Das gestohlene Kind - Tamer Bakiner - E-Book

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Tamer Bakiner

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Beschreibung

Kindes-Rückführung aus Thailand: ein dramatischer, actionreicher True-Crime-Thriller von Privat-Ermittler Tamer Bakiner, der auf einem wahren Fall basiert. In der Ehe von Alexander Bergmann und seiner thailändischen Frau Suna stehen die Zeichen auf Sturm. Immer öfter zieht es Suna in ihre Heimat; immer weniger interessiert sie sich für Alexander und sein Leben. Eines Tages ist Suna spurlos verschwunden – und mit ihr die kleine Elara, ihre gemeinsame Tochter. In größter Verzweiflung bittet Alexander eine Freundin, die Psychologin Florentine Fuchs, um Hilfe. Als er unangemeldet in ihre Praxis stürmt, sitzt dort ihr neuester Klient, ein Mann, dem sie gerade mühsam klarzumachen versucht, dass jeder einmal eine Ruhepause braucht. Es ist Privatermittler Malik Martens - seines Zeichens Spezialist auf dem Gebiet der Kindes-Rückführung. Malik zögert nicht lange. Er nimmt sich des Falles an und ahnt noch nicht, dass er all sein Können, all seine Erfahrung und schließlich auch Florentines spezielle Fähigkeiten brauchen wird, um die kleine Elara aufzuspüren. Doch das ist erst der Beginn … Tamer Bakiner, der "Wahrheitsjäger", ist einer der erfolgreichsten Wirtschafts- und Privatermittler in Deutschland. Seinem ersten True-Crime-Thriller liegt ein Fall von Kindes-Rückführung zugrunde, den er vor einigen Jahren erfolgreich gelöst hat. Mit Malik Martens - Tamer Bakiners Alter Ego - und Psychologin Florentine Fuchs betritt ein ungewöhnliches Team die True-Crime-Bühne, das hochspannende Einblicke in die Arbeit moderner Privatermittler gibt.

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Seitenzahl: 454

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Über dieses Buch

Alexander Bergmann ist fassungslos, als er feststellen muss, dass seine Frau Suna ihn verlassen will und die gemeinsame Tochter unter einem Vorwand in ihre Heimat Thailand gebracht hat. Er bittet eine Freundin, die Psychologin Florentine Fuchs, um Hilfe – doch kurz darauf ist Suna verschwunden, und für Bergmann stehen die Chancen schlecht, seine Tochter je wiederzusehen. In größter Verzweiflung stürmt er Florentines Praxis, um dort auf ihren neuesten Klienten zu treffen: Star-Detektiv Malik Martens, ein Spezialist auf dem Gebiet der Kindes-Rückführung. Malik nimmt sich des Falles an und wird all sein Können, seine Erfahrung und am Ende auch Florentine Fuchs brauchen, um die kleine Elara in Thailand zu retten… denn Flucht scheint aussichtslos.

Inhaltsübersicht

PrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Kapitel 45Kapitel 46Kapitel 47Kapitel 48Kapitel 49Kapitel 50Kapitel 51Kapitel 52Nachwort und DanksagungDanksagung
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Prolog

Das kleine Mädchen rannte los. Ihr ta: hatte ihr fünfzig Baht zugesteckt, damit sie sich in dem kleinen Laden vorn an der Hauptstraße ein Eis kaufte.

»Aber verrat’s der ya:y nicht«, flüsterte er dem Mädchen heiser zu.

»Nein«, raunte sie verschwörerisch zurück. »Niemals!«

Sie liebte ihren Großvater, weil er immer mit ihr spielte und Geschichten erzählte, von den vielen verwunschenen Gärten, die er angelegt hatte. Wie in einem Märchenschloss. Bei ihrer Großmutter musste sie zum Frühstück immer Suppe essen, und das mochte das kleine Mädchen überhaupt nicht. Sie aß lieber Pfannkuchen.

Heute hatte sie mit ihrem Ta: schon den Rasen gemäht. Denn ihrer Mami hatte sie beim Abschied versprochen, ihm bei der Gartenarbeit zu helfen, weil er sehr krank war. Erschöpft hatte er sich vorhin in den hölzernen Liegestuhl auf dem Balkon gelegt. Sie hatte sich neben ihn gesetzt und mit ihren Buntstiften auf einem Zeichenblock gemalt. Plötzlich hörte sie seltsame Geräusche aus seinem Mund kommen. Er stöhnte, fasste sich an den Rücken und legte seine Stirn in tiefe Falten. Langsam und kraftlos hatte er das Geld aus seiner Tasche gezogen und sie fortgeschickt.

Da bekam es das Mädchen mit der Angst zu tun. Sie schnappte ihr Stofftier, verschob das Eis auf später und lief los, um ihre Großmutter zu holen. Fast wäre sie über die Treppen gestolpert, so eilig hatte sie es.

»Ya:y, Ya:y, komm schnell!«, rief sie aufgeregt. »Ta: hat irgendwas, er …«

Ruckartig erhob sich ihre Großmutter vom Sofa. »Ist er noch oben auf dem Balkon?«

Sie nickte und wollte mitgehen und nach ihrem Großvater sehen, als sie einen riesigen Mann erspähte, der an einem dicken Palmenstamm lehnte und telefonierte. Sie konnte sich kaum mehr bewegen, so war ihr der Schreck in die Glieder gefahren.

Ihre Ya:y ging schnell die Treppen nach oben, und sofort folgte ihr der große, Furcht einflößende Mann.

Das Mädchen drückte ihr Stofftier an die Brust, und in ihrem Bauch kribbelte es, als hätte sich ein ganzer Ameisenhaufen darin gebildet. »Wer ist das?«, fragte sie ganz leise ihren Plüschaffen, nachdem der Mann an ihr vorbeigehuscht war. Mit seinem orangefarbenen Kleid konnte er gar nicht richtig laufen.

Angsterfüllt blickte sie ihm nach. »Komm, Pinky, wir verstecken uns!« Sie sauste zur Vorderseite des Hauses, wo sie sich hinter einen Hibiskus-Busch kauerte. Hier hatte sie das Eingangstor im Blick und konnte sehen, wann der Mann endlich wieder verschwinden würde.

Nach einiger Zeit hörte sie ein Auto heranfahren, das Gartentor wurde aufgestoßen, zwei Männer stürmten herein und trugen ihren Großvater auf einer Bahre wieder hinaus.

»Ya:y!«, rief sie, lief los und prallte mit voller Wucht gegen den Mann in dem orangefarbenen Gewand. Er drängte sie zur Seite und lief den beiden Männern hinterher.

Plötzlich stand ihre Großmutter hinter ihr. »Wir gehen fort von hier«, sagte sie in strengem Ton.

»Nein«, schrie das kleine Mädchen, »nein, ich will hier nicht weg! Ich bleibe hier, bis mich meine Mami und mein Papi abholen!« 

In einem unbeobachteten Moment rannte sie hinunter zu dem kleinen Fluss, wo das grüne Boot ankerte. Dort konnte sie sich verstecken. Sie musste sich nur ganz flach auf den Rücken legen und mucksmäuschenstill sein. Sie hielt ihr Stofftier fest an sich gedrückt und schaute ängstlich in den Himmel hinauf. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und sie zitterte am ganzen Körper. »Die haben uns angelogen, Pinky!« Ihre bebenden Lippen berührten das Fell des Stofftieres. »Die haben gesagt, die Mami kommt bald wieder. Und der Papi hätte angerufen. Aber das stimmt gar nicht.« Jeden Tag wartete sie darauf, dass die beiden sie abholen würden. Tränen strömten ihre Wangen herab. Und jetzt war dieser große Mann gekommen. Wollte der sie vielleicht mitnehmen? Und wohin brachten sie ihren Ta:?  

Ihr Knie tat weh. Sie berührte es mit der Hand und spürte, dass es blutete. Das musste passiert sein, als sie vorhin an einem Ast hängen geblieben war.

»Wir dürfen keine Zeit verlieren.« Sie hörte eine tiefe Stimme, die immer näher kam. Und plötzlich war er über ihr. Wie ein fliegender Dinosaurier, der auf seine Beute starrte.

»Ich habe sie entdeckt«, rief der Mann, bückte sich herunter und zog sie nach oben.  

»Hilfe! Hilfe! Mami, hilf mir! Papi! Papi!«

Der Riese umschlang sie mit seinen wuchtigen Armen und hüllte sie mit seinem orangefarbenen Gewand ein. Ihr blieb fast die Luft weg. »Komm schon!«, sagte er ungeduldig. 

Sie strampelte, wehrte sich. Ihre Mami hatte ihr gesagt, dass sie schreien und weglaufen sollte, wenn ein fremder Mann sie mitnehmen wollte.

Das kleine Mädchen schrie um sein Leben.

»Gib endlich Ruhe!« Der Mann hielt ihr den Mund zu und schleppte sie nach oben. Dort stand ihre Großmutter mit einer braunen Tasche. »Wir müssen von hier fortgehen«, sagte sie noch einmal mit ernstem Blick. »Hör sofort auf zu heulen!«

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Kapitel 1

Shanghai, Donnerstag, 18. Oktober 2018

Malik Martens nahm seine Baseballkappe ab, fuhr sich durch sein kurzes schwarzes Haar und kontrollierte irritiert sein Handy. Er war an der verabredeten Stelle auf der Mitte der Century Avenue angekommen, doch von Jinjin fehlte jede Spur. Seltsam, der Mann kam nie zu spät. Er blickte sich um. Auch zu dieser späten Stunde drängten sich auf der Touristenmeile Pudongs im Finanzviertel von Shanghai noch Tausende von Menschen. Malik lehnte sich an das Brückengeländer und betrachtete das Lichtermeer der Reklametafeln, die an den Wolkenkratzern um den Oriental Pearl Tower hingen.

Zehn Minuten über der Zeit. Hatte sich die Situation ohne sein Wissen verschärft? Malik lockerte unauffällig seine Schultermuskulatur. Wenn Jinjin nicht bald auftauchte und mit den Informationen herausrückte, hätte Malik mit seinem deutschen Auftraggeber ein Problem. Zu Recht. Er hoffte für seinen Informanten, dass er gute Gründe für seine Verspätung hatte, sonst müsste Malik ihre sogenannte Geschäftsverbindung sofort beenden, auch wenn das zum jetzigen Zeitpunkt für ihn einen herben Rückschlag bedeuten würde. Aber Unzuverlässigkeit war in seinem Job nicht akzeptabel.

Ein elegantes Pärchen mit der großen Papiertüte eines Luxuslabels stieß ihn im Gedränge an. Mit schüchternen Gesten entschuldigte sich der Mann bei ihm, während die Frau Malik scheu anlächelte. Er nickte nur, anstatt den Anblick dieser Schönheit zu genießen. Warum musste Jinjin für ihre Treffen auch immer Hotspots wählen, Century Avenue auf Pudong, Wahnsinn, dachte Malik und checkte erneut sein Handy. Keine Nachricht.

Die Warterei fing an, ihn zu stressen. Kein gutes Zeichen! Er stand kurz vor der Lösung dieses riesigen Falls. Er hatte so viel Zeit und Geld investiert, um als laowai, als Ausländer, Zugang zu diesem äußerst lukrativen und streng geheimen Business zu bekommen. Markenpiraterie. Keiner fälschte so gut und so leidenschaftlich wie die Chinesen.

Sein Handy vibrierte, und er erkannte die deutsche Nummer: sein Auftraggeber. Verdammt! Malik räusperte sich und nahm den Anruf entgegen: »Hallo, Herr Doktor Bühler, darf ich Sie später zurückrufen, ich bin gerade …« Ehe er weitersprechen konnte und sich dabei suchend in alle Richtungen drehte, unterbrach ihn sein Klient.

»Wenn das Ihr Tempo ist, Herr Martens, bin ich mir nicht sicher, ob Sie der richtige Mann für diesen Job sind«, erboste sich sein Gesprächspartner.

»Keine Sorge, Herr Doktor Bühler«, beruhigte er den Justiziar, als er in der Menge plötzlich Jinjin entdeckte.

»Ich will in der nächsten Stunde einen Hinweis von Ihnen, Herr Martens«, tönte Bühlers Stimme an seinem Ohr. »Haben wir uns verstanden?!«

»Sie kriegen die gewünschte Information schnellstmöglich. Tut mir leid, ich muss jetzt auflegen.«

Mit steifen Schritten, fast feierlich, kam Jinjin auf ihn zu, sein schwarzer Bürstenhaarschnitt und seine randlose Brille ließen ihn zwischen den jungen, modebewussten Partygängern altmodisch wirken.

Er winkte seinem Informanten zu. »Was ist passiert?«

Doch anstatt Malik zu begrüßen, gab Jinjin mit regloser Miene zwei Männern in Uniform ein Zeichen, die wie aus dem Nichts plötzlich neben Malik standen. Gongan – Volkspolizei.

Verdammt! Er schloss für einen Augenblick die Augen. Flucht war keine Option, nicht hier, nicht in diesem Land. Malik starrte Jinjin an, dann musterte er die Beamten. Atmete tief ein und aus. So ruhig wie nur irgend möglich suchte er Blickkontakt mit einem der beiden Polizisten und sprach ihn auf Englisch an: »Was soll das? Was werfen Sie mir vor? Ich kann mich ausweisen. Ich bin Privatermittler.«

Doch der Beamte ignorierte seine Fragen. Wortlos legte er ihm die Kabelbinder-Handschellen an, während sein Kollege die Menge an Schaulustigen mit kurzen, harten Befehlen auseinandertrieb.

Jinjin ließ sich keine Sekunde dieses Spektakels entgehen. Obwohl seine Gesichtszüge wie eingefroren wirkten, verrieten seine betont aufrechte Körperhaltung, sein stolz gereckter Kopf, dass er die Situation zu genießen schien.

Maliks Handgelenke schmerzten, der Kabelbinder quetschte seine Handballen zusammen. Schweißtropfen liefen ihm über die Wangen, während er unter neugierigen Blicken und Getuschel hinter vorgehaltenen Händen durch die Menschenmenge abgeführt wurde.

 

In der Zelle war es dunkel. Malik lag auf einer Pritsche, deren Plastikbezug unangenehm nach Desinfektionsmittel roch. Gedämpfte Stimmen und das Surren eines Ventilators drangen vom Gang aus zu ihm. Es fiel ihm schwer, sich an die Details zu erinnern, zu tief saß der Schock.

Sie hatten ihn schweigend abgeführt, und auf dem Weg zum Polizeiwagen war Jinjin einfach verschwunden. Während der gesamten Fahrt zum Revier hatten die beiden Beamten auf seine Fragen mit keiner Silbe reagiert.

Wie hatte er sich in seinem Informanten nur so täuschen können? Oder zog im Hintergrund vielleicht jemand viel Gefährlicheres die Strippen? Markenpiraterie war kein Kavaliersdelikt, wen hatte er aufgescheucht? Oder war er nur Opfer eines wichtigtuerischen staatstreuen Günstlings geworden? Er hoffte inständig Letzteres, sonst würde er vielleicht nie wieder aus China ausreisen.

Erst auf dem Revier, nachdem sie ihm alle persönlichen Gegenstände abgenommen hatten, ließ sich derjenige, der ihm auch die Handschellen angelegt hatte, dazu herab, ihm in erstaunlich gutem Englisch mitzuteilen, dass Malik der Industriespionage beschuldigt wurde. Dann hatten die beiden ihn in die Obhut der Revierbeamten übergeben und sich entfernt.

Vergeblich hatte Malik eingefordert, seinen Anwalt anzurufen. »Tomorrow, tomorrow!«, war die Antwort gewesen, und ohne weitere Befragung oder Aufklärung war er in diese Zelle abgeführt worden.

Müdigkeit überfiel ihn, obwohl die Pritsche bei jeder seiner Bewegungen quietschende Geräusche von sich gab. Die Dunkelheit umhüllte ihn wie ein schwarzes Loch, das ihn immer tiefer in ein fernes Zentrum zog. Nur für einen kurzen Moment würde er die Augen schließen, entspannen und dann weiter nach einer Lösung suchen. Dann übermannte ihn der Schlaf.

 

Die Zellentür wurde geöffnet, gleißendes Licht strömte in den kleinen fensterlosen Raum, dessen Wände von den unzähligen Gefangenen sprachen, die hier schon die Nacht verbracht hatten: Kritzeleien, tiefe Kratzer, große undefinierbare Flecken bildeten ein ganz eigenes Muster, ein Wandbild der Verzweifelten, das er gestern Abend nicht mehr wahrgenommen hatte.

Ein Polizist sprach ihn ungehalten auf Chinesisch an. Erst als eine eindeutige Gestik seinem Wortschwall folgte, wusste Malik, was von ihm verlangt wurde, und schwang sich von der Pritsche. Er rieb sich seinen schmerzenden Nacken und folgte dem Beamten durch ein Labyrinth von Gängen. Die zahllosen Türen, die sie passierten, waren alle geschlossen. Malik schüttelte den Kopf, fuhr sich mit den Händen über seinen Dreitagebart. Er roch nach kaltem Schweiß. Seine Kehle war trocken, ein pochender Kopfschmerz breitete sich hinter seiner Stirn aus.

Sie betraten ein kleines Büro, in dem sich zwei graue Schreibtische gegenüberstanden, identisch ausgestattet mit Computer und Telefonanlage. Kein persönlicher Gegenstand lag herum, keine Akte, nichts. Nur vor dem Doppelfenster, das Ausblick auf einen gigantischen Häuserblock gab, stand eine halb leer getrunkene Tasse grüner Tee.

Der gedrungene Beamte, dessen Spitzbauch seine Uniformjacke nach oben rutschen ließ, stellte sich betont breitbeinig vor die verschlossene Tür und deutete immer wieder auf eine der beiden Telefonanlagen. Wies ihn an, den Anruf zu tätigen, um den er gestern Abend so eindringlich gebeten hatte.

Malik nahm zögerlich den Hörer in die Hand, ohne den Mann aus den Augen zu lassen, dem er körperlich weit überlegen war. Doch was nützte ihm das jetzt? Er konzentrierte sich und wählte aus dem Gedächtnis heraus die Nummer des einzigen Menschen, der ihn hier herausholen und diesen Albtraum beenden konnte.

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Kapitel 2

Frankfurt, Sonntag, 21. Oktober 2018

Der Airbus A380 durchbrach die dichte Wolkendecke. Malik blickte aus dem Fenster und war froh, nach einem unruhigen Flug endlich auf dem Frankfurter Flughafen zu landen.

Er verstaute das iPad in seiner Umhängetasche und warf sich seine schwarze Lederjacke über die Schulter. »Ciao Yvette, wir sehen uns dieses Jahr bestimmt noch mal«, verabschiedete er sich beim Hinausgehen von der Purserin, »freu mich immer, dich zu sehen.« Ein bisschen in die Jahre gekommen, dachte er, aber sie ist immer noch äußerst attraktiv.

Malik war einer der Ersten, der die Maschine verließ und mit großen Schritten die Gangway hinaufeilte. Jetzt bloß nicht ewig in einer Schlange herumstehen müssen und Zeit verplempern. Aber es war noch früh am Morgen, und er hatte Glück. Innerhalb weniger Minuten ließ er die Passkontrolle hinter sich und steuerte auf das Gepäckband zu, allerdings nicht ohne vorher einen Blick in das kleine Büro hinter der Absperrung zu werfen. Mal sehen, wer heute Dienst hatte.

»Ohne Wenn und Aber, Faber«, begrüßte er grinsend den Zollbeamten, der gerade seinen PC hochfuhr. Thomas Faber hatte sich Malik bei ihrem ersten Treffen genau so vorgestellt. Seitdem schmetterte er ihm, wann immer er ihn sah, diesen Spruch entgegen, weil er so gut zu ihm passte.

Thomas Faber schaute ihn rasch über die Schulter hinweg an. »Malik! Bist du auch mal wieder im Land?« Und schon bediente er wieder die Tastatur an seinem PC. »Ich bin leider in Eile, hab Frühschicht und muss jetzt gleich los.« Er lachte. »Du kennst mich ja: Ohne Wenn und Aber …«

Malik hatte Thomas Faber vor einigen Jahren bei Ermittlungen in Zusammenhang mit Plagiatsfällen kennengelernt, und er hatte stets ein hervorragendes Gespür bewiesen, Reisende beim Schmuggel gefälschter Ware zu überführen.

»Ich will dich gar nicht länger aufhalten. Lass uns demnächst mal wieder einen trinken gehen. Ich melde mich«, verabschiedete sich Malik und ging zum Gepäckband.

Er holte sich eine Flasche Wasser aus dem Automaten und wollte gerade seine Nachrichten und Emails checken, als sich das Band in Bewegung setzte und binnen Sekunden sein Koffer erschien.

 

Nebelfetzen hingen über der Stadt, und für einen kühlen Sonntagmorgen im Herbst waren erstaunlich viele Menschen auf den Beinen. Malik erreichte das Parkdeck und lud seinen Koffer in den Kofferraum des Mercedes. Als er einstieg, klingelte sein Handy. Malik las den Namen auf dem Display, und seine Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln. Er nahm den Anruf entgegen.

»Hey Alter, lebst du noch? Wo erwische ich dich gerade?«, drang Philips Stimme an sein Ohr. Malik überlegte kurz, wann sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Die Hochzeit musste jetzt ein Jahr her sein, und er war Philips Trauzeuge gewesen.

»Was treibt dich denn am Wochenende so früh aus den Federn?«

»Senile Bettflucht«, sagte Philip lachend. »Und dich? Sag bloß, du bist in Frankfurt?«

»Gerade gelandet. Ich bin ein paar Tage da.«

»Na, wenn das keine Vorsehung ist! Wie wär’s, wenn du gleich heute Abend vorbeikommst? Halb acht? Ich schwinge den Kochlöffel.«

Diese Spontaneität war etwas, das Phil und ihn noch immer verband. Sie waren beide in ihren frühen Vierzigern und kannten sich seit Kindertagen, waren Nachbarjungen gewesen und zusammen zur Schule gegangen. Eine Zeit lang hatten sie sich aus den Augen verloren und sich zufällig wiedergetroffen, als sie beide ihre Eltern besuchten. Erst hatten sie sich mit einer Flasche Bier in der Hand über den alten Holzzaun hinweg unterhalten, um sich dann spontan für den nächsten Tag zu einer Motorradtour zu verabreden. Seit diesem Wiedersehen standen sie in losem, aber regelmäßigem Kontakt.

Malik hatte sich im Hilton City einquartiert, das sich in der Nähe von Philips und Claudias Wohnung befand. Außerdem hatte er am Mittwoch einen Termin bei Gericht und musste in den Tagen davor unbedingt ein paar Dinge im Büro erledigen. Gerichtstermine waren etwas, worauf er sich normalerweise freute, weil es ihm einen gewissen Kick verlieh, in die überraschten oder auch verwirrten Gesichter der Angeklagten zu blicken, denen langsam dämmerte, wer hier verantwortlich dafür war, dass ihnen der Prozess gemacht wurde. Aber seit einiger Zeit fühlte er sich ausgelaugt.

 

Seit das Hotel renoviert worden war, strahlte die Lobby mit den modernen Aufzügen aus Glas und den Stahlkonstruktionen etwas Futuristisches aus. Der alte Park, der dem Eingang gegenüberlag, stand dazu in eindrucksvollem Gegensatz. Im Vergleich zum Airport-Hotel der Kette hatte das Stadt-Hotel etwas Gediegenes, fast Heimeliges. Das gefiel Malik. Für ihn kam keine andere Hotelkette infrage – er gehörte zu dem kleinen exklusiven Kreis der Honors-Diamond-Card-Members. Er ging nach rechts zum Counter.

»Willkommen in unserem Haus, Herr Martens! Hatten Sie eine gute Reise?«, empfing ihn der Concierge.

»Alles bestens, Herr Sörensen, schön, Sie zu sehen! Sie haben Ihre Hüftoperation gut überstanden, vermute ich?«

»Ja, danke der Nachfrage, Herr Martens. Da habe ich wirklich Glück gehabt.«

Malik legte seine Hände auf den polierten Steintresen und blickte gewohnheitsmäßig nach links und rechts. »Darf ich Sie gleich um einen Gefallen bitten, Herr Sörensen?«

»Immer zu Diensten, Herr Martens!«

»Besorgen Sie mir doch bitte eine Flasche exzellenten Rotwein. Am besten einen Barolo aus dem Piemont.«

»Der König der Weine«, sagte Sörensen lächelnd.

»Und einen Blumenstrauß.«

»Darf es etwas Bestimmtes sein?«

»Sie machen das schon, Sörensen. Was Herbstliches, würde ich sagen. Und wenn ich alles am späteren Nachmittag habe, reicht mir das.«

Neben ihm tauchte ein Gast auf. Malik scannte sein Gesicht. So wie er grundsätzlich alles und jeden in seiner nächsten Umgebung prüfte, eine lebenswichtige Begleiterscheinung seines Berufes.

»Geht in Ordnung, Herr Martens. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«

»Danke! Wenn Sie mir jetzt noch die Suite 1213 reserviert haben, bin ich vollauf zufrieden«, antwortete Malik und steckte ihm diskret einen Fünfzig-Euro-Schein zu.

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Kapitel 3

Frankfurt, Sonntag, 21. Oktober 2018, abends

Nachdem er im hoteleigenen Schwimmbad seine Bahnen gezogen und im Fitnessraum einige Gewichte gestemmt hatte, verließ Malik um halb sieben das Hotel zu Fuß. Nebel war heraufgezogen, und die Luft war ziemlich feucht. Der Tag schien aufzuhören, wie er angefangen hatte.

Philip besaß eine Wirtschaftsprüferkanzlei in Frankfurts Bankenviertel und hatte im selben Haus damals auch gleich eine Penthouse-Wohnung gekauft. Eine weise Entscheidung bei der derzeitigen Immobilienlage.

Als Malik im Aufzug, mit Weinflasche und Blumenstrauß bewaffnet, nach oben ins fünfundzwanzigste Stockwerk glitt, brach ihm plötzlich der Schweiß aus, und in seinen Ohren fing es an zu rauschen. Reflexartig drückte er die Weinflasche gegen seine Wange, um sich ein wenig Abkühlung zu verschaffen. Er schloss die Augen. Da ebbte das Rauschen genauso schnell wieder ab, wie es gekommen war. Erleichtert öffnete Malik in dem Moment die Augen, als die Aufzugtür den Blick in Philips Wohnung freigab und der Hausherr direkt vor ihm stand.

»Mensch! Du! Hier! Welch Glanz in unserer Hütte!«

Malik trat in den hellen großen Wohnraum, der mit einer gelungenen Kombination aus alten und modernen Möbeln sehr geschmackvoll eingerichtet war – Claudias Handschrift.

»Danke für die Einladung!« Malik setzte ein breites Lachen auf und überreichte seinem Freund die Flasche Wein und Claudia, die ihm entgegenkam, den Blumenstrauß.

»Wie schön!« Sie nahm die Blumen entgegen und roch daran. »Und wie schön, dich zu sehen«, sagte sie und umarmte ihn.

»Wie geht’s, alter Freund?« Philip klopfte ihm auf die Schulter. »Du siehst ein bisschen angestrengt aus.«

»Alles gut. Na ja, vielleicht leide ich ein bisschen unter Jetlag. Ich komme gerade aus Shanghai«, redete sich Malik heraus. »Aber ich freue mich sehr, euch zu sehen.« Er sah die beiden abwechselnd an. »Hm, hier riecht es schon so gut«, wechselte er schnell das Thema.

»Dann lasst uns keine Zeit verlieren«, meinte Philip. »Ich verschwinde noch mal kurz in die Küche.«

Claudia hakte sich bei Malik unter und führte ihn zu dem langen Esstisch aus geöltem Massivholz.

»Eure Wohnung ist wirklich ein Schmuckstück.«

»Während mein Mann die Küche in Beschlag genommen hat, habe ich mich zur Deko-Queen entwickelt. Die perfekte Aufteilung«, erklärte Claudia lachend.

Philip war ein begnadeter Hobbykoch, etwas, das Malik an ihm bewunderte. »Was hat sich unser Chef denn heute Leckeres ausgedacht?«, fragte er neugierig in Richtung Küche.

Und wie auf Kommando erschien Philip mit zwei dampfenden Schüsseln und platzierte sie auf dem hübsch dekorierten Eichentisch.

»Sobald ich in meinem Kopf eine Zutatenliste erstellt habe, höre ich auf zu denken, und mein Bauch beginnt mit mir zu sprechen«, philosophierte er. Was auch immer das Ergebnis dieser Zwiesprache gewesen sein mochte, er servierte Malik an diesem Abend das beste Entrecote seines Lebens.

»Der Barolo muss ja noch ein bisschen liegen. Was hältst du von einem kräftigen Franzosen aus dem Languedoc?«

Philip entkorkte eine Flasche. Ein feines Aroma erfüllte den Raum.

»Malik«, fing Claudia an und prostete ihm dabei zu, »was hattest du Spannendes in Shanghai zu tun?«

Als ob er darüber Auskunft geben würde. Er sprach nie über seine Fälle. Und wenn er an die Verhaftung in Shanghai dachte, wurde ihm ganz anders. Er erzählte höchstens ab und an von den Ländern, in die er wegen seiner Fälle reiste. Es gab keinen Kontinent, auf dem er nicht schon gewesen war, wenig Länder, die er nicht gesehen hatte.

»Ich war das erste Mal auf dem Shanghai-Tower. In beeindruckenden sechshundertzweiunddreißig Metern Höhe. Nach dem Shanghai World Financial Center, das wegen seiner Form von allen nur ›Flaschenöffner‹ genannt wird, ist er momentan das zweithöchste Gebäude der Welt. Mit dem schnellsten Aufzug der Welt. Da muss eurer da draußen noch ein bisschen Gas geben.« Malik grinste.

»Ach, Malik, komm mir doch jetzt nicht damit! Ich will wissen, welchen brisanten Fall du gerade bearbeitest.«

Claudia und Philip gehörten zu den wenigen, die wussten, was er wirklich tat. Den meisten Menschen erzählte er, er sei Unternehmensberater von Beruf.

Malik wollte nicht unhöflich sein und die gute Stimmung nicht verderben. »Ich finde für dich heraus, ob du das echte Designerkleid gekauft hast oder ob man dich gelinkt hat und du für teures Geld ein Plagiat im Schrank hängen hast.«

Claudia war eine bildhübsche Frau, blonde kurze Haare, meergrüne Augen, schön geformter Mund, passte aber nicht in sein Beuteschema. Und das war auch gut so. Als Phil beschlossen hatte, Claudia einen Heiratsantrag zu machen, wollte er wissen, ob auch sie an diesem Punkt war. Malik sollte sie auf die Probe stellen. Aber das war eine andere Geschichte.

»Ich als Fashion Victim muss jetzt sofort wissen, welches Label das ist«, insistierte Claudia.

»Das kann ich natürlich nicht sagen, aber es handelt sich um ein weltbekanntes Designerlabel, und ich wurde beauftragt, in Sachen Markenpiraterie zu ermitteln.«

»Welche Summen sind da im Spiel?«, schaltete sich Philip ein.

»Markenpiraterie ist in der Textilbranche wirklich gang und gäbe, deshalb ist der Schaden, der durch Plagiate verursacht wird, entsprechend groß. Mein Auftraggeber spricht von einem zweistelligen Millionenbetrag im oberen Bereich.«

»Malik, bitte, kannst du nicht mal eine Ausnahme machen und mit dem Namen herausrücken?«, versuchte es Claudia noch einmal.

»Kann er nicht!« Philip gab seiner Frau einen Kuss auf die Nase und schenkte seinem Freund noch Rotwein nach. »Mir kam neulich zu Ohren, dass allein schon in der EU gefälschte Waren im Wert von rund hundertzwanzigtausend Milliarden Euro gehandelt werden, das entspricht fast sieben Prozent des Imports.«

Malik nickte zustimmend und wollte gerade antworten, als ihm der Schweiß aus allen Poren brach. Mit einem Mal fühlte sich sein Brustkorb an, als ob hundert Herzen gleichzeitig darin schlagen würden und ihn jeden Augenblick zerbersten ließen.

»Malik, was ist los?«, fragte Claudia entsetzt. »Ist dir schlecht?«

Sein weißes Hemd spannte über seinem muskulösen Oberkörper, und er knöpfte fahrig die oberen Knöpfe auf.

»Soll ich den Notarzt rufen?« Philip sprang auf. »Du bist ja aschfahl im Gesicht.«

»Nein, lass gut sein«, keuchte Malik und zitterte am ganzen Körper. »Lass mich kurz frische Luft schnappen.«

Philip ging auf die andere Seite des Tisches, nahm ihn am Arm und führte ihn auf die Dachterrasse. »Setz dich auf die Bank. Soll ich dir eine Decke bringen?«

»Passt schon. Danke.« Als Malik die kühle Nachtluft einatmete, löste sich langsam der Knoten in seiner Brust. Er schaute Philip mit müden Augen an. »Wahrscheinlich stecke ich die Fliegerei doch nicht mehr so einfach weg. Bin eben keine zwanzig mehr.« Er tat das Ganze vor seinem Freund als kleine Kreislaufschwäche ab.

Claudia brachte ihm ein Glas Wasser und stellte sich vor ihn hin. »So geht das nicht, Malik. Du musst zum Arzt. Vielleicht hast du dir irgendein Virus in Asien eingefangen.«

Malik starrte ein paar Minuten ins Leere, bemüht, wieder die Kontrolle über seinen Körper zu gewinnen. Er fröstelte.

»Nehmt es mir nicht übel, aber ich gehe jetzt ins Hotel zurück und schlafe mich richtig aus.« Er wollte seine Ruhe haben. Wollte keine gut gemeinten Ratschläge hören, sich nicht erklären, mit niemandem mehr reden müssen. Ihm war alles zu viel. Er hatte tatsächlich das Gefühl, sein Körper wäre mit einem Virus infiziert, seit er die Nacht in der chinesischen Zelle verbracht hatte.

»Könntet ihr mir bitte ein Taxi rufen?«

Philip wusste, dass er seinen Freund gewähren lassen musste. »Lass dich von deinem Arzt untersuchen. Versprich mir das!«, meinte er auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer. »Und spann mal ein paar Tage aus.«

Malik lächelte erschöpft und war erleichtert, als es klingelte und das Taxi da war. »Vielen Dank für das köstliche Essen. Ich melde mich«, verabschiedete er sich von seinen Freunden, und die Aufzugtür schloss sich hinter ihm.

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Kapitel 4

Frankfurt, Montag, 22. Oktober 2018

Malik war in einen tiefen traumlosen Schlaf gefallen, aus dem er am nächsten Morgen mit heftigen Kopfschmerzen erwachte. Daran war wohl der Alkohol schuld. Normalerweise trank er nur Kamillentee und stilles Wasser und machte ganz selten eine Ausnahme. Wie gestern Abend zum Beispiel. In einem vertrauten Kreis genehmigte er sich schon mal ein Glas Wein.

Zehn Uhr zeigte das Display seines Handys. Unfassbar. Unmengen neuer Nachrichten waren aufgelaufen. Er hatte vergessen, dass er den Klingelton bereits gestern vor dem Essen auf lautlos gestellt hatte.

Malik quälte sich aus dem Bett, ging ins Badezimmer und nahm als Erstes zwei Aspirin, die er mit Leitungswasser hinunterspülte. Er schlurfte zum Fenster und zog die schweren dunkelgrauen Vorhänge zurück. Sonnenstrahlen stachen in seine Augen. Als er sich an die Helligkeit gewöhnt hatte, blickte er auf die herbstliche Parkanlage des Hotels, deren Rasenfläche mit Laub bedeckt war. Dabei massierte er seine Schläfen, und glücklicherweise ebbte das Pochen langsam ab. Die Schmerztabletten zeigten Wirkung. Was war nur los mit ihm? Erst die ständige Erschöpfung, gegen die er seit Wochen ankämpfen musste, nun der Zusammenbruch gestern. Panisch hatte er gedacht, er hätte einen Herzinfarkt. Einen Durchhänger konnte er sich absolut nicht leisten, ganz zu schweigen davon, dass er sich eine Auszeit nehmen könnte. Nett gemeint von Phil. Selbst wenn ihm tatsächlich danach zumute war.

Er nahm sein Handy, und beim ersten Durchsehen hatten alle Nachrichten einen ähnlichen Inhalt: »Bitte melden Sie sich schnellstmöglich«, »Erwarte dringend Ihren Rückruf«, »Bitte um Terminbestätigung«.

Die Gerichtsverhandlung in Stendal am Mittwoch warf ihre Schatten voraus. Doch der Adrenalinschub, der ihn regelmäßig vor Gerichtsverhandlungen auf Hochtouren laufen ließ, blieb aus.

Achtlos warf Malik sein Telefon aufs Bett. Er erkannte sich nicht wieder – fühlte sich antriebslos, niedergeschlagen, unkonzentriert. Und das Allerschlimmste: Es passierte, dass er falsche Entscheidungen traf, Informanten falsch einschätzte, und sein wichtigstes Werkzeug, sein Netzwerk dadurch gefährdete. Jinjin war ein unverzeihlicher Fehler! Ob er jemals die genauen Hintergründe erfahren würde? Er konnte nur Vermutungen anstellen: Jinjin war einerseits regierungstreu, patriotisch, das war Malik von Anfang an klar gewesen. Er hatte sich auf dünnem Eis bewegt. Aber sein Informant war auch all die Jahre käuflich gewesen, das hatte er mehr als einmal unter Beweis gestellt. War die Summe in diesem Fall nicht hoch genug gewesen? Verdammt noch mal, er war doch lang genug im Geschäft, um zu wissen, wie sensibel das Thema Bestechungsgelder war! Malik donnerte mit der Faust auf das Sideboard.

Mit seinem Auftraggeber hatte er gleich am nächsten Tag, als er freigekommen war, telefoniert, ihn mit Informationen versorgt, die ihn zumindest besänftigt und verhindert hatten, dass die Situation völlig eskalierte. Noch hatte er den Auftrag nicht verloren. Aber der Fall hatte ihn eine Menge Kraft gekostet. Und eine ordentliche Stange Geld. Nicht zu sprechen von dem Schock, der ihm noch jetzt in den Gliedern saß.

Sein tägliches Sportprogramm würde Malik heute auf den Abend verlegen. Er zwang sich auf die Schnelle noch zu ein paar Sit-ups und ging dann unter die Dusche. Der warme Wasserstrahl entspannte seine Muskeln, und seine Lebensgeister kehrten zurück. Er musste seine Situation in den Griff bekommen und wieder der Alte werden.

Gerade als er seine Lederjacke vom Bügel nahm, vibrierte sein Handy.

Hans-Peter Langendorf, sein Bürovorsteher, wie er ihn spaßeshalber nannte, rief schon zum zweiten Mal an.

»Ich bin auf dem Weg«, sagte er kurz angebunden.

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Kapitel 5

Frankfurt, Montag, 22. Oktober 2018, früher Nachmittag

»Ich bin dann weg.« Alexander Bergmann ging aus seinem Büro im oberen Stockwerk die Treppe herunter in den lichtdurchfluteten Verkaufsraum.

»Prinzessinnen-Nachmittag, ich weiß«, flötete Marianne Heinze. »Was steht denn heute auf dem Programm?«

»Wenn ich das so genau wüsste. Es war einfach zu viel los in den letzten beiden Tagen, um mir was Spannendes auszudenken. Aber mir wird auf dem Weg zur Kita bestimmt etwas einfallen.«

»Davon bin ich überzeugt. Wirklich toll, dass Sie diese Vater-Tochter-Nachmittage eingerichtet haben. Das ist nicht selbstverständlich. Wenn ich da an meinen Mann denke.« Sie seufzte.

»Das war in meinem ersten Leben auch nicht selbstverständlich, wie Sie wissen.« Alexander nannte die Ehe mit Sabine immer sein erstes Leben. »Ich versuche, bei meiner kleinen Tochter wiedergutzumachen, was ich bei meinen Söhnen versäumt habe.« Alexander Bergmann schnappte seine Daunenjacke und zog sie sich im Gehen über. »Ich habe das Wiener Auktionshaus nicht mehr erreicht und bin leider ein bisschen spät dran. Könnten Sie dort bitte wegen des Kerzenständers nachfragen? Der muss spätestens am Freitag geliefert werden.«

»Mach ich! Wir wollen doch Herrn von Löwenstein bei Laune halten.« Marianne Heinze verdrehte die Augen.

»Ich möchte mir nicht vorstellen, was passiert, wenn er am Samstag nicht dieses Monstrum in Händen hält. Das ultimative Geburtstagsgeschenk für seine Frau!«

»Würde ich so ein Geschenk zum Fünfzigsten kriegen, wäre das ein Scheidungsgrund«, sagte Marianne Heinze und schüttelte belustigt ihren Pagenkopf. »Aber ich bin ja Gott sei Dank nicht mit diesem Herrn verheiratet. Und werde den Wienern jetzt mal Beine machen.«

Diese Frau ist ein Segen, dachte Alexander Bergmann beim Hinausgehen. Sie waren in den letzten fünf Jahren ein gutes Team geworden. Nachdem er seine Frau Sabine verlassen hatte, war sie eine der wenigen gewesen, die zu ihm gehalten und ihn nicht verdammt hatte. Sie hatte ihm auch geraten, sich zunächst auf den Verkauf von Antiquitäten und modernen Kunstwerken im In- und Ausland zu konzentrieren und seine Malerei ruhen zu lassen. Sie hatte zwar einen Sinn für Kunst, aber im kaufmännischen Bereich machte ihr keiner so schnell etwas vor.

Er öffnete die Wagentür seines SUV. Umwelt hin oder her, es nervte ihn einfach, auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen zu sein.

»Herr Bergmann, hallo!«

Plötzlich fuchtelten zwei Arme vor ihm herum.

»Haben Sie eine Minute?«

Wie aus dem Nichts war der Vermieter des Mehrfamilienhauses, in dem er das Ladengeschäft mit zwei angrenzenden Büroräumen gemietet hatte, vor ihm aufgetaucht.

»Ich hatte eigentlich damit gerechnet, Sie im Laden anzutreffen.«

»Ich bin leider sehr in Eile, Herr Huber«, hob Alexander abwehrend die Hände. »Ist es dringend?«

»Nun ja, ich wollte mit Ihnen über die Mieterhöhung sprechen. Sie haben auf mein Schreiben nicht reagiert.«

Die Mieterhöhung – Mannomann, dieses Thema hatte er komplett verdrängt. »Ich rufe Sie morgen an. Versprochen!«

Alexander stieg in den dunkelblauen Volvo, manövrierte ihn aus der Einfahrt und reihte sich in den Verkehr ein. Kurz nach vierzehn Uhr hielt sich das tägliche Verkehrschaos noch in Grenzen.

Zwei Nachmittage in der Woche hatte er für seine kleine Tochter Elara reserviert. Diese Zeit war ihm heilig. Komme, was da wolle.

Früher hatten sie den Laden an Montagen geschlossen. Aber seit er das Geschäft in die Frankfurter Innenstadt verlegt hatte, war daran nicht mehr zu denken. Obwohl ihn der Umzug viel Geld gekostet hatte und er vor allem im Vordertaunus in Bad Homburg, Kronberg und Königstein seine reiche Stammklientel sitzen hatte, war es die richtige Entscheidung gewesen.

»Die von Löwensteins dieser Welt kommen auch nach Frankfurt in die Braubachstraße«, hatte Marianne Heinze ihm damals Mut zugesprochen. Und sie hatte recht behalten. Vorzugsweise kamen sie an den Wochenenden und kombinierten eine Shopping-Tour in Frankfurts Nobelgeschäften mit einem Besuch bei ihm in der Galerie. Deshalb hatte er die Öffnungszeiten ausgeweitet und viel Energie in sogenannte Kundenbindungsmaßnahmen investiert. An jedem ersten Samstag im Monat offerierte er seiner anspruchsvollen Kundschaft ein kleines Buffet, und einmal im Vierteljahr fand ein Event statt: eine Vernissage oder ein Vortrag eines Künstlers über sein Werk.

Wer hingegen einfach so hereinschneite, wurde begrüßt mit einem Espresso oder auch einem Gläschen französischem Crémant, von dem mehrere Flaschen im Kühlschrank lagerten.

Seine Kunstgalerie galt mittlerweile als Geheimtipp in Kennerkreisen, und so mancher Kunstfreund aus dem Ausland war auch unter den Interessenten.

Seine Webpage wurde stark frequentiert, und seit Kurzem war er auch auf Instagram. Wenn man den Likes und Kommentaren Glauben schenken durfte, hatte er eine beträchtliche Fangemeinde. Und darauf war er mächtig stolz, auch wenn seine künstlerische Kreativität dabei auf der Strecke blieb. Früher hatte er sich in jeder freien Minute seinen Bildern gewidmet und sich durch und durch als Künstler gefühlt. Doch sein Schwerpunkt hatte sich verlagert, seit Elara auf der Welt war.

Vielleicht hatte er auch eine Schaffenskrise? Sich das jedoch einzugestehen, fiel ihm besonders schwer. Immerhin hatte er mit seinen Bildern ganz ordentliche Summen verdient.

Auch jetzt lief das Geschäft gut, aber er schrieb unterm Strich nur eine schwarze Null. Seine privaten Ausgaben waren zu hoch. Sie gaben zu viel Geld aus. Suna gab zu viel Geld aus.

Sie war äußerst fordernd. Seit ein paar Wochen redete sie immer wieder auf ihn ein, dass er ihr zusätzliches Geld für ihren Vater zur Verfügung stellen solle, der schwer nierenkrank war und dringend eine Spenderniere brauchte. Und die Transplantation solle am besten hier in Deutschland stattfinden. Wie sollte das gehen?! Das würde Unsummen kosten. Wie sollte er sich das leisten können?

Daraufhin hatten sie einen heftigen Streit gehabt, weil Alexander meinte, sie könne doch im Geschäft mitarbeiten. Marianne Heinze unterstützen. Ihnen wenigstens an Samstagen zur Hand gehen. Die reichen Stammkunden betreuen. Aber nein, dafür war sie sich als studierte Kommunikationswissenschaftlerin anscheinend zu schade. Es war in Ordnung gewesen, dass sich Suna ausschließlich um Elara kümmern wollte, solange sie klein war. Darüber waren sie sich nach der Geburt einig. Aber da ihr Kind längst in die Kita ging, wo es sich ausgesprochen wohlfühlte, und nächstes Jahr bereits in die Schule kam, sprach überhaupt nichts dagegen, in der Galerie mit anzupacken. Wenn es schon unmöglich war, einen geeigneten Teilzeitjob zu finden, wie Suna immer betonte, könnte sie ihm wenigstens unter die Arme greifen. Stattdessen versuchte sie sich als Bloggerin. Er musste dringend mit ihr reden.

 

Kaum war Alexander in der Kita angekommen und den gepflasterten Weg durch den Vorgarten entlanggegangen, wurde auch schon die Tür aufgerissen, und Elara rannte ihm entgegen. Ihre schwarzen Zöpfe, die von zwei pinkfarbenen Gummis gehalten wurden, wippten auf und ab.

»Papi, da bist du ja endlich! Komm schnell, ich muss dir zeigen, was ich gemalt habe.«

»Hallo, meine kleine Prinzessin.« Er hob sie hoch und wirbelte sie einmal im Kreis herum. »Da bin ich aber sehr gespannt.«

Alexander war froh, dass Elara intuitiv und schon ganz früh mit dem Malen begonnen hatte. Vielleicht hatte sie von ihm das künstlerische Talent mitbekommen; ganz offensichtlich aber hatte sie die Schönheit ihrer Mutter geerbt.

Suna und Alexander hatten sich damals für eine private Kindertagesstätte mit multilingualem Angebot entschieden, die etwas außerhalb der Innenstadt am Rand eines Wohngebietes lag und von einem weitläufigen Garten umgeben war.

Er betrat den großen hellen Raum und wurde von einem wilden Stimmengewirr aus deutschen, englischen, französischen und spanischen Worten empfangen. Die unterschiedlichen Nationalitäten, die hier vertreten waren, schafften eine Weltoffenheit, die sich Alexander und Suna für ihre Tochter wünschten. Zumindest in diesem Punkt waren sie sich einig gewesen.

»Hallo, Herr Bergmann«, begrüßte ihn Linda Petersen, eine der Erzieherinnen, und wandte sich dann umgehend in strengem Ton an seine Tochter. »Und du, Elara Wirbelwind, solltest dir etwas überziehen, bevor du in die Kälte rausgehst. Das weißt du ganz genau.«

Elara nickte betroffen, sauste dann aber an ihr vorbei zu einem Tisch im hinteren Teil des Raums, um ihre Zeichnung zu holen.

Alexander nickte Linda entschuldigend zu und holte Anorak, rosa Sneakers und die Kindergartentasche seiner Tochter aus dem Garderobenschrank.

»Komm, mein Schatz, beeil dich ein bisschen.« Alexander wollte los, damit noch genügend Zeit blieb, etwas zu unternehmen.

»Ich habe Pinky gemalt. Und Mami und dich und mich.« Elara hielt ihm ihre Zeichnung hin.

»Das ist ja toll geworden, mein Schatz!«

Elara strahlte ihn an.

»Was hältst du denn davon, wenn wir heute ins Spaßbad gehen«, schlug Alexander vor und nahm ihr behutsam das Bild ab, sodass sich Elara Schuhe und Anorak anziehen konnte.

»Au ja, das machen wir«, freute sie sich und presste ihren linken Fuß in den nicht geöffneten Turnschuh. »Und ich rutsche wieder die große Rutsche runter.«

»Dann lass uns jetzt schnell nach Hause fahren und die Schwimmtasche packen.« Alexander öffnete den Klettverschluss des zweiten Turnschuhs und half Elara, sich vollends anzuziehen. Dann nahm er sie an die Hand und verließ die Kita.

»Krieg ich heute Pommes?«

»Wie wäre es, wenn du heute noch mal probierst, ohne Schwimmflügel zu schwimmen. Letztes Mal hast du’s ja schon ganz gut ohne geschafft. Und du kommst im Sommer in die Schule und bist dann schon ein großes Mädchen, das schwimmen können sollte.«

»Okay, und danach krieg ich Pommes mit Ketchup.«

Alexander hob Elara hoch und verfrachtete sie in den Kindersitz.

»Ganz schön schlau, du kleiner Racker!« Er gab ihr einen Kuss auf den Scheitel und klickte ihren Sicherheitsgurt zu.

Alexander hatte die Zeichnung auf den Beifahrersitz gelegt. Aus dem Augenwinkel heraus betrachtete er sie und war gerührt. Elaras pinkfarbener Stoffaffe saß auf einer Palme im Garten ihrer Großeltern. Schwarze Tränen kullerten aus seinen Augen, die den gesamten Rasen übersäten.

»Wir sollen alle zusammen nach Bangkok fliegen und Pinky abholen«, tönte Elara plötzlich in die Stille hinein.

Sie hatte das Stofftier zu ihrem vierten Geburtstag bekommen und liebte es heiß und innig. Den Affen mit dem flauschigen pinkfarbenen Fell nahm sie überallhin mit. Und im letzten Bangkok-Urlaub mit Suna hatte sie ihn dann bei den Großeltern vergessen. Ein Drama, als es Elara im Flieger gemerkt hatte.

»Wir sorgen dafür, dass Pinky ganz schnell wieder bei dir ist«, tröstete Alexander seine kleine Tochter. »Mami hat bestimmt schon mit der Oma telefoniert.«

Er startete den Motor und hoffte, dass Suna das auch tatsächlich getan hatte.

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Kapitel 6

Frankfurt, Montag, 22. Oktober 2018, zur gleichen Zeit

Malik bog aus der Tiefgarageneinfahrt des Hotels links ab in die Hochstraße und fuhr weiter auf die Eschersheimer Landstraße. Hier in der Nähe hatte er einst eine Etage bewohnt, die Wohnung und Büro vereinte. Doch nach einem äußerst komplizierten Fall vor ein paar Jahren, als er ein entführtes Kind aus Sibirien zurück nach Deutschland gebracht hatte – über zehn Monate war er ausschließlich unterwegs und nur ganze sechs Tage zu Hause gewesen –, hatte er Bilanz gezogen und beschlossen, alles zu vereinfachen und die komplizierten Strukturen mit mehreren Angestellten aufzulösen. Im digitalen Zeitalter war das kein Problem. Klar war die Kennedyallee eine feine Adresse und hinterließ bei seinen Kunden einen entsprechenden Eindruck, wenn er sie dorthin zum Gespräch gebeten hatte. Aber wie oft hatte das stattgefunden? Es kristallisierte sich immer deutlicher heraus, dass er seine Auftraggeber außerhalb traf, vorzugsweise in ihrer Umgebung. »Sage mir, wie du lebst, und ich sage dir, wer du bist«, lautete das Motto, das er sich zu eigen gemacht hatte.

Auch wenn er sich nach Jahren harter Arbeit den Luxus leisten konnte, nicht mehr akquirieren zu müssen, sondern nur noch auf Empfehlung zu arbeiten, machte er sich von Anfang an am liebsten selbst ein Bild. Das erste Treffen mit einem Kunden war die erste entscheidende Information. Und Informationen waren sein Geschäft. Es gab Zeiten, da hätte er gesagt, seine Droge.

Nachdem er ein kurzes Stück auf der Bundesstraße gefahren war, steuerte Malik auf ein unscheinbares Mietshaus in der Adolf-Miersch-Straße in Niederrad zu. Er fand gleich unmittelbar davor einen Parkplatz und stieg aus.

Obwohl die Sonne das Innere des Wagens aufgewärmt hatte, war die Luft draußen ziemlich kühl. Als er auf die Haustür zulief, hörte er schon den Türsummer. Hans-Peter Langendorf erwartete ihn.

Der muffige Geruch im Treppenhaus stieg Malik in die Nase und ließ ihn zwei Stufen auf einmal nehmen, damit er schneller im dritten Stock anlangte.

»Das wurde aber auch Zeit, dass du auftauchst«, sagte HPL, wie er sich selbst nannte, und nahm ihn grußlos in Empfang. Die abgewetzten braunen Cordhosen und der beige Rollkragenpullover hingen schlaff an seinem Körper. Die grauen Haare waren raspelkurz geschnitten, und in seinem ausgemergelten Gesicht sprießten vereinzelt ein paar Bartstoppeln. »Seit gestern warte ich auf dich! Was ist los mit dir? O Mann, wie siehst du denn aus?«

Malik trat in den kleinen Flur der Zweizimmerwohnung, von dem zwei etwa gleich große Zimmer abgingen. Das eine diente als Wohn-Schlafraum. Das andere als Büro, in dem ein großer Schreibtisch stand, auf dem zwei Bildschirme platziert waren. Auf einem davon war immer eine Partie Schach im Gange – sei es, dass HPL im Internet gegen sich selbst spielte, sei es, dass er auf einer der Chess-Bases online an einem Turnier teilnahm, das gerade irgendwo auf der Welt stattfand.

Malik ließ sich auf einem der drei Stühle nieder, die um den Schreibtisch herumstanden. »Mir ist etwas dazwischengekommen.« Er zog seine Jacke aus. »Aber tatsächlich was Privates und nicht der Knast in China.«

»Ach, sieh an. Etwa eine Frau?«

»Ich war spontan bei Philip und Claudia zum Essen eingeladen. Wir haben uns seit der Hochzeit nicht mehr gesehen.«

»Na ja, da kann ich ja noch mal ein Auge zudrücken. Ich bin vor allem froh, dass du deine chinesische Knast-Erfahrung gut überstanden hast.«

»Danke, Alter, dass du mich da rausgeholt hast.«

»Aber gern doch! Ich habe ja nur telefoniert.«

»Mit den absolut richtigen Leuten. Nach zwei Stunden war August zur Mühlen da. Am nächsten Tag war ich auf freiem Fuß. Wenn auch unter Bewachung.«

»Ja«, bestätigte HPL, »August war schon im Studium eine Granate und hat eine Bombenkarriere hingelegt. Ganz im Gegensatz zu mir«, bemerkte er sarkastisch.

Hans-Peter Langendorf arbeitete jetzt seit knapp zwei Jahren für Malik. Philip hatte das eingefädelt. Er war sein Senior-Partner in der Wirtschaftsprüferkanzlei gewesen und ein begnadeter Jurist. Ein regelrechter Kriminalist in allen wirtschaftlichen Belangen. Bis zu dem Tag, an dem er das Leben seiner Frau und Tochter auslöschte. Ein Sekundenschlaf hatte ihn bei hoher Geschwindigkeit auf der Autobahn übermannt und den tödlichen Unfall verursacht. Danach hatte sich HPL nur noch von Alkohol und Tabletten ernährt und war monatelang im Dauerdelirium gewesen. Philip hatte ihn röchelnd auf dem Boden gefunden – fast wäre er an seinem eigenen Erbrochenen erstickt. Und dann hatte er ihn zu einem Entzug überredet und in eine Klinik gebracht.

Mit einer Flasche Kognak in der Hand stand HPL zwei Wochen später stark angetrunken vor Philips Wohnungstür. »Ich ertrage es nicht, am Leben zu sein.« Philip hatte ihn hereingebeten, doch HPL hatte auf dem Absatz kehrtgemacht und war wochenlang verschwunden gewesen. Wieder war es Philip gewesen, der ihn gefunden und ihn zu einem erneuten Entzug überredet hatte. Ihm war nach einem Treffen mit Malik, der ihm von seinen Umstrukturierungsplänen erzählt hatte, die Idee gekommen, ob HPL nicht für ihn arbeiten könne.

»Malik? Hörst du mir zu? Hier hat sich ein Berg Post angesammelt. Und du musst noch ein paar Verträge unterzeichnen.« Malik blickte auf die schwarzen USM-Regale und -Container im hinteren Teil des Zimmers, wo seine Unterlagen untergebracht waren. Ein Relikt aus einer vergangenen Zeit. Sein Büro war nun seit zwei Jahren in der Wohnung von Hans-Peter Langendorf angesiedelt. Eine Zwischenlösung, die immer mehr zum Dauerzustand wurde. Vielleicht musste er doch noch einmal sein Loft in der Kennedyallee reaktivieren und HPL umtopfen. Kommt Zeit, kommt Rat.

Malik ging zu der Regalwand und nahm eine Papierakte und mehrere Ordner heraus.

»Wo sind die Akten für die Gerichtsverhandlung?«, fragte er.

»Die liegen hier, ich bin alles noch einmal durchgegangen. Der Müll-Skandal ist immerhin schon über zehn Jahre her. An einigen Stellen siehst du gelbe Marker, die sollten wir besprechen.«

HPL war der Einzige, dem er Einblick in seine Arbeit gewährte. Der Einzige, von dem er ab und an einen Ratschlag annahm.

»Gut, dann lass uns damit anfangen. Ich schaue nur noch kurz, was sonst noch da ist.«

»Dann kann ich in der Zwischenzeit ja doch noch meinen imaginären Gegner schachmatt setzen.«

Während sich HPL in seine laufende Schachpartie einklinkte, blätterte Malik den Stapel Unterlagen durch.

»Endlich – die neuen Leasingverträge«, murmelte er vor sich hin. Er hatte seinen Fuhrpark auf zwei Mittelklassefahrzeuge, einen Geländewagen und zwei Motorräder reduziert. Wobei die schwarze Ducati, die er sich schon vor fünf Jahren zugelegt hatte, sein ganz persönliches Schmuckstück war. »Muskulös und kraftvoll«, pries der Hersteller die Monster 1200 an. Da war eindeutig seine Motorradleidenschaft mit ihm durchgegangen.

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich den Vortrag zum Thema Wirtschaftskriminalität bei der Deutschen Bank halten kann.« Malik hielt die Informationsbroschüre in der Hand. »Kannst du da nicht für mich einspringen?«, sagte er in Richtung HPL.

»Die Gesichter möchte ich sehen, wenn bei denen anstelle des gewieften Star-Detektivs ein trockener Alkoholiker in Frührente aufläuft.« HPL fuhr sich über sein Kinn. »Schachmatt«, sagte er zu seinem Bildschirm.

»Ich muss auf jeden Fall schnellstmöglich nach Istanbul. Die Geschichte mit Jinjin hat mich echt zurückgeworfen.« Malik fuhr sich über den Kopf. »Hätte ich gleich auf mein Bauchgefühl gehört, hätte ich diese Schleife über China gar nicht gedreht. Denn die Türkei ist nun mal das Mekka der Plagiate! Aber nein, ich bin erst den Hinweisen meines Auftraggebers nachgegangen, dass die falschen Waren angeblich in Shanghai produziert werden. Und jetzt ist er auf hundertachtzig!« Malik knüllte ein Stückchen Papier zusammen und warf es in den Papierkorb. »Ich treibe das Ganze jetzt über meine Kontakte in der Türkei voran. Habil wird mich in eine der Fabriken einschleusen. Aber wir müssen den richtigen Zeitpunkt erwischen.« Langsam redete er sich in Rage. »Ich ermittle jetzt schon über fünf Monate, und nichts geht voran!«

»Woran hängt’s denn?«, wollte HPL wissen.

»Ich muss an die Hintermänner rankommen. An die komplette Organisation. Je tiefer ich einsteige, desto klarer ist, dass wir uns hier im Bereich organisierter Kriminalität bewegen. Mafiöse Strukturen sind das!«

Gedankenverloren drehte Malik ein Blatt nach dem anderen um, bis er plötzlich auf ein Kuvert stieß, das an ihn persönlich adressiert war. »Was ist das?« Er hielt den Briefumschlag in die Höhe.

»Keine Ahnung, du weißt, dass ich mich nicht an deinen persönlichen Sachen vergreife.«

Malik riss den Briefumschlag auf und faltete das DIN-A4-Papier auseinander.

PASS AUF!

DU BIST ZU WEIT GEGANGEN!

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Kapitel 7

Frankfurt, Mittwoch, 24. Oktober 2018

Sie saß im Schneidersitz auf dem cremefarbenen Leinensofa und fühlte, dass eine Erkältung im Anmarsch war. Der Ingwertee, den sie mit viel Zitrone und Honig zubereitet hatte, wärmte sie innerlich auf. Suna Bergmann bearbeitete ein paar Mails, als sie ihr Klingelton, Chers Strong Enough, aus ihren Gedanken riss. Sie ließ ein paar Takte des Songs verstreichen, um sich zu konzentrieren und Haltung anzunehmen, dann griff sie zum Telefon und meldete sich.

»Ich freue mich, dass ich dich gleich erreiche, Joy«, sagte der Anrufer, und seine tiefe Stimme klang sympathisch. Oftmals die Eintrittskarte für einen Kunden. »Und nun hoffe ich natürlich, dass du auch gleich Zeit für mich findest? Man schwärmt in den höchsten Tönen von dir.«

Das war einer der Gründe, warum sie den Namen »Joy« wieder benutzte: Ihr Ruf eilte ihr voraus. Das war vor drei Monaten ihre Eintrittskarte in ein Business gewesen, aus dem sie vor Jahren ausgestiegen war. Sie hatte es vermieden, bei einer Agentur anzudocken, die in der Regel vierzig Prozent Provision nahm. Das konnte und wollte sich Suna nicht leisten. Sie war damals so gut im Geschäft gewesen, dass sie es diesmal aus eigener Kraft bewerkstelligen würde. Außerdem sollte es ja nicht für lange sein.

Sie fühlte sich geschmeichelt und spürte, dass das Kompliment von Bedeutung für sie war. »Mit wem spreche ich denn?«, fragte sie zurück.

»Entschuldige bitte, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Justus ist mein Name.«

»Justus, ich glaube, ich habe Zeit für dich.«

»Brillant. Ich möchte, dass du mich in meinem Hotel besuchst«, sagte Justus freundlich, aber bestimmt. »Kannst du in einer halben Stunde da sein?«

Es war kurz vor drei, und ein paar Sonnenstrahlen blitzten durch die Wolken. Um diese Zeit von einem Kunden ins Hotel bestellt zu werden, war eher ungewöhnlich. Aber sie hatte heute ihren freien Nachmittag und war flexibel. Ihre Gesellschaft für die nächsten beiden Stunden war ihm tausendfünfhundert Euro wert. Das klang nach einem lukrativen Geschäft.

»Hast du besondere Wünsche?«, hakte sie nach.

»Das wird sich herausstellen, wenn du da bist.«

»In Ordnung«, meinte sie und wurde ein wenig hellhörig.

»Ich freue mich auf dich. Und bitte sei pünktlich«, verabschiedete sich Justus von ihr.

Normalerweise empfing sie ihre Kunden in ihrem Appartement in Niederrad oder machte von da aus »ihre Hausbesuche«, wie sie es immer genannt hatte. In ihrem Studio hatte sie alles, was sie brauchte. Doch um dort noch vorbeizugehen, wäre die Zeit zu knapp gewesen. Und das Honorar erstickte jede Diskussion im Keim. Für Notfälle dieser Art hatte sie im Keller des sanierten Altbaus, in dem sie mit ihrem Mann und ihrer Tochter wohnte, eine Tasche mit entsprechenden Kleidungsstücken, High Heels und Dessous deponiert, die sie jetzt rasch nach oben holte, um sich für ihren Kunden zurechtzumachen.

Sie steckte ihre langen Haare zu einem lockeren Chignon-Knoten auf und entschied sich aus Zeitgründen für ein dezentes Make-up. Das einzig Auffällige, das sie wählte, war ein dunkelroter Lippenstift.

Nachdem sie den Balconette-BH geschlossen und die schwarzen Strumpfhosen vorsichtig nach oben geschoben hatte, erblickte sie sich im Spiegel. Sie erschrak. Gab es wirklich keine andere Möglichkeit? Von der aufreizenden Suna, die ihren Körper für Geld feilbot, hatte sie sich vor vielen Jahren bewusst abgewandt. Damals in der Hoffnung, es wäre für immer. Aber mit Alexander war offensichtlich nicht zu rechnen. Erst letzte Woche hatten sie wieder wegen des Geldes gestritten. Er hatte ihr sogar vorgeworfen, dass sie geldgierig sei. »Das lasse ich mir kein zweites Mal sagen«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild und riss das Etuikleid vom Kleiderbügel. Schnell packte sie die High Heels in die Handtasche, schlüpfte in ihre Loafer und schnappte sich ihren Trenchcoat von der Garderobe. Als sie den Schlüssel im Schloss umdrehte, traute sie ihren Ohren nicht. Sie hörte die Stimme ihrer kleinen Tochter unten an der Eingangstür.

»Wenn Pinky da wäre, würde ich ihn auch mit ins Schwimmbad nehmen.«

Suna hielt unwillkürlich die Luft an. Sie war wie paralysiert. Wusste nicht, ob sie vor- oder zurückgehen sollte. Fieberhaft überlegte sie, was sie tun könnte.

»Ja, das nächste Mal nehmen wir ihn mit«, vertröstete sie Alexander.

Auch das noch. Suna musste mit ihrer Mutter unbedingt wegen Elaras Schmusetier sprechen.

Die Treppenstufen knarzten, als sich die beiden langsam Stufe für Stufe nach oben bewegten. Das war ihre Chance. Sie drückte sich an der Wand entlang und schlich so leise wie möglich ein Stockwerk höher. Vor der Wohnungstür von Familie Stockmann blieb sie stehen. Sie verharrte, und das Herz schlug ihr bis zum Hals. Würden die Nachbarn jetzt die Tür öffnen, wäre sie geliefert.

»Wird das heute noch was mit dir, Prinzesschen?«, rief Alexander nach unten. Suna hörte, wie er den Schlüssel ins Türschloss steckte. Sie biss sich auf die Lippen. Sollte sie wirklich zu diesem Kunden gehen? Sie schloss die Augen. Ja, du musst, ermutigte sie sich. Du tust das für deinen Vater.

Nach einer gefühlten Ewigkeit schien ihre kleine Tochter oben angekommen zu sein. Die Wohnungstür fiel ins Schloss. Suna wartete noch einen Moment und lief dann so leise wie möglich das Treppenhaus hinunter.

 

Zwei rote Ampeln und eine Vollbremsung später fuhr sie in die Tiefgarage des exklusiven Hotels auf dem Frankfurter Messegelände. Im Rückspiegel ihres weißen MINI prüfte sie nochmals Frisur und Make-up, zog sich die Lippen nach und zog ihre High Heels an. Sie atmete tief ein und aus, dann stieg sie entschlossen aus.

Der Mann, der sich Justus nannte, hatte ihr per SMS den Code geschickt, den sie auf der Tastatur neben der Garagentür eingeben sollte, um zu ihm in den fünfzehnten Stock zu gelangen. 1569.

Sie schritt den langen Flur entlang, der dunkelgraue Teppichboden verschluckte das Klacken ihrer zehn Zentimeter hohen Pumps. Der Trenchcoat hing locker über ihrem Arm. Das ärmellose schwarze Etuikleid setzte ihren schlanken Körper perfekt in Szene.

Wie von Geisterhand öffnete sich die Tür von Zimmer 1569, als sie gerade anklopfen wollte.

»Du bist spät, Joy!«

Justus war groß und kräftig gebaut. Der Mann konnte durchaus als attraktiv bezeichnet werden. Er trug einen gepflegten Vollbart, und einzelne graue Strähnen fielen ihm in die Stirn. Irritierend waren seine kalten blauen Augen, die so gar nicht zu seiner weichen Stimme passen wollten.

»Bitte schön«, bat er sie mit einer ausladenden Armbewegung herein. Während sie auf ihn zuging, musterte er sie von oben bis unten.

»Na, entspreche ich deinen Erwartungen?«, fragte sie kokett.