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Lilo Steinbrink ist Buchhändlerin aus Leidenschaft. Aufgrund einer Mieterhöhung muss sie jedoch ihren Laden in der münsterländischen Kleinstadt schließen. Halt bietet ihr der Büchertauschschrank in der Innenstadt. Die umfunktionierte Telefonzelle wird mehr und mehr zu ihrem Lebensmittelpunkt. Lilo schöpft wieder Mut und begegnet Menschen, die ihre Leidenschaft für Bücher teilen. Doch nicht alle, deren Herzen für Bücher schlagen, führen stets Gutes im Schilde. Wird Lilo dennoch ihr Glück finden?
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Seitenzahl: 393
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Karin Joachim
Das Glück der Bücher
Roman
Das Glück zwischen den Seiten Die Buchhändlerin Lilo Steinbrink muss mit Mitte 50 notgedrungen ihren Laden in der münsterländischen Kleinstadt schließen. Ihr fällt es schwer, mit ihrer Einsamkeit und der Arbeitslosigkeit zurechtzukommen. Der kleine Garten am Haus ist ihr wichtigster Zufluchtsort, doch mehr und mehr wird der öffentliche Büchertauschschrank in der Innenstadt für sie zum Lebensmittelpunkt. So kann sie sich nicht nur weiterhin mit Büchern beschäftigen, sondern lernt auch die unterschiedlichsten Menschen kennen, die mit ihr die Lust am Lesen und die Freude am bedruckten Papier teilen. Auch wenn nicht alle, die sich dort einfinden, etwas Gutes im Schilde führen, entsteht über die Zeit eine Gemeinschaft der Büchermenschen, die auch in Notsituationen füreinander da ist. Einige dieser Begegnungen verändern Lilos Leben nachhaltig. Und dann betritt auch noch ein neuer Mann ihre Welt.
Karin Joachim wurde in Bonn-Bad Godesberg geboren, verbrachte ihre Jugend im Siebengebirge und lebte viele Jahre im Ahrtal, wo sie 2021 von der schweren Ahrflut betroffen war. Sie studierte Germanistik und Anglistik an der Universität Bonn und leitete ein archäologisches Museum, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Heute wohnt sie im nördlichen Münsterland. In ihrer Freizeit besichtigt Karin Joachim historische Orte sowie Parks und Gärten im In- und Ausland.
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Satz/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung der Fotos von: © Foxeye AI / stock.adobe.com; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:John_Gould._The_Birds_of_Europe._Volume_II._1837.jpg
ISBN 978-3-7349-3416-2
Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Da stand er also auf dem zentralen Platz: der erste Büchertauschschrank der münsterländischen Kleinstadt. Lilo Steinbrink betrachtete ihn von allen Seiten. Aus der ehemaligen Telefonzelle war etwas Neues entstanden. Außen hatte man sie in einem dezenten Rotton angestrichen, den die Mitglieder der Bürgerinitiative mit größter Sorgfalt ausgewählt hatten. Dem Farbvorschlag sah man nicht an, dass er erst nach endlosen Diskussionen die Zustimmung der Mehrheit gefunden hatte. Mehrere Farben hatten zunächst zur Auswahl gestanden, bis schließlich ein mattes Blau und ein knalliges Rot in der Endrunde übrig geblieben waren. Auf jede Farbe entfielen jeweils fünf Stimmen. Argumente wurden ins Feld geführt. Das Blau passe zum Himmel, wie er sich in den Morgen- und Nachmittagsstunden über den Häusern der Innenstadt zeigte, und harmoniere gut mit dem roten Backstein der umliegenden Gebäude. Das auffällige Rot wiederum fanden jene um Längen besser, die damit der Bedeutung des Lesens ein Ausrufezeichen verleihen wollten. Auf beiden Seiten gab es Einwände für die jeweils andere Farbe. Das Blau war zu langweilig, das Rot erinnerte an Britische Telefonzellen und passte nicht zu dem Ton der Häuserfronten. Ein Kompromiss musste gefunden werden. Lilo Steinbrink hatte damals als Inhaberin der Buchhandlung der Sitzung der Bürgerinitiative in beratender Funktion beigewohnt, ohne ein eigenes Stimmrecht zu besitzen. So fühlte sie sich als eine Art Schiedsrichterin oder als Schlichterin. Ihr war es zu verdanken, dass man sich schlussendlich für ein mattes Rot entschieden hatte, dem ein Hauch Blau beigemischt worden war, sodass es Assoziationen – so meinte Lilo – an das Glas Rotwein weckte, das man bei einem gemütlichen Leseabend in der Hand hielt. Wenn doch alles so einfach wäre, hatte Lilo damals gedacht. Anders als es ihr Vorschlag vermuten ließ, mochte sie allerdings selbst weder Rotwein noch bevorzugte sie bei ihrer Kleidung matte oder gedeckte Farben, ganz im Gegenteil: Sie zog sich gern bunt und auffallend an. Ihre Mutter hätte geradeheraus erklärt, dass sich Lilo ihrem Alter entsprechend zu kleiden und sich zurückzunehmen habe, damit sie nicht unnötig die Aufmerksamkeit der Leute auf sich zog. Niemand sollte über sie reden, so ihr Credo. Aber Marianne Steinbrink lebte nicht mehr, sie hatte also nicht weiter über Lilos Leben zu befinden. Lilos Überzeugung nach war ein Alter jenseits der Fünfzig keinesfalls ein Grund, sich zu verstecken. Und wenn andere über ihren Kleidungsstil redeten, war ihr das herzlich egal. Wenn sie in den Spiegel blickte, erinnerte sie nichts an ihre angepasste Mutter. Lilo mochte ihre gelockten dunkelblonden Haare, ihren halblangen Haarschnitt. Sie schminkte sich gern und mochte farbenfrohe Kleidung. Sie dachte an ihre Mutter zurück, als sie in ihrem Alter war. Stets trug sie beige Jacken, beige Hosen und ab und an einmal eine fliederfarbene oder lindgrüne Bluse. Diese zog Marianne Steinbrink jedoch nur zu besonderen Anlässen wie etwa runden Geburtstagen an. Dabei war ihre Mutter gar nicht einmal übermäßig konservativ. Lilo schob ihre Zurückhaltung auf die vielen Einwürfe und Vorwürfe ihres Mannes. Aufgrund dessen hatte sie sich irgendwann nicht mehr getraut, sich moderner und farbenfroher zu kleiden. Herbert Steinbrink, Lilos mittlerweile ebenfalls verstorbener Vater, war schon immer sehr dominant gewesen, wenn es darum ging, seine Meinung durchzusetzen. Sein Verhalten verschlimmerte sich noch mit der Verrentung. Das hatte zur Folge, dass er seiner Ehefrau gar keine eigene Meinung mehr zugestand. Auch in Bezug auf ihren Kleidungsstil. Und da seine Rente nicht üppig ausfiel, verlangte er von ihr, dass sie – wenn es denn überhaupt notwendig war – Kleidungsstücke nur im Angebot oder gleich im Discounter oder im Supermarkt erwarb. Dass er es nicht ertrug, wenn seine Ehefrau sich zurechtmachte, sich wohlfühlen wollte, hatte er nie zugegeben. Dass sie etwas allein unternahm und dabei die Blicke anderer auf sich ziehen konnte, behagte ihm ganz und gar nicht. Lilos Mutter hatte vor vielen Jahren den Autoführerschein gemacht. Doch aufgrund mangelnder Fahrpraxis und den ewigen Nörgeleien ihres Ehemanns und nach einem letzten Versuch, einmal selbst das Familienauto zu fahren, hatte sie nach wenigen Metern auf der Landstraße aufgegeben. Lilo konnte sich noch allzu gut erinnern, wie ihre Mutter mit hochrotem Kopf und Tränen in den Augen am Straßenrand angehalten und ihrem Mann den für ihn so wichtigen Fahrersitz überlassen hatte. Die endgültige Aufgabe ihrer Selbstständigkeit. Lilo hatte bereits als junges Mädchen geahnt, dass dem ganzen Gebaren ihres Vaters tief sitzende Ängste zugrunde lagen. Vor allem die Angst, etwas Vertrautes zu verlieren. Eine Folge der Entbehrungen der Nachkriegsjahre und der tradierten Verlusterfahrungen seiner Eltern.
Während Lilo noch bei ihren Eltern wohnte, hatte sie sich nur selten getraut, gegen ihren Vater aufzubegehren. Ihre Mutter bedachte sie jedes Mal mit einem strafenden Blick, wenn sie versuchte, mit ihrer eigenen Meinung gegenüber der ihres Vaters zu bestehen. »Er ist halt so«, sagte Marianne Steinbrink, wenn sich Lilo später bei ihr über die heftigen verbalen Zurechtweisungen ihres Vaters beschwerte. Lilo sehnte sich damals nach einem Elternhaus, in dem man nicht nur sein konnte, wer man war, sondern in dem es eine lebhafte Diskussionskultur gab, wovon ihre Mitschüler ihr berichtet hatten. Für Lilo bot sich bald eine Gelegenheit, aus dieser Enge zu entfliehen, indem sie sich nach dem Abitur an der Universität zu Münster für den Studiengang Germanistik einschrieb. Nebenher jobbte sie und nahm nahezu jede Tätigkeit an, die sich ihr bot – außer zu kellnern, weil sie sich vor den Wutausbrüchen ihres Vaters fürchtete, wenn sie spät in der Nacht nach Rauch riechend nach Hause zurückkehrte. Noch konnte sie sich keine Wohnung in Universitätsnähe leisten. »Du treibst dich rum«, hatte er ihr vorgeworfen. Dass sie versuchte, ihr Studium allein zu finanzieren, spielte für ihn keine Rolle, da er ein Germanistikstudium ohnehin als nutzlos betrachtete. Irgendwann im Laufe des zweiten Semesters verließ Lilo die Kraft, sich immer wieder dagegen zu wehren, und sie bewarb sich als Bürokauffrau bei dem Betrieb eines Bekannten ihres Vaters. Sie bekam den Ausbildungsplatz und lernte bald auf einer Geburtstagsfeier einer Kollegin Klaus Faber kennen, ihren jetzigen Ex-Mann. Er arbeitete bei der Stadtverwaltung ihres Heimatortes und war ein leidenschaftlicher Tänzer. Ein Mann wie ihr Vater, der meinte, sie führen und lenken zu müssen. Aber damals bot die Ehe die Möglichkeit, ihrem Vater und seinen Launen zu entkommen. Nur in einer Sache hatte sich Lilo durchgesetzt: Sie hätte zu gern ihren Mädchennamen behalten, auch wenn dieser sie zeitlebens an ihren Vater erinnern würde, aber er war eben auch Teil ihrer Identität. Doch weder sie noch Klaus hatten sich dazu durchringen können, einen Doppelnamen zu führen, denn sie hätten sich auf einen gemeinsamen Ehenamen einigen müssen. Die Änderung des Namensrechtes wenige Jahre später, nach der nun beide Ehepartner ihren Geburtsnamen behalten durften, hatte Lilo nicht mitbekommen, und so konnte sie erst wieder nach der Scheidung Steinbrink heißen. Nach der Eheschließung arbeitete Lilo weiter als Bürokauffrau, obwohl sie diese Arbeit nicht im Geringsten erfüllte. Klaus und ihr gesamtes Umfeld warteten förmlich darauf, dass sie schwanger wurde, aber Lilo mangelte es an jeglichem Kinderwunsch. Sie würde auch nicht in diese Rolle hineinwachsen, wie ihr der weibliche Teil der Verwandtschaft immer wieder suggerierte. Schließlich suchte sie das Gespräch darüber mit Klaus und war über seine Reaktion angenehm überrascht. Er gab nämlich zu, dass er ähnlich dachte, und so war das Thema für die beiden rasch keines mehr. Fortan wehrte Klaus jegliche diesbezüglichen spitzen Bemerkungen der Verwandtschaft souverän ab, bis irgendwann das Interesse an diesem Thema abebbte. Klaus veränderte sich über die Jahre zum Positiven, ließ Lilo immer mehr Freiraum und unterstützte sogar ihren Wunsch nach einer selbstständigen Tätigkeit, weil er natürlich mitbekam, wie unglücklich sie in ihrem Leben war. Die Buchhändlerin im Ort suchte irgendwann eine Nachfolgerin, und Lilo war genau die richtige Person dafür. Sie brachte mit ihrer Ausbildung als Bürokauffrau sowie ihren fundierten Kenntnissen über Literatur, der sie sich auch nach dem abgebrochenen Studium weiter gewidmet hatte, gute Voraussetzungen mit und besuchte nach und nach einige grundlegende branchenspezifische Fachseminare. Nachdem sich ihre Chefin zurückgezogen hatte, führte Lilo einige Neuerungen ein und konnte seitdem ihren Traum völlig eigenverantwortlich leben. Das tat sie auch nach ihrer Scheidung. Klaus hatte irgendwann eine jüngere Frau kennengelernt, die besser zu ihm passte. Lilo blieb in ihrem Elternhaus wohnen, wohin sie nach dem Tod der Eltern mit Klaus gezogen war, und Klaus zog mit seiner Neuen in eine andere Stadt. Lilo lebte mit und für ihre Buchhandlung, der sie eine optische Veränderung und ihren Mädchennamen hinzufügte und die fortan als »Buchhandlung Steinbrink« firmierte. Sie war glücklich. Bis zu jenem Tag, an dem ihr der Brief mit der drastischen Erhöhung der Ladenmiete ins Haus geflattert kam.
Und nun merkte sie plötzlich, dass ihr Leben schon eine Zeit lang auf wackligen Füßen gestanden hatte. Die Einnahmen aus den Buchverkäufen waren über die Jahre hinweg stetig zurückgegangen, aber bislang hatte es für sie finanziell gereicht. Nun ereilte sie die Mieterhöhung, die sie nicht würde auffangen können. Sie hegte nicht die Hoffnung, dass Mehreinnahmen erzielbar waren. Mit befreundeten Buchhändlerinnen hatte sie sich besprochen, die ihr ebenfalls rieten, rechtzeitig die Reißleine zu ziehen und nicht noch mit ihren privaten Rücklagen einzuspringen. »Je früher du alles abwickelst, desto besser stehst du finanziell da«, hatte ihre Freundin Swantje Albers von der Buchhandlung in Hildesheim geraten. Ihrem Sachverstand vertraute sie. Dass ihre Buchhandlung besser lief, lag unter anderem an dem größeren Einzugsbereich, aber eben auch daran, dass sie die Buchhandlung in ererbten Räumlichkeiten betreiben konnte.
Andere mahnten, sie solle durchhalten, weil sie in ihrem Alter ohnehin keinen neuen Job finden würde. Doch Lilo war realistisch genug, um zu wissen, dass es keine Perspektive mehr gab. Sie hatte sich die Entscheidung nicht leicht gemacht und die zwei Jahrzehnte oft Revue passieren lassen, seitdem sie angefangen hatte, in der Buchhandlung zu arbeiten.
Nachdem sich die frühere Inhaberin nach einigen Monaten der Einarbeitungszeit in den Ruhestand verabschiedet hatte, waren ihr die Kunden der in den 1980er-Jahren gegründeten Buchhandlung treu geblieben. Lilo war es sogar gelungen, den Kundenstamm deutlich zu erweitern und neue Leserkreise zu gewinnen. Aber die Zeiten änderten sich. Neben der Miete für die Geschäftsräume waren auch die Kosten für Strom und Heizung gestiegen, bei zugleich stetig sinkenden Einnahmen. Hatten ihre Kundinnen und Kunden früher oftmals wöchentlich bei ihr vorbeigeschaut und waren beinahe jedes Mal mit mindestens einem Buch in der Hand hinausgegangen, so besuchten sie ihren Laden in den letzten Jahren immer mehr, um lediglich Geburtstags- oder Weihnachtsgeschenke zu erwerben. Lilo hatte so vieles versucht, zahlreiche Anstrengungen unternommen, um ja nicht aus der Zeit zu fallen, indem sie Veranstaltungsreihen ins Leben rief und sich auch immer wieder neue Marketingstrategien überlegte, was auch die Präsenz in den sozialen Medien einschloss. Sie hatte Leseabende angeboten, ihre Räumlichkeiten für Geburtstagsfeiern geöffnet, ihr Sortiment um Schreibwaren und Geschenkartikel erweitert. Sie postete regelmäßig auf Instagram, allerdings mit nicht messbarem Erfolg. Eigentlich hatte sie zuletzt vorgehabt, Buchbesprechungen einzustellen, aber die kaufmännische Tätigkeit lastete sie derart aus, dass sie immer seltener zum Lesen kam und abends erschöpft ins Bett fiel. Für eine ausgiebige Lektüre oder gar das Schreiben von Buchbesprechungen war sie einfach zu müde. Die Empfehlungen, die sie ihren Kunden gab, beruhten meist auf den Klappentexten oder den Werbetexten in Fachmagazinen. Eine Aushilfe leistete sie sich nur während des Ansturms vor den Feiertagen oder im Hinblick auf die alljährlichen Schulbuchbestellungen. Lilo fühlte sich mehr und mehr als Einzelkämpferin. Der Entschluss, die Buchhandlung aufzugeben, war also im vergangenen Herbst gefallen. Bis zur Abwicklung waren noch einige Wochen vergangen. Lilos Kundinnen hatten zwar ihr Bedauern darüber geäußert, aber Lilo spürte, dass vielen von ihnen der Gang in die Buchhandlung mittlerweile zu aufwendig war, auch wenn sie seit einer Weile sogar Online-Bestellungen annahm und sich immer wieder dazu bereit erklärt hatte, die Bücher nach Dienstschluss selbst auszuliefern, was ihre ohnehin knappe Freizeit noch einmal reduzierte. Als sei dies nicht schon problematisch genug, ließen sich die Besteller immer mehr Zeit mit dem Bezahlen der Rechnungen. Einige offene Beträge hatte Lilo sogar erst kurz vor der Schließung ihres Geschäftes auf dem Konto vorgefunden, immerhin. Nicht dass sie es den Kundinnen wirklich übel nahm, sie konnte sie verstehen. Manche konnten sich möglicherweise gar keine Bücher leisten oder waren während ihres Alltags mit Kindern, Job und der Pflege von Angehörigen einfach zu sehr in Anspruch genommen, weshalb sie vergaßen, die Rechnungen zu begleichen. Auch wenn die meisten bar bezahlten, es waren einfach immer weniger geworden.
Es war die richtige, die folgerichtige Entscheidung, sagte sie sich, als sie den Schlüssel vor einigen Wochen der Vermieterin übergeben hatte, nachdem sie den Räumungsverkauf überstanden und die Inneneinrichtung zu einem fairen Preis verkauft hatte.
Und nun fühlte sie sich nicht nur ein wenig nutzlos, sondern zum ersten Mal in ihrem Leben mit ihrem Alter konfrontiert. War sie mit Ende Fünfzig wirklich schon »recht alt«, wie es die Frau vom Jobcenter der Arbeitsagentur formuliert hatte? Das Thema Alter stand wie ein Menetekel vor ihr. Neuerdings bemerkte sie eine gewisse Müdigkeit, die sie manchmal mitten am Tag befiel, obwohl sie sich gar nicht angestrengt hatte. Auch zeigten sich Schatten um die Augen und neue Fältchen auf der Nasenwurzel sowie um die Mundwinkel. Dass sie Bürgergeld beantragen musste, weil sie als Selbstständige keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld hatte, kratzte zudem an Lilos Selbstwertgefühl. Sie brauchte gar nicht mehr zu fürchten, dass man ihr ansah, wie schrecklich sie sich fühlte, wie sehr sie unter der Aufgabe ihrer Buchhandlung litt, denn es war offensichtlich. Und weil sie Angst davor hatte, auf die Frage keine Antwort zu wissen, was sie denn nun mit ihrem Leben anfangen wolle, vergrub sie sich weitgehend in ihren eigenen vier Wänden.
Wie ging es einer Frau, deren Zukunftsaussichten sich nicht gerade rosig darstellen? Die ihren Lebenstraum hatte zu Grabe tragen müssen – weil sich die Zeiten geändert hatten? Die Menschen lasen zu wenig, konnten sich nicht mehr ausreichend auf längere Texte konzentrieren, streamten lieber Serien, bingewatchten diese bis tief in die Nacht, statt mit einem dicken Wälzer unter die Bettdecke zu kriechen oder damit auf der sommerlichen Terrasse den Abend ausklingen zu lassen. Kannten diese Leute den Ursprung des Begriffs »bingen« und waren sie sich bewusst, dass sie etwas gierig und exzessiv konsumierten?
Lilo würde die Welt nicht retten können, immerhin hatte sie es versucht. Sie stand den modernen Strömungen nicht einmal wirklich ablehnend gegenüber, fand es durchaus sinnvoll, dass man heute keine dicken, teuren und gedruckten Enzyklopädien erwerben musste, um sich allumfassend zu informieren. Wenn die Menschen doch nur mit den Segnungen des leichten Zugangs zum Wissen der Welt bewusster und kritischer umgehen würden. Dazu benötigte es dann Bildung, aber wo erwarb man diese? Sie kam ins Grübeln.
Lilo ging nun immer häufiger in den Nachbarorten einkaufen, da sie vermutete, dort niemanden von ihrem früheren Kundenstamm zu begegnen. Aber heute hatte sie sich wieder in ihre Stadt getraut, um ein wenig einzukaufen und bei der Gelegenheit den Büchertauschschrank zu begutachten. Es war einige Tage her, dass man ihn offiziell eingeweiht hatte. Zu der Veranstaltung war sie zwar eingeladen gewesen, doch sie hatte es vorgezogen, zu Hause zu bleiben. Auf dem Weg zur umgestalteten Telefonzelle hatte sie in einem Laden, der Münsterländer Spezialitäten verkaufte, ein Glas Marmelade erstanden. Wenn sie schon einmal hier war, so befand sie ganz mutig, durfte sie nicht vergessen, sich etwas zu gönnen, auch wenn sie nicht über allzu große finanzielle Mittel verfügte. Und so entschloss sie sich, das nahe gelegene Café der Bäckerei Westkamp aufzusuchen.
»Was darf ich Ihnen bringen?«, fragte die Kellnerin, die gleich zu ihr an den Tisch kam.
»Ich hätte gerne einen Darjeeling«, sagte Lilo leise.
Die Kellnerin lächelte. »Ein Stück Kuchen dazu?«
Lilo haderte mit sich, lehnte schließlich mit Blick auf ihre Finanzen ab. Die Rücklagen waren vermutlich schneller verbraucht, als sie ahnte. Würde sie ihr Häuschen am Stadtrand überhaupt halten können? Die Energiekosten stiegen, die Heizung war in die Jahre gekommen, das Dach müsste demnächst neu gedeckt werden. Wovon sollte sie leben, wenn die Frau vom Jobcenter, die ihr wenig Hoffnung auf einen Vollzeitjob gemacht hatte, recht behalten würde? Die zu erwartende Rente, die sie überhaupt nur bekam, weil sie damals als Angestellte für wenige Jahre in die Rentenkasse eingezahlt hatte, würde mehr als dürftig ausfallen. Bislang war Lilo noch mit der Abwicklung ihres Geschäftes ausgelastet gewesen, sodass sie den Gedanken an eine wirtschaftlich fragwürdige Zukunft erfolgreich hatte verdrängen können. Sie würde schon etwas finden, hatte sie immer wieder betont, wenn man sie nach ihren Plänen fragte. Aber dass dies bald gelingen würde, bezweifelte sie mittlerweile.
Lilo blickte durch die Fensterscheibe des Cafés auf die andere Straßenseite zu dem Büchertauschschrank mitten auf dem Platz. Von außen wirkte er einladend, und Lilo war durchaus ein wenig stolz darauf, dass man ihren Farbvorschlag umgesetzt hatte. Die Sehnsucht nach ihrer Buchhandlung übermannte sie und sie musste sich zusammenreißen, um nicht in ihre Teetasse zu weinen. Durch die Scheiben der ehemaligen Telefonzelle konnte sie die verschiedenen Buchrücken nur erahnen. Welche Werke dort wohl einsortiert worden waren? Damals, als lebhaft über die Anschaffung des Schrankes diskutiert worden war, hatte es immer wieder Stimmen gegeben, die der Befürchtung Ausdruck verliehen hatten, er könne als Altpapierlager missbraucht werden. Ob man jetzt schon alte Schinken und verschmutzte Bücher darin entsorgt hatte, würde Lilo gleich überprüfen.
Lilo winkte die Kellnerin herbei, bezahlte ihren Tee mit abgezähltem Geld, beschloss, vor dem Hinausgehen noch Brötchen zu kaufen, und verließ das Café. Draußen blieb sie an der Bordsteinkante stehen und sah sich zu allen Seiten um, damit sie auf dem Weg über den freien Platz niemandem begegnete, den sie kannte. Sie wollte gerade keine ehemalige Kundin treffen, wenn sie sich den Büchertauschschrank besah. Lilo überquerte die Straße und näherte sich mit immer langsamer werdenden Schritten dem roten Schrank. Würde sie darin Bücher vorfinden, die sie selbst verkauft hatte? Erkennen würde sie diese ohnehin nur, wenn der Aufkleber mit dem Ladenlogo auf dem Preisfeld auf dem rückseitigen Cover bei Büchergeschenken nicht entfernt worden war. Bevor sie sich mit dem Thema der Bücherschränke beschäftigt hatte, war sie der naiven Wunschvorstellung erlegen, dass jedes der Werke, das über ihre Ladentheke gewandert war, anschließend für immer bei seinem Besitzer bleiben würde. Verschenkte Exemplare allein schon aus Respekt und Dankbarkeit dem Schenkenden gegenüber. Nie wäre ihr in den Sinn gekommen, dass man Bücher nicht lieb haben und wie einen neu gewonnenen Freund, der bei einem eingezogen war, betrachten könnte. Auch wenn nicht jeder Freund willkommen war, dachte sie bei sich. Auch Geschenke konnten an den Interessen des Beschenkten vorbei gehen. Lilo erschrak beinahe ob ihrer Gedanken, zeugten sie von einer erstaunlichen Nüchternheit, die sie bei sich bislang eher selten bemerkt hatte. Als sie vor dem Büchertauschschrank stand, streckte sie die Hand nach dem Türgriff aus. In ihrer warmen Handinnenfläche fühlte sich das Metall kühl an. Der Frühling zierte sich noch ein wenig, die Sonne hatte noch nicht so viel Kraft. Die Tür ließ sich schwerer öffnen, als sie erwartet hatte. Die Luft im Innern war abgestanden. Nichts erinnerte sie an den Geruch des frisch bedruckten Papiers in ihrer Buchhandlung. In einem unbedachten Moment ließ sie den Griff los, sodass die Tür ihr in den Rücken fiel. Lilo stöhnte leise auf. Die Baumwolltasche mit dem Marmeladenglas, die sie über ihre Schulter gestreift hatte, drohte auf den Boden zu gleiten. Ihr gelang es gerade noch zu verhindern, dass der Inhalt hart aufschlug und das Glas zu Bruch ging. Lilo hielt kurz die Luft an und ärgerte sich über ihre Tollpatschigkeit, als sie draußen eine ihrer ehemaligen Kundinnen erspähte. Sie kam direkt auf sie, auf die Telefonzelle, zu.
Die Tür öffnete sich.
»Huch!«, sagte Manuela Stolze, als sie Lilo Auge in Auge gegenüberstand.
»Huch!«, antwortete Lilo.
Ihr war es unangenehm, dass man sie hier antraf, obwohl es eigentlich keine Berechtigung für eine solche Empfindung gab. Auch eine ehemalige Buchhändlerin, noch dazu eine Frau, die aktiv an der Umsetzung des Büchertauschschrankes mitgewirkt hatte, durfte sich hier aufhalten.
Manuela Stolze, die oft Kinderbücher bei Lilo erworben hatte, trat einige Schritte zurück und gab so den Eingang frei. Lilos Hand umklammerte nun den Griff, um ein ähnliches Missgeschick wie eben zu verhindern. Doch langsam wurde ihr das Gewicht der Tür zu schwer, weshalb sie ihrer ehemaligen Kundin nach draußen folgte. Die Tür fiel hinter ihr mit einem dumpfen Ton ins Schloss.
»Haben Sie der Allgemeinheit noch einige Bücher aus der Buchhandlung zur Verfügung gestellt?«, fragte Manuela Stolze mit Blick auf den Baumwollbeutel über ihrer Schulter.
»Ja«, antwortete Lilo.
Eine glatte Lüge. Jedoch war es unwahrscheinlich, dass jemand den Bestand des Büchertauschschrankes so genau kannte, um diese Aussage zu überprüfen. Woher sollte ihre ehemalige Kundin wissen, dass Lilo gar kein neues Exemplar hinzugefügt hatte?
Erst jetzt bemerkte sie, dass Manuela Stolze drei Bücher mitgebracht hatte. Lilo erinnerte sich sofort daran, dass sie diese im vergangenen Herbst bei ihr gekauft hatte.
»Die Kinder werden so schnell groß«, sagte sie entschuldigend und wiegte die Bücher in ihren Händen.
Lilo versagte die Stimme, Tränen schossen ihr in die Augen. Statt etwas Passendes zu sagen, lächelte sie nur, hob eine Hand zum Gruß und ließ die ehemalige Kundin stehen. An der nächstgelegenen Hausecke hielt sie inne, holte ein Papiertaschentuch aus ihrer Jackentasche und betupfte sich damit ihre Wangen. Schließlich seufzte sie und murmelte: »So kann es einfach nicht weitergehen.«
Eine Lösung, wie es denn nun weitergehen könnte mit ihr und ihrem Leben, hatte sie aber noch nicht parat. Dabei wurde es wirklich Zeit. Auf dem Weg zurück zu ihrem Haus am Stadtrand beschloss sie, an ihrem Selbstwertgefühl zu arbeiten. Aber wie?
Am Abend ließ sich Lilo ein warmes Bad ein. Nach der Begegnung am Büchertauschschrank hatte sie entgegen ihrer ursprünglichen Absicht doch mehr im Garten gearbeitet, als nur einige Unkräuter zu zupfen. Sie hatte sich regelrecht verausgabt. Entspannung war nun nicht nur für ihren Geist, sondern auch für ihren Körper dringend notwendig. Nach dem Bad bereitete sie sich eine Kleinigkeit zu essen zu. Sie war eigentlich müde genug, um ins Bett zu fallen, doch sie wusste, dass ihre Sorgen sie nicht würden schlafen lassen. Literatur hatte ihr bislang immer geholfen, auf andere Gedanken zu kommen, wenigstens ein wenig. Sie suchte in ihrem Bücherregal nach einer geeigneten Lektüre, einem nicht zu anspruchsvollen, dennoch nicht zu trivialen Buch. Alles, was sie fand, hatte sie bereits gelesen. Die Texte auf den Rückseiten der wenigen bisher nicht angerührten Werke konnten sie nicht locken. Es kam ihr regelrecht absurd vor, aber zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie schlichtweg nichts zu lesen. Ein E-Book herunterzuladen, wäre eine Alternative gewesen, doch trotz vieler Versuche in den letzten Jahren, machte ihr das Lesen am Bildschirm einfach keinen Spaß. Auch wenn es vernünftiger war, vor allem im Hinblick auf die Schonung von Ressourcen. Wohin der Überschuss an gedruckten Büchern führte, erkannte man an der Notwendigkeit der Bücherschränke. Wer hatte schon genügend Platz, Bücher, die man vermutlich nur einmal las, dauerhaft in den eigenen vier Wänden unterzubringen? Statt in Regalen ein tristes Dasein als Staubfänger zu fristen, bekamen die Bücher so wenigstens eine zweite Chance und trugen dazu bei, anderen Menschen eine Freude zu bereiten, die sich dieses Vergnügen sonst vielleicht nicht leisten konnten. Oder die ebenso wie die Personen, die sich die Mühe machten, sie weiterzugeben, statt sie im Altpapier zu entsorgen, vom Nachhaltigkeitsprinzip überzeugt waren und auf Neuware verzichteten.
Lilo hätte sich noch auf den Weg zum Bücherschrank machen können, wenn sie wirklich noch ein Buch hätte lesen wollen. Aber dafür war sie zu müde. Also schaltete sie den Fernseher ein, vor dem sie allerdings bereits nach wenigen Minuten einschlief.
Als sie Stunden später auf dem Sofa erwachte, war es draußen noch dunkel. Nach einem Blick auf die Uhr wusste sie, dass bald die Dämmerung einsetzen würde. Ein verwegener Plan reifte in ihr. Jetzt, im Halbdunkel, dem Moment zwischen der Nacht und dem Morgen, würde sie vermutlich niemandem am Büchertauschschrank begegnen. Jetzt war der richtige Zeitpunkt, dort ein Buch zu entnehmen, ohne dass sie gesehen wurde und irgendetwas erklären musste. Keine Fragen, was aus ihrem Laden geworden war, was sie selbst nun beruflich machte. Sie sprang aus dem Bett, suchte drei Bücher aus, die sie mit Bestimmtheit kein weiteres Mal lesen würde, packte diese in den Baumwollbeutel, zog sich Schuhe und die einzige in ihrem Besitz befindliche dunkelblaue Jacke über und verließ zu Fuß das Grundstück. In keinem der Nachbargebäude in ihrer Straße brannte Licht. Vorhin war bereits der Zeitungsbote an ihrem Haus vorbeigefahren. Das typische Geräusch seines Motorrollers war unverkennbar, selbst im Halbschlaf. Bislang war er immer an ihrem Haus vorbeigefahren, aber nun hatte sie Zeit und könnte eine Tageszeitung abonnieren. Wenn ich in Rente bin, hatte sie immer zu sich gesagt. Bis zur Rente würden noch viele Jahre vergehen, dennoch wäre nun vielleicht der geeignete Zeitpunkt, ein Morgenritual einzuführen. Die Vorstellung, den Tag mit einem guten Tee und den neuesten Nachrichten zu beginnen, klang durchaus reizvoll. Allerdings trugen die aktuellen Meldungen nicht gerade zu Lilos persönlichen Wohlbefinden bei. Außerdem war fraglich, ob sie sich in Zukunft überhaupt ein Abo würde leisten können. Alles musste sie auf den Prüfstand stellen, aber nicht gerade jetzt. Lilo hatte nun die Innenstadt erreicht, ohne dass ihr eine Menschenseele begegnet wäre. Es war frisch, sie war aber vom Gehen innerlich so erwärmt, dass ihr nicht fröstelte. Am östlichen Himmel begann sich das Dunkel der Nacht immer mehr aufzuhellen. Irgendwo sang leise eine Amsel.
In wenigen Metern Entfernung ragte der Büchertauschschrank auf. Die Beleuchtung im Innern würde ausreichen, damit sie auch ohne die mitgebrachte Taschenlampe genügend sah. Allerdings würde man sie von außen erkennen, ein Risiko, das sich um diese Uhrzeit in Grenzen hielt. Doch unerwartet musste sie ihr Vorhaben abbrechen, denn etwas bewegte sich hinter den Glasscheiben des Büchertauschschrankes. Sie war nicht die erste hier. Lilo versteckte sich in einem der Hauseingänge, um zu überlegen, was sie nun machen sollte. Gleichzeitig beobachte sie ganz genau, was dort drüben vorging. Die Person schien sich nicht für die Bücher zu interessieren, sondern war damit beschäftigt, zwei große Tüten hinauszubugsieren. Was mochten sie enthalten? Bücher schienen es nicht zu sein, dafür waren sie zu voluminös. Der junge Mann wirkte im fahlen Licht, das auf sein Gesicht fiel, müde. Hatte er etwa in der ehemaligen Telefonzelle übernachtet? Sie wollte ihn nicht in Verlegenheit bringen und wartete, bis er außer Sichtweite war.
Als Lilo wenig später die Tür des Büchertauschschranks öffnete, kam ihr wider Erwarten kein unangenehmer Körpergeruch, sondern der Duft eines herben Deos entgegen. Sie schämte sich augenblicklich für die Vorurteile, die sie offensichtlich hegte. Sie schüttelte wie zur Bestärkung ihres Gedankens den Kopf und widmete sich den Bücherrücken. Eine wirklich abenteuerliche Mischung unterschiedlichster Buchtitel hatte sich da auf den Regalböden zusammengefunden. In ihrer Buchhandlung wären sie nie auf so engem Raum miteinander in Berührung gekommen. Esoterik neben Bestsellern der 1970er- und 1980er-Jahre, Wanderbücher neben alten, abgegriffenen Fremdwörterbüchern, einige Klassiker aus dem Reclam-Verlag neben einem Buch zur Pilzbestimmung. Und da waren auch die Bücher, die gestern Manuela Stolze mitgebracht hatte. Enttäuscht wollte Lilo wieder gehen, als sie zwei Romane erspähte, die sie bislang nicht gelesen hatte und die in einem nahezu tadellosen Zustand waren. Nur eine feine Leserille auf einem der Buchrücken zeugte davon, dass es sich nicht um Neuware handelte. Sie entnahm die beiden und stellte an ihre Stelle die aus ihrem Bestand mitgebrachten Bücher. Erst beim Hinausgehen erinnerte sie sich daran, dass mindestens eines der Exemplare mit dem Aufdruck »Unverkäufliches Leseexemplar« auf der ersten Seite gekennzeichnet war. Ob die Person, die es später entnahm, daraus schließen würde, dass sie das Buch hineingestellt hatte? Warum sollte dies jemand herleiten? Und warum sollte sie keine Bücher einstellen? Vermutlich fiel es ohnehin niemandem auf.
Nach ihrer Rückkehr aus der Stadt frühstückte Lilo. Sie legte ein Brötchen vom Vortag auf den Toaster und bestrich es anschließend mit Erdbeermarmelade. Dazu gab es ihren Lieblingstee, Darjeeling. Sie lehnte sich für den Augenblick zufrieden zurück und blickte vom Küchentisch aus ins Wohnzimmer. Vor vielen Jahren hatten sie und Klaus die Wand zwischen beiden Räumen entfernt, wodurch ein großzügiges Wohngefühl entstanden war. Ganz anders als in der Zeit ihrer Kindheit und Jugend, als die kleinen Räume, dazu noch mit Eichenmöbeln bestückt, eine erdrückende Wirkung auf Lilo ausübten. Das Biedermeiersofa, ein Nachbau, passte wiederum gut hinein. Wie eigentlich alle Möbel, die sie seit der Scheidung auf Flohmärkten und bei Haushaltsauflösungen zusammengetragen hatte. Gäste sagten, es sei gemütlich bei ihr, aber Lilo ahnte, dass sie ihren Einrichtungsstil ein wenig bunt und unkonventionell fanden. Wer sie gut kannte, wusste, dass es genau ihr Stil war, der sich schließlich auch in der Zusammenstellung ihrer Kleidung äußerte. War sie in ihrem Berufsleben immer sehr strukturiert und gewissenhaft vorgegangen, hatte viel Wert auf akkurate Abrechnungen und Bilanzen gelegt, so gestaltete sie ihr Privatleben viel freier und ungezwungener. Dabei war sie keineswegs chaotisch oder unordentlich. Aber alles Konventionelle widerstrebte ihr. Dafür liebte sie das Nebeneinander von Gegenständen oder Möbeln, die man laut Einrichtungsratgebern nicht miteinander kombinieren sollte, weil sie etwa aus unterschiedlichen Epochen stammten. Dazu gehörte auch ihre ausgefallene Farbauswahl. Zu gerne mixte sie Töne, die sich in der landläufigen Meinung nicht miteinander vertrugen. Deshalb war sie damals von ihrem eigenen Vorschlag selbst ein wenig überrascht gewesen, den Büchertauschschrank in einem dezenten Rotton zu streichen. Dabei liebte sie doch Kontraste und Widersprüche. Aber sie war gleichzeitig bestrebt, Menschen miteinander zu versöhnen, Kompromisse herbeizuführen, mit denen alle leben konnten.
Bei der Auswahl der Romane, die sie lesen wollte, machte sich wiederum ihre Vorliebe für das Unkonventionelle, das Neue, Außergewöhnliche, auch Unerwartete bemerkbar. Und solche Romane waren gar nicht so leicht zu finden und wurden auch immer seltener verlegt. Romanzen, in denen von Anfang an klar war, dass sich die Protagonisten »kriegen« würden, waren ihr zuwider. Zu langweilig, zu einseitig, zu vorhersehbar. In den letzten Jahren war es immer schwieriger geworden, aus der Vielzahl an Buchveröffentlichungen die Lektüren herauszufiltern, die zu ihr und ihren Ansprüchen passten. Auf den Bestsellerlisten fand sie diese schon lange nicht mehr. Es gab Zeiten, da las Lilo viele Romane, die sie ihren Kunden empfahl, nur noch quer und beschäftigte sich in ihrer Freizeit mit Sachbüchern wie Gartenratgebern und Reiseführern, obwohl sie genau wusste, dass sie ihre Buchhandlung niemals für einen Urlaub würde schließen können. Aber Reisen im Kopf waren ja auch etwas Schönes.
Nachdenklich ließ sie in ihrem Wohnzimmer ihren Blick über die Bücherwand schweifen, stand auf und betrachtete die Buchrücken auf den unteren Böden mit den Reiseführern und Reiseberichten. Eine Teatime in einem kleinen Bed and Breakfast irgendwo in Cornwall, Schottland oder an der irischen Küste, das wäre einmal was. Sie schüttelte den Kopf. Zeit hatte sie eigentlich genug, aber trotzdem konnte sie nicht einfach in den Urlaub fahren, da sich ihre persönliche Situation so ungewiss darstellte. Weder besaß sie die finanziellen Mittel noch konnte sie sich unbeschwert neuen Eindrücken hingeben. Eine andere Stimme in ihr, die sie geflissentlich überhörte, sagte allerdings: »Gerade jetzt!«
Lilo schüttete sich eine weitere Tasse Tee ein und setzte sich damit auf das Sofa. Neben ihr lag der Beutel mit ihrer frühmorgendlichen Ausbeute aus dem Büchertauschschrank. Es war ihr, als würde sie etwas Verbotenes tun, vielleicht nicht gerade das, aber jedenfalls etwas Unerhörtes: Statt Bücher beim Grossisten zu bestellen, hatte sie sich an einem öffentlichen Büchertauschschrank bedient. Somit entgingen nicht nur den Lieferanten, sondern auch den Autoren wichtige Einnahmen. War es das, was sie zögern ließ, die Werke aus dem Beutel zu holen? Aber sie waren doch nun einmal da. Und immerhin tat sie im Sinne der Nachhaltigkeit etwas Gutes. Also griff sie hinein und zog nacheinander einen fiktiven Roman über eine Künstlergattin und einen anspruchsvollen Thriller von einem irischen Autor hervor. Was hatte sie sich heute Morgen nur dabei gedacht, gerade diesen einzupacken? Eigentlich mochte sie Thriller nicht besonders, vor allem wenn Grausamkeiten nur um ihrer selbst willen erzählt wurden. Aber es musste wohl der Text auf der Rückseite des Buchumschlages gewesen sein, der sie angesprochen hatte, denn beim nochmaligen Lesen entflammte tatsächlich ihre Neugier.
Als sie das nächste Mal auf die Uhr schaute, waren mehr als drei Stunden vergangen. Der Tee war eiskalt und ihr Magen rumorte hörbar. Aber der Thriller fesselte!
Nachdem sich Lilo einige Pfannkuchen zubereitet und sie mit einigen Klecksen Apfelmus verspeist hatte, klingelte ihr Handy. Am liebsten hätte sie den Anruf gar nicht entgegengenommen. Seitdem sie in ihrem Laden an manchen Tagen stundenlang am Telefon gesessen hatte, war sie es ein wenig leid zu telefonieren. Wer sollte sie außerdem anrufen? Mit ihren wenigen guten Bekannten schickte sie Textnachrichten hin und her, nur gelegentlich telefonierte sie mit ihrer besten Freundin Monika, die sie noch aus Kindertagen kannte. In der letzten Zeit kam auch das seltener vor, weil Monika als Inhaberin einer florierenden Spedition und als zweifache Großmutter sehr eingespannt war, und Lilo sich nicht aufdrängen und ihre kostbare Zeit stehlen wollte. Was hätte sie auch erzählen sollen? Mit ihren Sorgen wollte sie die viel beschäftigte Freundin nicht behelligen. Ein Anruf von ihr wäre auch ungewöhnlich, denn wenn sie sich meldete, dann nie um diese Uhrzeit. Die Neugier siegte, und Lilo nahm ihr Smartphone in die Hand. Die Nummer auf dem Display verriet ihr, dass es Swantje war. Sie hatten sich vor einigen Jahren auf einem Seminar kennengelernt. Die deutlich jüngere Kollegin erkundigte sich nach Lilos Befinden, nachdem es nun schon eine Weile her gewesen war, dass sie miteinander gesprochen hatten.
»Wie kommst du denn zurecht, nachdem du deinen Laden aufgegeben hast?«, wollte sie wissen.
Da war die Frage, die sie erwartet hatte, allerdings nicht gleich zu Beginn ihres Gespräches. Lilo hatte gehofft, Zeit für ein wenig Small Talk zu haben, bevor sie auf ihre Wissbegier würde eingehen müssen. Sie konnte und wollte nicht ausführlicher antworten und versuchte, sich ihre gravierenden Existenzsorgen nicht anmerken zu lassen. Stattdessen sagte sie: »Ach, so habe ich nun endlich einmal Zeit für mich und meine Hobbys.«
Sie ahnte, dass sie damit nicht durchkam, denn Lilo hatte Swantjes rasche Auffassungsgabe und profunde Menschenkenntnis schon immer bewundert, weshalb sie vorgab, dass es an der Tür geklingelt habe und sie das Telefonat nun beenden müsse.
»Du meldest dich aber bei mir, wenn dich etwas beschäftigt oder du einfach mal reden möchtest«, hörte sie Swantje noch sagen. Kurz bevor sie den roten Knopf auf ihrem Telefon drückte, murmelte Lilo noch ein »Danke, ja«.
Sie hielt ihr Handy noch eine Weile in der Hand, dachte über ihre Reaktion nach und kam schließlich zu dem Schluss, dass es niemanden etwas anging, wie es in ihrem tiefsten Innern aussah. Small Talk war ihr Ding, das Reden über Bücher und ihre Inhalte, nicht aber das Zurschaustellen ihrer eigenen Befindlichkeiten. Aus gutem Grund. Vor allem in jungen Jahren hatte sie aus einer gewissen Naivität und Arglosigkeit heraus oft vorschnell ihr Herz geöffnet, weil sie geglaubt hatte, ihre Mitmenschen würden es gut mit ihr meinen. Doch zu oft war sie bitter enttäuscht worden, weil diejenigen, denen sie vertraut hatte, hinter ihrem Rücken über sie getuschelt und ihre Offenherzigkeit ausgenutzt hatten, um sie bloßzustellen oder selbst in einem besseren Licht dazustehen. Das war einer der Gründe, warum sie in ihrer Schulzeit immer mehr Zeit mit Büchern verbracht hatte. Dass sie jedoch nicht zur Menschenfeindin geworden war, lag an ihrer Fähigkeit zur Differenzierung. Sie vermutete, dass sie einfach Pech mit ihren Mitschülerinnen und Mitschülern gehabt hatte. Im tiefsten Innern hoffte sie immer noch darauf, dass nicht alle Menschen aus Eigennutz handelten und sich aufrichtig für ihre Mitmenschen interessierten.
Sie hatte eine auf Altruismus beruhende Wissbegier für die Hintergründe des Handelns anderer beibehalten, war neugierig, nahm Teil an ihren Schicksalen und fragte nicht nur berufsbedingt nach Vorlieben und Wünschen. Doch niemals verhielt sie sich dabei aufdringlich, was zudem gar nicht ihrem Naturell entsprach. So war sie auch nie gleich auf die Kundinnen in ihrem Laden zugegangen, sondern hatte sie eine Weile unauffällig beobachtet, hatte registriert, wie sie vor den Bücherregalen auf und ab gingen, wie sie die Buchrücken betrachteten, wie sie mit den Werken umgingen, die sie in die Hand nahmen. Erst wenn die Kunden signalisierten, dass sie ihren Rat suchten oder sie direkt ansprachen, widmete sich Lilo ihnen mit Hingabe. Durch ihre Beobachtungen glaubte sie dann bereits einiges über die Menschen erfahren zu haben und konnte rasch die passende Empfehlung aussprechen, sofern sie das Buch für sich und nicht für jemand anderen erwerben wollten. Manchmal schloss sie mit sich selbst Wetten ab, wenn eine neue Kundin ihre Geschäftsräume betrat. In fünfundneunzig Prozent der Fälle lag sie richtig und wusste noch bevor diese das erste Regal ansteuerte, ob sie Liebesromane, historische Romane, Krimis, Fantasy oder Thriller bevorzugte. Und nun überlegte Lilo, ob eine ihrer Kundinnen den Thriller, den sie heute mit so großer Begeisterung gelesen hatte, im Büchertauschschrank deponiert hatte. Sie ging in Gedanken einige Gesichter durch und, wenn sie diese parat hatte, auch deren Namen und schrieb sie auf einen Block, der neben dem Kühlschrank lag. Anschließend nahm sie das Buch zur Hand und überprüfte es nach weiterführenden Hinweisen. Sie roch daran. Kein Raucherhaushalt. Sie meinte allerdings, eine leichte, eher herbe Parfümnote zu identifizieren. Parfümhaltig war heutzutage vieles, auch eine einfache Handcreme. Plötzlich musste sie lächeln. Glaubte Lilo ernsthaft, dass ihr nun geschlossener Buchladen die einzige Quelle für den Erwerb von Büchern darstellte? Die überwiegende Zahl der Leser bestellte ohnehin im Internet. Hinzu kam, dass sie sich beim besten Willen nicht daran erinnern konnte, diesen Titel überhaupt ein einziges Mal verkauft zu haben. Was nichts bedeuten musste, denn schließlich hatte sie vor allem vor den Weihnachtstagen die eine oder andere Aushilfe beschäftigt. Da das Buch jedoch erst ein Jahr alt war, müsste sie sich zumindest an die Abrechnungen erinnern. Der Thriller spielte in Irland, und sie fragte sich, ob einer ihrer Kunden ein Faible für diese Gegend gezeigt hatte. Damit nahm sie also doch den Versuch wieder auf, das Buch einer bestimmten Person zuzuordnen. Vielleicht gab es eine Buchbesprechung im Internet, die Lilos Erinnerungsvermögen auf die Sprünge helfen würde? Sie holte ihren Laptop aus dem Arbeitszimmer im zweiten Stock hinunter ins Wohnzimmer und suchte nach dem Buch auf den einschlägigen Portalen. Das Unterfangen schien aussichtslos, denn die Anzahl der eingestellten Rezensionen war so hoch, dass sie mit der Durchsicht zu viel Zeit vertrödeln würde. Statt sich weiter den Kopf über die Person zu zerbrechen, die das Buch zur Weitergabe aussortiert hatte, widmete sie sich der Lektüre selbst, denn sie musste unbedingt wissen, wie die Geschichte ausging. Wer immer das Buch gelesen hatte, verfügte über einen guten Geschmack. Das Buch war wirklich lesenswert.
Es dämmerte bereits, als Lilo die Lektüre beendet hatte. Sie holte im Internet Erkundigungen über den Autor ein, stellte aber rasch fest, dass man mit den Angaben über ihn sehr sparsam verfahren war. Dafür fand sie heraus, dass er in der Vergangenheit nicht untätig gewesen war und bereits einige Bücher veröffentlicht hatte. Da der Thriller nicht Teil einer Reihe war, könnte sie jeden Titel ohne Probleme einzeln lesen. Um ihre Freundin und Buchhändlerin Swantje zu unterstützen, bestellte sie den ersten Thriller in ihrem Online-Shop und schrieb ihr noch eine Textnachricht hinterher. Die Antwort kam prompt: »Das ist lieb. Danke schön!«
In den Fenstern ihrer Heimatstadt gingen nach und nach die Lichter an. Menschen kehrten von ihrer Arbeit zurück, manche in dunkle Wohnungen, manche in von einem freudig bellenden Hund, von lachenden Kindern oder einem Lebenspartner bewohnten. Obwohl Lilo ihre eigene Einsamkeit durchaus bewusst war, freute sie sich über diese Aneinanderreihung von Wiedersehensszenen, während sie durch die Straßen schritt. Noch lag der Büchertauschschrank im Dämmerlicht, doch kurz bevor Lilo ihn erreichte, sprang offensichtlich der Sensor an und die Regale begannen auf eine heimelige Art zu leuchten. Zusammen mit dem tiefdunklen Blau des Himmels entstand eine magische Wirkung. Lilo zog an dem Griff und trat dieses Mal ein, ohne dass die Tür ihr gleich darauf in den Rücken fiel. Sie sortierte den Thriller ein, überprüfte den übrigen Bestand und stellte fest, dass sich seit heute Morgen einiges verändert hatte. Die drei Bücher, die sie dort gelassen hatte, waren verschwunden. Sie hätte zu gern gewusst, wer sie mitgenommen hatte. Selbst suchte sie sich keines aus. Die wenigen neuen Bücher konnten bei Lilo kein Interesse wecken. Müde, aber sich durchaus zum Kreis einer abstrakten Lesergemeinschaft zugehörig fühlend, machte sie sich auf den Rückweg.
Da Lilo am anderen Morgen einen Termin beim Jobcenter in Steinfurt hatte, bereitete sie sich auf alle möglichen Fragen vor, die ihr gestellt werden könnten. Außerdem suchte sie Belege heraus, die man von ihr in dem Anschreiben verlangte, das sie bereits seit Tagen auf ihrem Schreibtisch liegen hatte.
Erwartungsgemäß wurde es eine unruhige Nacht.
Es stellte sich nicht gerade als vorteilhaft heraus, mit nur wenig Schlaf in den Knochen und einer eher ablehnenden Grundstimmung einem derart wichtigen Termin gegenüber im kommunalen Jobcenter zu erscheinen. Lilo wusste im Vorhinein, dass sie alles von sich preisgeben musste, und dieser Umstand behagte ihr ganz und gar nicht. Sosehr sich die Mitarbeiterin der Arbeitsagentur auch bemühte, die Situation mit einer geduldigen Freundlichkeit erträglich zu machen, stellte sich das Gespräch für Lilo als eine große Belastung heraus. Sie antwortete nur in kurzen Sätzen und schaffte es lediglich unter Aufbringung aller ihrer mentalen Kräfte, sitzen zu bleiben und zu verdrängen, dass sie fortan unter Beobachtung stehen würde und alles, was ihre Finanzen betraf, angeben musste, um überhaupt Bürgergeld beziehen zu können.
Wollte sie das alles wirklich? Gab es keine andere Möglichkeit, finanziell über die Runden zu kommen?
Dann bot ihr die Mitarbeiterin des Jobcenters auch noch Tätigkeiten an, die ihr viel zu wenig einbringen würden, um davon ihren bisherigen Lebensstil weiterführen zu können. Sogar noch nicht einmal ihr bescheidenes Leben fortzuführen! Als sie sich dies bewusst machte, wären ihr beinahe Tränen gekommen. Sie schaffte es gerade noch, sich zusammenzureißen und nicht wie ein Häufchen Elend auszusehen. Dafür hatte sie so viele Jahre gearbeitet. Irgendwann verlor die Mitarbeiterin des Jobcenters dann auch ihre Geduld mit Lilo, der sie die Konsequenzen ihrer mangelnden Kooperationsbereitschaft vor Augen führte. Als sie Lilo dann auch noch vorwarf, ihre jetzige Lage sei durchaus dem Umstand geschuldet, dass sie während ihrer Selbstständigkeit keine Arbeitslosenversicherung auf freiwilliger Basis abgeschlossen hatte, erreichte Lilos Stimmung ihren Tiefpunkt. Es kostete sie das letzte bisschen Kraft, sich dennoch höflich zu verabschieden und zu versprechen, ihrer Mitwirkungspflicht nachzukommen. Sie hatte schließlich keine Wahl.
Sie verließ das Gebäude so schnell wie möglich. Sie wollte nur noch nach Hause, sich dort einigeln und nie wieder einen Fuß vor die Tür setzen. So verbrachte sie den Rest des Tages damit, den zweiten Roman aus dem Büchertauschschrank zu lesen. Zwischendurch kochte sich einen Tee nach dem anderen, aß Kekse dazu, später eine Tütensuppe und fühlte sich immer elender.
Ein wenig Ablenkung brachte der Roman, der im Künstlermilieu im Übergang vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert spielte, allerdings lediglich für wenige Augenblicke. Immer wieder musste sie an ihren Termin von heute Morgen in der Arbeitsagentur denken. Plötzlich schien ihr die Befürchtung, ihr Haus über kurz oder lang verkaufen zu müssen, gar nicht mehr so abwegig. Aber das war doch ihr Zuhause. Hier hatten bereits ihre Eltern gelebt, hier war sie aufgewachsen, hatte in ihrem Zimmer ihren ersten Freund geküsst, hatte an diesem Ort einige schöne und viele weniger erfüllende Jahre mit ihrem Ex-Mann verbracht, nachdem ihre Mutter und kurz darauf ihr Vater verstorben waren. Sie hatte es nicht übers Herz gebracht, das Haus zu verkaufen und konnte Klaus, mit dem sie bis dahin in einer Dreizimmerwohnung gelebt hatte, dazu überreden, hier einzuziehen. Nach einer grundlegenden Sanierung, darauf hatte ihr Ex-Mann bestanden. Ihm war der Atem der Vergangenheit, deren Teil er nie gewesen war, ein Graus. Klaus war mittlerweile ausgezogen. Und Lilo war ihm trotzdem dankbar, dass er auf den Umbau gedrängt hatte. Denn sie liebte das Haus mit dem nun offenen Grundriss im Erdgeschoss und den bodentiefen Fenstern zum Garten hin, die viel Helligkeit hineinließen. Sie lebte gern hier.