Das Glück der kalten Jahre - Martyna Bunda - E-Book

Das Glück der kalten Jahre E-Book

Martyna Bunda

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Beschreibung

Ob ihr Mann das Meer gesehen hat, bevor er 1932 auf der Großbaustelle der Hafenstadt Gdingen tödlich verunglückte, wird Rozela nie erfahren. Von der staatlichen Entschädigung baut sie für sich und die drei Töchter ein Steinhaus mit Doppelfenstern, im kaschubischen Dorf eine Sensation. Dort überstehen sie die Schrecken des Krieges. Als die sowjetische Armee gen Westen zieht, bietet das Haus keinen Schutz mehr. Im Keller versteckt, muss Gerta, die älteste, mit anhören, wie ihre Mutter von Soldaten vergewaltigt wird.

Aber die Maxime der Mutter lautete stets: Kopf oben behalten, egal was passiert. Dies beherzigen auch die Töchter, allen voran die leidenschaftliche, lebenshungrige Truda, Sachbearbeiterin im Schifffahrtsamt, deren Mann für Jahre im Gefängnis des Geheimdiensts verschwindet. Ilda, Motorradfahrerin, arbeitet in der Umsiedlungsbehörde und liiert sich spät – mit einem Bildhauer, der ihr seine Ehe mit einer Deutschen verschweigt. Trotz gelegentlicher Ausbrüche, Zerwürfnisse, Trennungen sind Mutter und Töchter in entscheidenden Momenten füreinander da – vier starke Frauen, die in widrigen Zeiten wie Pech und Schwefel zusammenhalten.

Martyna Bunda beherrscht die Kunst, uns die Dinge mit den Augen der Figuren sehen zu lassen. In ihrem aufsehenerregenden Debüt gelingt es ihr, eine weibliche Familiensaga zu erzählen, deren Größe aus dem vermeintlich Kleinen und Alltäglichen erwächst. Naturgemäß kommt die Weltgeschichte nur in Nebensätzen vor, während das Wiedererwachen eingefrorener Gefühle in unvergesslichen Szenen festgehalten ist.

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Seitenzahl: 396

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Titel

Martyna Bunda

Das Glück der kalten Jahre

Roman

Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann

Suhrkamp Verlag

Widmung

Meiner Mutter, meiner Schwester, meinen Töchtern, unseren Großmüttern, Tanten, Freundinnen

Übersicht

Cover

Titel

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Inhalt

Winter

Ilda

Gerta

Truda

Rozela

Frühjahr

Rozela

Truda

Gerta

Ilda

Truda

Gerta

Ilda

Rozela

Ilda

Rozela

Truda

Ilda

Truda

Gerta

Rozela

Gerta

Truda

Ilda

Gerta

Truda

Rozela

Sommer

Truda

Gerta

Ilda

Truda

Gerta

Ilda

Rozela

Ilda

Gerta

Truda

Ilda

Gerta

Truda

Ilda

Gerta

Rozela

Gerta

Truda

Ilda

Rozela

Gerta

Ilda

Truda

Gerta

Ilda

Truda

Gerta

Rozela

Ilda

Truda

Gerta

Ilda

Truda

Gerta

Ilda

Rozela

Truda

Gerta

Ilda

Gerta

Ilda

Truda

Gerta

Rozela

Truda

Gerta

Ilda

Truda

Rozela

Gerta

Ilda

Truda

Rozela

Herbst

Truda

Ilda

Gerta

Rozela

Truda

Gerta

Ilda

Rozela

Gerta

Truda

Ilda

Gerta

Truda

Ilda

Truda

Gerta

Ilda

Rozela

Gerta

Ilda

Gerta

Truda

Rozela

Gerta

Ilda

Truda

Winter

Rozela

Truda

Ilda

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Winter

Ilda

Es war wohl Truda, die zweitälteste Schwester, die auf die Idee kam, die Rosen über Nacht in einen Eimer mit Tinte zu stellen. Etwas Farbe für die Symbolik, sagte sie. Wenn sie schon den letzten ihrer Männer beerdigten. Und es war wohl Gerta, die Älteste, die hinzufügte, ihr Kranz müsse zuoberst liegen. Vor der Messe steckte sie einem der Küster fünfzig Zloty in die Tasche, damit er nicht vergaß, welche Blumen oben liegen sollten. Der Küster, ein begriffsstutziger Kerl mit schlurfendem Gang, machte seine Sache gut, er breitete sogar die Bänder der Trauerschleife pietätvoll über die Seiten des Sarges. Auf ihnen stand: »Die Kaltherzige«.

Winter 1979. Ein nasser, nicht enden wollender Februar. Die gefärbten Rosen und die zwei weißen Plastikbänder landeten tatsächlich ganz oben auf dem Stapel, über den Lilien mit dem Schriftzug »Die treue Gattin« und den zahllosen Blumen, die man »Dem großen Bildhauer«, »Dem Stolz der Region«, »Dem Schöpfer der Unbefleckten« oder »Dem großen Sohn Pommerns« mit ins Grab gab. Doch was war das gegen »Die Kaltherzige«?

Anschließend gingen die Schwestern im Gleichschritt, Arm in Arm, und stützten Ilda, die jüngste. Links ging Truda, sonst der Mittelpunkt des Universums, mit munter hin und her schlenkernden Ohrringen, nun ausnahmsweise gesammelt und still. Rechts Gerta, immer wachsam, was die Leute sagten, an diesem Tag von allen die aufrechteste, kerzengerade. In der Mitte Ilda. Seltsam klein und zerbrechlich, trotz ihres wahrlich imposanten Busens, den man im Städtchen noch aus Zeiten kannte, in denen sie ihn in eine Lederkombi gezwängt hatte. Und vorneweg er, Tadeusz Gelbert, in einem silberbeschlagenen Mahagonisarg.

So zogen sie durch den weißgrauen Schnee, das rhythmisch schwankende Kreuz in den Händen des Küsters, die Ewig Liebende Gemahlin auf Kranzschleifen und am Kopf des Zuges, und hinter ihnen der Gemeindevorsteher, der Bankdirektor, Trudas einstige Untergebene, Nachbarn, Notabilitäten aus dem Bildhaueratelier und treue Grabsteinkäufer, Krämer, Kioskbesitzer und die beiden Kartuzer Taxifahrer – denn dieses Ereignis konnte sich niemand in der Stadt entgehen lassen –, und Stück für Stück arbeiteten die Schwestern sich vor zum Sarg. Mal schob sich Gerta, die älteste, von rechts eine Reihe vor, mal Truda, die mittlere, von links. Und so schlossen sie, trippelnd und scheinbar unabsichtlich schneller werdend, bei der frisch ausgehobenen Grube zur Gesetzmäßigen Witwe auf. Als sie sich am Sarg vis-à-vis gegenüberstanden, holte Ilda einen Lippenstift aus der kleinen Handtasche, die er ihr geschenkt hatte, und zog sich die Lippen nach. Die Leute erwarteten ein Schauspiel, also sollten sie eines bekommen.

Bevor es dunkel wurde, saßen die drei Schwestern in ihrem Haus in Dziewcza Góra am Tisch.

Truda fuchtelte wieder mit den Händen und redete zu viel. Erstaunlicherweise hielten nicht nur die Schwestern diese dürre Windsbraut mit den kurzen Beinen und dem langen Hals, der die vierzig längst hinter sich hatte, für schön. Vielleicht wegen des besonderen Charmes und des ungewöhnlich üppig sprießenden hellen, lebendigen Haars, vielleicht auch wegen der Art, wie Truda den Menschen in die Augen schaute – den Frauen herzlich und zugewandt, den Männern kühn und herausfordernd –, die Leute fühlten sich zu ihr hingezogen. Denn sie lebte. Wenn sie zu einer der Schwestern oder zur Mutter ins Bett wollte, kroch sie einfach hinein. Selbst jetzt noch, da sie langsam, aber unausweichlich in die körperliche Unsichtbarkeit verschwand, liebte Truda das Leben, und das Leben dankte es ihr.

Neben ihr saß eigentlich Gerta, doch der Platz blieb fast die ganze Zeit leer. Gerta musste Tee kochen, für die durchgefrorene und aufgelöste Ilda eine Decke finden, eine Tischdecke auspacken, die Tischdecke ausbreiten, Brot fürs Abendbrot schneiden. Gerta war Trudas exaktes Gegenbild. Dunkles Haar, dunkle Brauen und blaue Augen, gebaut wie eine Schwimmerin, eine Athletin; in Marmor gehauen und ins Museum gestellt, hätte man sie bewundert. Doch die »Bohnenstange mit den zu großen Füßen« konnte sich nicht in ihren Körper einfinden. Sie war praktisch bis zum Gehtnichtmehr, gründlich, dass es kaum zu ertragen war, fleißig, findig, verantwortungsvoll und mutig – und wusste doch immer, dass die Wäsche, die sie wusch, nicht weiß genug werden würde.

Mit diesem Charakter ähnelte Gerta von allen dreien am meisten ihrer Mutter Rozela, die im Bestreben, den Anforderungen des Lebens gerecht zu werden, anständig zu bleiben und alles richtig zu machen, immer ihren eigenen Weg ging. Als uneheliche Tochter einer unehelichen Tochter dazu bestimmt, in ewiger Schande zu leben, trug Rozela den Kopf hoch und hatte dies auch ihre Töchter gelehrt. Sie war vornehm. Obwohl Bäuerin. Sie war mutig. Obwohl Frau. Sie kam aus einem einfachen kaschubischen Bauernhaus, hatte weder das Alphabet noch die polnische Sprache richtig gelernt, doch sie hatte allein, ohne Mann, das erste gemauerte Haus in Dziewcza Góra gebaut. Vollgestopft mit Büchern, die sie nie würde lesen können.

Äußerlich kam Ilda der Mutter am nächsten. Sie hatte eine ähnliche Statur, war aber voller, als hätte sie von Rozela nur das Beste mitbekommen – den runden Busen, die breiten Hüften, die schmale Taille, die majestätischen Beine – und das noch vervielfacht. Nur die Beine waren ihr ein wenig krumm gewachsen. In den Knien gingen sie leicht auseinander, wodurch Ildas Gang an den eines Cowboys erinnerte. Und so war sie auch im Leben. Sie fuhr als Erste mit einem Motorrad durch die Stadt, in einer schwarzen Lederkombi, die sie erst auf Tadeuszs Geheiß gegen halbwegs feminin geschnittene Kleider eintauschte.

Heute aber, am Tag des Begräbnisses, wirkte Ilda wie eine der Heiligen aus der Kartuzer Kirche. Still, tief in Gedanken, den Blick aus der Küche hinaus über Hof und See in die Ferne gerichtet, ähnelte sie einer von Licht durchdrungenen Wachsfigur. Als hätte der gerade vergehende Tag ihr das Tor in eine andere Welt geöffnet. Doch im Geiste war Ilda noch immer auf der Herzstation im zweiten Stock des Danziger Krankenhauses in der ulica Kartuska, wo sich vor drei Tagen Tadeusz, der auf einem Metallbett mit gummierten Rädern schon mehr tot als lebendig dalag, mit einer Hand auf ein tausend Mal mit Ölfarbe übermaltes Nachtschränkchen gestützt und den Arzt gebeten hatte, seine Ehefrau hereinzuholen, um Ilda dann vor der nussfarbenen Wandvertäfelung, über einen kleinen Tisch hinweg, unter dessen weißer Lackierung graues, scharfes, ordinäres Metall hervorschien, mitzuteilen, das habe er seiner Treuen Gemahlin hoch und heilig versprochen. Und sie, Ilda, sei ja noch jung. Sie solle nicht ihr Leben mit ihm vergeuden. Seine Gemahlin werde sich um sie kümmern, falls er dieses Zimmer nicht mehr verlassen sollte. Nicht wahr, Gemahlin?

»Die Kaltherzige«. So stand es in kaltem Schwarz auf den Schleifenbändern.

Er war schon verheiratet, als sie sich kennenlernten. Ilda hätte ihn mit ihrem Motorrad fast ins Jenseits befördert. Was er als Zeichen ansah und mit der Sturheit eines Kindes zig Mal erzählte, als wäre sie nicht dabei gewesen: Dass just an dem Tag, an dem er endgültig den Glauben an seine prallen Madonnen verloren hatte und den Kritikern Recht geben wollte, ihm eine von ihnen erschienen sei – rittlings auf einer Sokół 1000. Und Ilda musste zugeben, dass die Statue aus weißem Zement, die mitten in Tadeuszs Atelier in Sopot stand, ihr – Ildas – Gesicht, ihre Brüste und ihren Hintern hatte. Es war keine Maria, wie man sie sonst zu sehen bekam.

Das Motorrad, die Sokół 1000, hatte sie im Januar 1945 aus dem Straßengraben gezogen – mit einer Kraft, die sie sich selbst nie zugetraut hätte –, nachdem hinter dem Haus in Dziewcza Góra auf der Straße nach Staniszewo der Treck vorbeigezogen war. Ein endloser Zug von Menschen mit und ohne Wagen, mit und ohne Kinder, bepackt mit großen Bündeln. Müde, gleichgültig gegen die Dorfbewohner, die sie aus den Fenstern beobachteten, hatten sie sich den Berg hinaufgeschleppt und im nassen Schnee eine sandige Spur hinterlassen. Plötzlich war die Stille von einem merkwürdigen Brummen durchbrochen worden. Als ob Bienen summten – doch woher hätten mitten im Winter so viele Bienen kommen sollen? Ilda hatte aus dem Fenster geschaut und gesehen, wie auf einmal die Leute schreiend auseinanderliefen, wie sie versuchten, sich im nassen Schnee zu verstecken, und dann war die Scheibe aus dem Rahmen gefallen. Warum war sie aus dem Haus gelaufen? Wie hatte sie, schmächtig wie sie war, mit ihren kleinen Händen die schwere Maschine, auf der noch ein Toter lag, aus dem Straßengraben ziehen können?

Wie von Sinnen war sie auf diesem Motorrad vor dem Toten und der an einen Baum gelehnten Frau davongerast, deren Blick ihr begegnet war – verwundert, aber tot. Vorbei an einem eingespannten Pferd, aus dem schon wer ein Stück Fleisch geschnitten hatte, vorbei an den in Panik zurückgelassenen Bündeln und Lumpenhaufen – bis nach Chmielno, wo sie beim Anblick des vertrauten Friedhofs wieder zu sich gekommen war.

In den darauffolgenden Tagen hatte sie mit ihrer Schwester, ihrer Mutter und den anderen Frauen aus Dziewcza Góra die Leichen begraben, ohne ihnen in die Gesichter zu schauen. Fünf Jahre lang, bis zu ihrer Flucht mit Tadeusz, vermied sie es, zum Hang hinüberzusehen.

Tadeusz Gelbert schien eine wahrhaft göttliche Macht über die Körper zu besitzen, die er aus dem Stein meißelte. Er kehrte nicht zu seiner Frau zurück, er ließ sich nicht scheiden. Als er Jahre später all ihre Kleider in den Ofen warf, konnte Ilda längst nicht mehr ohne ihn leben. Sie dachte, umgekehrt sei es genauso – überall auf den pommerschen Friedhöfen standen Madonnen mit ihrem Gesicht und ihren Brüsten, Engel mit ihren Händen und Füßen. Selbst ihr erster gemeinsamer Hund – ein Spaniel, die zottige Peggy – wurde im Grabmal des Danziger Prälaten in der Figur eines Greifs verewigt. Die Pfoten, das leicht gelockte Fell – scheinbar ein Löwe, aber in Wirklichkeit, nun ja, Peggy. Eine Schande.

Nach Jahren des Zusammenlebens begriff Ilda, dass die jugendlichen Motorradtouren in der Lederkombi noch gar nichts waren. Erst als sie mit hochgeschlossenem, gestärktem Kragen und der eleganten Spanielhündin an einer roten Leine durch die Straßen spazierte, wurde sie für die Leute in Kartuzy zu Luft. Selbst in den Küchen, zwischen den Töpfen und Gerüchen, im Eifer der Vorbereitungen von Feiertagen und Festen existierte nur jene frühere Ilda.

Der Lippenstift am Sarg war also bloß ein Detail eines größeren Ganzen, in dem die Rollen fest verteilt waren und dessen krönenden Abschluss die schwarze Aufschrift auf der Trauerschleife bildete. Der Wind und der begriffsstutzige Küster sorgten dafür, dass sie kilometerweit zu sehen war.

Gerta

1951, Spätwinter. Im Gleichschritt, Arm in Arm, marschierten die Schwestern zur abgelegenen Praxis eines Gynäkologen. In der Mitte ging dieses Mal Gerta, die immer auf die Meinung der Leute Bedachte und seit fünf Jahren Verheiratete, deren Ehe noch immer nicht vollzogen worden war. Die Feier zum vierten Jahrestag ihres ehelichen Zusammenlebens endete in einem Skandal, weil Edward, Gertas Mann, betrunken in der Kirche randalierte. Jetzt, da der fünfte Jahrestag nahte, drohte er damit, er werde sich auf den Markt stellen und in alle Welt hinausschreien, seine Frau sei unten vernagelt.

Abgesehen von der Neigung, nach übermäßigem Alkoholgenuss Unfug anzustellen, war Edward Strzelczyk, Gertas Gemahl, ein sanftmütiger Mensch, der jede Gewalt verabscheute. Dennoch zählte ihre Ehe nicht zu den gelungenen. Truda und Ilda sagten schon lange, sie müsse zum Arzt, doch Gerta hatte eine Heidenangst vor dem neuen Kartuzer Krankenhaus, wo man die Frauen mit den Beinen an Metallringen festband. Gerta würde sich niemals an den Beinen anbinden lassen! Also blieb alles, wie es war, bis Truda für die Schwester einen Arzt fand, der in der Stadt für seine verständnisvolle Art bekannt war. Er empfing seine Patienten nicht in dem schrecklichen Kartuzer Krankenhaus, sondern in einer Praxis, wo keiner dieser raffinierten neuen Gynäkologenstühle stand.

Die Praxis erwies sich als Zimmer in der früheren Pension Maria, die in Kartuzy keinen guten Ruf genoss. Es gab kein Schild an der Tür, und auch die Einrichtung erinnerte, wie die Schwestern beim Eintreten feststellten, nicht im Geringsten an eine Arztpraxis. Es war ein heruntergekommenes kleines Hotel, seit langem unbeheizt, mit einem Wartebereich hinter der Bar, aus der freilich der Alkohol verschwunden war, und mit einem scheußlichen weinroten Teppichbelag mit Flecken von Flüssigkeiten, deren Herkunft man lieber nicht wissen wollte.

Der Doktor wirkte überrascht, als die Schwestern ihr Anliegen vortrugen: Non consummatum, obwohl die Hochzeit fast fünf Jahre zurücklag. Er schaute mit weit aufgerissenen Augen drein und sagte, die Praxis sei eigentlich außer Betrieb, doch er bringe es nicht übers Herz, Pani Gerta fortzuschicken, und weil es so klirrend kalt sei und der Raum sich nicht heizen lasse, möge sie ihm doch bitte nach nebenan folgen, wo es wärmer sei. Dabei deutete er auf einen zweiten Raum, der an ein Kartenzimmer erinnerte und in dem einigermaßen ungeordnet verstaubte Tische, Stühle und Hocker herumstanden. Das Fenster war nicht verhangen, obwohl es zur ulica Sądowa hinausging, also entkleidete Gerta sich heimlich und nur unten und ließ den Rock an. Sie legte sich auf ein weinrotes Sofa, das extra für sie mit einem sauberen Bettlaken bedeckt worden war.

Der Doktor kramte im Hinterzimmer herum und verbot ihr, sich zu bewegen. »Sie haben großes Glück«, sagte er, »dass Sie mit der Jungfernhaut nicht an die Befreier geraten sind – die hätten Sie halb durchschneiden müssen, um einzudringen, und das wär's dann gewesen.« Zum Schluss, während er Gerta mit einer einfachen Taschenlampe zwischen die Beine leuchtete, benutzte er ein Endoskop aus Metall, das ein wenig aussah wie ein Lockenwickler. Er sagte, unten sei alles in Ordnung, sie werde Kinder bekommen. Er riet, dem Ehemann nichts zu verraten. Der solle sich freuen, dass er eine Jungfrau abbekommen habe, auch wenn er fünf Jahre habe warten müssen, um's herauszufinden. Die Schwestern gingen verwundert hinaus – die Menschen hatten den ganzen Krieg über auf jemanden gewartet. Sie warteten noch immer. Nicht allen war mit einem einfachen Schnitt zu helfen.

Und doch waren fünf Jahre eine lange Zeit. Gerta versuchte wirklich, eine gute Ehefrau zu sein. Sie kam jeden Tag in die Werkstatt. Um ihrem Mann Gesellschaft zu leisten. Sie setzte sich in das große Schaufenster, über dem außen das Schild mit der Aufschrift »Uhrmacher – Meister« hing, neben jenen Schreibtisch, mit dem ihre Ehe begonnen hatte. Sie stellte banale Fragen, erzählte, was in der Stadt und in Dziewcza Góra los war, sah ihrem Mann bei der Arbeit zu – kurzum, sie war für ihn da. Und keiner der beiden erinnerte sich mehr daran, dass an dem Tag, als sie einander begegnet waren, Edward in einer Aufwallung von Emotionen, deren Auslöserin sie, Gerta, gewesen war, alles heruntergeworfen hatte, was auf der Tischplatte lag – all die winzigen Zahnräder, Federn, seltsamen Hybriden, Schraubenzieher, Lupen und Kolophoniumstückchen, die wie Bernsteine aussahen. Damals waren sie, beide gleichermaßen erregt, gemeinsam auf den Knien herumgerutscht und hatten alles wieder eingesammelt, wobei sie unbeholfen immer wieder aneinanderstießen. Seit sie seine Ehefrau war, räumte sie das Durcheinander jeden Tag alleine auf, ohne zu klagen. Sie sortierte die Schrauben in ein eigenes Kästchen, die Zahnrädchen in ein anderes und wunderte sich, wie wenig Zeit es brauchte, bis wieder alles auf der Tischplatte durcheinanderlag. Während sie die leeren Kästchen von der Fensterbank nahm, dachte sie, mit ihnen sei es ähnlich wie mit ihr, sie lägen herum, niemandem zu etwas nütze, doch gleich darauf schalt sie sich innerlich selbst für diese Schwäche.

Zur Mittagszeit verließ sie die Werkstatt, um aus der Küche der dahinter gelegenen Wohnung tadellos angerichtete Kartoffeln mit einem Stück Fleisch in Senfsoße, einem Klops oder einem Zwiebelhering zu holen. An den Nachmittagen brachte sie die Wohnung in einen ehegemäßen Zustand: In dem einzigen, nicht ganz kleinen, aber dunklen Zimmer verzierte ein bestellter Handwerker mit Hilfe von Schnüren und Rollen die Wände, ein anderer schnitt den Schrank so zurecht, dass er zwischen Ofen und Fenster passte. Außer dem von Edward gekauften Ehebett, dem Schrank sowie einem Tisch und Stühlen brachte Gerta noch zwei Sessel unter. Mit der Zeit sollten noch zwei Klaviere hinzukommen, eines davon ein sehr anständiges Instrument, innen mit rotem Plüsch und Straußenfedern ausgekleidet – ein Luxus, dessen Sinn Gerta nie zu begreifen vermochte.

Nach dem Mittagessen nahm Edward sein Fahrrad und fuhr um die Seen. Gerta räumte währenddessen meist die Werkstatt auf, manchmal, wenn sie Lust hatte, beendete sie eine Arbeit ihres Mannes; während der langen Vormittage, an denen sie ihm auf die Hände schaute, hatte sie unbemerkt das Handwerk erlernt – sie wusste, wie man die winzigen Zahnräder löste, wie man zur Feder gelangte, der Seele der Uhr, und wie man das Pendel regulierte, damit es den Rhythmus aufnahm. Wo die echten Rubinstücke lagen, die man auswechseln musste, wenn die Uhr zu schnell ging. Was man brauchte, wenn der Phosphor abbröckelte, wie man ihn mit einem Pinsel auf das Zifferblatt auftrug, damit Ziffern und Zeiger in der Nacht sichtbar waren. Allerdings mochte Edward es nicht, wenn sie sich an den Uhren zu schaffen machte. Also suchte sie sich neue, praktische Aufgaben. Sie legte Gemüse ein. Bald füllten Gläser mit Kraut und Gurken in mehreren Reihen die ganze Wand. Sie legte ein, bis sie eine neue Passion entdeckte – das Polieren von Metall. Nachdem sie herausgefunden hatte, wie leicht man alten Löffeln frischen Glanz geben konnte, kamen erst das übrige Besteck, dann Knöpfe und Tabletts an die Reihe. Die verschiedensten Stücke, auch bei den Nachbarn eingesammelte, weichte sie in einer Lösung aus Salz und destilliertem Wasser ein und ließ sie in Schüsseln vor sich hin köcheln. Hartnäckigere Fälle behandelte sie zusätzlich mit einer Bürste und einer selbst erfundenen Paste aus zerriebener Kreide, Minzöl, Gummi arabicum und Indigo. Auf diese Leidenschaft folgte die Richelieu-Stickerei, im Schlingstich gestickte Blumen, zwischen denen Gerda mit einem scharfen Messer Spitzenmuster ausschnitt.

Auf diese Weise verzierte sie Dutzende, vielleicht sogar Hunderte Bettlaken, Tischdecken, Servietten, Läufer, Blusen und Schürzen, bis sie schließlich im Jahr 1951 eines dieser gestickten Bettlaken in ihrem eigenen Bett mit ihrem eigenen Blut befleckte.

Truda

Ein besonders kalter Winter, kurz vor Weihnachten. 1945. Die drei Schwestern gingen im Gleichschritt, Arm in Arm, in der Mitte Truda – stumm und verzweifelt. Sie waren auf dem Heimweg aus Garcz, vom Bahnhof. Der Zug war eben abgefahren und mit ihm Jakob, den Truda nicht heiraten würde, um der Familie keine Schande zu machen.

Am frühen Morgen desselben Tages hatten Truda und Jakob Richert, der Sohn deutscher Eltern, in der Tür des Hauses in Dziewcza Góra gestanden. Er mit einem Kranz aus leicht verwelkten weißen und roten Rosen, die er trotz des Winters irgendwo aufgetrieben hatte, sie mit blondiertem, aber noch immer zottigem Haar, stattlicher, schöner, mit beiden Händen an seinen Arm geklammert.

Drei Jahre zuvor hatten sie am selben Bahnsteig eine ganz andere Truda verabschiedet: abgemagert und verängstigt. Zusammen mit Tausenden anderen, die einander gleichwohl ähnelten, war sie zur Arbeit im Reich eingezogen worden. Und als der von den Deutschen in die Stadt entsandte Häuptling der Mutter empfahl, sie solle der Tochter auch Sommerkleidung einpacken, obwohl gerade erst der Winter begonnen hatte, wussten sie Bescheid.

Jakob hatte sie nach drei Jahren Zwangsarbeit in deutschen Fabriken halbtot in Berlin wiedergefunden: auf dem Kopf Berliner Platinblond, auf den Lippen Zinnoberschminke, doch darunter – eine runzlige Greisin, die zu oft dem Tod von der Schippe gesprungen war, als dass noch echtes Leben in ihr hätte sein können.

Einen Tag vor Jakobs Ankunft war der Bunker eingestürzt. Die Trümmer, unter denen die Deutschen begraben wurden, hätten auch Truda verschüttet, wenn man sie hineingelassen hätte. Die Deutschen hatten gesagt, die Polin nehme ihnen die Luft weg. Sie stand in einem Türsturz, auf der Innenseite. Vom gesamten Gebäude blieb nur eine einzige Wand übrig – solide und dick, und in der Wand der Bogen mit der Tür. Der Staub fraß sich in ihre Augen und machte sie fast blind.

In der verwanzten Baracke, in der noch der Schweiß der Kriegsgefangenen und der Vorbewohner hing, stand vor dem verschütteten Keller eine Pritsche. Auf dieser Pritsche zog Truda jede Nacht ihren Rock fest über den Kopf, damit ihr keine Wanzen in die Augen krochen – unten war sie nackt, die Unterhosen hatte man ihr abgenommen.

Noch früher waren da ein paar widerlich dicke und lüsterne Deutsche, die sie und die anderen Mädchen aus dem Zug bis auf die Haut auszogen. Sie hatten auch Stöcke und vergnügten sich damit, ihnen im Schamhaar herumzustochern, sie auf den Hintern zu schlagen, ihre Brüste anzuheben, ihnen die Stöcke zwischen die Pobacken zu schieben. Oder die nackten, durchgefrorenen, im Frost stehenden Frauen mit eiskaltem Wasser abzuspritzen. Nach dieser Hygienedusche gab man ihr von all ihrer Habe zwei Kleider und einen Wollmantel zurück, feucht und verfilzt. Sie zwängte sich mit Gewalt in dieses steife, klebrige Korsett.

Unterwäsche erhielt sie erst nach vielen, vielen Monaten von Marie, ihrer Vorarbeiterin in der Porzellanfabrik. Sie stieg regelmäßig zu ihr hinauf ins Dachgeschoss, wie ein Schaf, wie eine Puppe, und ließ sich von ihr ausziehen. Von Marie stammte das Berliner Blond. Marie saß in dem Bunker, in den man Truda nicht hineinließ.

Jakob fand sie in den Trümmern, wie durch ein Wunder hatte sie überlebt, sie war verwirrt, wusste nicht, wo sie war. Er sagte den Deutschen aus der Fabrik, er habe vereinbart, eine Arbeiterin mit Deutschkenntnissen mitzunehmen. Er meldete jemandem, der mit einem Gewehr umherging, das Mädchen, das aus den Ruinen gekommen sei, gehe mit ihm, und schubste sie Richtung Ausgang: »Raus mit dir!« Die Deutschen zuckten die Achseln, sollte sie nur verschwinden, sie hatten Wichtigeres zu tun. Und so nahm der Wehrmachtsdeserteur die polnische Arbeiterin mit. Das war noch, bevor auf dem Reichstag die sowjetische Flagge gehisst wurde.

In den folgenden Wochen gab Jakob Truda das Leben zurück. Sie flohen in Kohle- oder Personenzügen, er mit einem von Hühnerblut getränkten Kopfverband und dem Arm in einer Schlinge, sie mit stümperhaft gefälschten Papieren. Die Nächte verbrachten sie in verlassenen Häusern. Nahe der alten und neuen polnischen Grenze gab es davon genug. Sie fuhren, ohne selbst zu wissen, dass die Deutschen schon kapituliert hatten. Manchmal nahm jemand sie für ein paar Stunden auf und gab ihnen etwas Warmes zu essen, meist aber schlichen sie sich in leerstehende Gebäude.

Hätte er ihr gesagt, sie solle die Schminke vergessen, die sie noch in Berlin anstelle von Brot gekauft und unterwegs verloren hatte, dann wäre sofort klar gewesen, dass sie eines Tages voneinander enttäuscht sein würden. Doch er versprach, er werde ihr die Schminke zurückbringen. Und er brachte sie zurück. Und es spielte keine Rolle, dass das Etui ein anderes war, dunkler und ohne Spiegel. So begann zwischen ihnen ein einzigartiges, unwiederholbares Mysterium. Sie liebten sich rhythmisch, ohne Hast, und sahen einander durch Tränen der Rührung in die Augen, sie fielen aus der Zeit in einen Raum jenseits von Erde, Kosmos und Tod.

Sie hatten es nicht eilig auf ihrer Reise, denn sie wussten beide nicht, ob der Tag, an dem sie ihr Ziel erreichten, nicht auch der Tag ihres Abschieds sein würde. Sie sprachen nicht darüber, ob sie wirklich heimkehren wollten oder sollten. Er hielt es für selbstverständlich, sie war zu dankbar für seine Fürsorge, um ihn zu fragen. Er brachte sie zurück, obwohl sie nicht fahren wollte.

Truda bedauerte später noch jahrelang, dass aus dieser Reise kein Kind hervorging. Aus dieser alles durchdringenden Liebe hätte ein Gott geboren werden sollen. Aus den Nächten in den komplett ausgeräumten Wohnungen, in der halb niedergebrannten Scheune, in der von Glassplittern übersäten Kirche, weil die Flugzeuge so tief geflogen waren, dass die Bleiglasfenster aus den Rahmen gesprungen waren. Sie hatten sich mit solcher Inbrunst übereinander hergemacht, dass ein Kind hätte entstehen müssen. Dann hätte vielleicht die Mutter nicht anders gekonnt. Besser einen Deutschen im Haus als noch einen Bastard in der Familie …

Aber es gab kein Kind. Jakob wollte, dass sie warteten. Bis der Schnee geschmolzen sei, bis die Wunden des Krieges getrocknet seien. An einem Dezembertag begleiteten ihn daher die drei Schwestern zum kalten, unter Schnee begrabenen Bahnhof. Sie mussten warten, weil der Zug Verspätung hatte – oder vielleicht hatte er gar keine Verspätung, alle wussten ja, dass die Züge fuhren, wie sie konnten. Truda hielt sich mit beiden Armen an Jakob fest, zum ersten Mal in ihrem Leben betete sie zur heiligen Barbara, deren Kopf die Weichsel hinauf zu schwimmen vermochte, dass dieser Zug nie einfahren möge. Zurück blieb ein leerer Bahnsteig.

Rozela

Als sie ihre drei Töchter – Gerta, Truda und Ilda – in ihrem neuen Haus ins Bett legte, dachte Rozela, dass sie es wohl niemals warm bekommen würde. Es war Winter, 1932. Die Wände hatten noch nie Wärme gespürt.

Es war ein solides Haus, das erste gemauerte Gebäude im Dorf, mit Klinkerdach und Doppelfenstern, die viel größer waren als die des alten Holzhauses. Innen war es hell vom Weiß der Wände und vom Glanz des Schnees vor der Tür. Rozela deckte ein großes Daunenfederbett über die Töchter in ihren Pullovern.

Das Haus hatte sie von der Entschädigung für den Unfalltod ihres Mannes Abram Groniowski bauen lassen, der beim Aufbau von Gdingen in der ulica Wolności von einem Gerüst gestürzt war. Sie hatte sich hinterher oft gefragt, ob Abram das Meer gesehen hatte, während er fiel. Sie selbst hatte noch keine Gelegenheit gehabt, es zu sehen, doch sie konnte sich seine Wucht, seine Kraft und seinen Geruch vorstellen. Ob Abram das Meer gesehen hatte, wurde nie ermittelt, doch das Geld von der Versicherung erhielt sie so schnell es irgend ging. Jemand aus der Stadt brachte die Nummer des Kontos in der Kartuzer Bank, damit die Witwe das Geld abheben konnte.

Wer Abram wirklich war, hatte sich nie herausfinden lassen. Noch zu Lebzeiten von Rozelas Mutter Otylia war er eines Tages aufgetaucht. Ein Auto, eines der ersten, die man in Dziewcza Góra zu sehen bekam, blieb auf der Straße liegen und rührte sich nicht mehr vom Fleck. Die Panne ereignete sich unmittelbar vor den Fenstern des alten Holzhauses. Dziewcza Góra zählte damals fünfzehn Häuser, die zwischen See und Berg verstreut waren. Das alte Haus, das kleinste und ärmste im Dorf, lag direkt am Hang. Sie wohnten darin zu zweit – Rozela und ihre Mutter Otylia. Um nicht zu verhungern, bauten sie im Garten Kartoffeln und Roggen an, hielten Hühner und verdingten sich auf den umliegenden Höfen. Das Dorf mischte sich nicht in ihr einsiedlerisches Leben ein, und auch sie hielten sich von den Nachbarn fern. Selbst wenn sie in der Vorerntezeit tagelang Suppe aus getrockneten Brennnesseln essen mussten, selbst wenn sie wochen- oder monatelang kein Brot hatten, hätte Otylia sich nie dazu herabgelassen, jemanden um etwas zu bitten. Das Weibsstück mit dem Kind. Die Mutter des kleinen Bastards. Nein, sie wollte den Leuten keinen Grund geben, sich auf ihre Kosten besser zu fühlen.

Sie, die in ihrem ersten, besseren Leben auf dem Gut in Staniszewo gedient hatte, hätte sich nicht auf die Bänke gesetzt, die man vor den Häusern direkt in den Sand stellte und auf denen man von Frühjahr bis Herbst abends barfuß saß. Denn auch die Nachbarn luden die junge Frau mit dem Kind nicht auf ihre Bank ein. Wenn Rozela durchs Dorf ging, trug sie immer Schleifen an den Zöpfen. Die Mutter hätte ihr eher die Haare ausgerissen, als sie ungekämmt aus dem Haus zu lassen. Den Nachbarn sagte Rozela nur ein kurzes, kühles »Guten Tag«, auf das ihr manchmal jemand antwortete. Dziewcza Góra war in diesem Punkt wie jedes andere Dorf. Immer gab es ein Haus, über das man nur hinter vorgehaltener Hand redete, dessen Bewohner man zu Tauffeiern einlud und zugleich hoffte, sie würden nicht kommen. Rozela stammte aus einem solchen Haus.

Sie lebten also zu zweit im letzten und ärmsten Haus des Dorfes – bis zu dem Tag, an dem Abram Groniowskis Auto liegenblieb. Abram fragte bei ihnen nach einem Stück Draht, um die Gangschaltung von unten an der Getriebestange zu befestigen. Doch es schneite, und das zwischen dem glatten See und dem Hang verschwimmende, sich zerstreuende weißblaue Licht verlieh womöglich dem Haus, der Küche und Rozela eine magische, geheimnisvolle Aura. Er fragte nach Draht und blieb zum Tee. Er sagte etwas über den märchenhaften Vornamen der Tochter der Hausbesitzerin und über den merkwürdigen Ortsnamen – Dziewcza Góra, Mädchenberg, dann fragte er Rozela, ob sie im Schlaf träume. Sie antwortete, es sei besser, nicht zu träumen, denn in Träumen ließe sich vieles entdecken, und nichts sei für den Menschen schlimmer, als zu viel zu wissen. Ihre Stimme klang ein wenig schrill, als versuche sie, sie höher wirken zu lassen. Er dachte, sie wolle sich über ihn lustig machen.

Er sagte ihr, sie sei ein Fräulein wie bei Kraszewski – wer auch immer das sein mochte –, ganz anders als die Städterinnen, die auf hohen Absätzen in die Büros stöckelten und auf Schreibmaschinen tippten, bis sie den Herrn Abteilungsleiter heirateten – sofern das Glück ihnen hold war – und in ihre Mietshäuser mit den blankgeschrubbten Toiletten im Parterre zurückkehrten. Er fügte noch ein paar Sätze über die Tiere hinzu, die in der Wahrheit lebten und stürben, doch sie verstand nicht, worum es ihm eigentlich ging. Dann schaute er ihr direkt in die Augen und sagte, während er den Blick leicht auf ihren Busen hinabgleiten ließ, sie wären nicht das erste derartige Paar, wenn sie ihn heiraten würde.

Rozela, Otylias uneheliche Tochter, hatte nie geglaubt, dass sie einmal heiraten würde, obwohl sie einen kräftigen Körper hatte, schöne mädchenhafte Arme und breite Hüften, einen großen Po und wohlgeformte Schenkel wie eine Stute. Sie wusste sehr wohl: Es hätte jede andere junge Frau sein können, aber wenn dieser Herr ihr vor dem Altar die Treue schwören wollte, dann war es von Gott so gewollt. Ihre Mutter hatte der Verlobte kurz vor der Hochzeit sitzen lassen, als sie schon in ihrem Bauch heranwuchs, was konnte ihr also Schlimmeres widerfahren? Noch im selben Winter stand sie im dunkelblauen Rock und himmelblau gestickten Mieder – ihr künftiger Gemahl hatte ihr ein großes Knäuel Seidengarn mitgebracht und sich gewundert, dass sie kein ganzes Kleid fertigbekam – in der Chmielnoer Kirche vor dem Altar und sagte ja. Und der allmächtige, gütige Gott besiegelte den Bund.

Am Tag darauf starb Otylia, die taktvoll abgewartet hatte, um die Hochzeit nicht zu verderben. Sie legte sich schlafen und wachte nicht wieder auf. Als man sie drei Tage später auf dem Friedhof neben der Chmielnoer Kirche begrub, war Rozela allein. Ihr Mann hatte sich aufgemacht, den nächsten Gipfel zu erobern. Es tat sehr weh, als sie neun Monate später ihre erste Tochter gebar. Die zweite und die dritte, gezeugt in den seltenen Momenten, in denen ihr Mann zu Hause war, brachte sie ebenfalls in seiner Abwesenheit zur Welt. Er tauchte, von einem Instinkt geleitet, immer rechtzeitig auf, um ihnen Namen zu geben – einfache und kaschubische.

Als Gerta schon auf der Welt war, wurde er Fischer und fuhr zwei Jahre auf einem Kutter auf die Ostsee hinaus. Er versicherte jedes Mal, falls er eines Tages nicht zurückkommen sollte, werde sich jemand melden und die Dinge regeln. Dann verschwand er wieder und tauchte irgendwann wieder in Dziewcza Góra auf. Er saß reglos auf dem Brunnen, erzählte von einem Menschen namens Siddhartha und sagte, wie Gott: »Ich bin, der ich bin.« Auf dem Feld vor dem Haus versuchte er Pferde zu züchten, doch das langweilte ihn bald. Er begann mit der Imkerei, doch die Bienen verschwanden auf die Bäume der Umgebung. So lebten Abram und Rozela acht Jahre aneinander vorbei, bis Abram, der sich gerade als Lohnmaurer verdingt hatte, vom Gerüst fiel.

Der Mann, der wegen der Entschädigung kam, fragte, ob Rozela wirklich allein ein Haus bauen wolle. Warum sollte sie keines bauen? Am Tag nach dem Begräbnis brachte sie die Töchter ins Dorf, zu Nachbarn, und fuhr nach Kartuzy, um einen Maurer zu finden. Sie war zum vierten Mal schwanger, doch offensichtlich wusste der allmächtige, gütige Gott ihre Kräfte einzuschätzen: Die Schwangerschaft endete vorzeitig, das Haus wurde gebaut. Sie versöhnte sich mit ihrem Mann. Selbst die kupfernen Türgriffe und die kleinen Glasscheiben in drei Farben entsprachen den Plänen, die er für ihr künftiges Heim gemacht hatte. An den Kronleuchter im Wohnzimmer hängte sie einen Strauß aus den – angeblich ewig haltbaren – Polymerblumen, die die Ingenieure aus Gdingen per Post für Abrams letzten Weg geschickt hatten.

Eingeweiht wurde das Haus in dem außergewöhnlich kalten Winter sieben Jahre vor dem Krieg. Die drei kleinen Mädchen saßen in einer Reihe auf dem Bett, und vier Männer, die aus Gdingen direkt von der Baustelle geschickt worden waren, trugen die Möbel herein. Allesamt neu, mit Ausnahme des Ehebetts, in dem Abram die Töchter gezeugt hatte, doch das hatte nichts von Sentimentalität. Rozela hatte zu große Achtung vor den Dingen, als dass sie in ihrem Leben mehr als ein Bett gekauft hätte.

Die folgenden neun Jahre verlebten sie in Ruhe und Wohlstand. Rozela schickte die Töchter nach Kartuzy auf die polnische Schule, dann aufs Gymnasium. In der Erntesaison gingen die Mädchen statt zur Schule in die Erdbeeren oder Kartoffeln, immer aber, wie ihre Mutter, mit Schleifen an den Zöpfen.

Im Krieg nähte Rozela dicke Vorhänge. Sie hingen zur Bergseite hin. Als die Armeen vorüberzogen, fehlte im Haus immer noch eine Tochter. Einen weiteren Sommer und einen weiteren Herbst hielt Rozela am Fenster Ausschau nach Truda.

Doch, o Wunder, an jenem Dezembertag hörte sie sie gar nicht. Zuerst roch sie den Gestank: Der üble Männergeruch drang ein, ehe sie den Blick zur Tür wandte. Sie kannte diesen Geruch, jede Zelle ihrer Nase, jede Pore ihrer Haut erinnerte ihn. Ihr ganzer Körper wollte vor ihm weglaufen. Truda, die lang Ersehnte, kam mit einem Mann ins Haus. Für Rozela war sie freilich unsichtbar. Rozela sah nur ihn. Der Mann sagte: »Na, da wären wir«, und machte drei Schritte auf sie zu. Truda, die hinter ihm stand, sagte etwas zur Mutter, doch für Rozela existierte nur der schlechte Geruch des Mannes. Vielleicht, wenn sie ihr Zeit gegeben hätten? Das Feuer knisterte im Ofen, Rozela erstarrte.

Dann brach es aus ihr heraus: »Hau ab! Verschwinde! Raus!«, schrie sie mit aller Wut, zu der sie imstande war, und warf nach ihm, was ihr in die Hände kam. Die beiden standen da und sahen mal einander an, mal Rozela. Sie zwang ihren Körper mühsam zur Ordnung und sagte, während sie mit einer Geste, die als beiläufig durchgehen konnte, ihren Rock glattstrich: »Raus aus meinem Haus!« Einen Deutschen werde ihre Tochter nicht heiraten. Nur über ihre Leiche.

Er ging. Truda lief ihm nach, die Schwestern folgten ihnen.

Rozela legte Holz aufs Feuer. Sie setzte den Kessel auf. Sie knetete mit den Fingern Klöße aus Kartoffelmehl. War vielleicht selbst das Holz, das unter dem weißen Kachelherd knarzte, so unwirklich wie dieser Besuch? Der Körper spürte noch immer den Gestank, der Körper erinnerte sich, wie viel Zeit es brauchte, die Bolzen eines Bügeleisens im Feuer aufzuheizen. Es brauchte sehr viel Zeit. Das Blut, das zuvor vor Angst erstarrt war, würde wieder fließen, die Haut würde noch sensibler und empfindlicher werden. Als an jenem Morgen die Iwans kamen, diese sechs oder sieben, vielleicht auch sechs Milliarden, erhitzte sich das Metall unter dem Herd ganz langsam. Zuerst vergewaltigten sie sie, einer nach dem anderen, und zum Schluss legten sie Rozela das glühende Bügeleisen auf den Bauch.

Sie wollten Geld. Den Kraszewski aus Abrams Nachlass, der auf gutem Papier gedruckt war, zerrissen sie, um sich Zigaretten zu drehen, die sie dann auf ihrer Haut ausdrückten. Unablässig fragten sie: Wo? Doch sie konnte ihnen nichts geben, was sie selbst nicht besaß. Das dauerte tausend Jahre oder vielleicht ein paar Tage, bis die kleine, magere Truda auftauchte. Sie wurde von einem Trupp Soldaten mit vorgehaltener Waffe gebracht. Sie weinte, und die Zöpfe flatterten ihr um die Ohren. Truda!? Nein, nur nicht sie! Lasst Truda in Frieden! Rozela übergab sich auf die Hose eines blonden Soldaten. Der wurde wütend und begann sie zu prügeln und zu treten. Es vergingen vielleicht noch einige Stunden oder vielleicht ein paar Tage, bevor sie wieder aufstand. Ach, der Kopf. Das konnte unmöglich Truda gewesen sein! War vielleicht gar kein Mädchen da gewesen?

War vielleicht gar nichts passiert? Sie hätte das wirklich geglaubt, wäre da nicht die Spur des Bügeleisens gewesen. Eine matschige, blutige Fleischwunde, die Rozela selbst so wenig anschauen wollte, dass sie sie sofort unter zwei Röcken verbarg.

Wann und wie sie aufs Feld hinausgekommen war – sie wusste es nicht. Sie bemerkte nur, dass die weiche Erde feucht vom Schnee war. Das erste Gras kam schon durch. Wind. Der Himmel. Sie klopfte die Schürze aus und kämmte sich mit der Hand durch die Haare. Sie blieben ihr zwischen den Fingern hängen. Sie packte noch einmal zu. Wieder blieb ein Büschel hängen. Sie sah zu, wie der Wind diese schwarzen, weichen, verblichenen Haare packte und weit davontrug, wie sie hoch über den Feldern davonflogen und verschwanden. Alle. Rozela ging ins Haus zurück und band sich ein Kopftuch um.

Frühjahr

Rozela

Wirklich, was vorher war, spielte nun keine Rolle mehr. Der Bienenschwarm, der während des ganzen Krieges orientierungslos umhergeschwirrt war, hatte schließlich einen dicken, soliden Ast gefunden. Der Apfelbaum trug zum ersten Mal Früchte – grün und sauer – und wartete, dass man sich endlich um ihn kümmerte. Am Hang des Berges, wo einst reihenweise die Toten gelegen hatten, wuchsen jetzt Gänsedisteln, man konnte sie kiloweise abmähen, zuckern und kochen, um dann einen zähen Heilsirup einzuwecken. Die wild verstreuten Gräber waren mit Klee bewachsen, unter dem dichten Grün war ihre längliche Form kaum noch zu erkennen. In Häuserruinen wucherten Brennnesseln.

Nach fünf Jahren Krieg war es jetzt an der Zeit, das Leben wieder an seinen rechten Platz zu rücken. Den Apfelbaum kalken, damit die Würmer herauskrochen, den Zaun reparieren, die Johannisbeeren richten und schneiden, den Brunnen säubern – das war das Wichtigste. Sobald der Schnee geschmolzen war, fischten Truda und Gerta mit einer langen Stange alles heraus, was man hineingeworfen hatte. Den Fang breiteten sie säuberlich geordnet unter dem Küchenfenster aus: ganze sechsunddreißig Flaschen, achtzehn leere Konservendosen – Schweinemett, aber mit Adler auf den Etiketten –, Schuhe, Kleider, Kochgeschirr, Glasscherben; zwei Armeegürtel, an denen eine tote Katze hing – zum Glück war der Kadaver an einem Stück Blech oberhalb des Wasserspiegels hängengeblieben; ein Holster, zwei Schuhsohlen. Eine vermoderte Männerhose.

Die Flaschen legten die Schwestern zur Seite. Rozela dachte kurz daran, die Büchsen zu retten, die verbrannt werden sollten; das Blech war gut für Johannisbeerstecklinge oder um aus Seifenresten ein neues Stück zu machen. Sie winkte ab. Kurz darauf sah sie, wie Gerta eine nach der anderen mit einem Stock aus dem Feuer schob.

Das Feuer machten die Töchter ausgerechnet an der Stelle mitten im Hof, wo auch die russischen Soldaten ihr Lagerfeuer angezündet und einen verbrannten Fleck Erde hinterlassen hatten. Wie einen Stempel. Truda versuchte mit feuchten Streichhölzern, die Flammen zu entfachen. Die hatten sie von dem Händler bekommen, der mit den in dieser Zeit nötigsten Dingen umherreiste und ungeachtet seines blonden Haars der Zigeuner genannt wurde. Kräftig, breitschultrig, die Haut weißer als es Rozela je gesehen hatte, und ein leicht rötlicher Bartansatz – der Zigeuner hatte schon mehrfach bei ihnen Halt gemacht.

Zu den Streichhölzern hatten sie einen Welpen bekommen. Eine scharfe Rasse, versicherte der Rote Zigeuner. Fast ein Kaukasier. Rozela wollte ein möglichst bedrohliches Tier, um das Haus zu bewachen, allerdings keinen Russen. Aber das ist doch ein polnischer Hund, erklärte der Händler leicht gekränkt. Unterdessen nahm Truda das Hündchen auf den Schoß, die kleine flauschige Kugel bebte vor Angst. Also machte Truda das übliche Theater: Das Hundilein brauche keine Angst haben, es werde bei ihnen bleiben, und sie werde dafür sorgen, dass es ihm gut gehe. Das alles sagte sie mit zitternder Stimme, dazu raufte sie sich die Haare und rang die Hände.

Der Rote Zigeuner, der noch immer darauf beharrte, dass es ein sehr bedrohlicher Hund sei, legte noch eine Kette drauf, fast drei Meter, obwohl er beteuerte, ein halber genüge. Truda verdrehte weiter die Augen. Da baute er ihnen umgehend auch eine Hundehütte aus im Feld herumliegenden Blechteilen, die einst zu einem Flugzeug gehört haben mussten. Bis es ihr nach ein paar Wochen langweilig wurde, lief Truda gleich nach dem Aufwachen hinaus zum Hund, und ihr hinterher mit schnellem, energischem Schritt Rozela, die ihre Tochter daran erinnerte, was noch alles im Haus zu erledigen war.

Es gab immer noch mehr als genug zu tun. Zum Beispiel der Fußboden. Der Krieg hatte seltsame Dinge mit ihm angestellt. Ja, dort waren sie entlanggetrampelt mit ihren schwarzen Sohlen. Sie hatten Dreck hereingeschleppt, Schlamm, der an den Sohlen getrocknet war und sich hinterher, vermischt mit Gott weiß was, in die Dielen gefressen hatte. Die anderen, die ihr den Abdruck des Bügeleisens in den Bauch gebrannt hatten, trugen metallbeschlagene Schuhe. In den jahrelang mit dem Schrubber blankgeputzten Dielen waren siebzehn tiefe und breite Kratzer zurückgeblieben. Eine richtige Landkarte.

Geblieben war auch das Blut. Ihr Blut. Das Blut bekam man am schwersten weg. Oh, hier, am Herd, war es herausgespritzt, als die Iwans endlich verschwanden. Rozela war gerade dabei, Möhren zu schneiden, mit ihrem kleinen, nach jahrelangem treuen Dienst abgewetzten Küchenmesser, als der ganze Schmutz, die ganze Ohnmacht, die ganze Verdorbenheit auf den Fußboden troffen und sich hinterher nicht mehr wegwischen ließen.

Als sie beim Putzen an die Kellerluke kam, dachte sie, irgendwann müsse sie auch dort hineinschauen. Der Eingang war solide gemacht. In der Mitte der Küche hatte der Schreiner, wohl eingedenk der Erfahrungen des ersten Krieges, eine kaum sichtbare Klappe eingebaut. Der Raum unter dem Fußboden war eng, noch enger als in Rozelas Erinnerung. Ein Erwachsener konnte nicht aufrecht stehen. Also hatten auch die beiden Franzosen, die mitten im Krieg aufgetaucht waren, darin nur hocken können. Obwohl sie winzig waren, zumindest schien es Rozela so, denn sie hatten sie angesehen wie Kinder. Gehetzt, schmutzig, abgemagert. Sie seien aus einem Transport ins Lager geflohen, hatten sie gesagt.

Eines Tages hatte sie die Luke geöffnet, um ihnen etwas Grießbrei mit Soße zu reichen, da lagen sie umschlungen auf dem Boden. Unter der Decke schauten ihre nackten, warmen Körper hervor. Sie hatten sich noch mehr erschreckt als Rozela. Und waren gegangen, kaum dass es dunkel war. Sie hatte aufgeatmet, als sie die Tür hinter ihnen schloss, obwohl sie ihre Angst gesehen hatte. Die Deutschen hätten nicht gefragt, warum sie die Franzosen aufgenommen hatte oder wer sie waren. Sie hätten sie an die Wand gestellt und wie aus Schläuchen mit ihren Gewehren drauflos gespritzt.

Bei ihrer Flucht hatten die Franzosen sie angeschaut, als habe sie etwas Böses getan. Ähnlich hatte auch die dunkelhaarige Frau geschaut, die mit einem kleinen Mädchen lange vor den Franzosen gekommen war. Ihr hatte Rozela nicht in die Augen zu sehen gewagt. Einer der Franzosen hatte beim Hinausgehen mit der Faust gegen den Türrahmen geschlagen. Auf dem Boden war eine kleine Blutspur zurückgeblieben, die sich in die Schwelle eingefressen hatte. Die Frau mit dem Kind war hastig und schweigend gegangen. Ohne jede Spur.

Nun war es Zeit, alles aus dem Haus zu räumen und zu putzen, den Keller eingeschlossen. Die Strohmatratze, die noch immer nach den Franzosen roch, auszuklopfen, die Decke, unter der sie sie entdeckt hatte, auszuwaschen, weil man sie noch brauchen konnte. Sie fasste sie mit spitzen Fingern an. Kurz dachte sie, sie würde stürzen, aber wo hätte sie im Keller hinstürzen sollen? Und wenn die Klappe zufiele? Sie brauchte frische Luft, ja – ganz einfach atmen. Nur nicht ohnmächtig werden.

Als sie die Wand mit einem feuchten Tuch abwischte, entdeckte sie einen von unbekannter Hand tief in den Ziegel geritzten Schriftzug: »Veni sancte spiritus«, und darunter einen zweiten, in einer anderen Handschrift: »Spiritus flat ubi vult«. Was immer das heißen mag, dachte sie, und dass Spiritus gut wäre für ihre immer noch eiternde Wunde am Bauch. Das heruntergekommene, durch den Krieg verarmte Haus brauchte außerdem Geld, und was verkaufte sich besser als Schnaps? Man könnte neue Setzlinge für den Garten kaufen, neue Bettwäsche, denn die alte hatten die Iwans mitgenommen. Vielleicht neue Kleider? Ein paar Schweine? Wie war das noch? Tannenberg 1410, ein Kilo Zucker, vier Liter Wasser, zehn Deka Hefe. Durch das Küchenfenster sah sie, wie der Rote Zigeuner mit Gerta und Truda Sand vom See in den Hof schleppte. Wie sie mit dem gelben, dicken Sand das Feuer zuschütteten und auch den schwarzen ausgebrannten Fleck – mit frischem, kühlem Sand, der noch nach Tang roch. Ohne große Umschweife fragte sie den fahrenden Händler, ob er beim nächsten Mal Zucker mitbringen könne. Nein, keine Tüte. Einen großen Sack.

Truda

Die Wochen vergingen, doch der Brief kam nicht. Truda suchte nach Erklärungen: Vielleicht war es noch zu früh, vielleicht verkehrte die Post noch nicht. In Berlin war sicher viel los. Oder war Jakob vielleicht untergetaucht? Die Hakenkreuzflagge hatte noch über dem Reichstag geweht, als er sie mit den gefälschten Papieren nach Hause gebracht hatte.

Auch sie versuchte, das Haus wieder ins frühere Leben zurückzuführen. Sie durchwühlte die Kartons ihres Vaters und holte die letzten Kraszewskis vom Dachboden, die im Krieg nicht verbrannt worden waren. Schöne Bücher mit Ledereinbänden. Sie machte Platz für sie in der Etagere, die gleichfalls dem Feuer entgangen war und aus der noch während der Anwesenheit der Soldaten das blaue Porzellan verschwunden war. Sie holte ganz allein den Sessel vom Dachboden – er war vor langer Zeit hinaufgetragen worden, weil eine Hofkatze ihn vollgepinkelt hatte –, indem sie das Möbel, das sie mit dem Rücken abstützte, Stufe für Stufe die Treppe hinabrutschen ließ. Die übrigen Teile der schönen Sitzgarnitur hatten Brandlöcher von Zigaretten und aufgeschlitzte Polster. Aus den alten Plüschvorhängen, die den ganzen Krieg über das Haus vom Blick auf den Berg abgeschnitten hatten, nähte Truda Schonbezüge, wobei sie sich mit der Nadel die Finger zerstach.

Sie säte Erbsen und stellte beizeiten Stangen auf. Sie weißte den Apfelbaum, grub im Garten fünf neue Beete um und entdeckte verblüfft, dass dort wilde Tomaten wuchsen, also stellte sie auch für sie Stangen auf. Sie strich alle Wände weiß, was das Haus heller machte. Doch beim Malern spritzte ihr Kalk ins Auge. Sie sah die Welt wie durch zwei enge Spalten, halbblind, und fühlte sich wie ein Hund, der an der Kette verreckte, immer dickeren Schaum vor dem Maul hatte, um schließlich zu einem trockenen leeren Sack mit Knochen zu verdorren. Ob Jakob sie so noch wollen würde, wenn er zurückkäme? »Truda wird keinen Deutschen heiraten.« Der Bahnsteig, der Zug, das Ende.