Das Gift der Gewissheit - Scott Turow - E-Book

Das Gift der Gewissheit E-Book

Scott Turow

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Beschreibung

Für gewöhnlich tragen Arthur Ravens Mandanten feinen Zwirn und sitzen hinter Mahagonischreibtischen. Romeo Gandolph jedoch trägt Handschellen und sitzt hinter Gittern im Trakt für zum Tode verurteilte Straftäter in Rudyard. Man hat ihn für schuldig befunden, am 4. Juli 1991 zwei Männer und eine Frau in einem Imbissrestaurant beraubt und erschossen zu haben. Obwohl er die Tat bereits mehrfach gestanden hat, schwört er nun, dass er nicht der Mörder ist.
Das Bundesberufungsgericht von Kindle County ernennt Raven zum Pflichtverteidiger in diesem scheinbar aussichtslosen Verfahren, das doch nur dazu dienen soll, längst gesichert geglaubte Fakten ein weiteres Mal abzuhaken. Der Anwalt macht sich missmutig an die Arbeit, entdeckt aber schon bald Hinweise darauf, dass sein Mandant möglicherweise unschuldig ist. Er ist dankbar für die Unterstützung, die Gillian Sullivan anbietet, doch er kann nicht ahnen, dass ihm die ehemalige Richterin, die Gandolph in erster Instanz zum Tode verurteil hatte, ihre dunkle Vergangenheit verschweigt.
Der spektakuläre Auftritt eines Zeugen lässt die Ereignisse schließlich in einem ganz anderen Licht erscheinen und führt Anklage und Verteidigung vor Augen, wie sich die Wahrheit zu immer neuen Trugbildern verzerrt.
Turows mitreißende Inszenierung dieses Prozesses vermittelt jenseits von Hollywood-Heroismus und Schwarz-Weiß-Malerei, wie morsch das Justizsystem ist, das über Leben und Tod von Menschen entscheidet, und wie schwierig es für alle Beteiligten ist, sich mit ihren Emotionen auseinander zu setzen. Selbstzweifel, Reue und Verbitterung sind seinen Figuren ebenso eigen wie guter Glaube, Ehrgeiz und Hoffnung. Ein spannendes Courtroom-Drama, das schließlich nur die eine Gewissheit postuliert: Der Weg zur Hölle ist gepflastert mit guten Absichten.

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Buch

Für gewöhnlich tragen Arthur Ravens Mandanten feinen Zwirn und sitzen hinter Mahagonischreibtischen. Romeo Gandolph jedoch trägt Handschellen und sitzt hinter Gittern im Trakt für zum Tode verurteilte Straftäter in Rudyard. Man hat ihn für schuldig befunden, am 4. Juli 1991 zwei Männer und eine Frau in einem Imbissrestaurant beraubt und erschossen zu haben. Obwohl er die Tat bereits mehrfach gestanden hat, schwört er nun, dass er nicht der Mörder ist. Das Bundesberufungsgericht von Kindle County ernennt Raven zum Pflichtverteidiger in diesem scheinbar aussichtslosen Verfahren, das doch nur dazu dienen soll, längst gesichert geglaubte Fakten ein weiteres Mal abzuhaken. Der Anwalt macht sich missmutig an die Arbeit, entdeckt aber schon bald Hinweise darauf, dass sein Mandant möglicherweise unschuldig ist. Er ist dankbar für die Unterstützung, die Gillian Sullivan anbietet, doch er kann nicht ahnen, dass ihm die ehemalige Richterin, die Gandolph in erster Instanz zum Tode verurteilt hatte, ihre dunkle Vergangenheit verschweigt. Der spektakuläre Auftritt eines Zeugen lässt die Ereignisse schließlich in einem ganz anderen Licht erscheinen und führt Anklage sowie Verteidigung vor Augen, wie sich die Wahrheit zu immer neuen Trugbildern verzerren lässt – und Raven steht plötzlich vor dem schwierigsten Fall seiner Laufbahn …

Autor

Scott Turow, Jahrgang 1949, ist Partner einer großen Anwaltssozietät in Chicago. Seine vielfach preisgekrönten Romane »Aus Mangel an Beweisen«, »Die Bürde der Wahrheit«, »Die Gierigen und die Gerechten« und »Das Gesetz der Väter« wurden alle internationale Buch- und Filmerfolge. Turow lebt mit seiner Frau und drei Kindern in der Nähe von Chicago.

Inhaltsverzeichnis

Über den AutorWidmungDramatis PersonaeTEIL EINS - Die Ermittlung
1 - 20. April 2001 Anwalt und Mandant2 - 5. Juli 1991 Der Detective3 - 4. Mai 2001 Die ehemalige Richterin4 - 5. Juli 1991 Die Staatsanwältin5 - 3. Oktober 1991 Spuren6 - 15. Mai 2001 Gillians Brief7 - 4. Oktober 1991 Das Gefängnis8 - 8. Oktober 1991 Squirrel9 - 21. Mai 2001 Im Knast10 - 8. Oktober 1991 Das Geständnis11 - 21. Mai 2001 Ein sehr netter Mensch12 - 9. Oktober 1991 Erkenntnisse13 - 22. Mai 2001 Normal
TEIL ZWEI - Das Verfahren
14 - 12. Juni 2001 Die Kandidatin15 - 12. Juni 2001 Ernos Aussage16 - 12. Juni 2001 Wieder im Gericht17 - 13. Juni 2001 Geschichte18 - 13. Juni 2001 Ernos Kreuzverhör19 - 13. Juni 2001 Späte Opfer20 - 13. Juni 2001 Susan21 - 15. – 19. Juni 2001 Collins22 - 19. Juni 2001 Familie Raven23 - 19. Juni 2001 Anruf für Dr. Kevorkian24 - 25. – 28. Juni 2001 Zeugenaussage von Genevieve Carriere
TEIL DREI - Die Entscheidung
25 - 28. Juni 2001 Er hat’s getan26 - 28. Juni 2001 Clever27 - 29. Juni 2001 Der Feind28 - 5. Juli 2001 Die Geheimnisse des Pharao29 - Juli 2001 Zusammen30 - 24. Juli 2001 Schlecht für mich31 - 2. August 2001 Das Gericht entscheidet32 - 7. – 8. August 2001 Offensichtlich33 - 8. August 2001 Auf dem Meer34 - 9. August 2001 Alte Bekannte35 - 10. August 2001 Der Gott der Fingerabdrücke36 - 17. August 2001 Lincoln-Land37 - 17. August 2001 Sie wissen Bescheid38 - 22. August 2001 Eine andere Geschichte39 - 23. August 2001 Zuerst40 - 24. August 2001 Heroin40 - 27. August 2001 Der Midway42 - 30. August 2001 Freilassung
AnmerkungCopyright

Für Jonathan Galassi

Dramatis Personae

TEIL EINS

Die Ermittlung

1

20. April 2001Anwalt und Mandant

Der Mandant beteuerte, wie die meisten Mandanten, er sei unschuldig. Er sollte in dreiunddreißig Tagen sterben.

Arthur Raven, sein Anwalt, war entschlossen, sich darüber nicht den Kopf zu zerbrechen. Schließlich, so sagte er sich, hatte er den Fall ja nicht aus freien Stücken übernommen. Nein, er war vom Bundesberufungsgericht dazu verdonnert worden, sicherzustellen, dass es nach zehn Jahren, in denen sämtliche Rechtsmittel ausgeschöpft worden waren, keine berechtigten Einwände mehr gab, die Rommy Gandolphs Leben hätten retten können. Es gehörte nicht zu seinem Job, sich den Kopf zu zerbrechen.

Trotzdem zerbrach er sich den Kopf.

»Wie bitte?«, sagte Pamela Towns, seine junge Kollegin, die auf dem Beifahrersitz saß. Ein gequältes Ächzen war Arthur entfahren, als er sich wieder einmal mit sich selbst konfrontiert gesehen hatte.

»Nichts«, sagte Arthur. »Mir schmeckt es bloß nicht, von vornherein als Verlierer dazustehen.«

»Dann sollten wir nicht verlieren.« Pamela, die mit ihrem frischen, attraktiven Aussehen eine perfekte Fernsehmoderatorin abgegeben hätte, ließ ihr strahlendes Lächeln aufblitzen.

Sie hatten die Stadt inzwischen längst hinter sich gelassen, fuhren in Arthurs neuer deutscher Limousine, den Tempomat auf hundertdreißig Stundenkilometer eingestellt. In dieser Gegend war die Straße so glatt und gerade, dass er nicht einmal das Lenkrad berühren musste. Felder und Äcker rasten vorbei, Maisstoppeln und frische Erde, still und ewig im fahlen Morgenlicht. Sie hatten Center City schon gegen sieben verlassen, um nicht in den Berufsverkehr zu kommen. Arthur hoffte, im Staatsgefängnis in Rudyard ein kurzes Vorgespräch mit ihrem neuen Mandanten Rommy Gandolph führen zu können und um zwei Uhr wieder an seinem Schreibtisch zu sitzen – spätestens drei Uhr, falls er den Versuch wagte, Pamela zum Lunch einzuladen. Er nahm die junge Frau neben sich die ganze Zeit über höchst intensiv wahr, ihr hellbraunes Haar, das ihr weich auf die Schultern fiel, und ihre Hand, die alle paar Meilen zu ihrem Oberschenkel glitt, um den hochgerutschten Schottenrock nach unten zu ziehen.

Sosehr Arthur auch einen guten Eindruck auf sie machen wollte: Was den Fall betraf, konnte er ihr nur wenig Hoffnung machen.

»Zu diesem späten Zeitpunkt«, sagte er, »wäre das Einzige, das allenfalls den Nachweis eines Justizirrtums ermöglichen könnte, die Vorlage neuer Beweise für seine Unschuld. Und die werden wir nicht finden.«

»Woher wissen Sie das?«, fragte Pamela.

»Woher ich das weiß? Weil der Mann aller Welt gegenüber, außer dem Daily Planet, die Tat gestanden hat.« Vor zehn Jahren hatte Mr. Gandolph bei der Polizei ein Geständnis abgelegt, dann der Staatsanwältin Muriel Wynn eine handschriftliche Fassung gegeben und schließlich das Ganze vor laufender Videokamera wiederholt. Jedes Mal hatte er zugegeben, der Mörder zu sein, der zwei Männer und eine Frau erschossen und im Tiefkühlraum eines Restaurants liegen gelassen hatte, ein Verbrechen, das von der Presse eingängig als »das Massaker vom Vierten Juli« bezeichnet worden war.

»Tja, am Telefon hat er aber beteuert, dass er unschuldig ist«, sagte Pamela. »Wäre doch möglich, oder?«

Für Arthur, der Staatsanwalt gewesen war, ehe er vor sieben Jahren bei O’Grady, Steinberg, Marconi und Horgan angefangen hatte, war das absolut unmöglich. Doch Pamela, mit ihren fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig Lenzen, war eine blutige Anfängerin. Einen unschuldigen Mandanten zu retten war genau die Art Abenteuer, von der sie an der Uni geträumt hatte, und in ihren Träumen hatte sie sich als Jeanne d’Arc gesehen, die einer strahlenden Justitia entgegenritt. Stattdessen hatte sie sich damit begnügt, bei einer großen Kanzlei anzufangen und 120 000 Dollar im Jahr zu verdienen. Aber konnte man nicht vielleicht doch beides haben? Tja, man konnte den Leuten ihre Luftschlösser nicht übel nehmen. Das war Arthur Raven weiß Gott klar.

»Hören Sie mal, was ich in Rommys Bewährungsunterlagen gefunden habe«, sagte Pamela. »Am fünften Juli 1991 wurde er wegen eines Verstoßes gegen die Bewährungsauflagen zu Gefängnis verurteilt, und zwar unter Anrechnung der Zeit, die er bereits abgesessen hatte. Die Morde wurden frühmorgens am vierten Juli begangen. ›Unter Anrechnung der Zeit‹ muss doch wohl heißen, dass er an dem Tag im Gefängnis war, oder?«

»Das heißt, dass er irgendwann im Gefängnis war. Nicht unbedingt am vierten Juli. Steht in seinem Strafregister, dass er am vierten Juli gesessen hat?«

»Nein. Aber den Punkt sollte man klären, nicht?«

Den Punkt hätte man vor einem Jahrzehnt klären sollen, als es die Akten noch gab, die hätten beweisen können, dass er es nicht gewesen sein konnte. Trotzdem würde das Berufungsgericht wahrscheinlich einen kurzen Aufschub von Gandolphs Hinrichtung gewähren, damit Arthur und Pamela dieser Phantomtheorie verbissen  – und vergeblich – nachjagen konnten.

Entnervt von dem Gedanken, noch mehr kostbare Zeit zu verlieren, schob Arthur den Tempomat-Hebel ein wenig höher und empfand eine vage Befriedigung über die Reaktion des schweren Wagens. Er hatte das Auto vor sieben Monaten gekauft, als eine Art Trophäe, nachdem seine Kanzlei ihn zum Partner ernannt hatte. Solchen Luxus gönnte er sich nur äußerst selten, doch kaum hatte er den Zündschlüssel gedreht, als ihn auch schon das Gefühl beschlich, den gebührenden Respekt gegenüber dem Andenken an seinen kurz zuvor gestorbenen Vater vermissen zu lassen, ein liebenswerter Mann, zu dessen Überspanntheiten eine verkrampfte Sparsamkeit gezählt hatte.

»Und hören Sie sich das an«, sagte Pamela gerade. Sie hatte Rommy Gandolphs Vorstrafenregister aus dem dicken Ordner auf ihrem Schoß gezogen und las daraus vor. Gandolph war ein Dieb und Hehler gewesen. Er war ein halbes Dutzend Mal verurteilt worden – Einbruch, Diebstahl, etliche Male wegen Besitzes von Diebesgut. »Aber nie irgendwas mit einer Schusswaffe«, sagte Pamela. »Keine Gewalt. Keine weiblichen Opfer. Wie wird er plötzlich zum Vergewaltiger und Mörder?«

»Üben, üben, üben«, erwiderte Arthur.

Aus den Augenwinkeln sah er, wie sich Pamelas volle Lippen kurz nach unten zogen. Er war dabei, es zu vermasseln. Wie immer. Arthur wusste nicht genau, was er bei Frauen falsch machte, so dass er mit achtunddreißig noch immer Single war. Sein Aussehen spielte dabei eine Rolle, das war ihm klar. Schon als Teenager war er so schlaff und blass gewesen wie ein Mann mittleren Alters. An der Uni hatte er eine kurze, schmerzvolle Ehe mit Marjya gehabt, einer Einwanderin aus Rumänien. Danach hatte er fürs Erste weder Lust auf eine neue Beziehung verspürt noch die Zeit dazu gehabt. Er hatte so viel in seinen Beruf investiert – so viel Inbrunst und Leidenschaft in jeden Fall gesteckt, so viele lange Abende und Wochenenden, an denen er es richtig genoss, Zeit für sich zu haben, um sich auf seine Arbeit konzentrieren zu können. Auch der gesundheitliche Verfall seines Vaters und die Frage, was aus seiner Schwester Susan werden sollte, hatten über Jahre an seinen Kräften gezehrt. Doch jetzt, da er nach den leisesten Anzeichen dafür suchte, dass Pamela irgendein Interesse an ihm hatte, schämte er sich, so töricht gewesen zu sein. Die Hoffnungen, die er sich bei ihr machte, waren so abwegig wie die, die sie für Gandolph hegte. Er hatte das Bedürfnis, sich selbst und sie auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen.

»Hören Sie«, sagte Arthur, »unser Mandant Gandolph. ›Rommy‹? Er hat nicht nur zu einem frühen Zeitpunkt und mehrmals gestanden, sondern er hat obendrein auch noch im Prozess auf Unzurechnungsfähigkeit plädiert. Das heißt, sein Anwalt musste einräumen, dass Rommy die Tat begangen hat. Dann folgen zehn Jahre mit Anträgen auf Berufung wegen Verfahrensfehlern sowie Verletzung der verfassungsmäßigen Rechte, zweimal mit jeweils neuen Anwälten, und keiner von denen hat auch nur einmal durchblicken lassen, dass Rommy der Falsche ist. Ganz zu schweigen von Rommy, dem erst fünfundvierzig Tage, bevor er die Todesspritze kriegen soll, einfällt, dass er es nicht getan hat. Also wirklich, Pamela. Meinen Sie, er hat den Anwälten vor uns gesagt, dass er unschuldig ist? Jeder Knacki kennt das Spielchen – neue Anwälte, neue Geschichte.«

Arthur lächelte, versuchte lebenserfahren zu wirken, doch in Wahrheit hatte er sich noch immer nicht an die Tricks von Angeklagten gewöhnt. Seit seinen Jahren bei der Staatsanwaltschaft hatte Arthur nur gelegentlich den Verteidiger gespielt, nur wenn eine von den Firmen, die von seiner Kanzlei betreut wurden, oder einer von den Firmenchefs wegen irgendwelcher finanzieller Manipulationen angeklagt wurde. Das Zivilrecht, mittlerweile sein täglich Brot, war meistenteils eine sauberere, glücklichere Angelegenheit, bei der beide Seiten herumtricksten und die anstehenden Probleme weniger wichtige, wirtschaftliche Fragen waren. Seine Jahre als Staatsanwalt kamen ihm vor wie eine Zeit, in der er jeden Tag die Aufgabe hatte, einen unter Wasser stehenden Keller zu säubern, voller Kolibakterien und Kloakengestank. Irgendwer hatte mal gesagt, Macht würde korrumpieren. Aber das Gleiche galt für das Böse. Das Böse korrumpierte. Eine einzige, abartige Tat, irgendetwas Psychopathisches, das das Vorstellungsvermögen von nahezu jedem Menschen überstieg – ein Vater, der sein Neugeborenes aus einem Fenster im zehnten Stock geworfen hatte; ein ehemaliger Schüler, der einem Lehrer Säure eingeflößt hatte; oder jemand wie Arthurs neuer Mandant, der nicht nur gemordet, sondern sich auch noch an einem Opfer anal vergangen hatte – der Rückstau solcher Taten verschmutzte jeden, der in ihre Nähe kam. Cops. Staatsanwälte. Verteidiger. Richter. Niemand, der mit solchen Entsetzlichkeiten zu tun hatte, reagierte mit der Unvoreingenommenheit, die das Gesetz voraussetzte. Die einzige Lektion lautete: Alles zerfällt. Arthur hatte nicht den Wunsch gehabt, dorthin zurückzukehren, wo stets das Chaos drohte.

Weitere fünfzehn Minuten später waren sie am Ziel. Rudyard war eine typische Kleinstadt im Mittleren Westen, im Ortskern ein paar dunkle Gebäude, noch immer schmutzig vom Kohlenruß, und einige Betriebe für Farmzubehör, untergebracht in Schuppen mit Wellblechdächern. Am Rande des Städtchens entwickelte sich eine Art Minivorstadt mit Einkaufszentren und Wohnsiedlungen, das Ergebnis der wirtschaftlichen Sicherheit, die eine ungewöhnliche Schlüsselbranche garantierte – das Gefängnis.

Sie bogen in eine Straße ein, die mit ihren Ahornbäumen und Holzhäusern wie eine Filmkulisse anmutete und an deren Ende die Strafanstalt aufragte, jäh und unvermittelt wie ein Schreckgespenst. Sie bestand aus wahllos miteinander verbundenen, hellen Ziegelbauten, die sich über eine halbe Meile erstreckten, mit wenigen, auffällig schmalen Fenstern. Diese Gebäude waren wiederum um ein altes Steinbauwerk herum angeordnet, das, so massiv, wie es wirkte, aus dem Mittelalter hätte stammen können. Umgeben war das Gelände nicht nur von einer drei Meter hohen Mauer, sondern auch von einem mit Schotter gefüllten Graben, aus dem Stahlspitzen ragten, und dahinter wiederum stand ein Maschendrahtzaun, gekrönt von anderthalb Meter hohen Stacheldrahtrollen, die in der Sonne glänzten.

Nach der Anmeldeprozedur wurden Arthur und Pamela zu einer abgesessenen Bank dirigiert, wo sie warten sollten, bis Rommy hergebracht wurde, was einige Zeit dauern würde. In der Zwischenzeit las Arthur noch einmal Rommys Brief, der durch etliche Hände gegangen war, bevor er das Berufungsgericht erreicht hatte. Er bestand aus einem unsäglichen Gekritzel, mit bunten Markierungen und anderen Hervorhebungen, die selbst für ein Kind zu uneinheitlich gewesen wären. Ein Blick auf den Brief verriet, dass Rommy Gandolph verzweifelt und verrückt zugleich war.

Lieber Richter,

ich sitz in der TODESZELLE , für ein VERbreCHen, das ich gar nicht BeGangen hab. Die Sagen, Ich hätte kein Recht mehr auf BErufuNg, weil ich angeblich schon alles probiert hab, und es war immer nur umsonst, OBWOHL ich UNSCHULDIG BIN. die Anwälte, die mich beim Staat vertreten haben, sagen, das GeHt jetz nicht mehr, wegen den BundesgeseTZen. was kann ich machen? meine Hinrichtung soll am 23. Mai sein!!!!. ich krieg keinen Aufschub, nichts, ohne Habeus, aber ich hab doch keinen Anwalt mehr. Was kann ich machen? kann mir denn keiner da Helfen? Ich werd umgebracht, wo ich doch nie einem was getan hab, nicht in dem Fall und auch in keinem andern, von dem ich nOch was We IS. HELFTMIR. ICH HAB NIE EINEN UMGEBRACHT!!!!!

Das Berufungsgericht hatte verfügt, dass Rommy Gandolphs Korrespondenz als eine weitere Petition gemäß der bundesrechtlichen Habeas-Corpus-Bestimmung zu behandeln war, und hatte ihm einen Anwalt zugewiesen – Arthur. Es kam häufig vor, dass Richter ihren Zauberstab schwangen, um einen unwilligen Frosch – einen Anwalt, der bis über beide Ohren in Arbeit steckte – in einen Prinzen, sprich Pflichtverteidiger für einen anspruchsvollen, nicht zahlungsfähigen Mandanten zu verwandeln. Manche mochten ja in der Ernennung ein Kompliment sehen, denn schließlich bat das Gericht einen angesehenen, ehemaligen Staatsanwalt, das juristische Pendant zu den Sterbesakramenten zu verabreichen. Doch in Wahrheit bedeutete sie nichts anderes als ein zusätzliches Gewicht für ein ohnehin schon überlastetes Leben.

Schließlich wurde Rommys Name aufgerufen. Noch im Wartebereich wurden Pamela und Arthur einer flüchtigen Leibesvisitation unterzogen, dann schloss sich der erste von vielen elektronisch gesteuerten Riegeln, und eine Tür aus kugelsicherem Glas und Eisenstäben schlug unwiderruflich hinter ihnen zu, während sie einem Wärter folgten. Ein Gefängnis von innen hatte Arthur zuletzt vor vielen Jahren gesehen, aber Rudyard war auf seine Art zeitlos. Allerdings nicht die Vorschriften. Die Vorschriften änderten sich seiner Erinnerung nach fast täglich. Die Entscheidungsträger – der einzelstaatliche Gesetzgeber, der Gouverneur, die Gefängnisverwaltung  –, alle waren sie laufend bemüht, die Disziplin zu verbessern, Schmuggelware abzufangen, die organisierten Banden zu kontrollieren, die Insassen, alles gewiefte Gauner, an Gaunereien zu hindern. Ständig gab es neue Formulare auszufüllen, einen neuen Aufbewahrungsort für Geld, Schlüssel, Handys – alles, was im Knast verboten war. Immer eine neue Schleuse, durch die man musste, ein neues Durchsuchungsverfahren.

Doch die Stimmung, die Luft, die Leute – die blieben ewig gleich. Alles war frisch gestrichen, die Fußböden glänzten. Egal. Sie konnten schrubben, was das Zeug hielt; bei so vielen Leuten auf so engem Raum, mit einem offenen Klo in jeder Zelle, roch es so penetrant nach menschlichen Ausscheidungen und sonstigen Ausdünstungen, dass Arthur im ersten Moment leicht schlecht wurde, wie damals.

Durch einen niedrigen Korridor mit unverputzten Wänden gingen sie auf eine mit grünen Metallplatten gepanzerte Tür zu, auf der ein einziges Wort stand: »VERURTEILTE«. Sobald sie eingetreten waren, wurden sie zum Anwaltsraum geführt, der sich eigentlich in zwei Räume teilte, zusammen höchstens einen Meter fünfzig breit, mit einer Wand in der Mitte, die auf halber Höhe so etwas Ähnliches wie das Fenster eines Kassenschalters hatte – eine Glasscheibe mit einer Metalldurchreiche darunter, mittels deren Papiere zwischen Anwalt und Mandant hin und her wechseln konnten. Obgleich es gegen den Grundsatz der Vertraulichkeit zwischen Anwalt und Mandant verstieß, hatte der Strafvollzug das Recht erwirkt, auf der Seite des Gefangenen einen Wachmann in der Ecke zu postieren.

Hinter dem Fenster saß Rommy Gandolph, ein braunhäutiges Gespenst mit wildem Haarschopf, das in dem weiten, gelben Overall der Todeskandidaten regelrecht versank. Da er Handschellen trug, musste er mit beiden Händen nach dem Telefon greifen, über das er mit seinen Anwälten sprechen konnte. Auf der Anwaltsseite nahm Arthur den einzigen Hörer ab und hielt ihn zwischen Pamela und sich, während sie sich vorstellten.

»Ihr seid die ersten echten Anwälte, die ich hab«, sagte Rommy. »Der Rest waren Pflichtverteidiger. Vielleicht hab ich ja jetzt ’ne Chance, wo ich richtige Anwälte hab.« Rommy beugte sich dicht an die Scheibe, um seine missliche Lage zu erläutern. »Ich bin der Nächste, der dran glauben muss, wisst ihr das? Die kucken mich alle schon an. Als wär irgendwas anders an mir, nur weil ich bald tot bin.«

Pamela beugte sich sofort näher an die Dokumentendurchreiche und sprach aufmunternde Worte. Sie würden noch heute einen Aufschub der Hinrichtung erwirken, versprach sie.

»Ja«, sagte Rommy, »weil ich nämlich unschuldig bin. Ich hab keinen umgebracht. Ich will so ’nen DMS-Test, Mann, mal sehen, ob ich so was hab.« DNS, heutzutage immer der erste Gedanke, barg keine Hoffnung für Rommy, weil die Staatsanwaltschaft nie ins Feld geführt hatte, dass er am Tatort identifizierbares, genetisches Beweismaterial hinterlassen hätte – Blut, Sperma, Haare, Gewebespuren, nicht einmal Speichel.

Plötzlich richtete Gandolph einen ausgestreckten Finger auf Pamela und musterte sie gründlich.

»Sie sind genauso hübsch, wie sie sich am Telefon angehört haben«, sagte er zu ihr. »Ich finde, wir beide sollten heiraten.«

Pamelas Lippen verzogen sich kurz zu einem Lächeln, das aber gleich wieder erstarb, als ihr offenbar schwante, dass Rommy es todernst meinte.

»Ein Mann sollte heiraten, bevor er stirbt, oder?«, fragte Rommy. »Keine schlechte Idee, was?«

Na prima, dachte Arthur. Ein Rivale.

»Wir beide lassen uns trauen«, sagte Rommy zu ihr. »Dann sind Sie meine Frau und dürfen mich besuchen.«

Ihrer stocksteifen Haltung nach zu urteilen, hatte Pamela sich den tapferen Einsatz für einen Mandanten anders vorgestellt. Arthur, der nicht gewusst hatte, wie er seine Befragung anfangen sollte, nahm rasch das Todesurteil zur Hand, das die Richterin Gillian Sullivan 1992 gegen Rommy gefällt hatte, und fing an, daraus vorzulesen.

»Auga was? Wer is ’n das?«, fragte Rommy Gandolph.

»Augustus Leonidis«, sagte Arthur.

»Kenn ich den?«, fragte Rommy. Die Lider zuckten über seinen geschlossenen Augen, während er versuchte, den Namen unterzubringen.

»Er ist einer von den dreien«, sagte Arthur leise.

»Welche drei?«

»Die drei, von denen die Staatsanwaltschaft behauptet, Sie hätten sie ermordet.« Was du auch gestanden hast, dachte Arthur. Aber jetzt war nicht der Zeitpunkt für Spitzfindigkeiten.

»Mmmm«, sagte Rommy. »Glaub nich, dass ich den gekannt hab.« Rommy schüttelte den Kopf, als könne er sich nicht an eine flüchtige Party-Bekanntschaft erinnern. Gandolph ging auf die vierzig zu. Er hatte einen gelblichen Stich in den Augen, und sein Äußeres ließ vermuten, dass auch südamerikanisches Blut in seinen Adern floss. Politisch korrekt ausgedrückt, war er »schwarz«, aber offensichtlich hatte er auch weiße, indianische und hispanische Anteile. Sein Haar war verfilzt und ohne Schnitt, und ihm fehlten einige Zähne, aber er war nicht hässlich. Es schien einfach, als hätte der Wahnsinn den Kern aus ihm herausgefressen. Als Arthur Rommys Augen sah, die hin und her zuckten wie verrückte Motten an einer Lampe, konnte er gut nachvollziehen, warum seine früheren Anwälte sich auf eine psychiatrische Verteidigungsstrategie verlegt hatten. Rommy Gandolph war ohne Frage »verrückt«, im landläufigen Sinne des Wortes. Aber nicht verrückt genug. Soziopathisch. Borderline-Persönlichkeitsstörung, vielleicht war er sogar schlicht schizoid. Aber er war nicht völlig geistesgestört, er war durchaus in der Lage, Falsch von Richtig zu unterscheiden, und deshalb hatte er nicht die Voraussetzungen erfüllt, die das Gesetz für eine solche Verteidigung verlangte.

»Ich könnte doch keinen umbringen«, fügte Rommy hinzu, als wäre ihm der Gedanke eben erst gekommen.

»Jedenfalls wurden Sie verurteilt, drei Menschen ermordet zu haben – Augustus Leonidis, Paul Judson und Luisa Remardi. Sie sollen sie erschossen und in einen Tiefkühlraum geschafft haben.« Die Anklage behauptete weiter, er habe sich an der Leiche von Luisa anal vergangen, obwohl Rommy das abgestritten hatte, sehr wahrscheinlich aus Scham. Richterin Sullivan, die allein entschieden hatte, ohne Geschworene, hatte ihn auch in diesem Punkt schuldig gesprochen.

»Davon weiß ich nix«, sagte Rommy und sah dann zur Seite, als wäre das Thema damit vom Tisch. Arthur, dessen Schwester Susan noch verrückter war als Rommy, klopfte an die Scheibe, um Rommys Blick wieder auf sich zu ziehen. Bei Leuten wie Rommy, wie Susan, musste man manchmal ihren Blick halten, um sie erreichen zu können.

»Wessen Handschrift ist das?«, fragte Arthur sanft und schob Rommys schriftliches Geständnis unter der Scheibe hindurch. Der Wärter sprang von seinem Stuhl und verlangte, jedes einzelne Blatt zu sehen, Vorder- und Rückseite, um sich zu vergewissern, dass dort nichts verborgen war. Rommy studierte das Dokument eine ganze Weile.

»Was haltet ihr von Aktien?«, fragte er. »Schon mal welche gehabt? Wie is ’n das überhaupt?«

Nach einer deutlichen Pause begann Pamela, die Grundregeln der Börse zu erläutern.

»Nein, ich meine, wenn man sagen kann, man hat Aktien. Was is ’n das für ’n Gefühl und so? Mann, wenn ich je hier rauskomm, dann kauf ich mir auch Aktien. Dann kapier ich endlich das Zeug im Fernsehen. Das mit den Punkten. Und dem Down Jones. Und wie die alle heißen.«

Pamela erklärte weiter in groben Zügen die Funktionsweise von Unternehmensbeteiligungen, und Rommy nickte brav nach jedem Satz, verlor aber offensichtlich bald das Interesse. Arthur deutete wieder auf die Blätter in Rommys Händen.

»Die Staatsanwaltschaft sagt, Sie haben das geschrieben.«

Rommys tintenschwarze Augen senkten sich kurz. »Das hab ich mir auch gedacht«, sagte er. »Wenn ich mir das so ankuck und so, da würd ich sagen, das is von mir.«

»Tja, und da steht, dass Sie drei Menschen ermordet haben.«

Rommy blätterte zurück zur ersten Seite.

»Das da«, sagte er, »das kapier ich einfach nich.«

»Ist es nicht die Wahrheit?«

»Mann, das is ’ne Ewigkeit her. Wann is das noch mal genau gewesen?« Arthur sagte es ihm, und Rommy lehnte sich zurück. »So lange bin ich schon hier? Was hab’n wir denn überhaupt für’n Jahr?«

»Haben Sie dieses Geständnis bei der Polizei geschrieben?«, fragte Arthur.

»Ich weiß, ich hab damals irgendwas auf’m Revier geschrieben. Aber da hat mir doch keiner gesagt, das is fürs Gericht.« In der Akte lag natürlich auch eine unterschriebene Erklärung, dass er über seine Rechte informiert und darauf hingewiesen worden war, dass jede seiner Aussagen gegen ihn verwendet werden konnte. »Und davon, dass ich die Nadel kriege, hat sowieso keiner was gesagt«, beteuerte er. »Das schwör ich. Da war ein Bulle, der hat mir alles Mögliche erzählt, was ich dann hingeschrieben hab. Aber ich kann mich nich erinnern, dass ich so was da geschrieben hab. Ich hab keinen umgebracht.«

»Und warum haben Sie das aufgeschrieben, was der Cop gesagt hat?«, fragte Arthur.

»Weil ich mir, äh, in die Hose gemacht hab.« Einer der ziemlich umstrittenen Beweise in dem Fall war, dass Rommy im wahrsten Sinne des Wortes die Hose voll hatte, als der die Ermittlungen leitende Detective Larry Starczek mit dem Verhör begann. Im Prozess war der Staatsanwaltschaft tatsächlich erlaubt worden, Rommys schmutzige Hose als Beweis für seine Schuldgefühle zu verwenden. Das wiederum wurde in Rommys zahlreichen Berufungsverhandlungen jedes Mal thematisiert und von keinem Gericht ohne amüsierten Unterton behandelt.

Arthur fragte, ob Larry, der Detective, Rommy geschlagen, ihm Nahrung oder Wasser oder einen Anwalt verweigert hatte. Obwohl er kaum einmal direkt antwortete, schien Rommy nichts dergleichen zu behaupten – nur dass er ein ausführliches Schuldgeständnis geschrieben hatte, das von vorne bis hinten unwahr sein sollte.

»Können Sie sich vielleicht noch erinnern, wo Sie am dritten Juli 1991 waren?«, fragte Pamela. Rommys Augen wurden groß vor hoffnungslosem Unverständnis, und sie erklärte, dass sie sich fragten, ob er nicht vielleicht im Gefängnis gewesen sei.

»Davor war ich jedenfalls noch nie lange im Knast gewesen«, erwiderte Rommy, der offenbar dachte, es ginge jetzt um seinen Charakter.

»Nein«, sagte Arthur. »Könnte es sein, dass Sie im Gefängnis waren, als die Morde begangen wurden?«

»Hat das wer gesagt?« Rommy beugte sich vertrauensvoll vor, wartete auf einen Fingerzeig. Als er schließlich verstand, brachte er ein Lachen zu Stande. »Na, das wär ja was.« Für ihn war das alles neu, obwohl er behauptete, damals regelmäßig von der Polizei festgenommen worden zu sein, was Pamelas These ein wenig erhärtete.

Rommy hatte im Grunde nichts zu bieten, was ihn entlastete, aber er bestritt jeden Punkt in der Beweisführung der Anklage. Die Beamten, die ihn festgenommen hatten, sagten, sie hätten in Gandolphs Tasche eine Halskette gefunden, die dem weiblichen Opfer, Luisa Remardi, gehört hatte. Auch das, sagte er, sei eine Lüge.

»Die hatten das Ding doch schon. Das kann ich gar nich in der Tasche gehabt haben, als die mich einkassiert haben.«

Schließlich reichte Arthur Pamela den Hörer für weitere Fragen. Rommy lieferte seine ganze eigene, schräge Version der traurigen Lebensgeschichte, die aus der Akte hervorging. Seine Mutter war vierzehn gewesen, als sie ihn unehelich zur Welt brachte, und sie hatte die ganze Schwangerschaft hindurch getrunken. Sie konnte sich nicht um den Jungen kümmern und schickte ihn deshalb nach DuSable zu seinen Großeltern väterlicherseits, bibeltreue Christen, die Strafe als den eigentlich sinnvollen Teil ihres Glaubens erachteten. Rommy war nicht unbedingt widerspenstig, aber seltsam. Er wurde als geistig zurückgeblieben eingestuft und kam in der Schule nicht mit. Und er fing an, über die Stränge zu schlagen. Er hatte schon in jungen Jahren gestohlen. Er hatte Drogen genommen. Er hatte sich mit anderen Versagern angefreundet. Rudyard war voll mit Rommys, weißen und schwarzen und braunen.

Nach etwas über einer Stunde erhob Arthur sich und versprach, dass Pamela und er alles in ihrer Macht Stehende tun würden.

»Wenn ihr zwei wiederkommt, bring dein Hochzeitskleid mit, ja?«, sagte Rommy zu Pamela. »Die haben hier einen Priester, der macht das gut.«

Als Rommy ebenfalls aufstand, trat der Wärter eilig näher und packte die Kette, die von seiner Taille zu den Hand- und Fußfesseln führte. Durch die Scheibe hindurch konnten sie Rommy plappern hören. Das seien richtige Anwälte. Die Frau würde ihn heiraten. Sie würden ihn hier rausholen, weil er unschuldig war. Der Wärter, der Rommy zu mögen schien, lächelte nachsichtig und nickte, als Rommy ihn bat, noch etwas zu seinen Anwälten sagen zu dürfen: »Danke, dass ihr extra hergekommen seid, und danke für alles, was ihr für mich tut, vielen, vielen Dank.«

Arthur und Pamela wurden hinausgeführt und sagten kein Wort. Draußen im Freien lockerte Pamela erleichtert ihre schmalen Schultern, während sie zu Arthurs Wagen gingen. Wie vorherzusehen, war sie in Gedanken noch bei Rommys Verteidigung.

»Kommt er Ihnen wie ein Mörder vor?«, fragte sie. »Er ist sonderbar. Aber sind Mörder so?«

Sie war gut, dachte Arthur, eine gute Anwältin. Als Pamela aus freien Stücken angeboten hatte, ihm bei dem Fall zu assistieren, hatte er geglaubt, als Neuling könne sie ihm keine große Hilfe sein. Er hatte eingewilligt, weil er niemanden gern enttäuschte, obwohl er auch nichts dagegen hatte, dass sie was fürs Auge und ledig war. Die Entdeckung, dass sie talentiert war, machte sie nur noch anziehender für ihn.

»Als eines sehe ich ihn ganz bestimmt nicht«, sagte Arthur, »als Ihren Ehemann.«

»Verrückt, nicht?«, lachte Pamela. Sie war hübsch genug, um bis zu einem gewissen Grad ungerührt zu bleiben. Männer, so wurde Arthur klar, verhielten sich in ihrer Gegenwart oft kindisch.

Sie witzelten ein bisschen herum, und dann sagte Pamela noch immer im Scherz: »Ich hab zwar in letzter Zeit niemand Vernünftigen kennen gelernt, aber die Strecke« – sie winkte in die Richtung des Highway in der Ferne – »ist mir doch etwas zu weit, um sie jeden Samstagabend zu fahren.«

Sie stand an der Beifahrertür. Der Wind wehte ihr helles Haar hoch, sie lachte erneut fröhlich, und Arthur spürte, wie sein Herz klopfte. Auch mit achtunddreißig war er noch immer davon überzeugt, dass sich irgendwo in ihm ein Schatten-Arthur befand, der größer und schlanker war und besser aussah, ein Mann mit sanfter Stimme und einer zwanglosen Art, der Pamelas Bemerkung über ihre derzeitige Männerflaute mühelos zu einer lässigen Einladung zum Lunch oder gar einem belangreicheren gesellschaftlichen Ereignis hätte nutzen können. Doch an dieser beängstigenden Schwelle, an der seine Fantasie auf die Wirklichkeit traf, wurde Arthur klar, dass er wie immer keinen Schritt weitergehen würde. Natürlich fürchtete er die Demütigung, aber wenn er nonchalant genug wäre, könnte sie ebenso ungezwungen ablehnen, und das würde sie ohnehin tun, da war er sich fast sicher. Was ihn jedoch bremste, war die kühle Überlegung, dass jedes Angebot schlicht gesagt unfair wäre. Pamela war seine Untergebene, die sich zwangsläufig Gedanken über ihre Karriere machte, und er war Partner. An diesem ungleichen Verhältnis und seiner Macht war nun einmal nicht zu rütteln, sodass es für Arthur Raven keine Möglichkeit gab, den Bereich etablierter Anständigkeit zu verlassen, den einzigen Bereich, in dem er sich mit sich selbst wohl fühlte. Doch noch während er diese Überlegungen akzeptierte, wusste er, dass es im Hinblick auf Frauen für ihn immer das eine oder andere Hindernis geben und hoffnungslose Sehnsucht weiter an ihm nagen würde.

Er nahm die Fernbedienung aus der Tasche und entriegelte die Türen. Als Pamela einstieg, stand er in dem bitteren Staub, der auf dem Parkplatz aufgewirbelt wurde. Der Tod seiner Hoffnungen, ganz gleich, wie abwegig sie auch sein mochten, war immer hart. Doch erneut kam eine Böe, und diesmal säuberte sie die Luft und trug den Geruch nach frisch gepflügter Erde von den Feldern vor der Stadt herbei, den Duft nach Frühling. Liebe – ihre süße, erstaunliche Möglichkeit – klang in seiner Brust an wie eine Note vollkommener Musik. Liebe! Irgendwie verzückte ihn die Chance, die er verloren hatte. Liebe! Und in diesem Augenblick dachte er zum ersten Mal richtig über Rommy Gandolph nach. Was, wenn er tatsächlich unschuldig war? Auch das war eine Inspiration, fast so süß wie die Liebe. Was, wenn Rommy unschuldig war!

Und dann wurde ihm wieder bewusst, dass Rommy nicht unschuldig war. Arthur spürte, wie sich die Last seines Lebens auf ihn niedersenkte, und die wenigen Kategorien, nach denen er eingeordnet werden konnte, fielen ihm wieder ein. Er war erfolgreich in seinem Beruf. Und ohne Liebe. Sein Vater war tot. Und Susan war noch hier. Er ging die Liste noch einmal durch, hatte wieder das Gefühl, dass sie weitaus kürzer war, als er gehofft hatte, ja, kürzer, als ihm zustand, dann öffnete er die Fahrertür, um zu alldem zurückzukehren.

2

5. Juli 1991Der Detective

Als Larry Starczek von dem Mord an Gus Leonidis erfuhr, lag er mit einer Staatsanwältin namens Muriel Wynn im Bett, die ihm soeben erzählt hatte, dass sie dabei war, sich ernsthaft auf jemand anderen einzulassen.

»Dan Quayle«, antwortete sie, als er wissen wollte, wer denn der Glückliche sei. »Der fand das Ypsilon in meinem Nachnamen so niedlich.«

Entnervt fuhr Larry mit einem Fuß durch die Kleidungsstücke auf dem Hotelteppich und suchte seine Unterhose. Als er dabei mit dem Zeh an seinen Piepser stieß, spürte er, dass der vibrierte.

»Schlimme Geschichte«, sagte er zu Muriel, nachdem er telefoniert hatte. »Der gute Gus hat ins Gras gebissen. Man hat ihn zusammen mit zwei von seinen Gästen im Tiefkühlraum gefunden, alle drei erschossen.« Er schüttelte seine Hose aus und erklärte, er müsse sofort los. Der Commander wollte alle Mann an Deck haben.

Muriel, klein und dunkel, setzte sich auf dem steifen Hotellaken auf, noch immer splitternackt.

»Hat die Staatsanwaltschaft schon jemanden drauf angesetzt?«, fragte sie.

Larry hatte keinen Schimmer, aber er wusste, wie das lief. Wenn sie dort auftauchte, gingen alle davon aus, sie wäre geschickt worden. Auch das war toll an Muriel, dachte Larry. Sie liebte die Straße genau wie er.

Er fragte sie noch einmal, wer der neue Typ war.

»Weißt du, ich möchte einfach eine Perspektive«, sagte Muriel. »Diese neue Geschichte – das könnte Zukunft haben. Vielleicht heirate ich ja sogar.«

»Heiraten!«

»Herrje, Larry, das ist keine Krankheit. Du bist schließlich auch verheiratet.«

»Ach«, entgegnete er. Vor fünf Jahren hatte er zum zweiten Mal geheiratet, weil es irgendwie nahe liegend schien. Nancy Marini, von Beruf Krankenschwester, hatte das Herz am rechten Fleck, war hübsch und mochte seine Jungs. Doch wie Nancy in letzter Zeit schon des Öfteren gesagt hatte, er hatte nichts von alle dem aufgegeben, was seine erste Ehe zum Scheitern gebracht hatte, nämlich seine Affären und die Tatsache, dass er seine wichtigste Erwachsenenbeziehung zu den Toten unterhielt, die er von der Straße auflas. Auch Ehe Nummer zwei war kurz vor dem Scheitern, aber Larry sprach nicht einmal mit Muriel über seine Probleme. »Du hast doch immer gesagt, die Ehe wäre ein Unglück«, sagte er zu ihr.

»Meine Ehe mit Rod war ein Unglück. Aber da war ich neunzehn.« Mit ihren vierunddreißig konnte Muriel von sich behaupten, schon über fünf Jahre Witwe zu sein.

Es war das verlängerte Wochenende nach dem Vierten Juli, und im Hotel Gresham war es am frühen Nachmittag seltsam still. Der Manager war Larry etwas schuldig, wegen einiger Probleme, die der Detective geklärt hatte – Gäste, die nicht abreisen wollten, eine Prostituierte, die in der Lounge auf Freierfang ging. Zum Dank durfte Larry, wann immer er wollte, für ein paar Stunden ein Zimmer benutzen. Als Muriel an ihm vorbei zum Spiegel wollte, packte er sie von hinten und ließ seine Hände kurz über sie gleiten, die Lippen dicht bei den kurzen, schwarzen Locken an ihrem Ohr.

»Ist dein neuer Hengst denn auch so unterhaltsam wie ich?«

»Larry, wir sind hier nicht auf den Nationalen Bumsmeisterschaften, bei denen du gerade ausgeschieden bist. Wir hatten immer viel Spaß zusammen.«

Sie hatten ein sehr streitlustiges Verhältnis, was ihm vielleicht noch mehr Spaß machte als der Sex. Sie hatten sich vor sieben Jahren an der Uni kennen gelernt, wo sie zusammen in Abendseminaren Jura studierten. Muriel war ungemein ehrgeizig und wechselte irgendwann zum Vollzeitstudium. Larry hatte schon beschlossen, die Uni wieder zu verlassen, noch ehe er das Sorgerecht für seine Söhne erhielt, weil er aus den falschen Gründen dort war. Nach seiner Scheidung hatte er versucht, sich zu bessern, raus aus den Kneipen zu bleiben, sogar in den Augen seiner Eltern und Brüder besser abzuschneiden, weil die Familie die Arbeit bei der Polizei für unter seiner Würde hielt. Am Ende waren die gelegentlichen Schäferstündchen von Muriel und ihm wahrscheinlich das Beste, was sich aus der Erfahrung ergeben hatte. Es gab Frauen in seinem Leben, zu viele, die er zwar begehrte, aber nie wirklich wollte. Hinterher sagten beide immer, wie unglaublich toll es gewesen war, doch dem Ganzen wohnte stets eine traurige Berechnung inne. Bei Muriel war das nie der Fall gewesen. Sie würde bestimmt nicht viele Zeitschriftencover zieren, weil sie eine Zahnlücke hatte und eine kräftige Nase und so schmal gebaut war, dass man sie den Abfluss hinunterspülen könnte. Doch nachdem er zweimal geheiratet hatte, weil ihm die Frau vom Aussehen her gefiel, hätte Larry sich, wenn er mit ihr zusammen war, manchmal am liebsten eine Schlinge um den Hals gelegt, einfach weil er so wenig über sich selbst gewusst hatte.

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