Das Gestern von morgen - Heidrun Wagner - E-Book

Das Gestern von morgen E-Book

Heidrun Wagner

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Beschreibung

Für die 15-jährige Tomke bricht die Welt zusammen. Ihr zwei Jahre älterer Bruder Jannes wurde mit einer Hirnverletzung im Wald gefunden, und es ist nicht klar, ob und wie er diese Nacht überlebt. Tomke kann sich nicht vorstellen, in einer Welt zu leben, in der Jannes nicht mehr existiert. Als hätte das Schicksal Mitleid mit ihr, gerät sie in eine Zeitschleife und hat die Chance, diesen Tag noch einmal von vorne zu starten. Doch wie lange hältst du es aus, wenn alles, was du tust, am Ende vergessen ist und du wieder und wieder am Anfang stehst? Wie oft kannst du einen der wichtigsten Menschen in deinem Leben sterben sehen, ohne den Verstand zu verlieren? Wer wirst du sein in dieser Welt, in der nichts Bestand hat? Ein Zeitloopthriller ab 15 Jahren

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Deutsche Erstausgabe Juli 2021

Copyright © Heidrun Wagner

Korrektorat: Ingrid Haag

Umschlaggestaltung/Titelei: Alexandra Langenbeck

Verlag: BoD – Books on Demand, Norderstedt

ISBN: 978-3-754-31041-0

Inhaltsverzeichnis

Game overChanceSavegameDateMittendrinLabelArroganzSpielerIch weiß nichtAndersWolfsheulenMonsterZu spätVerrücktVerräterAlbtraumAbgrundspaltenNichtsDrahtzieherZweiBlickkontaktFreundeLiebeskummerZerrissenFremderIQGänsehautGefühlskarussellNachtigallFallen gelassenBluffGegen die WandEntscheidungVerratSehnsuchtZersplitterungKein Happy EndWolkenschwer

Tomke zog das Handy aus der Tasche. Ihre Finger zitterten, und sie brauchte vier Versuche, den Chatverlauf mit Jannes zu öffnen.

Die Nachrichten hatten sie am Morgen ausgetauscht. Seither waren fünfzehn Stunden vergangen. Und jetzt saß sie mit ihren Eltern im Krankenhaus, und sie hatten keine Ahnung, wie es Jannes ging. Was bitte war zwischen dem Morgen und dem Abend schiefgelaufen?

Die Kante des Holzstuhls drückte sich in Tomkes Oberschenkel. Nach weniger als fünf Minuten hatte Tomke das Gefühl, nicht mehr sitzen zu können. Im Wartebereich hing der Geruch von Desinfektionsmittel. Es machte sie beinahe so wahnsinnig wie das leise Schniefen ihrer Mutter, deren Hand auf ihrem Knie lag und ihr durch die Wärme ein Stück Geborgenheit vermittelte. Obwohl Tomke sich mit fünfzehn definitiv zu alt fühlte, um den Halt ihrer Mutter zu brauchen, war sie froh, jetzt nicht allein zu sein.

»Familie Nehls?« Wie aus dem Nichts stand ein Polizist vor ihnen.

Tomke steckte das Handy weg und stockte. Der Mann sah fast wie ein Charakter aus ‘Witcher 3’ aus. Sie schaute von dem grauen Schnauzbart zu den zerfurchten Wangen, aber das war es nicht. Es war der Gesichtsausdruck. Abgeklärt und distanziert, als hätte der Polizist schon zu oft in die Abgründe der menschlichen Seele geblickt.

Aus dem Augenwinkel sah sie ihren Vater nicken, der links von ihrer Mutter saß. Der Polizist zog sich einen Stuhl heran und setzte sich ihnen gegenüber. Tomkes Blick fiel auf die Plastiktüte in seiner Hand. Oder mehr auf das Handy in der Tüte. Jannes’ Handy, ohne jeden Zweifel. Sie erkannte es an dem blaugelben Aufkleberrest im Eck der ’Red Dead Redemption’-Hülle und musste sofort an Lukas denken. Daran, wie er und sie den Unverwundbarkeitsstern auf Jannes’ Handy geklebt hatten.

Das war acht Monate her. Zu der Zeit hatte Jannes darüber gelacht und den Stern wie eine Auszeichnung betrachtet. Zwei Monate später hatte er den Aufkleber abgerupft, und nur dieser Fetzen war hängen geblieben. Wie eine letzte Erinnerung an eine Freundschaft, die nach sieben Jahren von einem Tag auf den nächsten zerbrochen war.

Seither ignorierte Lukas auch Tomke. Selbst in den Onlinespielen hatte er sie blockiert. Sie kniff die Augen zusammen. Was bitte hatte sie mit dem bescheuerten Streit zu tun?

»Hat Ihr Sohn eine Neigung zu Gewalt?«, unterbrach der Polizist ihre Gedanken.

Tomke strich sich über den in ihre Haarstoppeln rasierten Blitz hinter dem Ohr und versuchte, nicht an Lukas zu denken. Sonst hätte sie sich eingestehen müssen, wie sehr er ihr fehlte. Gerade jetzt. Sie wollte nicht allein mit ihren Eltern hier sitzen, ohne zu wissen, was mit Jannes war.

»Bitte?« Ihre Mutter wischte sich eine gelockte Haarsträhne aus dem Gesicht und richtete sich auf.

Der Polizist hielt ihr die Tüte vor die Nase. »Scheinbar ist er ein Fan von gewaltverherrlichenden Spielen.«

»Gewaltverherrlichend, klar«, stieß Tomke hervor und ballte die Hände zu Fäusten.

Was bildete dieser Polizist sich ein? Er drehte ihr den Kopf zu, und es schien, als würde er sie erst in diesem Moment bemerken. Sein Blick blieb an dem wie mit Blut geschriebenen weiß-roten Schriftzug auf ihrem Shirt hängen.

Der Polizist zog die buschigen Brauen zusammen und sah ihr sekundenlang in die Augen. Tomke musste sich zwingen, diesem Blick standzuhalten, der sich anfühlte, als könnte er bis zu ihren Gedanken durchdringen. Ihr Vater griff hinter dem Rücken ihrer Mutter nach Tomkes Schulter. Es war eine Warnung, sie wusste das. Sie sollte den Mund halten und nicht alles komplizierter machen, nur weil sie glaubte, ein blödes Spiel verteidigen zu müssen.

»Weißt du, wo dein Bruder heute war?«, fragte der Polizist, ohne sie aus den Augen zu lassen.

Sie schüttelte den Kopf, beobachtete, wie er die Stirn in Falten legte, und presste die Lippen aufeinander. Er glaubte ihr nicht. Der Moment dehnte sich, und mit jedem Atemzug stieg die Anspannung in Tomke. Ein Zittern ging durch ihren Körper, und sie wollte aufspringen, dem Polizisten das Handy aus der Hand schlagen und ihn anschreien, was zum Teufel er schon über Jannes wusste oder über die Spiele, die er spielte. Damit würde sie alles nur schlimmer machen, das war ihr klar, aber sie konnte nicht still sein und so tun, als ob diese Vorverurteilung in Ordnung wäre.

»War Ihr Sohn jemals in eine Schlägerei verwickelt?«, wandte der Polizist sich wieder an ihre Eltern, als hätte er das Interesse an ihr verloren.

Sie schnappte nach Luft. Dieses Verhör wurde von Frage zu Frage abstruser. Selbst ihr Vater erstarrte für einen Moment. Sie fühlte, wie sich seine Hand auf ihrer Schulter versteifte.

Langsam schüttelte er den Kopf, als würde er erst jetzt begreifen, wie der Polizist über Jannes dachte.

»Nein«, flüsterte er und sah auf, dem Polizisten ins Gesicht.

»Nein«, wiederholte er.

Lauter dieses Mal.

»Er hat Kampfsport gemacht«, fügte ihre Mutter hinzu. »Kickboxen. Aber mehr aus einem sportlichen Aspekt heraus.«

Tomke krampfte die Finger um die Sitzfläche des Stuhls. Musste ihre Mutter das erwähnen? Es passte genau in das Bild, das dieser Polizist von Jannes haben wollte. So wie er sich jetzt über den Schnauzbart strich und nickte. Einer, der gewaltverherrlichende Spiele spielte, machte in seinen Augen Kampfsport sicher nur, um zu lernen, wie er besser zuschlagen konnte. Bestimmt glaubte er auch die Schlagzeilen der Klatschzeitungen, laut denen jeder Amokläufer irgendeinen Ego-Shooter gespielt hatte.

Tomke biss sich auf die Innenseite ihrer Wange, und hätte ihr Vater nicht in diesem Moment noch einmal ihre Schulter gedrückt, sie hätte den Polizisten gefragt, ob er die Rechnung einmal umgekehrt machen wollte. Was wäre, wenn jeder Ego-Shooter Spieler Amok laufen würde?

»Warum fragen Sie das?«, wollte ihr Vater wissen und nahm endlich die Hand von Tomkes Schulter.

In seinen Augen lag ein herausforderndes Funkeln. Tomke atmete auf.

»Ihr Sohn steht unter Verdacht, jemanden niedergeschlagen und in den Wald verschleppt zu haben.«

»Das ist nicht Ihr Ernst. Jannes ist kein Schwerverbrecher«, stieß ihre Mutter hervor. »Er ist siebzehn, fast noch ein Kind«, fügte sie leise hinzu und zog ihre Hand von Tomkes Knie.

Kind. Tomke unterdrückte ein Schnauben. Zum Glück hatte Jannes das nicht gehört.

»Ein Spaziergänger hat uns alarmiert, weil er beobachtet hat, wie jemand ein Objekt von der Größe eines Menschen in den Wald getragen hat. Im Moment gehen wir von einer versuchten Entführung aus.« Der Blick des Polizisten bohrte sich in Tomkes Mutter. »Ihr Sohn wurde in der Nähe des Opfers gefunden. Alles deutet darauf hin, dass er bei der Flucht vor unserem Suchtrupp eine Felskante übersehen hat und hinuntergestürzt ist.«

Tomke konnte zusehen, wie seine Worte ihre Mutter erreichten und sich deren Gesicht zu einem stummen Schrei verzog. Tomkes Magen krampfte, und sie konzentrierte sich auf die hellgrauen Flecken im Linoleumboden vor ihren Füßen.

»Woher wollen Sie wissen, dass Jannes nicht auch ein Opfer ist?«, warf Tomkes Vater ein. »Vielleicht ist er dem Täter im Wald in die Arme gelaufen? Jannes ist nicht der Typ, der einfach weggehen würde, er hätte ihn konfrontiert …«

Das Schluchzen ihrer Mutter unterbrach ihn.

Tomke versuchte es auszublenden, sich fortzudenken an einen Ort, an dem ihre Eltern nicht vor ihren Augen auseinanderfielen.

»Es tut mir leid, Herr Nehls, aber im Moment spricht die Sachlage gegen Ihren Sohn«, antwortete der Polizist.

Er sagte es so bestimmt, als gäbe es Beweise. Aber welche außer dem Ort, an dem sie Jannes gefunden hatten? Es musste so gewesen sein, wie ihr Vater sagte. Jannes war auf dem Weg zu seinem Date einem Psychopathen in die Arme gelaufen. Zu einer Entführung war er nicht fähig. Niemals.

»Und wen? Wen soll er angeblich entführt haben?«, fragte Tomke, den Polizisten nicht mehr aus den Augen lassend.

»Das kann ich aus ermittlungstechnischen Gründen im Moment nicht sagen«, antwortete der und schaute wieder zu dem Schriftzug auf ihrem Shirt, bevor er ihr ins Gesicht sah. »Wir gehen davon aus, dass er nicht allein war.«

Verdächtigte der Polizist jetzt auch noch sie? Wegen des ’Noob Slayer’-Schriftzugs auf ihrem Shirt? Das war lächerlich! Sie holte Luft, aber ihre Mutter kam ihr zuvor.

»Tomke war den ganzen Abend zu Hause«, sagte sie mit fester Stimme und drückte wieder Tomkes Knie.

Tomke war kurz davor, das Bein wegzuziehen. Warum verteidigte ihre Mutter sie? Sie biss sich auf die Lippe, konnte den bitteren Geschmack aber nicht abschütteln. Wie hätte das ablaufen sollen? Sie und Jannes schlugen jemanden nieder, verschleppten ihn in den Wald, Jannes stürzte, und sie ließ ihn liegen? Schwer verletzt? Ohne Hilfe zu holen? Wenn sie am Abend bei Oskar und Ole gewesen wäre statt zu Hause, hätte ihre Mutter dann dieses Szenario für möglich gehalten? Der Gedanke war wie ein Stoß über eine Kante und katapultierte Tomke in den freien Fall.

Haltlos.

»Für den Moment wäre das alles. Ich hoffe, es geht Ihrem Sohn bald besser.« Der Polizist stand auf und nickte ihren Eltern zu. »Und es bleibt zu hoffen, dass auch das Opfer bald vernehmungsfähig ist. Dann wird sich die Sache sicher schnell aufklären.«

Sein Blick blieb wieder an Tomke hängen und löste ein Kribbeln in ihrem Bauch aus. Sie zwang sich, dem Polizisten nachzusehen, bis er um die Ecke verschwand, und horchte, wie seine Schritte auf dem Gang verhallten.

Keiner von ihnen sagte ein Wort. Tomke versuchte zu begreifen, was passiert war. Jannes war auf dem Weg zu einem Date gewesen! Sie kramte ihr Handy wieder heraus und starrte zum hundertsten Mal den Chatverlauf an. Warum hatte sie ihn mit dem Teufelssmiley davonkommen lassen? Sie kniff die Augen zusammen und wünschte sich, sie hätte die Macht, den Tag noch einmal zu starten. Wie ein Savegame in einem Spiel. Aber sie war nicht in einem Spiel, sie war gefangen in der Wirklichkeit.

»Wie kann er davon ausgehen, dass Jannes zu so etwas fähig ist?«, flüsterte ihre Mutter in die Stille hinein.

»Solange er weder Jannes noch den anderen befragen kann, wissen wir nichts. Jannes wäre nicht …«

Warum führte ihr Vater den Satz nicht zu Ende? Tomke fuhr mit der Fingerspitze den Blitz hinter ihrem Ohr entlang und versuchte, die Frage wegzuschieben, die ihr Vater nicht auszusprechen wagte. Doch sie stand zwischen ihnen und wurde mit jedem Moment größer, in dem sie sich bemühten, sie zu ignorieren.

Wäre Jannes zu so etwas fähig?

Nein, wäre er nicht! Das weißt du, du kennst ihn besser als dieser verdammte Polizist, wollte Tomke ihn anschreien, ihn an den Schultern packen und schütteln. So lange, bis er sich erinnerte. In dem Augenblick, in dem sie sich zu ihm drehte, bemerkte sie die Starre auf seinem Gesicht und brachte kein Wort mehr heraus. Reglos saß er neben ihrer Mutter und ließ die Tür nicht aus den Augen, hinter der Jannes war. Oder vielmehr die Lampe über der Tür, die schon rot geleuchtet hatte, als sie den Wartebereich betreten hatten. Die Hand ihrer Mutter lag wieder auf Tomkes Knie. Tomke streckte die Finger aus, wollte sie berühren, ihre Mutter auf die Starre im Gesicht ihres Vaters aufmerksam machen. Sie stoppte nach wenigen Millimetern und wagte es nicht, ihre Mutter anzufassen.

Die Tür schwang auf, ihre Eltern sprangen hoch. Dort, wo die Hand ihrer Mutter gelegen hatte, strich ein kalter Luftzug über Tomkes Bein. Sie richtete sich auf und zwang sich, zur Tür zu sehen, nicht in der Lage aufzustehen, gelähmt vor Angst. Angst davor, wie Jannes aussehen würde.

Es war nicht Jannes.

Durch die Tür trat ein Mann in einem weißen Kittel. Er sah sich in dem Wartebereich um, in dem niemand außer ihnen war, und ging auf Tomkes Eltern zu. Ihr Blick glitt wieder zu der Lampe über der Tür.

Rot.

Jannes lebt, er lebt!

Der Satz war machtlos gegen die Angst, die ihr das Gegenteil zuraunte.

Der Mann blieb vor ihren Eltern stehen. Als sie den todernsten Ausdruck in seinen Augen sah, zerfielen die Worte in ihrem Kopf und verloren den Sinn. Ihre Mutter hatte sich von ihr weggedreht und klammerte sich an den Arm ihres Vaters. Tomke hatte sich nie so verloren gefühlt wie in diesem Moment.

»Herr und Frau Nehls?«, fragte der Mann.

Aus dem Augenwinkel sah sie, wie ihr Vater nickte und ihre Mutter sich eine Hand gegen den Mund presste.

»Könnte ich einen Moment mit Ihnen sprechen?« Der Blick des Mannes blieb an Tomke hängen. »Ohne Jannes’ kleinen Bruder?«

Sie krallte die Finger in den Stoff ihrer Jeans, ihre Unterlippe begann zu zittern, und sie presste den Mund zusammen.

Jannes lebt, er lebt!

Die Worte waren wie eine Zauberformel, an die sie nicht mehr glauben konnte.

Ihre Mutter legte eine Hand auf Tomkes Schulter. Die Wärme drängte die Angst ein Stück zurück.

»Was immer sie uns sagen wollen, Jannes’ Schwester sollte es auch hören«, antwortete ihre Mutter dem Mann in dem weißen Kittel.

Das Wort Schwester betonte sie extra deutlich.

»Oh!« Der Blick des Mannes glitt zwischen Tomke und ihrer Mutter hin und her. »Verzeihung«, murmelte er. Er öffnete den Mund, zögerte, schaute schließlich Tomkes Vater ins Gesicht und fuhr fort: »Ihr Sohn hatte eine schwere Hirnblutung. Wir haben unser Möglichstes getan, aber die Schäden sind zu groß. Es ist fraglich, ob er wieder aufwacht. Und wenn ich ehrlich bin, sollten Sie ihm das auch nicht wünschen.«

Tomkes Mutter schrie auf.

Der Mann sprach weiter, immer noch Tomkes Vater ansehend. »Ich will Ihnen zu nichts raten. Aber Sie sollten wissen, dass es die Möglichkeit gibt, das Beatmungsgerät abzuschalten.«

»Und dann?«, fragte ihre Mutter in die Stille hinein, die den Worten gefolgt war.

Dann ist er tot.

Tomke tastete nach der Hand auf ihrer Schulter. Noch ehe sie sie berühren konnte, schluchzte ihre Mutter auf, und die Hand war fort. Ihr Vater schloss ihre Mutter in die Arme. Tomke sah, wie er die Stirn in den lockigen Haaren vergrub.

Wie ein Taktschlag hallte ein hoher Ton durch die Stille. Mit jedem Piepen rückte Tomkes Körper ein Stück mehr in ihr Bewusstsein, und sie spürte eine weiche Unterlage unter ihren Armen, ein Kissen an der Wange. Sie blinzelte und brauchte einen Moment, um zu verstehen, wo sie war. Der Ton, das war ihr Wecker.

7:55 leuchtete auf der Digitalanzeige. Tomke lag in ihrem Bett. Sie rollte sich zur Seite und drückte den Alarmknopf.

Eine Schwere hing in ihren Gedanken, und Tomke wusste nicht, woher sie kam. War es der Rest eines schlechten Traums? Sie schloss die Augen und rieb sich die Stirn. Jannes’ Gesicht tauchte vor ihr auf, der aschgraue Verband um seinen Kopf, die Atemmaske.

Sie fuhr hoch.

Wie konnte sie in ihrem Bett liegen und schlafen, während Jannes um sein Leben kämpfte? Wie kam sie überhaupt in ihr Zimmer? Sie war doch mit ihren Eltern im Krankenhaus gewesen! War sie zusammengebrochen? Hatte man ihr ein Beruhigungsmittel gegeben? Auf der Suche nach einer Einstichstelle strich sie über ihre Arme. Nichts.

Das Beatmungsgerät!

Hatten ihre Eltern es abstellen lassen? Tomke schaute zur Tür.

»Papa?«, schrie sie, und ihre Stimme bebte vor Panik.

Keine Antwort.

»Mama?«, flüsterte sie.

Stille.

Hatten ihre Eltern sie alleingelassen, nach allem, was passiert war? Sie schüttelte den Kopf. Das würden sie nicht tun, ihre Mutter würde sie niemals hier zurücklassen, und ihr Vater würde nicht sein Okay geben, das Beatmungsgerät abzustellen, ohne mit Tomke zu sprechen. Sie hätten sie beide gefragt, ob sie dabei sein und Jannes’ Hand halten wollte. Ein letztes Mal.

Nein!

Ihr Vater würde mit den Ärzten reden, so lange, bis sie einen Weg fänden, Jannes zu retten.

Er würde …

Tomke schüttelte den Kopf, versuchte die Unruhe abzuschütteln, die ihre Gedanken vernebelte. Das Geräusch eines elektronischen Wassertropfens drang in ihr Bewusstsein, und sie klammerte sich daran, weil es vertraut war. Der Ton, den ihr Handy abspielte, sobald es eine Nachricht empfing. Vielleicht war sie von ihrer Mutter und erklärte alles? Tomke beugte sich nach vorn und zog das Handy unter dem Bett hervor.

Ihr Blick fiel auf das Display.

Jannes.

Das konnte nicht sein.

Er war nicht bei Bewusstsein, laut dem Mann mit dem weißen Kittel war er so gut wie tot. Außerdem lag sein Handy bei der Polizei. War das Krankenhaus nur ein schlechter Traum gewesen?

Unmöglich.

Sie wusste das und wollte trotzdem daran glauben. Wenn es bedeutete, dass Jannes lebte, hätte sie alles geglaubt.

Mit zitternden Fingern öffnete sie die Nachricht und las sie einmal, ein zweites und ein drittes Mal.

Das Handy rutschte ihr aus der Hand und fiel auf den Teppich vor dem Bett. Diese Nachricht hatte Jannes ihr vor vierundzwanzig Stunden geschickt. Wieso zeigte der Messenger sie als neu an? War das eine Störung? Tomke hob das Handy wieder auf. Es hatte sich gesperrt, und während sie den Code eingab, fiel ihr Blick auf das Datum.

Für einen winzigen Moment glaubte sie, den Sog wieder zu spüren. Sie schrie auf, hielt sich den Kopf und kniff die Augen zusammen, bis das Drehen aufhörte. Blinzelnd sah sie noch einmal auf das Display.

Freitag, 23. Juni

Was war hier los? Der 23. Juni war vorbei, es war der schlimmste Tag in ihrem Leben, der vor wenigen Stunden im Krankenhaus geendet hatte, mit einem Jannes, der mehr tot als lebendig war. Um keinen Preis der Welt wollte sie das noch einmal erleben. Die Nachricht musste ein Irrtum sein, ihr Handy war hängen geblieben, in der falschen Zeit. Genau wie ihr Herz. Sie drückte Oskars Nummer. Wenn ihr jemand erklären konnte, was hier passierte, dann er.

»Mann, Tomke, kannst du nicht abwarten, bis wir uns nachher in der Schule sehen?« Das war nicht Oskar, es war Ole.

Schule? Es musste Samstag sein, außer ihr Handy hätte recht, und es wäre tatsächlich der Morgen des 23. Junis. Aber das war nicht möglich. Tomke zog die Knie an den Körper und versuchte, die Panik zu unterdrücken, die in ihr aufflammte.

»Was für einen Tag haben wir heute?«, fragte sie.

»Keine Ahnung? Nichts Besonderes? Hey, Oskar!« Ole hämmerte gegen eine Tür. »Hast du was mit Tomke ausgemacht wegen heute?«

»Was machst du mit meinem Handy? Sag mal, spinnst du?«, rief Oskar im Hintergrund.

Tomke verdrehte die Augen. Mussten die beiden ausgerechnet jetzt streiten?

»Könnt ihr mal für fünf Sekunden den Mist lassen? Ich will nur wissen …«

»Tomke?«, schrie Oskar ins Telefon, er klang außer Atem. Sie konnte Ole im Hintergrund kichern hören. »Was gibt’s?«

»Ich will wissen, was für ein Datum wir heute haben. Das ist alles.« Sie bemühte sich, ruhig zu sprechen, Oskar nicht die Panik spüren zu lassen, die in ihr tobte.

»Ist alles in Ordnung?« Oskar klang alarmiert.

Er machte sich Sorgen, definitiv. Oskar machte sich immer Sorgen, wenn etwas Unvorhersehbares passierte. Tomke rief nie vor der Schule an, also musste der Weltuntergang bevorstehen. Mindestens.

»Was will sie?« Oles Stimme war deutlich zu hören, wahrscheinlich hing er an Oskars Schulter, um alles mitzubekommen.

»Oskar, bitte, ich hab nicht viel Zeit. Ich will nur wissen, was wir heute für ein Datum haben.« Sie schloss die Augen.

Konnte er nicht einfach antworten?

»Freitag, den 23., in etwa dreißig Minuten musst du in der Schule sein. Warum?«, sagte Oskar endlich.

Ihr Herzschlag verdreifachte sich. »Bist du sicher?«

»Ja, wieso? Hast du einen Termin verpasst?«

»Nein, alles in Ordnung. Wir sehen uns später!« Sie legte auf, bevor Oskar noch etwas sagen konnte.

Freitag, der 23. Juni. Das konnte nicht sein.

Träumte sie, aus Selbstschutz, damit sie nicht in einer Welt ohne Jannes aufwachen musste? Wenn wirklich der 23. Juni wäre, wäre Jannes noch am Leben. Ihr Wunsch fiel ihr ein, den sie am Abend im Krankenhaus gehabt hatte. Der Wunsch, die Macht zu haben, den Tag noch einmal neu zu starten.

Wie ein Savegame in einem Spiel.

War er in Erfüllung gegangen? Einfach so?

Die drei neuen Nachrichten von Oskar ignorierend, schaute sie auf die zweite Nachricht von Jannes, die er ihr während des Telefonats geschickt haben musste.

»Eher das Gegenteil«, murmelte sie.

Sie musste ihn warnen, musste verhindern, dass er im Krankenhaus landete. Was immer er heute Abend vorhatte, er durfte es nicht tun. Fragte sich nur, wie sie ihm das erklären sollte? Achtlos zog sie Shirt und Jeans aus dem Schrank und rannte ins Bad.

*

Nach einer schnellen Dusche warf sie einen Blick in den Spiegel. Hatte sie gestern Morgen auch so dunkle Ringe unter den Augen gehabt? Niemals. Sie sah aus, als hätte sie die Nacht durchgemacht. Wenn sie darüber nachdachte, fühlte sie sich auch so. Sie beugte sich nach vorn, bis ihre Nasenspitze fast den Spiegel berührte. Das Grau ihrer Augen war trüber als sonst. Kein funkelndes Quarzgrau, in dem sich das Sonnenlicht spiegelte, mehr ein farbloses Aschgrau.

Aschgrau.

Wie Jannes’ Gesicht.

Nein, nicht wieder dieses Bild! Sie fuhr sich über die braunen Haarstoppeln und schüttelte den Kopf. Egal, was gestern gewesen war, heute war ein neuer Morgen, okay, der gleiche Morgen wie gestern. Aber im Gegensatz zu gestern wusste sie, was passieren würde, und hatte die Chance, Jannes zu warnen. Sie musste los. Im Wegdrehen fiel ihr Blick auf die Spiegelung des schwarzen Schlabbershirts und blieb an dem wie mit Blut geschriebenen weiß-roten Schriftzug hängen.

’Noob Slayer’

Das konnte nicht wahr sein. Von all den sorgfältig gestapelten Shirts in ihrem Schrank hatte sie ausgerechnet das herausgegriffen, das sie getragen hatte, als sie diesen verfluchten 23. Juni zum ersten Mal erlebt hatte? Wie sollte sie verhindern, dass Jannes ins Krankenhaus kam, wenn sie noch nicht einmal ihr Shirt ändern konnte, ohne nachzudenken? Was war das hier? Ein schlechter Scherz? War sie gefangen in diesem Tag, der, egal was sie tat, unaufhaltsam auf Jannes’ Ende zulief? Tomke hatte das Gefühl zu ersticken.

»Nein!«

Es war mehr ein Krächzen als der Schrei, den sie herausbrüllen wollte. Sie hatte eine Chance, sie musste eine haben. Alles andere machte keinen Sinn. Es ging darum, das Richtige zu tun, wie in einem Adventure Game. Wenn sie Pech hatte, war es ein verdammt schlecht geschriebenes Spiel, und es gab nur eine richtige Lösung, die sie Schritt für Schritt befolgen musste. Vielleicht war das Shirt nicht egal und es war wichtig, dass sie genau dieses Shirt trug? Oder eben nicht trug.

Woher sollte sie das wissen?

Sie schlug gegen das Waschbecken. Die Taubheit in ihren Fingern überdeckte für ein paar Sekunden das Kribbeln in ihrem Bauch. Egal, sie würde es herausfinden, und sie würde alles tun, um Jannes zu retten. Sie musste ihn doch nur dazu bringen, am Abend mit ihr an der Konsole zu spielen, und alles war gut!

Mit einem Ruck drehte sie sich um, rannte die Treppe nach unten und verließ das Haus nur mit dem Handy in der Tasche. Schulsachen brauchte sie nicht, sie würde sowieso keine Zeit im Unterricht verschwenden. Sie musste Jannes auftreiben und ihn überreden, mit ihr zu schwänzen, damit sie ihm alles in Ruhe erklären konnte. Was war schon ein Verweis oder der Ärger mit ihren Eltern gegen sein Leben?

*

Statt die Straßenbahn zu nehmen, ging sie zu Fuß. So hatte sie Zeit, in Ruhe über alles nachzudenken. Außerdem wollte sie nicht das Risiko eingehen, von einem Lehrer zwischen den Stunden auf dem Gang erwischt zu werden. Kurz vor Ende der zweiten Stunde passierte sie die schwere Holztür am Eingang des alten Gebäudes, rannte durch die Pausenhalle auf die breite Treppe zu und nahm zwei Stufen auf einmal. Sie musste sich beeilen, vor der dritten Stunde waren zwanzig Minuten Pause. Der perfekte Zeitpunkt, um mit Jannes abzuhauen. Das Handy vibrierte in ihrer Hosentasche. Sie schaute sich um, außer ihr war niemand auf der Treppe. Im Laufen zog sie es heraus und stockte, als sie die Nummer sah.

»Oskar? Bist du nicht beim Baumgärtner?«

»Die Frage ist, wo bist du? Warum reagierst du nicht auf meine Nachrichten und bist in der Zweiten nicht aufgetaucht?«

Toll, sie hätte sich nicht bei Oskar melden sollen.

Sie blieb auf dem Absatz im zweiten Stock stehen. »Ich bin in der Schule!«

»Ach ja? Wie kommt es dann, dass ich dich noch nicht gesehen habe? Was ist mit dir los, Tomke?« Seine Stimme hallte seltsam nach.

»Bist du auf dem Klo?« Tomke ging die Treppe hoch in den dritten Stock und schaute kurz, ob die Luft rein war, bevor sie auf das rechte Eck zuging, in Richtung der Klassenzimmer der Oberstufe.

»Glaubst du, der Baumgärtner lässt mich einfach mal so telefonieren?«

Sie bog in den Seitenflügel.

»Pass auf, ich melde mich nachher noch mal. Es ist alles in Ordnung, okay?«, raunte sie in das Handy, um vor den Unterrichtsräumen keine Aufmerksamkeit zu erregen.

»Vergiss es, du sagst mir jetzt, was los ist. Ich bin doch nicht blöd, als ob du …«

Sie legte auf und schob das Handy zurück in die Tasche.

»Nein, bist du nicht«, murmelte sie und fühlte sich schlecht.

Noch nie hatte sie Oskar oder Ole abblitzen lassen, noch nie.

Das Läuten schrillte durch das alte Gebäude. Einen Moment später flogen die Klassenzimmertüren auf, und ein Strom von Schülern drängte auf den Gang. Jannes war unter den Ersten, sie entdeckte seinen dunklen Haarschopf sofort. Vertieft in eine Diskussion mit drei Jungs, lief er in Richtung des Aufenthaltsraums für die Oberstufenschüler am Ende des Gangs. Das letzte Zimmer vor der kleinen Treppe im Seitenflügel. Die Jungs, mit denen er seit dem Streit mit Lukas abhing. Sie waren ein paar Mal zum Konsolenspielen bei Jannes gewesen. Seit Tomke den mit dem Augenbrauenpiercing bei Streetfighter besiegt hatte, waren sie nicht mehr so scharf darauf gewesen, sie mitspielen zu lassen. Von einem Mädchen abgezockt zu werden, hatte das Ego des Typens wohl nicht verkraftet. Vor allem nicht von einem zwei Jahre jüngeren Mädchen.

Sie beobachtete, wie die vier den Gang entlang schlenderten. Mit Lukas wäre das nicht passiert. Lukas hatte Klasse, er konnte zugeben, wenn jemand besser war als er. Okay, besser als Lukas oder Jannes zu sein, war eine Herausforderung. Aber wenn, dann hatten sie sich mit Tomke gefreut. Immer.

Wie ein Taktschlag hallte ein hoher Ton durch die Stille. Mit jedem Piepen wurde Tomke die weiche Unterlage unter den Armen bewusster, das Kissen an der Wange. Sie riss die Augen auf und starrte den Wecker an.

7:55 leuchtete auf der Digitalanzeige.

»Nein!« So heftig sie konnte, hämmerte sie ihre Faust in das Kissen. »Nein, nein, nein, nein!«

Das Geräusch des elektronischen Wassertropfens drang zu ihr durch.

Jannes.

Langsam schob sie die Decke zur Seite und beugte sich zu ihrem Handy.

Zurück am Savepoint.

Sie schloss die Augen, atmete und versuchte, die Wut zu unterdrücken, die wie eine heiße Welle in ihr hochschwappte. Nein, mehr Verzweiflung, nicht Wut. Ruhig bleiben, sie musste ruhig bleiben und nachdenken. Es war nicht alles verloren, das konnte nicht sein. Es musste eine Lösung geben, und sie würde sie finden. Selbst wenn sie tausend Versuche brauchte, egal, bis jetzt hatte sie noch jedes Adventure Spiel ohne Walkthrough geschafft. Auch wenn ihr Ehrgeiz sie manchmal Wochen kostete.

»Es wird keine Wochen dauern, bestimmt nicht«, murmelte sie und schaute auf Jannes’ Nachricht.

Sie kniff die Augen zusammen. Das konnte er vergessen, so ließ sie ihn nicht davonkommen. Diesmal nicht.

»Bitte, sag, dass es ein Date ist. Sag mir, dass du nichts mit dieser bescheuerten Entführung zu tun hast«, flüsterte sie, das Display fest im Blick behaltend, und schämte sich für den Gedanken.

Warum antwortete Jannes nicht, verdammt noch mal?

Was sollte das? Wenn er nichts zu verbergen hatte, konnte er ihr doch sagen, was er vorhatte! Sie warf das Handy aufs Bett und stand auf.

»Okay, Jannes, ich muss nicht wissen, was du machst, solange ich dich dazu bringe, nicht hinzugehen.«

Aber wie?

Ihn abzufangen war kolossal fehlgeschlagen. Warum eigentlich? Warum war sie zurück zum Anfang geschleudert worden, sobald sich Jannes zu ihr umgedreht hatte? Was hatte die Zeitschleife getriggert?

Sie dachte an den Abend im Krankenhaus. Sie hatte sich über Jannes’ leblos daliegenden Körper gebeugt, versucht, in seine offen stehenden Augen zu sehen und … Moment … die Erkenntnis schlug in sie ein wie ein Blitz, der einen Baum in Flammen setzt.

»Seine Augen!«

Beide Male hatte der Blick in seine Augen sie an den Anfang zurückkatapultiert.

»Aber wie soll ich mit ihm reden, wenn ich ihn nicht ansehen darf?«, murmelte sie, während sie ein Shirt aus dem Schrank zog.

Die Frage hängte sich in ihr fest. Am Telefon würde Jannes ihr niemals lange genug zuhören. Dazu war die Geschichte zu verrückt. Ihr Blick fiel auf das Shirt.

’Noob Slayer’

Nicht das wieder.

Sie knüllte es zusammen, warf es in die Ecke und zog das nächste heraus.

Das Headset war besser als die Blutschrift. Falls sie dem Polizisten noch einmal begegnete. Für einen Moment hielt sie die Luft an, dann schüttelte sie den Kopf. Soweit würde sie es nicht kommen lassen.

Wie konnte sie mit Jannes reden, ohne ihm in die Augen zu sehen? Wie war das in diesem Adventure Spiel, in dem man jemanden in eine Falle locken musste, um weiterzukommen? Sie dachte einen Moment nach und nickte. Solange sie auf das richtige Timing achtete, konnte es funktionieren.

*

In der Pause nach der zweiten Stunde saß Tomke mit Oskar in der Sitzecke im zweiten Stock, halb verdeckt durch den Gummibaum, der dort stand.

»Wo ist Ole?«, fragte sie.

»Keine Ahnung. Er wollte noch irgendwas erledigen.«

Sie erinnerte sich. Als sie diesen 23. Juni zum ersten Mal erlebt hatte, war Ole auch wortlos verschwunden. Sie hatte sich gewundert, weil sie die Pausen immer zusammen verbrachten, aber dann hatte Oskar sie in eine Diskussion über den Bosskampf verwickelt, den sie am Tag vorher nicht geschafft hatten. Und sie hatte vergessen, Ole zu fragen, wo er gewesen war, als er kurz vor Ende der Pause wieder auftauchte.

Nur jetzt hatte sie keine Nerven für Oskars Ausführungen. Sie erlebte diesen verdammten Tag das dritte Mal und hatte keine Ahnung, was sie machen musste, um mit Jannes hier herauszukommen. Das konnte nicht so weitergehen, sie brauchte Hilfe, dringend.

»Kommst du heute Nachmittag?«, lenkte Oskar ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Mit der Taktik kriegen wir den Boss sicher!«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht.«

»Wieso nicht?« Ole tauchte wie aus dem Nichts auf und ließ sich neben ihr auf das Sofa fallen.

Eine seiner roten Locken hing ihm in die Stirn.

Ich muss noch das Referat fertigmachen.

Das hatte sie beim ersten Mal geantwortet, aber das Referat war das Letzte, woran sie im Moment dachte. Sie schaute in Oles grün blitzende Augen.

Er hat keinen Schimmer, dass er mich genau das schon einmal gefragt hat. Oder?

»Ich muss Jannes einsperren«, sagte sie, als wäre das die normalste Sache der Welt.

»Du musst was?« Oskar beugte sich vor, um ihr Gesicht sehen zu können.

Warum waren seine roten Haare widerborstige, leicht fettige Strähnen, die entweder in die falsche Richtung abstanden oder platt an seinem Kopf klebten? Obwohl Ole und er Zwillingsbrüder waren? Zweieiig, okay. Aber das konnte doch nicht so einen großen Unterschied machen.

»Jannes einsperren, ich muss Jannes einsperren«, wiederholte sie.

»Haha, sehr witzig.« Ole stieß ihr den Ellbogen in die Rippen. »Also kommst du jetzt vorbei?«

»Ich meine das ernst!« Sie schaute von Ole zu Oskar. »Wenn ich nichts mache, wird Jannes sterben.«

Die beiden sahen sich an.

»Ähm«, fing Oskar an. »Wie kommst du darauf?«

»Das klingt verrückt, ich weiß. Aber ich erlebe diesen Tag heute das dritte Mal.«

Bitte, ihr müsst mir glauben, ihr müsst mir helfen!

»Und? Haben wir beim letzten Mal den Bosskampf geschafft?«, fragte Ole, ein Grinsen im Gesicht.

Den Bosskampf? Echt jetzt?

Wollte Ole sie verarschen? Sie schluckte einen bissigen Kommentar und entschied sich, ihm zu antworten. Vielleicht hörte er ihr dann zu.

»Wir haben ihn auf morgen verschoben, weil ich mein Referat vor dem Wochenende fertig bekommen wollte.«

Der Blick, den Oskar und Ole wechselten, zerschnitt ihr das Herz.

Sie glaubten ihr nicht. Nicht ein Wort.

»Das ist kein Scherz, ich schwöre!«, sagte sie und wünschte sich, sie könnte es ihnen beweisen. Irgendwie. »Die Polizei hat bei unseren Eltern am späten Abend angerufen und uns informiert, dass Jannes im Krankenhaus liegt. Er hatte einen Schädelbruch, und der Arzt meinte, dass sie ihm nicht mehr helfen können, und dann wollten sie die Maschinen …«

Sie konnte nicht weitersprechen. Ihre Worte beschworen das Bild wieder herauf. Jannes’ aschgraues Gesicht, verborgen hinter der Atemmaske, der leere Blick. Sie schluckte gegen die Enge in ihrer Brust, schaute hoch, direkt in Oskars aufgerissene Augen.

»Das erfindest du jetzt …«, stammelte er.

Hallo? So eine kranke Fantasie habe ich nicht!

Sie schüttelte den Kopf.

»Die Story ist total abgefahren, wieso sollte Jannes sich bitte den Schädel brechen? Und woher willst du das wissen?« Oskars Worte überschlugen sich, wie immer, wenn er überrumpelt war.

Er starrte sie mit seinen grünen Augen an und schien jede Regung ihres Gesichts zu erfassen.

»Hab ich doch gesagt, ich habe es schon einmal erlebt«, flüsterte sie.

Sie konnte sehen, wie er langsam den Kopf schüttelte, Luft holte und doch nichts sagte.

Er glaubt es nicht, er kann es nicht glauben. Wie auch? Die ganze Geschichte klingt total verrückt, ich würde mir auch nicht glauben!

Auf einmal fing Ole an zu lachen.

»Mit der Nummer solltest du dich bei der Theater AG bewerben! Oskar hat dir das voll abgenommen!«, stieß er hervor und klopfte ihr auf die Schulter.

»Habe ich nicht!« Oskar funkelte ihn an. »Ich frage mich nur, wieso du so eine gruslige Geschichte erfindest? Habt ihr gestritten, Jannes und du?«, setzte er hinzu.

Und wieder ließ er sie nicht aus den Augen.

Gestritten. Wenn es das wäre.

Sie zuckte mit den Schultern und versuchte, die Enttäuschung hinunterzuschlucken, sich nichts anmerken zu lassen.

»Aber stellt euch mal vor, dass es wahr wäre«, sagte sie, und diesmal schaute sie auf ihre Finger, mit denen sie an dem Stoff ihrer Jeans zupfte. »Wenn ich in einer Zeitschleife gefangen und die Einzige wäre, die sich erinnern könnte. Was müsste ich tun, damit ihr mir glaubt?«

Es läutete.

Ole stand auf. »Das ist ja wohl offensichtlich. Wenn du die Einzige mit Erinnerung wärst, wären wir nur Statisten und du auf dich allein gestellt.«

Wortlos starrte sie ihn an. Es läutete ein zweites Mal.

»Los, ihr wollt nicht wirklich zu spät in Deutsch erscheinen«, sagte er. »Kommst du jetzt nach der Schule vorbei?«

Er hatte die Geschichte längst abgehakt.

»Ich will das Referat fertig bekommen. Lasst uns morgen treffen«, antwortete sie, obwohl sie an dem Satz zu ersticken glaubte.

Ole hatte recht, sie war auf sich allein gestellt.

»Alles klar?«, fragte Oskar auf dem Weg zurück zum Klassenzimmer.

»Sicher«, murmelte sie und zwang sich ein Lächeln ab. »Mach dir keine Sorgen, es war ein ziemlich doofer Scherz«, fügte sie hinzu, als sie den Zweifel in seinem Gesicht sah.

*

Nach der Schule ging sie direkt nach Hause, wartete, bis es nur noch zwanzig Minuten zu Jannes’ Training waren und versuchte, an nichts zu denken.

»Was willst du?« Jannes klang genervt.

Das hatte sie geahnt. Immerhin hatte er es achtzehnmal klingeln lassen, ehe er ranging.

»Kannst du bitte nach Hause kommen?«

Verdammt, das war hilfloser herausgekommen, als sie es beabsichtigt hatte. Sie biss die Zähne zusammen.

»Ich bin auf dem Weg ins Training. Was ist los?«, gab Jannes zurück, keine Spur freundlicher.

Aber sie hatte ihn gekriegt, sonst hätte er nicht nachgefragt. Zum Glück konnte er ihr Lächeln nicht sehen. Sie zwang sich, ernst zu werden, bevor sie antwortete. »Ich bin die Kellertreppe runtergestürzt.«

»Was?«

War er stehen geblieben? Es hörte sich so an. Sie stellte sich vor, wie er sich die dunklen Haare aus der Stirn strich und sauer auf sich selbst war, weil er sich Sorgen machte, obwohl er sie seit ihren Nachrichten am Morgen links liegen lassen wollte. Wenn sie vorsichtig war, hatte sie ihn dort, wo sie ihn haben wollte. Und es würde in ein paar Stunden keinen Jannes geben, der mehr tot als lebendig war. Er würde sie für verrückt erklären, sicher, und ein paar Tage nicht mehr mit ihr reden. Vielleicht nie wieder. Egal. Das war es ihr wert, solange er überlebte.

»Bist du verletzt?«, fragte er weiter.

»Ich bin gestolpert, und jetzt kann ich mein Bein nicht mehr bewegen, es tut weh wie Hölle.«

»Scheiße, wie das denn? Was machst du überhaupt im Keller?«

»Ich, ich wollte …« Sie presste sich die Hand vor den Mund und sprach gepresst zwischen den Fingern durch. Wenn sie Glück hatte, klang es so, als würde sie schluchzen. »Kannst du kommen? Bitte?«

»Was ist mit Mama oder Papa? Hast du versucht, sie anzurufen?«

»Die gehen nicht an ihre Handys, die Arbeitsnummern habe ich nicht eingespeichert und …«

Hoffentlich hatte Jannes das auch nicht. Ihre Eltern gingen nie an ihre Handys, wenn sie arbeiteten.

»Soll ich nen Krankenwagen rufen?«

»Nein!«, schrie sie.

Alles, nur das nicht.

»Hör auf zu paniken, wenn du dein Bein nicht mehr bewegen kannst …«

»Ich sitze hier unten fest, Jannes! Ich könnte nicht mal die Tür aufmachen, und vielleicht ist ja nur was gezerrt und es wird besser, wenn wir es kühlen.«

»Das bezweifle ich. Aber ich komme und schau es mir an. Versuch es noch mal auf Mamas oder Papas Handy. Okay?«

»Okay. Jannes?«, flüsterte sie, bevor er die Verbindung abbrach.

»Was noch?«

»Danke.«

»Schon gut. Bis gleich«, antwortete er und legte auf.

»Sorry«, murmelte sie.

Einen Moment lang schaute sie noch auf das Display, dann steckte sie langsam das Handy in die Tasche und stand vom Sofa auf. Im Vorbeigehen griff sie nach dem schnurlosen Telefon, stellte es auf laut und brachte es in den Keller.

*

»Tomke?«, rief Jannes und warf die Sporttasche im Flur ab.

»Jannes?«, fragte Tomke in ihr Handy.

Für ihn kam ihre Stimme aus dem Telefon, das sie hinter den Getränkekisten im Keller deponiert hatte. Es klang nicht echt, aber er merkte es nicht. Er ging auf die Kellertreppe zu und bemerkte auch Tomke auf der Terrasse nicht. Sie stand an die Hauswand gelehnt und lugte durch die Scheibe. Sobald er die Treppe nach unten stürmte, drückte sie die Glastür auf, rannte durchs Wohnzimmer, warf sich gegen die Kellertür und sperrte ab.

»Tomke?« Jannes rüttelte am Griff. »Spinnst du?«

»Es tut mir leid.« Sie legte die Hände auf das Metall, stellte sich vor, wie sie ihn an den Schultern packte und ihm in die Augen sah, damit er ihr zuhörte. »Ich muss mit dir reden.«

»Und dafür sperrst du mich in den Keller?« Er lachte auf. »Tolle Art, mich zum Zuhören zu bringen!«

»Es ist kompliziert, okay?« Sie schloss für einen Moment die Augen.

»Ich höre dir zu, wenn du die Tür aufmachst.« Seine Stimme bebte. »Was sollte die Geschichte mit deinem Sturz? Hast du das erfunden, um mich in den Keller zu locken?«

»Jetzt tu nicht so, als ob du gekommen wärst, wenn ich dich darum gebeten hätte. Du hast heute Morgen ja nicht mal mehr auf meine Nachricht reagiert.« Sie stieß sich von der Tür ab und ging zu seiner Sporttasche. »Und geblieben, um mir zuzuhören, wärst du auch nicht. Sei ehrlich!«

In der Seite der Tasche fand sie sein Handy.