paulinas Anwesenheit. Als stünde sie gleich hinter ihr und passte auf, dass sie auch ja ihr Frühstück aufisst, wie damals, als Alicia noch ein Kind war.

3

Schon seit mehr als einem Monat ist ihre Oma nicht mehr da. Eines Morgens lag sie einfach tot in dem Bett, in dem sie so viele Jahre allein geschlafen hat, seit sie schon in jungen Jahren zur Witwe wurde. Nächtliches Herzversagen, meinte der Arzt. Sie habe nicht gelitten. Bis zu diesem Zeitpunkt war sie, trotz ihrer fast vierundachtzig Jahre, bei bester Gesundheit und völlig unabhängig gewesen. Ein solcher Tod sei doch ein Glück, wenn man bis zum Schluss ein so schönes Leben gehabt habe, wiederholten Freunde und Bekannte bei der Beerdigung gebetsmühlenartig. Was ist das denn bitte für ein bescheuerter Trost, dachte Alicia, wenn ein so wichtiger Mensch von einem Tag auf den anderen aus ihrem Leben verschwunden ist?

Ihre Oma war ihre Vertraute gewesen, ihre Freundin, ihre Beschützerin, ihr Vorbild, ihre Komplizin. Sie war für das Mädchen, das schon früh zur Halbwaise geworden war, fast eine Mutter gewesen. An unzähligen Nachmittagen hatte sie auf Alicia aufgepasst und ihr beigebracht, die ersten Enttäuschungen zu überwinden und Kummer mit Humor zu nehmen. Sie hatte in ihr die Liebe zu Büchern geweckt und ihr eingeschärft, sich nicht unterkriegen zu lassen, sondern ihr Glück zu suchen. Wie oft hatte sie Alicia bei sich aufgenommen, wenn sie als Jugendliche und sogar später noch, als Erwachsene, mit ihrem Vater oder einem Freund Streit gehabt hatte. Die Wohnung ihrer Oma war für Alicia immer ein sicherer Hafen gewesen.

Als Alicia erfuhr, dass sie mit Jaime schwanger war, hatte sie die Neuigkeit ihrer Oma noch vor ihrem Vater mitgeteilt. Auch als sie als Anwältin ihren ersten großen Prozess gewann, erzählte sie als Erstes Oma Paulina davon. Nur derjenige, der weiß, wie sehr man sich ins Zeug gelegt hat, um etwas zu erreichen, kann eine solche Leistung tatsächlich würdigen. Und als ihr Leben vor etwas mehr als einem Jahr komplett aus den Fugen geriet, war ihre Oma die Einzige, der sie vorbehaltlos die Wahrheit sagte (mit Ausnahme von Marcos natürlich, aber bei dem hatte sie keine andere Wahl). Jeder braucht einen Menschen, der ihn grenzenlos liebt, absolut und bedingungslos. Für Alicia war dieser Mensch ihre Großmutter. Sie wuchs in dem Wissen auf, dass Paulina immer für sie da sein würde, was auch geschehen sollte.

Aber jetzt ist sie nicht mehr da.

Sie war zu ihrer Oma immer offen gewesen. Die Entdeckung, dass diese Aufrichtigkeit nicht auf Gegenseitigkeit beruhte, ist für sie ziemlich verstörend. Vielleicht war die innere Verbundenheit doch nicht so groß. Insgeheim ärgert Alicia sich über ihre Großmutter, ist regelrecht sauer auf sie. Aber nun kann sie nicht mehr zum Telefonhörer greifen oder einfach bei Paulina vorbeischneien, um sie zur Rechenschaft zu ziehen.

Wenige Tage nach der Beerdigung versammelte sich die Familie in der Kanzlei des Notars zur Testamentseröffnung. Paulina war in den letzten fünfzig Jahren eine reiche Frau gewesen, und als gute Deutsche hatte sie alles bis ins kleinste Detail geregelt. Ihre Kinder Elisa und Diego wollten die Angelegenheit so schnell wie möglich hinter sich bringen. Die Aufteilung des Erbes stand bereits fest, und sie wollten lediglich die Formalitäten hinter sich bringen, um sich ihrer Trauer widmen zu können.

Aber Paulina Hoffmann hatte noch eine letzte Überraschung für ihre Familie.

»Eine Wohnung in Berlin?« Alicias Vater brach als Erster das Schweigen.

»Ja, in der Kastanienallee 14. Ihre Mutter hat sie vor fünf Jahren erworben«, erwiderte der Notar.

»Das ist in Prenzlauer Berg, das kenne ich«, sagte Alicias Tante Elisa. »Ganz in der Nähe habe ich ein paarmal in einer Galerie ausgestellt. Aber ich verstehe das nicht.«

»Wann war Oma denn in Berlin? Warum sollte sie sich da eine Wohnung kaufen? Und warum hat sie uns nichts davon erzählt?«, wollte Alicia wissen.

»Keine Ahnung, Liebes. Du kennst doch Oma. Sie war immer sehr eigenständig und hatte für ihr Alter eine geradezu unglaubliche Energie«, sagte Diego.

»Ob sie die Wohnung als Kapitalanlage gekauft hat?«, fragte Elisa. »Eine Immobilie in Berlin dürfte während der Wirtschaftskrise hierzulande eine gute Investition gewesen sein.«

»Wohl kaum. Ich kann mir nicht vorstellen, dass unsere Mutter mit neunundsiebzig Jahren auf einmal im Ausland in Immobilien investiert hat«, antwortete Diego. »Vielleicht hatte sie einfach Sehnsucht nach der Stadt. Immerhin ist sie dort aufgewachsen.«

»Trotzdem seltsam, dass sie nichts gesagt hat …«, warf Alicia ein.

»Sie hatte schon immer einen eigenen Kopf.« Elisa seufzte. »Und was machen wir jetzt mit einer Wohnung in Deutschland?«

»Das hat allein die Enkelin zu entscheiden. Die verstorbene Señora Hoffmann hat verfügt, dass sie die Wohnung bekommen soll«, erklärte der Notar.

Sofort richteten sich alle Blicke auf Alicia, in der Hoffnung, sie würde vielleicht etwas erklären können.

Aber das konnte sie nicht. So sehr sie ihr Gedächtnis nach einem Hinweis durchforstete, ihr fiel nichts ein. Hatte ihre Großmutter, und sei es nur ganz beiläufig, irgendwann einmal eine Berlin-Reise erwähnt? Sie hätte schwören können, dass dem nicht so war. Allerdings hatte Paulina nie viel dafür übriggehabt, jeden ihrer Schritte zu rechtfertigen. Wie oft war sie nach Málaga gefahren, ohne irgendwem Bescheid zu geben. Wann immer es ihr in Madrid zu kalt war oder sie sich langweilte, nahm sie im Bahnhof Atocha einfach den Zug und stand kurz darauf in ihrem herrlichen Haus hoch oben im Stadtteil El Limonar, mit Blick auf das Mittelmeer. Das war typisch für sie.

Dennoch war es eigenartig, dass Paulina etwas so Wichtiges verschwiegen haben sollte. Eine Reise ans Meer war wohl kaum vergleichbar mit dem Kauf einer Wohnung in einem anderen Land, ohne darüber auch nur ein Sterbenswörtchen verlauten zu lassen. Was sollte die Geheimniskrämerei? Und warum hatte Oma gewollt, dass ausgerechnet sie die Wohnung bekam? Alicia fasste einen Entschluss: Sie würde im August nach Berlin fahren, wenn Jaime zwei Wochen bei seinem Vater verbrachte.

Der Notar holte einen Umschlag aus seiner Aktenmappe und überreichte ihn ihr.

Darin waren Unterlagen zu der Wohnung und ein Bund mit vier Schlüsseln und einem Anhänger mit einem blau emaillierten P.

Aber keine Antworten auf ihre Fragen.

DAS SPIEL

Madrid, 1991

1

Paulina Hoffmann sitzt mit ihrer Enkelin im Wohnzimmer, das von einer riesigen Bücherwand aus Holz dominiert wird. In dem von wenigen Tischlampen schwach erleuchteten Raum ist es still und warm. Durch die dicken Mauern des Wohnhauses in der Calle Velázquez dringen weder Kälte noch Lärm. Es ist, als wären die beiden in dem vertrauten Halbdunkel dieses Zimmers die einzigen Menschen auf der Welt. Die Außenwelt ist weit weg.

Es ist ein gewöhnlicher Winternachmittag. Unten auf der Straße braust der hektische Berufsverkehr durch den Regen. Alicias Vater ist nicht unter den Abertausenden Menschen, die von der Arbeit heimkehren. Er hat bis abends in seiner Praxis zu tun, und so bleibt die Kleine bis zum Abendessen bei ihrer Großmutter. Diese Stunden am Nachmittag, die nur ihnen gehören, sind den beiden besonders kostbar.

Großmutter und Enkelin haben das gleiche kastanienbraune Haar, die gleichen blauen Augen und die gleiche helle Haut. Die Züge von Paulina Hoffmann, die 1932 in Berlin zur Welt kam, haben eine Generation übersprungen und sind bei ihrer einzigen Enkelin wieder zum Vorschein gekommen.

Heute sehen sie sich wieder einmal gemeinsam Fotos in einem alten granatroten Lederalbum mit abgestoßenen Ecken an. Vor Alicia auf dem Tisch liegt ein kleiner Metallspiegel, in dem sie vergnügt ihr Abbild mit dem des Mädchens vergleicht, das ihr von den Schwarz-Weiß-Porträts aus einer anderen Zeit, ja beinahe einer anderen Welt, entgegenlächelt. Auf einem Tablett stehen noch die Reste des Nachmittagsimbisses. Wer hat schon Zeit, aufzustehen und sie durch den langen Flur in die Küche zu tragen, jetzt, da die beiden in die – für die Kleine magische, für die alte Frau immer notwendigere – Welt der Erinnerungen eingetaucht sind?

Das Mädchen hält in der Hand ein Foto, das eine Familie vor dem imposanten Gebäude der Staatsoper Unter den Linden zeigt: ein distinguiertes Ehepaar – die Gattin mit hohen Absätzen und einem schräg aufgesetzten Hut, der ihr etwas Unergründliches verleiht – posiert mit drei kleinen Kindern vor dem großen preußischen Kulturtempel. Wie bei alten Porträtaufnahmen üblich, auf denen nur besondere Gelegenheiten verewigt wurden, wirken alle Familienmitglieder ausgesprochen adrett. Die Jungen mit einem akkuraten Scheitel, das Mädchen mit einer großen Schleife auf dem Kopf. Auf der Rückseite des Fotos steht in bereits verblasster Schrift: Familie Hoffmann, Berlin, 1936.

Paulina Hoffmann weiß nicht mehr, an welchem Tag oder zu welchem Anlass dieses Foto gemacht wurde. Sie war damals erst vier Jahre alt, und es lebt schon lange niemand mehr, den sie danach fragen könnte. Aber in diesem Augenblick macht die Familie einen glücklichen Eindruck. Paulina besitzt nur ein knappes Dutzend Bilder ihrer Eltern und Brüder, ohne die sie ihre Gesichter schon vor Jahrzehnten vergessen hätte. Aber da sind sie. Ihr Vater, hochgewachsen, dunkelhaarig, mit Bart, ihre Mutter und die, wie sie, goldblonden Brüder, die mit großen Augen in die Kamera schauen. Seither ist viel Zeit vergangen, vieles ist passiert. Jahrelang hat sich Paulina bemüht zu vergessen, doch neuerdings drängt es sie immer häufiger, in diese weit zurückliegende Vergangenheit einzutauchen, die ihr vorkommt wie das Leben einer anderen. Sie will verstehen, wer sie wirklich ist. Woher sie kommt. Warum sie getan hat, was sie getan hat.

Großmutter ist eine schlanke Frau mit heller Haut und beileibe noch nicht alt. Obwohl sie fast ihr ganzes Leben lang in Madrid gewohnt hat, wird sie bis heute gelegentlich für eine Touristin gehalten. Sie hat ihren deutschen Akzent nie ganz verloren, zum Teil sicher auch, weil sie es nicht wollte. Trotz der rauen Sprache verleiht er ihrer Stimme einen sanften, melodischen Klang.

Alicia mustert konzentriert die Züge des dunkelhaarigen Mädchens auf der Fotografie. Es fällt ihr schwer, in dem Kinderbild die Frau zu erkennen, die jetzt neben ihr sitzt. Die Ähnlichkeit mit ihr selbst ist jedoch unverkennbar, auch wenn sie sich mit der Arglosigkeit ihrer neun Jahre für bedeutend älter hält als die kleine Paulina, die an der Hand ihrer Brüder fröhlich in die Kamera blickt und nicht ahnt, dass ihr junges Leben schon bald aus der Bahn geraten soll.

Die zweite Fotografie zeigt zwei junge Männer in einer vermutlich braunen Uniform. Der Jüngere ist fast noch ein Kind. Beide tragen links eine Armbinde mit einem Adler, einem Hakenkreuz und drei deutschen Wörtern, von denen nur die Initialen zu erkennen sind, ein D, ein V und ein W, der Rest ist verschwommen. Mit ihrem hellblonden Haar, das unter den Mützen hervorblitzt, verkörpern die Jungen das arische Ideal wie aus dem Bilderbuch. Das Foto stammt vom November 1944.

»Wer ist das?«, fragt das Mädchen, obwohl sie die Antwort kennt.

»Otto und Heinz, meine Brüder«, erklärt die Großmutter wieder einmal. Sie hat entdeckt, dass das schmerzliche Vorhaben, zu ihren frühesten Erinnerungen, ihren Wurzeln zurückzukehren, für sie erträglicher wird, wenn sie daraus eine Art Spiel mit ihrer Enkelin macht. Wenn sie das Grauen in ein für die Ohren des Mädchens taugliches Märchen verwandelt. »Sie waren sehr tapfere Soldaten«, lügt sie. »Sieh doch nur, wie gut sie aussahen.«

»Die Uniformen sind schön«, sagt Alicia und sucht im Spiegel nach Paulinas Blick.

Dabei sind sie alles andere als schön. In Wahrheit handelt es sich nicht einmal um Soldatenuniformen, sondern um die Kluft der Hitlerjugend, auf die mit unbeholfenen Stichen die Armbinde des Deutschen Volkssturms genäht wurde. So jämmerlich war die Ausrüstung der gegen Kriegsende an die Front gebrachten Truppen. Jungen im Schulalter und Greise mit schmerzenden Knochen. Als Kanonenfutter verheizt, um doch noch die deutsche Niederlage abzuwenden. Manche dieser Kindersoldaten hatten die Nazidoktrin praktisch mit der Muttermilch aufgesogen und waren als gefährliche Fanatiker in den Kampf gezogen. Doch bei den Jungen auf der Fotografie scheint dies nicht der Fall gewesen zu sein. Trotz ihres Bemühens, ernst zu wirken, können sie die Angst in ihren hellen Augen nicht verbergen. Beide klammern sich so verkrampft an ihre Gewehre, als fürchteten sie, sie könnten aus Versehen losgehen.

Aber von alldem weiß die Enkelin noch nichts. Sie erkennt nicht, dass diese jungen Burschen in Wahrheit starr vor Entsetzen waren. Wie sollte es auch anders sein? Diese Kinder hatten kaum zu leben begonnen und sollten schon töten.

Sobald Alicia älter wird und beginnt, Fragen zu stellen, endet das Spiel mit dem Fotoalbum. Paulina wird ihr die Bilder zwischen den granatroten Lederdeckeln nicht länger zeigen, und die Enkelin wird die alten Geschichten einfach vergessen.

2

Paulina Hoffmann wartet immer an derselben Ecke des Pausenhofs auf das Ende des Unterrichts. Als junge Frau hatte sie es sich nicht leisten können, ihre Kinder in die Deutsche Schule zu schicken, die ihre Enkelin nun besucht. Doch als ihr Sohn Diego zum Witwer wurde, hat sie bereitwillig einen nicht unerheblichen Anteil an der Erziehung seiner erst vierjährigen Tochter übernommen. Seither ist die Großmutter eine große Stütze. Sie besucht Sprechstunden und Schulfeste, hilft bei den Hausaufgaben und lässt nebenbei – warum sollte sie es nicht zugeben? – die irreale, unbefleckte Erinnerung an ihre eigenen frühen Lebensjahre wieder aufleben, an die Zeit, bevor alles zerstört wurde.

Vor Kurzem haben Großmutter und Enkelin zusammen eine bunte Laterne gebastelt. Beim Martinsumzug trug die kleine Alicia sie stolz vor sich her, und bei jedem ihrer Schritte schimmerte das Seidenpapier im Schein der Flamme.

Mit solchen Unternehmungen erobert sich Paulina ein Stück ihrer eigenen Kindheit zurück, und wenn sie vor dem großen Gebäude an der Calle Concha Espina wartet, in das sie ihre Kinder selbst so gern geschickt hätte, regt sich in ihr zugleich ein Gefühl des Triumphs und die wehmütige Erinnerung an etwas endgültig Verlorenes.

Alicia wirkt ernst, als sie angelaufen kommt. Offensichtlich bedrückt sie etwas. Paulina knöpft ihr den Anorak zu und schlingt ihr sorgsam den Schal um den Hals. Es ist einer der kältesten Tage des Jahres. Hand in Hand streben sie zum Ausgang.

Schweigend gehen sie nach Hause, wo sie den Nachmittag miteinander verbringen werden, bis Alicias Vater aus der Praxis kommt. Die Kleine ist der grauhaarigen Frau wie aus dem Gesicht geschnitten, und Paulina weiß, dass es besser ist, sie nicht zu drängen, bis sie ihr von selbst erzählt, was sie auf dem Herzen hat.

Sie bereiten sich zwei große Tassen heiße Schokolade zu und setzen sich ins dämmrige Wohnzimmer. Schon seit vielen Jahren weiß die Großmutter, dass etwas Süßes Sorgen oder Trauer erträglicher macht. Es ist ein uralter Trick, das Gehirn mit etwas Serotonin zu täuschen. Ein wohlfeiler, aber trügerischer Trost.

»Meine Freundin Katja geht von der Schule ab. Ich werde sie nicht wiedersehen. Dabei ist sie doch meine beste Freundin«, rückt Alicia schließlich mit der Sprache heraus.

Katja ist ein ebenso sanftes und schüchternes Mädchen wie sie. Wenn man es genau nimmt, ist sie nicht nur Alicias beste Freundin, sondern auch ihre einzige.

»Geht die Familie wieder zurück nach Deutschland?«

»Ja. Sie hat mir heute gesagt, dass sie nach Weihnachten nach Frankfurt ziehen. Ich werde sie schrecklich vermissen. Mit wem soll ich dann auf dem Schulhof spielen? Warum passiert das ausgerechnet mir? Warum kann nicht irgendein anderer aus der Klasse nach Deutschland gehen?«

Ein anderes Mädchen würde in diesem Moment sicher zu weinen beginnen, aber nicht Alicia. Später einmal, wenn sie älter ist, wird sie der Typ Frau sein, den vermeintlich nichts so leicht umhaut. Alle werden sie für stärker halten, als sie tatsächlich ist.

Die Deutsche Schule wird von vielen Kindern besucht, deren deutsche Eltern eine Zeitlang in Madrid arbeiten und nach zwei oder drei Jahren nach Berlin, München oder, wie in Katjas Fall, nach Frankfurt zurückkehren. Doch Alicia fällt es nicht leicht, neue Freunde zu finden. Es fällt ihr sogar ungewöhnlich schwer. So schwer, dass ihr besorgter Vater schon mehrere Termine beim Schulpsychologen hatte. Alicia hat zwar keine Probleme mit ihren Mitschülern, sich aber lange Zeit mit niemandem angefreundet. Sie lebte in einer eigenen Welt und verbrachte die Pause allein auf dem Schulhof. Daher war es ein Segen, als Katja vor ein paar Jahren in ihre Klasse kam. Und nun ist es ein umso schwererer Schlag, dass sie wegziehen muss, zumal Alicia nicht zum ersten Mal einen geliebten Menschen verliert.

Seit dem Tod von Alicias Mutter sind mehr als fünf Jahre vergangen, doch Paulina fürchtet noch immer, dass die scheinbar glückliche Kleine plötzlich zusammenbrechen könnte. Die Mama zu verlieren, wenn man kaum alt genug ist, um sich an sie zu erinnern, kann in einem so kleinen Herzen eine tiefe Wunde hinterlassen. Paulinas Schwiegertochter Paloma ist ein offener, liebevoller Mensch gewesen. Ihr sinnloser Tod bei einem Verkehrsunfall hat Paulinas Sohn und ihre Enkeltochter so vieler kostbarer Momente beraubt.

Jetzt, kurz vor ihrem zehnten Geburtstag, fragt Alicia kaum noch nach der zärtlichen, heiteren Frau, die sie immer gekitzelt hat, wenn sie aus der Badewanne kam, und ihr abends Märchen erzählte. Paulina ist sich nicht sicher, ob die scheinbare Normalität und das Schweigen ein gutes oder ein schlechtes Zeichen sind.

Wenn sie darüber nachdenkt, dass Alicia all die Liebe womöglich vergessen hat, befällt sie tiefe Traurigkeit. Kinder können sich kaum an jene ersten Jahre erinnern, die für die Eltern alles sind. In keinem anderen Moment des Lebens empfängt der Mensch so viel liebevolle Zuwendung, doch sie versinkt schon bald im Nebel des unfertigen Gedächtnisses.

Obwohl, wer weiß? Vielleicht ist nicht alles verloren. Immerhin erinnert auch sie sich nicht mehr an den Geruch oder die Stimme ihrer Mutter und verspürt dennoch eine unvergleichliche Wärme, wenn sie eine ihrer Fotografien betrachtet.

Paulina hat es sich zur Aufgabe gemacht, dass Alicia sich niemals einsamer fühlen soll als andere Kinder. Sie soll niemals darüber klagen müssen, ihr fehle etwas. Aber nun geht auch Katja fort.

Eine andere Großmutter würde die Angelegenheit kleinreden und der Enkelin sagen, dass sie sicher eine neue Freundin finde. Aber nicht sie. Paulina weiß, dass dieses Ereignis für ihre Enkelin eine kleine Katastrophe ist.

»Als ich ein bisschen jünger war als du jetzt, ist meine beste Freundin auch von der Schule abgegangen«, sagt sie. »Ich habe sie nie wiedergesehen. Ich weiß genau, wie du dich fühlst. Aber damals war es eine andere Zeit, es war viel komplizierter. Wenn Katja und du wirklich Freundinnen seid und ihr euch so gut versteht, wie du denkst, dürft ihr euch davon nicht auseinanderbringen lassen. Du kannst ihr Briefe und Postkarten schreiben und Fotos schicken. Du kannst sie sogar besuchen, wenn du mal im Sommer nach Deutschland fährst. Mach das Beste daraus und bleib mit ihr in Kontakt. Ich konnte das nicht, mein Schatz.«

»Wie hieß deine Freundin? Hast du ein Foto von ihr?«, fragt die Enkelin.

»Sie hieß Anna, und nein, ich habe kein Foto. Aber ich weiß noch, dass sie lange, glänzend schwarze Zöpfe hatte und dass sie mir einmal ihre Lieblingspuppe geliehen hat. Ich hätte alles dafür gegeben, wieder von ihr zu hören. Aber wir haben uns aus den Augen verloren.« Einmal mehr verharmlost Paulina die Vergangenheit zu einem für Alicias Kinderohren geeigneten Märchen.

In sich gekehrt hängen Großmutter und Enkelin ihren Gedanken nach. Heute werden sie das Fotoalbum nicht hervorholen.

Und dann stellt ihr Verstand Paulina eine Falle. Plötzlich meint sie zu wissen, wie sie ihre Enkelin ablenken kann.

»Oje!«, ruft sie. »Da fällt mir gerade ein, dass wir etwas Wichtiges vergessen haben.«

»Was denn, Oma?«, fragt die Kleine, die den Köder natürlich geschluckt hat.

»Weißt du, was heute für ein Tag ist?«

»Der fünfzehnte Dezember.«

»Und was machen wir beide immer in dieser Jahreszeit?«

»Weihnachtskekse backen!«

Und schon eilen die beiden in die Küche. Die Großmutter bereitet den Plätzchenteig nach einem Rezept zu, das sie von ihrer Mutter gelernt hat. Es gibt Geschmacksnoten, die von Generation zu Generation weitergereicht werden. An ihnen hängen Erinnerungen an vergangene Momente und Menschen, die nicht mehr da sind. Paulinas Plätzchen sind etwas Besonderes. Ihr Geheimnis ist die geriebene Zitronenschale, die erst ganz zum Schluss in den Teig kommt.

Doch als Paulina an diesem Nachmittag mit dem Messer in die runzelige gelbe Schale sticht, trifft sie der durchdringende Zitrusduft wie ein Keulenschlag und versetzt sie für einen Augenblick zurück ins Berlin des Jahres 1938. Als wären all die Jahre nicht vergangen und sie wäre noch immer sechs Jahre alt, sieht sie auf einmal wieder den Mahagonitisch mit der Spitzendecke im Esszimmer ihres Elternhauses vor sich. Das Geschirr mit dem blauen Dekor. Die Zuckerdose, der ein Henkel fehlt. Den Blick ihrer Mutter. Und sie spürt wieder diesen bohrenden Schmerz im Magen.

Unter einem Vorwand zieht sie sich in ihr Schlafzimmer zurück, um die Fassung zurückzuerlangen, auch wenn sie die Kleine dafür ein paar Minuten in der Küche allein lassen muss.

Das Gedächtnis weiß, was wir vergessen haben. Heimtückisch treibt es ein falsches Spiel mit uns und bringt uns im unpassendsten Moment zu dem zurück, was wir dringend hinter uns lassen wollten.

3

Paulina will ihr Möglichstes tun, um gegen das unerträglich ungerechte Schicksal anzukämpfen, das eine so junge und glückliche Familie zerstört hat. Sie weiß nur zu gut, was es heißt, schon in jungen Jahren den Menschen an seiner Seite zu verlieren, wenn man gerade erst das Fundament für ein gemeinsames Leben gelegt hat und kurz darauf die Aufgabe allein weiterführen soll, auch wenn man keine Ahnung hat, wie.

Da ihre Tochter Elisa ständig auf Reisen ist und mal in einer Galerie in Mailand ausstellt, mal irgendwo in Europa an einer Universität ein Kunstseminar gibt, ist sie die Einzige, die beispringen kann. Es ist für Paulina kein Opfer, sich um ihre Enkelin zu kümmern. Mit dem klugen, findigen, unendlich neugierigen Mädchen hat sie viel Freude und empfindet es als Privileg, Alicia die Welt zu erklären, in ihre großen Augen zu blicken und zu beobachten, wie ihr wacher Geist Informationen wie ein Schwamm aufsaugt und sich ihre sprühende Intelligenz entwickelt.

Eines Nachmittags gehen die beiden gemeinsam zu einer Auktion. Paulina interessiert sich für die Gemälde des Konvoluts und erklärt ihrer Enkelin unterwegs, wie das System der Gebote funktioniert. Sie erreichen das Auktionshaus, das von dunklen Möbeln, Landschaftsporträts in vergoldeten Rahmen und Vitrinen mit Schmuck und Uhren überquillt. Im Untergeschoss, wo bereits die ersten Bieter warten, sind mehrere Stuhlreihen aufgebaut. An einer Wand sind die zu versteigernden Objekte aufgereiht.

»Ist es das da?«, fragt die Kleine an der Hand ihrer Großmutter.

»Ja. Gefällt es dir?«

Das Mädchen tritt auf das Gemälde zu und betrachtet es konzentriert.

»Ich weiß nicht.«

»Wenn du älter bist, wird es dir bestimmt gefallen.«

»Warum willst du es kaufen? Es sieht doch genauso aus wie die, die du schon hast.«

»Dieses Bild ist etwas Besonderes.«

»Aha …«, sagt Alicia. Paulinas Enkelin trägt ein rotes Kleid und hat das Haar zu einem Zopf frisiert. Ihr Blick fällt auf das Schild mit dem Ausgangspreis für die Auktion. »Das ist aber teuer! Die wollen anderthalb Millionen Peseten dafür haben!«

»Das stimmt allerdings. Ich hätte nie gedacht, dass es so hoch notiert würde.«

»Und trotzdem willst du es unbedingt kaufen? Papa hat gesagt, das ist so teuer wie ein Auto.«

Die Großmutter lacht.

»Dein Vater ist mein Sohn, und ich liebe ihn, aber manchmal ist er zu pragmatisch.«

»Was heißt ›pragmatisch‹?«

»Psst, sei still. Es geht los.«

Das Gemälde ist das wertvollste Objekt des Konvoluts, und Paulina Hoffmann vermutet, dass es bis zuletzt aufgehoben wird. Es sind mehr als vierzig Jahre vergangen, seit sie es zuletzt gesehen hat, und dennoch hat sie plötzlich das Gefühl, als wäre die Zeit stehengeblieben und sie würde ins Jahr 1950 zurückversetzt, zu jenem Nachmittag in der Galería Biosca.

Ihr Blick wandert über das Graublau des Himmels und das Braun der harten, trockenen Erde. Paulina bewundert die nahezu perfekte horizontale Linie, die die beiden großen bunten Farbflecke trennt, und das Talent des Malers, der die Landschaft so naturgetreu gestaltet hat. Seit Jahren hat sie aufmerksam die Ausschreibungen des Auktionshauses verfolgt, in der Hoffnung, dieses Gemälde würde früher oder später zum Verkauf angeboten.

Alicia rutscht gelangweilt auf ihrem Stuhl herum.

»Es dauert nicht mehr lange, keine Sorge. Wenn du brav bist, gibt es gleich ein leckeres Stück Kuchen«, flüstert die Großmutter.

»Das nächste Objekt ist ein Ölgemälde aus dem Jahr 1950 mit dem Titel Erde. Das Mindestgebot liegt bei 1.590.000 Peseten«, verkündet der Auktionator.

Paulina Hoffmann hebt die Hand, und nach einem kurzen Gebotsduell mit einem Herrn aus der letzten Reihe erhält sie den Zuschlag. Nach Absprache der Lieferdetails und dem versprochenen Sahnetörtchen kehren Großmutter und Enkelin nach Hause zurück. Eine Dreiviertelstunde, bevor Diego seine Tochter abholen soll, wird Paulina plötzlich unruhig und geht zum Telefon. So schnell es ihre Finger erlauben, wählt sie die Nummer der gynäkologischen Praxis ihres Sohnes.

»Gut, dass ich dich noch antreffe, Diego.«

Sie will sich ihre Beklommenheit nicht anmerken lassen, doch ihre Stimme verrät sie.

»Was ist los, Mama? Ist etwas mit Alicia?«

»Nein, nein, es ist nichts«, wiegelt sie ab. »Sie ist nur ein bisschen müde. Wenn du einverstanden bist, kann sie gern hier schlafen.«

»Mama …«

»Ja?«

»Es geht um das Bild, oder? Ich nehme an, du hast es gekauft, das hat dich bestimmt mitgenommen. Du willst nicht allein sein, stimmt’s?«

Paulina Hoffmann verflucht die Intelligenz ihres Sohnes und seinen manchmal irritierenden Hang, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Nicht wie sie selbst, die eher verschlossen ist. Sie bleibt ihm die Antwort schuldig.

»Ehrlich gesagt, kommt es mir sogar ganz gelegen, hier noch ein Weilchen Patientenakten durchschauen zu können«, erbarmt er sich ihrer. »Ich hole sie morgen früh ab und bringe sie in die Schule.«

Als sie den Telefonhörer auflegt, durchflutet Paulina ein tiefes Gefühl der Liebe für ihren Sohn, der so anders ist als sie.

Stunden später, als die Kleine längst schläft, versucht sie vergebens, sich auf einen Krimi zu konzentrieren. Obwohl sie sonst gern Detektivgeschichten liest, schweifen ihre Gedanken immer wieder ab. Nicht einmal ein gutes Buch kann sie in dieser Nacht vor dem tiefen, schwarzen Loch ihrer Erinnerungen bewahren.

Sie betritt das Zimmer ihrer Enkelin und rüttelt sie sanft aus dem Schlaf.

»Willst du bei mir schlafen?«

»Na klar«, antwortet ein verschlafenes Stimmchen.

Im Bett umfängt Paulina den warmen, kleinen Körper und spürt bei jeder Bewegung des Mädchens, wie Alicias weicher Haarschopf über ihre Arme streift. Sie muss an sich halten, damit sie die Kleine, die sie nie verlassen soll, nicht zu fest an sich presst. Um nichts in der Welt möchte sie den süßen, unschuldigen Schlaf stören, der vom dunklen Ernst des Lebens noch nichts weiß.

»Verlass mich nicht, mein Schatz«, murmelt sie.

Paulina Hoffmann braucht ihre Enkelin sehr.

4

Im Morgengrauen fährt Paulina mit einem Schrei aus dem Schlaf. Sie schaltet die Nachttischlampe an, und um die Kleine nicht zu wecken, die in süßem Schlummer neben ihr liegt, streift sie einen marineblauen Bademantel über – keinen Morgenrock wie ihn alte Frauen tragen, das wäre nicht ihr Stil – und verlässt das Schlafzimmer. Seufzend öffnet sie im Wohnzimmer das Fenster. Zu ihren Füßen liegt das Salamanca-Viertel in nächtlicher Stille. Die Straße im Licht der Laternen ist menschenleer. Nur vor dem Hotel Wellington steigt ein Paar aus einem Taxi und betritt Hand in Hand das luxuriöse Gebäude.

Paulina zündet sich eine Zigarette an. Sie nimmt einen tiefen Zug, pustet den Rauch langsam aus und schaut den eigenwillig schönen Rauchkringeln nach, die sich in der kalten Nachtluft auflösen. Alle kennen sie nur als Nichtraucherin, aber für Momente wie diesen hat sie immer ein Päckchen Zigaretten in der Nachttischschublade. Tränen kullern über ihre Wangen, während sie nachspürt, wie das Nikotin in ihre Lungen strömt.

Sie hat wieder einmal einen ihrer alten Träume gehabt, die ihr noch immer Herzrasen bescheren. Schon als Kind hatte sie die Gabe oder das Pech, sich haargenau an das zu erinnern, was während des Schlafs in ihrem Kopf vor sich geht. Nun wird sie in den nächsten zwei, drei Tagen die Bilder vor ihrem geistigen Auge mühsam unterdrücken müssen. So ist es immer. Tagsüber gelingt es ihr, die Gespenster der Vergangenheit fernzuhalten, aber tückisch, wie sie sind, suchen sie sie in der Nacht heim, wenn Paulinas Wachsamkeit nachlässt und sie ihnen nicht entkommen kann.

Es geschieht in einem großen Haus am Meer. Der Himmel ist sternenklar, und es herrscht absolute Stille. Die anderen schlafen. Sie ist allein im Garten und spürt in ihrem dünnen Sommernachthemd die Wärme auf der Haut. Ein Hauch von Jasmin liegt in der Luft. Plötzlich hört sie ein Geräusch, es kommt vom Pool. Barfuß geht sie die Stufen hinab und spürt die feuchten Steine unter ihren Sohlen. Als sie näher kommt, sieht sie jemanden im Wasser. Sie läuft los, und als sie den Rand des Beckens erreicht, erkennt sie, dass zwei Menschen auf dem Bauch im Wasser treiben. Sie tragen braune Uniformen und halten sich an der Hand. Es sind Otto und Heinz, ihre Brüder! Sie springt ins Wasser, um ihnen zu helfen, doch mit einem Mal sind die Leichen verschwunden. An ihrer Stelle treibt nun der Körper eines erwachsenen Mannes, der bedeutend größer und kräftiger ist als die beiden Jungen.

Sie erwacht jedes Mal, bevor sie den Mann umdrehen und sein Gesicht sehen kann, aber sie weiß natürlich, wer er ist und warum er sie seit so vielen Jahren in bangen Nächten und ihren schlimmsten Albträumen heimsucht.

Ihr Leben lang hat sie vergebens versucht, sich von ihm zu befreien.

DAS ERBE

Berlin, August 2016

1

Alicia hat ursprünglich vorgehabt, bei Nachbarn und Ladenbesitzern in Prenzlauer Berg Erkundigungen einzuholen, ob sich irgendwer an ihre Großmutter erinnerte. Sie wollte den Notar aufsuchen, der den Kaufvertrag aufgesetzt hatte, und die Schränke nach einem Hinweis durchforsten, warum Paulina Hoffmann die Wohnung in der Kastanienallee gekauft hatte. Aber nun, in Berlin, ist ihr eher danach, durch die Stadt zu schlendern und zu versuchen, ihre Gedanken zu ordnen. Letzten Endes kommt es ihr ganz gelegen, dass sie in den zwei Wochen ohne Jaime etwas Sinnvolles zu tun hat.

Sie beschließt, Marcos anzurufen und nach ihrem Sohn zu fragen. Sie weiß, er würde es lieber sehen, wenn sich ihr Kontakt auf Handy-Botschaften beschränkte, aber in seiner Verachtung für sie schreibt er nur einsilbige Nachrichten, und sie muss genauer wissen, was der Kleine macht. Zu erfahren, dass er wohlauf und satt ist und schon den Schlafanzug anhat, reicht ihr nicht. Marcos und sie waren sich von Anfang an einig, dass die Scheidung sich nicht negativ auf ihre Rollen als Mutter und Vater auswirken sollte. Diese Übereinkunft gibt ihr wohl das Recht anzurufen, wenn es nötig ist. Und sie muss ihn selbst anrufen, denn mit ihren Schwiegereltern zu reden steht außer Frage. Sie ahnt, dass die Familie ihres Exmannes nicht gut auf sie zu sprechen ist.

»Ja?«, antwortet er knapp.

»Hallo, Marcos. Ich bin’s.«

»Aha.«

»Ich wollte bloß wissen, wie es Jaime geht.«

»Es geht ihm ausgezeichnet.«

»Das weiß ich. Aber erzähl mir ein bisschen mehr. Ich muss einfach wissen, was er macht.«

»Ich habe dir gestern ein Foto geschickt.«

»Quäl mich nicht, Marcos. Erzähl mir bitte ein paar Details.«

Ihr Exmann ist einen Moment still, bevor er antwortet.

»Okay. Also, wir sind gestern Nachmittag angekommen. Unterwegs war viel Verkehr, aber er war brav im Auto. Er hat ein bisschen im Pool geplanscht, und wir waren im Dorf, um ein Eis zu essen. Der Rest geht dich nichts an, weil der Kleine im Bett war. Heute waren wir mit meiner Mutter einkaufen, und jetzt bleibt er hier, und ich fahre wieder. Er isst gut, und so weiter.«

Sie fasst sich ein Herz und fragt: »Hat er irgendwas Drolliges gemacht?«

»Eine ganze Menge, ja, aber damit muss es gut sein, tut mir leid. Bis bald, Alicia. Wenn du morgen was von mir willst, schick mir lieber eine WhatsApp.«

Marcos legt auf.

»Verdammt«, sagt sie zu sich selbst, »das kann ja heiter werden.« Ein Teil von ihr würde am liebsten schnurstracks nach Berlin-Schönefeld fahren und den ersten Flug nach Hause nehmen. Es ist ihr ein geradezu körperliches Bedürfnis, Jaime zu sehen, ihn in den Arm zu nehmen, mit ihm zu reden. Aber dass der Kleine für zwei Wochen bei seinem Vater ist, muss sie wohl oder übel aushalten, so schwer es auch ist. Sie ist zum ersten Mal für so lange Zeit von ihm getrennt.

Alicia macht gerade eine harte Zeit durch: Ihr ist nur zu bewusst, dass sie ihren Exmann, dessen einziger Fehler es war, sie zu heiraten, mit ihren Lügen verletzt hat, und sie ist davon überzeugt, eine schlechte Mutter zu sein. Ihr dreijähriger Sohn ist zweitausendreihundert Kilometer entfernt, ihre Ehe gescheitert, und nach Paulinas Tod ist sie obendrein noch ein Stück mehr verwaist.

Sie hat das Gefühl durchzudrehen, wenn sie noch einen Augenblick länger in der fast leeren Wohnung bleibt. Dabei ist sie noch keine vierundzwanzig Stunden hier.

»Ich habe noch vierzehn Tage«, ruft sie sich leise in Erinnerung.

Schnell unter die Dusche, und dann nichts wie raus hier.

Es ist ein herrlicher Tag und angenehm mild. Das kleine Thermometer am Küchenfenster zeigt 21 Grad. Es ist ein altes Messgerät aus Holz und Messing, mit Ziffern und dem Wort Thermometer in Frakturschrift. Vermutlich hängt es schon hier, seit das Haus erbaut wurde.

Alicia erinnert sich daran, was ihre Großmutter über ihre Schulzeit erzählte. 1941 hatten die Nazis die Fraktur- und die Sütterlinschrift als angebliche Judenlettern verboten. Viele Kinder kannten jedoch keine andere Schrift und mussten neu schreiben lernen. Auch Schulbücher und Hefte mussten ersetzt werden, was zu einem gewaltigen Durcheinander führte. Mit acht oder neun Jahren fand Alicia die Vorstellung witzig, aber nun wird ihr bewusst, dass in Wahrheit überhaupt nichts lustig daran war.

Sie schlüpft in eine Jeans, ein paar alte New-Balance-Schuhe und ein graues T-Shirt mit kurzen Armen. In die große schwarze Ledertasche, die ihr am Vortag als Reisetasche gedient hat, wirft sie eine dünne Jacke, Sonnenbrille, Brieftasche und Handy. Ihr ist klar, dass ihre Nerven blank liegen, aber dieses Wissen hilft ihr auch nicht weiter. Vielleicht hatte ihr Vater recht, und es war doch keine so gute Idee, allein herzukommen.

Hastig verlässt sie die Wohnung.

2

Nach etwa einer halben Stunde Fußmarsch erreicht Alicia den Alexanderplatz und damit den Teil der Stadt mit den meisten Sehenswürdigkeiten. Sie sieht den riesigen neobarocken Dom mit seinen blaugrünen Kuppeln, überquert die Spree, um auf die Museumsinsel zu gelangen, und spaziert durch den Lustgarten mit seiner ausgedehnten Grünfläche. Trauben von Jugendlichen und Touristen sitzen auf dem Rand des großen Brunnens in der Mitte der Parkanlage und genießen die Sonne, die hier ein seltener Luxus ist.

Sie betritt eine Konditorei, nimmt an einem der Tische am Fenster Platz und bestellt ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte. Ihre Großmutter liebte diese Torte und kaufte sie immer zu ihrem Geburtstag im Café Embassy am Paseo de la Castellana. Bis vor Kurzem hätte Alicia diese Pause genutzt, um trotz ihres Urlaubs die Mails der Kanzlei zu lesen oder einen Rückruf zu tätigen, aber seit ihrer Kündigung hat sich dieser früher so wichtige Teil ihres Lebens in Rauch aufgelöst, als sollte ihr das eigene Versagen vor Augen geführt werden.