Das Glück hat acht Arme - Shelby Van Pelt - E-Book
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Das Glück hat acht Arme E-Book

Shelby Van Pelt

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Beschreibung

Ein kluger Oktopus, der Menschen hilft: »Das Glück hat acht Arme« ist ein Roman-Geschenk. Seit Monaten auf den US-Bestsellerlisten. Seit Tova Sullivan Witwe ist, putzt sie im Sowell Bay Aquarium. Ihr fällt auf, wie Marcellus, ein neugieriger, frecher Riesenoktopus, sie aus seinem Aquarium anschaut. Marcellus ist enorm klug, aber für Menschen würde er keinen Tentakel rühren – bis er sich mit Tova anfreundet. Ihm erzählt sie von ihrem Sohn, der vor Jahrzehnten verschwand. Schlau, wie er ist, erkennt Marcellus ein Geheimnis, von dem Tova nichts ahnt. Jetzt hat er alle acht Arme voll zu tun, um die Wahrheit für Tova ans Licht zu bringen – bevor es zu spät ist. Ein wunderbar heiterer Roman über die unwahrscheinliche Freundschaft zu einem Oktopus, der Fremde zu einer Familie zusammenführt.  »Oktopus Marcellus ist eines der faszinierendsten Geschöpfe, das mir je in einem Roman begegnet ist.«  Cynthia D'Aprix Sweeney, Autorin von »Das Nest« Der große New-York-Times-Bestseller.

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Seitenzahl: 489

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Ähnliche


Shelby Van Pelt

Das Glück hat acht Arme

Roman

 

Aus dem amerikanischen Englisch von Andrea Fischer

 

Über dieses Buch

 

 

Als Tova Sullivan Witwe wird, sucht sie sich einen Job – als Putzkraft im Sowell Bay Aquarium. Es tut gut, etwas zu tun zu haben und nicht immer zu grübeln über jene Nacht vor dreißig Jahren, als ihr achtzehnjähriger Sohn Erik einfach verschwand. Beim Arbeiten fällt Tova auf, wie der Riesenoktopus Marcellus sie aus seinem Aquarium anschaut, neugierig, fragend, fast ein bisschen frech. Sie erzählt ihm von ihrem Kummer um ihren Sohn. Mit dreißig hat Cameron, Ex-Sänger einer Ex-Rockband, noch nicht viel auf die Reihe bekommen. Spontan fährt er nach Sowell Bay, auf der Suche nach dem Vater, den er nie kennengelernt hat. Eigentlich schert sich Marcellus wenig um Besucher, die ihn anschauen. Aber er erkennt etwas, was für Tova sehr wichtig ist. Wie kann er ihr verständlich machen, was für ihn mit acht Händen zu greifen ist? Jetzt muss er all seine Klugheit einsetzen …

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Das Lieblingsaquarium ihrer Kindheit war für Shelby van Pelt die Inspiration für ihren ersten Roman »Das Glück hat acht Arme«. Sie wuchs in Seattle auf, nahe des fiktiven Städtchens, in dem ihr Roman spielt. Inzwischen lebt sie mit ihrem Mann, zwei kleinen Kindern und diversen Katzen in Chicago. Ins Aquarium geht sie weiterhin regelmäßig. »Wer je einen Oktopus im Aquarium angeschaut hat und erlebt, wie dieser den Blick erwidert, wird sich sofort fragen, wer dabei wohl der Klügere ist.« Shelby Van Pelt

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Für Anna

1299. Tag in Gefangenschaft

Dunkelheit kommt mir gelegen.

Jeden Abend warte ich auf das Löschen der Deckenbeleuchtung. Danach spendet nur noch das große Becken Licht. Nicht perfekt, aber fast.

Nahezu vollständige Dunkelheit, wie am Meeresgrund. Dort habe ich gelebt, bevor ich gefangen und eingesperrt wurde. Ich weiß nicht mehr viel davon, doch bis heute spüre ich die ungezähmten Strömungen des kalten, offenen Wassers. Ich habe die Dunkelheit im Blut.

Wer ich bin? Ich heiße Marcellus, aber so nennen mich nur wenige. Meistens sagen die Leute »der da«. Zum Beispiel: »Guck dir den mal an!«, »Da ist er!« oder »Da, hinter dem Stein sieht man einen Fangarm!«

Ich bin ein Pazifischer Riesenkrake. So steht es auf dem Schild neben meinem Becken.

Ich weiß, welcher Einwand jetzt kommt. Ja, ich kann lesen. Ich kann vieles, womit niemand rechnen würde.

Auf dem Schild sind einige Fakten aufgeführt: meine Größe, meine acht Arme, meine bevorzugte Nahrung und wo ich leben würde, wenn ich nicht hier gefangen wäre. Meine intellektuellen Fähigkeiten und meine Geschicklichkeit werden erwähnt, offenbar überraschende Eigenschaften: »Kraken sind erstaunlich kluge Geschöpfe«, steht da. Der Text weist die Menschen auf meine Tarnungsfähigkeit hin, fordert sie auf, nach mir Ausschau zu halten, falls ich mich eingegraben und die Farbe des Sands angenommen haben sollte.

Auf dem Schild steht nicht, dass ich Marcellus heiße. Aber der Mensch namens Terry, der dieses Aquarium leitet, verrät meinen Namen manchmal den Besuchern, die vor meinem Becken stehen. »Sehen Sie ihn da hinten? Das ist Marcellus. Ein ganz besonderes Kerlchen.«

Ein ganz besonderes Kerlchen, allerdings.

Terrys kleine Tochter hat meinen Namen ausgesucht. Vollständig lautet er Marcellus McSquiddles. Das erinnert an »squid«, das englische Wort für Tintenfisch. Aber das ist ein wenig irreführend. Als Tintenfisch bezeichnet zu werden, ist eine Beleidigung höchster Güte.

Wie ich genannt werden möchte? Nun, das muss jeder beziehungsweise jede selbst wissen. Man könnte natürlich »der da« sagen, wie es die meisten tun. Ich hoffe es zwar nicht, aber ich würde es niemandem übel nehmen. Sind schließlich nur Menschen.

Ich muss darauf hinweisen, dass unsere gemeinsame Zeit nur von kurzer Dauer ist. Auf dem Schild findet sich eine weitere Information: die durchschnittliche Lebensdauer eines Pazifischen Riesenkraken. Vier Jahre.

Das sind 1461 Tage.

Wenn das zutrifft, werde ich hier sterben, in diesem Becken. Noch einhunderteinundsechzig Tage, dann ist mein Strafmaß voll.

Die Silberdollarnarbe

Tova Sullivan ist zum Angriff bereit. Sie beugt sich vor, um ihren Feind in Augenschein zu nehmen. Ein gelber Gummihandschuh lugt wie eine Kanarienfeder aus ihrer Gesäßtasche.

Ein Kaugummi.

»Verflixt nochmal!« Mit dem Griff ihres Wischmopps kratzt sie an dem rosafarbenen Klumpen. Mehrere Turnschuhe haben die Oberfläche geprägt und Schmutz hineingetreten.

Sinn und Zweck von Kaugummi hat Tova noch nie verstanden. Und warum verlieren die Leute die Dinger so oft? Vielleicht hat dieser Kaugummikauer ununterbrochen geredet, dann ist ihm der Kaugummi aus dem Mund gefallen, ohne dass er es merkte, hinausgespült mit einem Schwall überflüssiger Worte.

Tova beugt sich vor und knibbelt mit dem Fingernagel an dem Flatschen, doch er lässt sich nicht von der Fliese entfernen. So viel Arbeit, nur weil irgendjemand zu faul war, drei Meter zum nächsten Mülleimer zu gehen. Als Erik klein war, erwischte Tova ihn einmal dabei, wie er ein Kaugummi unter den Esstisch klebte. Es war das letzte Mal, dass sie ihm das Zeug kaufte. Was er später, als er in die Pubertät kam, mit seinem Taschengeld anstellte, konnte sie – wie so vieles – natürlich nicht kontrollieren.

Hier ist der Einsatz von Spezialwerkzeug notwendig. Vielleicht eine Feile. Doch in Tovas Wagen ist nichts, womit sie dem Kaugummi zu Leibe rücken könnte.

Als sie sich aufrichtet, knackt es in ihrem Rücken. Das Geräusch hallt durch den leeren halbkreisförmigen Gang, der wie immer in weiches blaues Licht getaucht ist. Tova marschiert zum Schrank mit den Putzmitteln. Natürlich würde ihr niemand einen Vorwurf machen, wenn sie lediglich mit dem Mopp über die klebrige Masse wischte. Niemand erwartet von ihr mit ihren siebzig Jahren eine so gründliche Säuberung. Doch Tova muss es wenigstens versuchen.

So hat sie etwas zu tun.

Tova ist die älteste Angestellte im Aquarium von Sowell Bay. Jeden Abend wischt sie die Böden, poliert die Glaswände, leert die Mülleimer. Alle zwei Wochen zieht sie ihren Lohnzettel aus ihrem Fach im Pausenraum. Achtzehn Dollar pro Stunde, abzüglich Steuern und Abgaben.

Die Abrechnungen legt sie ungeöffnet in einen alten Schuhkarton auf ihrem Kühlschrank. Ihr Gehalt sammelt sich auf einem vergessenen Konto ihrer Bank.

Nun stapft sie entschlossen zu ihrem Putzschrank. Schon bei einem normalen Menschen hätte es eindrucksvoll ausgesehen, aber bei einer zierlichen älteren Dame von schmaler Gestalt und mit gebeugtem Rücken wirkt es geradezu bedrohlich. Regentropfen prasseln auf das Oberlicht, durch das die Sicherheitsleuchten am alten Fähranleger scheinen. Silberne Tröpfchen rinnen über das Glas, bilden schimmernde Stränge unter dem nebelverhangenen Himmel. Der Juni war furchtbar, wie alle die ganze Zeit klagen. Doch das graue Wetter stört Tova nicht, obwohl es ihr recht wäre, wenn der Regen mal so lange aufhörte, dass ihr Vorgarten trocken würde. Tovas Handrasenmäher setzt sich bei Nässe zu.

Das ringförmige Zoogebäude mit dem Hauptbecken unter der Kuppel in der Mitte und den kleineren Bassins drumherum ist nicht besonders groß oder beeindruckend. Vielleicht passt es daher ganz gut zu einer Stadt wie Sowell Bay, die selbst nicht groß und beeindruckend ist. Von der Stelle, wo der Kaugummi klebt, muss Tova einmal durch den gesamten Gang laufen, um zu ihrem Putzschrank zu gelangen. Ihre weißen Turnschuhe quietschen über den Abschnitt, den sie bereits gewischt hat, und hinterlassen stumpfe Abdrücke auf den glänzenden Fliesen. Dort muss sie auf jeden Fall noch mal drübergehen.

Vor der Nische mit der lebensgroßen Statue eines Kalifornischen Seelöwen bleibt Tova stehen. Die hellen Stellen auf seinem Rücken und dem Kopf stammen von streichelnden Kinderhänden und reitenden Hosenböden. Sie machen das Tier besonders realistisch. Zu Hause bei Tova auf dem Kaminsims steht ein Foto, auf dem Erik vielleicht elf, zwölf Jahre alt ist und mit breitem Grinsen auf dem Seelöwen sitzt, eine Hand in die Luft gereckt, als wolle er ein Lasso werfen. Ein Cowboy zu Wasser.

Es ist eines der letzten Bilder, auf denen Erik kindlich unbeschwert wirkt. Tova bewahrt seine Fotos in chronologischer Reihenfolge auf. So verwandelt er sich vom zahnlos lachenden Baby zum schmucken Jugendlichen, größer als sein Vater, im Jackett seiner Highschool. Steckt sich vor dem Abschlussball ein Sträußchen an. Reckt auf einem provisorischen Podest an der felsigen Küste des dunkelblauen Puget-Sunds den Pokal der Segelregatta seiner Highschool in die Höhe. Im Vorbeigehen streicht Tova über den kalten Kopf des Seelöwen und verdrängt das intuitive Bedürfnis, sich wieder zu fragen, wie Erik jetzt wohl aussähe.

Sie geht weiter, durch den dämmrigen Korridor. Es hilft ja nichts. Vor dem Becken mit den Blauen Sonnenbarschen bleibt sie stehen. »Guten Abend, ihr Lieben.«

Als Nächstes grüßt sie die Asiatischen Strandkrabben: »Hallo, ihr Süßen.«

»Wie geht es dir?«, fragt sie die Spitznasengroppe.

Die Seewölfe sind nicht so Tovas Fall, trotzdem nickt sie ihnen zu. Man muss höflich sein, auch wenn die Fische sie an die Horrorfilme im Kabelfernsehen erinnern, die ihr verstorbener Ehemann Will immer mitten in der Nacht schaute, wenn ihm von der Chemotherapie übel war. Der größte Seewolf kommt langsam aus seiner Felshöhle, den Unterkiefer auf die typische Weise vorgeschoben. Die spitzen Zähne gleichen kleinen Nadeln. Ein Fisch mit, gelinde gesagt, nachteiligem Aussehen. Aber so was kann täuschen, nicht wahr? Tova lächelt den Seewolf an, auch wenn er mit seinem Gesicht nicht zurücklächeln kann, selbst wenn er wollte.

Im nächsten Becken ist Tovas Lieblingstier. Sie beugt sich vor, tritt nah an die Scheibe. »Hallo, mein Herr, was haben Sie denn heute so getrieben?«

Es dauert einen Moment, bis sie ihn entdeckt: Hinter einem Stein erkennt sie einen orangefarbenen Tentakel. Wie ein Kind, das sich beim Versteckspielen versehentlich verrät – durch den Pferdeschwanz eines Mädchens, der hinter der Couch wippt, oder ein unter dem Bett hervorschauender bestrumpfter Fuß.

»Sind wir heute schüchtern?« Tova macht einen Schritt zurück und wartet, doch der Pazifische Riesenkrake rührt sich nicht. Sie stellt sich vor, wie der Tag für ihn gewesen sein muss: Menschen, die an die Scheibe klopfen und sich entnervt abwenden, wenn sie nichts sehen. Geduld hat kaum noch jemand.

»Kann ich dir nicht verdenken. Sieht gemütlich aus hinten bei dir.«

Der Tentakel zuckt, aber der Oktopus bleibt in seinem Versteck.

Der Kaugummi wehrt sich lange gegen Tovas Feile, doch irgendwann löst er sich. Als sie den klebrigen Klumpen in die Mülltüte wirft, raschelt das Plastik befriedigend.

Anschließend wischt sie. Noch einmal.

Der Geruch von Essig mit einem Spritzer Zitrone steigt von den nassen Fliesen auf und erfüllt den Raum. Diese Mischung ist deutlich besser als das schreckliche Mittel, das verwendet wurde, als Tova hier anfing: ein grellgrünes Gebräu, das ihr in der Nase stach. Umgehend beschwerte sie sich. Zum einen wurde ihr von dem Zeug schwindelig, zum anderen hinterließ es unansehnliche Streifen auf dem Boden. Und was vielleicht das Schlimmste war: Es roch wie Wills Zimmer im Krankenhaus, wie der kranke Will (das behielt Tova jedoch für sich).

Terry, der Leiter des Aquariums, gab letztlich nach und sagte, sie könne benutzen, was sie wolle, solange er es nicht bezahlen müsse. Natürlich war Tova einverstanden. Seitdem bringt sie eine Flasche Essig und ihre Flasche mit Zitronenöl mit.

So, jetzt noch die Müllbeutel einsammeln. Tova leert die Mülleimer im Eingangsbereich und den vor den Toiletten, dann geht sie in den Pausenraum, um die Krümel von der Arbeitsfläche zu fegen. Das ist eigentlich nicht ihre Aufgabe, sondern die der Putztruppe aus Elland, die jede zweite Woche kommt, dennoch wischt Tova immer einmal um die uralte Kaffeemaschine herum und durch die vollgespritzte Mikrowelle, die nach Spaghetti riecht. Heute ist allerdings mehr zu tun: Auf dem Boden liegen leere Kartons vom Lieferdienst. Drei Stück.

»Also, wirklich!«, schimpft Tova vor sich hin. Zuerst der Kaugummi und jetzt das.

Sie hebt die Kartons auf und wirft sie in den Mülleimer, der seltsamerweise einige Meter von seinem Stammplatz entfernt steht. Nachdem sie den Inhalt in ihren großen Sack gekippt hat, schiebt sie den Eimer zurück.

Daneben steht ein kleiner Esstisch. Tova rückt die Stühle zurecht. Da entdeckt sie etwas.

Unter dem Tisch, in der Ecke.

Ist das ein orangebraunes Sweatshirt? Mackenzie, die nette junge Frau, die die Eintrittskarten verkauft, legt ihren Pulli oft über die Rückenlehne eines Stuhls. Tova kniet sich hin, um den Pullover aufzuheben und in Mackenzies Fach zu legen. Plötzlich bewegt sich das Gebilde.

Ein Tentakel bewegt sich.

»Du lieber Himmel!«

In der fleischigen Masse öffnet sich ein Auge. Die marmorne Pupille weitet sich, dann senkt sich das Augenlid. Vorwurfsvoll.

Tova blinzelt, traut ihren Augen nicht. Wie ist der riesige Oktopus aus seinem Becken entwichen?

Der Tentakel zuckt erneut. Das Tier hat sich in dem Gewirr von Stromkabeln verfangen. Wie oft hat Tova schon über diese Kabel geschimpft? Sie machen es ihr unmöglich, in der Ecke ordentlich zu putzen.

»Du bist eingeklemmt«, flüstert sie, und der Krake hebt seinen dicken knollenförmigen Kopf und zerrt an einem Fangarm, um den sich mehrmals ein dünnes Kabel gewickelt hat, wie man es zum Aufladen von Handys benutzt. Das Tier zieht stärker, und das Kabel schneidet ihm so tief ins Fleisch, dass es sich zwischen den einzelnen Schlingen hervorwölbt. Erik hatte mal ein Spielzeug aus einem Scherzartikelladen, das so ähnlich aussah: einen kleinen Stoffzylinder, in den man rechts und links einen Finger stecken konnte, um sie dann wieder herauszuziehen. Je mehr Kraft man aufwendete, desto mehr zog sich der Stoff zusammen.

Tova rückt näher heran. Der Krake schlägt mit einem seiner Fangarme aufs Linoleum, als wolle er sagen: »Bleib, wo du bist!«

»Schon gut, schon gut«, murmelt Tova und krabbelt unter dem Tisch hervor.

Sie richtet sich auf und knipst die Deckenleuchte an. Der Pausenraum wird in grelles Neonlicht getaucht. Langsamer als zuvor lässt sich Tova wieder auf den Boden sinken, und wie immer knackt es in ihrem Rücken.

Der Krake peitscht erneut mit einem Tentakel, schlägt mit erstaunlicher Kraft gegen einen Stuhl, der quer durch den Raum fliegt und an die gegenüberliegende Wand prallt.

Das unglaublich klare Auge des Tiers leuchtet Tova entgegen.

Entschlossen rutscht sie näher, versucht, ihre zitternden Hände zu beruhigen. Wie oft ist sie am Becken des Pazifischen Riesenkraken vorbeigegangen? Sie kann sich nicht erinnern, auf dem Schild gelesen zu haben, dass diese Tiere für Menschen gefährlich seien.

Tova ist nur noch eine Armeslänge entfernt. Der Oktopus scheint immer kleiner zu werden, er ist ganz blass. Haben diese Tiere Zähne?

»Mein Freund«, sagt Tova freundlich. »Ich greife jetzt an dir vorbei und ziehe den Stecker aus der Dose.« Sie betrachtet das Gewirr und erkennt, welches Kabel genau ihm Probleme bereitet. Es ist in Reichweite.

Das Auge des Kraken verfolgt jede ihrer Bewegungen.

»Ich tue dir nicht weh, mein Lieber.«

Das Ende eines freien Fangarms klopft auf den Boden wie der Schwanz einer Hauskatze.

Als Tova den Stecker herauszieht, zuckt der Oktopus zurück. Tova ebenfalls. Sie rechnet damit, dass das Tier an der Wand entlang zur Tür rutscht, in die Richtung, in die es schon die ganze Zeit wollte.

Stattdessen kommt es näher.

Wie eine orangebraune Schlange gleitet ein Tentakel auf Tova zu. Innerhalb von Sekunden windet er sich um ihren Unterarm, wickelt sich um den Ellbogen und Oberarm wie ein Band um einen Maibaum. Tova spürt jeden einzelnen Saugnapf auf ihrer Haut. Automatisch versucht sie, dem Tier ihren Arm zu entziehen, doch der Krake verstärkt seinen Griff so sehr, dass es fast schon weh tut. Sein seltsames Auge funkelt schelmisch, wie das eines Lausbubs.

Die leeren Kartons vom Lieferdienst. Der verschobene Mülleimer. Jetzt ergibt alles einen Sinn.

Genauso schnell lässt der Krake sie wieder los. Ungläubig verfolgt Tova, wie er sich durch die Tür des Pausenraums schiebt, indem er sich auf den breitesten Teil seiner insgesamt acht Arme stützt. Den Mantel scheint er hinter sich herzuschleppen. Das Tier wirkt noch blasser als zuvor; die Bewegung kostet Kraft. Tova eilt ihm nach, doch als sie in den Flur kommt, ist der Oktopus verschwunden.

Sie reibt sich übers Gesicht. Offenbar ist sie nicht mehr im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte. So fängt es an, oder? Mit Halluzinationen von einem Kraken …

Vor vielen Jahren erlebte sie, wie sich der Verstand ihrer Mutter langsam verabschiedete. Es begann mit gelegentlichem Vergessen von vertrauten Namen und Daten. Aber Tova vergisst keine Telefonnummern und muss nicht mühselig in ihrem Kopf nach Namen kramen. Sie blickt auf ihren Arm, wo kleine Kreise prangen. Die Abdrücke der Saugnäpfe.

Leicht benommen beendet sie ihre Arbeit, dann macht sie wie üblich eine letzte Runde durch das Gebäude, um allen eine gute Nacht zu wünschen.

Gute Nacht, ihr Sonnenbarsche, Seewölfe und Strandkrabben! Gute Nacht, Spitznasengroppe. Gute Nacht, ihr Anemonen, Seepferdchen, Seesterne!

Hinter der Biegung geht es weiter: Gute Nacht, Thunfische, Flundern und Stachelrochen. Gute Nacht, ihr Quallen und Seegurken. Gute Nacht, ihr Haie, ihr armen Kreaturen. Die Haie tun Tova immer ein bisschen leid, wenn sie ihre endlosen Kreise im Bassin drehen. Sie weiß, wie es ist, wenn man einfach nicht aufhören kann, sich zu bewegen, weil man Angst hat zu ersticken.

Da ist der Krake! Er versteckt sich wieder hinter seinem Stein. Ein Teil seiner Haut ist zu sehen. Sein Orange ist jetzt kräftiger, aber immer noch blasser als sonst. Na, geschieht ihm vielleicht ganz recht. Was hat er da draußen auch zu suchen? Und wie, um alles in der Welt, konnte er sein Becken verlassen? Tova späht in das leicht plätschernde Wasser, sucht den Rand ab, doch alles scheint an seinem Platz zu sein.

»Schlawiner«, sagt sie kopfschüttelnd. Kurz verharrt sie vor seinem Behälter, dann macht sie Feierabend.

Die Lichter von Tovas gelben Kleinwagen blinken und piepsen, als sie auf den Schlüssel drückt, eine Reaktion des Autos, an die sie sich noch nicht gewöhnt hat. Als Tova ihren neuen Job antrat, wurde sie von ihren Freundinnen überredet, dass sie ein neues Auto brauchte. Es sei zu gefährlich, argumentierten die Damen, nachts mit einem älteren Fahrzeug unterwegs zu sein. Wochenlang lagen sie Tova damit in den Ohren.

Manchmal ist es leichter, einfach nachzugeben.

Wie immer verstaut Tova ihre Putzmittel im Kofferraum. Terry kann ihr noch so oft anbieten, sie im Putzschrank zu verwahren – man weiß nie, ob man nicht mal ein bisschen Zitrone oder Essig braucht. Tova sucht den Pier ab. Zu dieser späten Stunde ist er leer, die abendlichen Angler sind längst fort. Der ehemalige Fähranleger gegenüber vom Aquarium sieht aus wie eine kaputte Maschinerie. Seepocken überziehen die morschen Pfähle. Bei Flut verfangen sich Tang und Algen in den Muscheln und trocknen zu einem grünlich-schwarzen Belag, wenn das Wasser wieder abfließt.

Tova geht über die verwitterten Holzbohlen. Das alte Häuschen, in dem die Eintrittskarten verkauft werden, ist wie immer achtunddreißig Schritte von ihrem Parkplatz entfernt.

Wieder sieht sich Tova nach Passanten um, nach Menschen in den langen Schatten. Sie legt die Hand auf die Glasscheibe des Häuschens. Der diagonale Riss darin gleicht einer alten Narbe.

Dann geht sie über den Pier zu ihrem Stammplatz auf der Bank. Sie ist mit Möwenkot besprenkelt und rutschig von der Gischt. Tova setzt sich und schiebt den Ärmel hoch, um die seltsamen runden Abdrücke auf ihrem Arm zu untersuchen. Fast rechnet sie damit, dass sie weg sind. Doch sie sind noch da. Mit der Fingerspitze umkreist sie den größten Abdruck auf der Innenseite ihres Handgelenks. Er hat ungefähr die Form eines Silberdollars. Wie lange wird er noch zu sehen sein? Ob er blau wird? Mittlerweile bekommt Tova sehr schnell blaue Flecke, und der Abdruck verfärbt sich bereits bräunlich, wie eine Blutblase. Vielleicht wird er bleiben. Eine Silberdollarnarbe.

Der Nebel ist fort, der Wind hat ihn landeinwärts zu den Ausläufern der Berge geschoben. Im Süden liegt ein Frachter vor Anker, der Rumpf tief ins Wasser gedrückt von den Containern, die sich auf seinem Deck stapeln wie die Bauklötze eines Kindes. Das Mondlicht wippt auf dem Wasser, tausend Kerzen auf der Meeresoberfläche. Tova schließt die Augen und stellt sich vor, dass Erik unter Wasser ist und die Kerzen für sie hält. Erik. Ihr einziges Kind.

1300. Tag in Gefangenschaft

Krebse und Krabben, Venus-, Jakobs- und Kammmuscheln, Meerschnecken, Fische, Fischeier – sie alle stehen auf dem Speiseplan eines Pazifischen Riesenkraken, wenn man dem Schild neben meinem Becken glauben darf.

Das Meer muss ein prächtiges Angebot bereithalten. So viele Leckereien, frei verfügbar.

Und was bekomme ich hier? Makrele, Heilbutt und – in erster Linie – Hering. Hering, Hering, immer nur Hering. Das sind widerliche Fische, eklige, glitschige kleine Lappen. Wahrscheinlich gibt es so reichlich davon, weil sie wenig kosten. Die Haie im großen Becken werden für ihre Stumpfsinnigkeit mit frischem Zackenbarsch belohnt, und ich werde mit aufgetautem Hering abgespeist. Manchmal ist er sogar noch halb gefroren. Wenn ich Lust auf die köstliche Konsistenz frischer Austern habe, wenn ich mich danach sehne, mit dem Schnabel die Schale eines Krebses zu knacken, wenn ich nach dem süßen, festen Fleisch einer Seegurke lechze, muss ich die Sache selbst in die Tentakel nehmen.

Wenn meine Geiselnehmer mich zum Mitmachen bewegen wollen, damit ich mich an einem dieser sogenannten Spiele beteilige, werfen sie mir manchmal ein, zwei Jakobsmuscheln ins Becken. Gelegentlich spendiert Terry mir auch mal eine Muschel, wenn er gut drauf ist.

Natürlich habe ich schon oft Krebse, Muscheln, Krabben und Meerschnecken gegessen. Ich muss sie mir halt nach Feierabend selbst besorgen. Fischeier sind eine perfekte Zwischenmahlzeit, sowohl vom Geschmack her als auch von ihrem Nährwert.

Man könnte eine dritte Liste von Lebensmitteln erstellen, nach denen sich Menschen die Finger lecken, die die meisten intelligenten Lebewesen jedoch völlig ungeeignet zum Verzehr finden, zum Beispiel sämtliche Angebote aus dem Automaten im Eingangsbereich.

Heute Abend hat mich ein anderer Geruch angelockt: süß, salzig, pikant. Er kam aus dem Mülleimer, aus einem weißen Behälter mit Essensresten.

Wie auch immer das Gericht hieß, es war köstlich. Bloß wäre es mein Ende gewesen, wenn ich kein Glück gehabt hätte.

Die Putzfrau – sie hat mir das Leben gerettet.

Aufgewärmte Kekse

Früher gab es sieben Stricklieseln. Jetzt sind es nur noch vier. Jedes Jahr bleibt ein weiterer Platz am Tisch frei.

»Du meine Güte, Tova!« Mary Ann Minetti stellt ihre Teekanne ab und starrt auf Tovas Arm. Die Kanne steckt in einem gehäkelten gelben Kannenwärmer, wahrscheinlich ein Handarbeitsprojekt aus der Zeit, als die Stricklieseln bei ihrem wöchentlichen Mittagessen tatsächlich noch mit den Nadeln klapperten. Der Teekannenwärmer passt farblich zu der strassbesetzten gelben Spange an Mary Anns Schläfe, die einen Schwung verblasster mittelblonder Locken zurückhält.

Während Janice Kim sich Tee einschenkt, mustert sie Tovas Arm. »Hast du vielleicht eine Allergie?« Die Dampfwolke vom Oolong-Tee beschlägt ihre runde Brille, Janice nimmt sie ab und putzt sie am Saum ihres T-Shirts. Tova vermutet, dass es Janices Sohn Timothy gehört, weil es mindestens drei Nummern zu groß ist und das Logo des koreanischen Einkaufszentrums unten in Seattle trägt, wo Timothy mal vor ein paar Jahren in ein Restaurant investiert hat.

»Ach, dieser Ring …« Tova zieht den Ärmel ihres Pullis darüber. »Das ist nichts.«

»Das solltest du besser untersuchen lassen.« Barb Vanderhoof wirft einen dritten Zuckerwürfel in ihren Tee. Sie hat die kurzen grauen Haare zu Stacheln hochgegelt, in letzter Zeit ihr Lieblingslook. Als sie zum ersten Mal damit ankam, witzelte sie, sie wäre im Alter unter die Igel gegangen. Die Stricklieseln mussten lachen. Nicht zum ersten Mal stellt Tova sich vor, die Hand auf die Stacheln ihrer Freundin zu legen. Sie fragt sich, ob das Haar nachgeben oder piksen würde wie die Seeigel unten im Aquarium.

»Schon gut«, wiederholt Tova. Ihre Ohrenspitzen werden rot.

»Na, da kann ich dir was erzählen.« Barb trinkt einen Schluck Tee. »Also, meine Andie, die hatte letztes Jahr einen Ausschlag, als sie über Ostern zu Besuch hier war. Ich selbst habe ihn nicht gesehen, er war an einer eher intimen Stelle, wenn ihr versteht, was ich meine, aber es war kein Ausschlag, wie man ihn von unangemessenem Verhalten bekommt, natürlich nicht. Nein, es war einfach ein Ausschlag. Jedenfalls habe ich ihr gesagt, sie soll damit zu meinem Hautarzt gehen. Er ist wirklich toll. Aber meine Andie ist ja so was von stur. Es wurde immer schlimmer, und dann …«

Janice unterbricht Barb: »Tova, soll Peter dir jemanden empfehlen?« Janices Mann, Dr. Peter Kim, ist Arzt im Ruhestand, hat aber immer noch gute Beziehungen zu seinen ehemaligen Kollegen.

»Ich brauche keinen Arzt.« Tova zwingt sich zu einem schwachen Lächeln. »Das war nur ein kleiner Zwischenfall auf der Arbeit.«

»Auf der Arbeit!«

»Ein Zwischenfall?«

»Was ist denn passiert?«

Tova holt tief Luft. Noch immer kann sie den Tentakel um ihren Arm spüren. Die Abdrücke sind über Nacht schwächer geworden, aber noch dunkel genug, um gefährlich zu wirken. Wieder zieht sie den Ärmel darüber.

Ob sie es den Frauen erzählen soll?

»Ein Missgeschick mit den Putzmitteln«, sagt sie schließlich.

Drei Augenpaare um den Tisch sehen sie skeptisch an.

Mit einem Geschirrtuch wischt Mary Ann einen imaginären Fleck von der Tischplatte. »Dass du da arbeiten kannst, Tova! Als ich das letzte Mal im Aquarium war, wurde mir von dem Geruch so schlecht, dass ich mich fast übergeben habe. Wie hältst du das nur aus?«

Tova nimmt einen Schokokeks von der Platte, die Mary Ann auf den Tisch gestellt hat. Sie erwärmt die Plätzchen immer im Ofen, bevor die Frauen zum Essen kommen, weil sie behauptet, man könne keinen Tee trinken, ohne etwas Selbstgebackenes dabei zu knabbern. Dabei kauft Mary Ann die Kekse bei Shop-Way. Das wissen alle Stricklieseln.

»Das alte Gebäude. Natürlich riecht’s da«, sagt Janice. »Aber jetzt mal ehrlich, Tova, ist alles in Ordnung? Körperliche Arbeit, in unserem Alter! Warum tust du dir das an?«

Barb verschränkt die Arme vor der Brust. »Nach Ricks Tod habe ich auch eine Weile unten in St. Ann’s gearbeitet. Ich hatte Langeweile! Ich sollte sogar das Büro leiten.«

»Du hast die Ablage gemacht«, brummt Mary Ann. »Mehr nicht.«

»Und dann hast du aufgehört, weil du die Sachen nicht so ablegen durftest, wie du wolltest«, ergänzt Janice trocken. »Aber immerhin hast du nicht auf Händen und Füßen den Boden gewienert.«

Mary Ann beugt sich vor. »Tova, du weißt doch hoffentlich: Wenn du Hilfe brauchst …«

»Hilfe?«

»Ja, Hilfe. Ich weiß nicht, wie Will sich um das Finanzielle gekümmert hat.«

Tova drückt den Rücken durch. »Danke, aber ich brauche keine Hilfe.«

»Aber falls doch.« Mary Ann presst die Lippen aufeinander.

»Brauche ich nicht«, wiederholt Tova leise. Und das stimmt. Für ihre bescheidenen Ansprüche ist zur Genüge Geld auf dem Konto. Sie braucht keine Almosen, weder von Mary Ann, noch von sonst jemandem. Außerdem: Wie kann sie so etwas sagen, und nur wegen ein paar Abdrücken auf ihrem Arm?

Tova steht auf, stellt die Teetasse ab und lehnt sich gegen den Schrank. Das Fenster über der Spüle geht auf Mary Anns Garten, wo sich die Rhododendronbüsche unter einem tiefen grauen Himmel ducken. Als ein leichter Wind durch die Zweige geht, scheinen die zarten rosaroten Blüten zu zittern. Tova würde sie am liebsten wieder in die Knospen drücken. Die kühle Luft ist untypisch für Mitte Juni. In diesem Jahr ist der Sommer wirklich spät dran.

Auf der Fensterbank hat Mary Ann eine Auswahl religiöser Gegenstände versammelt: gläserne Engelchen mit Pausbacken, Kerzen, eine kleine Armee silberner Kreuze in verschiedenen Größen, aufgereiht wie Soldaten. Mary Ann putzt sie bestimmt täglich, damit sie so blitzen.

Janice legt Tova eine Hand auf die Schulter. »Erde an Tova?«

Ungewollt muss Tova lächeln. Janices künstliche Stimme lässt Tova vermuten, dass ihre Freundin wieder zu viele Sitcoms geguckt hat.

»Reg dich bitte nicht auf. Mary Ann meint es nur gut. Wir machen uns Sorgen.«

»Danke, aber bei mir ist alles okay.« Tova tätschelt Janices Hand.

Ihre Freundin zieht die sorgfältig gezupfte Augenbraue hoch und führt Tova an den Tisch zurück. Offensichtlich hat Janice eingesehen, dass Tova das Thema wechseln möchte, denn sie spricht das naheliegendste aus dem Strauß von Möglichkeiten an: »Und, Barb, was gibt es Neues von den Mädchen?«

»Ach, habe ich das nicht erzählt?« Dramatisch holt Barb Luft. Man muss nicht zweimal fragen, um zu erfahren, wie es um das Leben von Barbs Töchtern und Enkelkindern bestellt ist. »Andie wollte die Mädchen eigentlich in den Sommerferien herbringen. Aber dann hätte es plötzlich bei der Planung geruckelt. So hat sie sich ausgedrückt: geruckelt.«

Janice putzt ihre Brille mit einer bestickten Serviette von Mary Ann. »Wirklich, Barb?«

»Seit Thanksgiving sind sie nicht mehr hier gewesen! Über Weihnachten waren sie mit den Kindern in Las Vegas. Das ist doch unglaublich! Wer verbringt denn bitte die Feiertage in Las Vegas?« Barb betont den Namen der Stadt, um ihre Verachtung zum Ausdruck zu bringen.

Janice und Mary Ann schütteln den Kopf, Tova nimmt sich noch einen Keks. Während Barb eine Geschichte über die Familie ihrer Tochter erzählt, die zwei Stunden entfernt in Seattle lebt, nicken die anderen Frauen. Man könnte glatt meinen, Seattle liege auf der anderen Seite des Erdballs, wenn man hört, wie selten Barb ihre Kinder sieht.

»Ich habe ihr gesagt, dass ich meine Enkel bald wieder in die Arme nehmen will. Weiß Gott, wie lange ich noch da bin …«

Janice seufzt. »Ist gut, Barb.«

»Entschuldigt mich kurz.« Tova schiebt ihren Stuhl übers Linoleum, sie geht zur Gästetoilette.

Wie der Name schon sagt, begannen die Stricklieseln als Handarbeitsclub. Vor fünfundzwanzig Jahren trafen sich eine Handvoll Frauen aus Sowell Bay, um Wolle und Strickmuster zu tauschen. Im Laufe der Zeit wurde die Gruppe zu einem Zufluchtsort, an den sie vor ihren zu groß gewordenen Häusern und vor der bittersüßen Leere fliehen konnten, als die Kinder erwachsen wurden und wegzogen. Das war einer der Gründe, warum Tova anfangs nicht mitmachen wollte. Bei ihr war die Leere nicht süß, nur bitter; damals war Erik seit fünf Jahren verschwunden. Die Wunde war noch nicht verheilt, es brauchte nicht viel, um den Schorf abzulösen, und dann blutete es von Neuem.

Der Wasserhahn auf Mary Anns Gästetoilette quietscht beim Zudrehen. Die Themen der Frauen haben sich im Laufe der Jahre nicht groß geändert. Zuerst hieß es: Wie schade, dass die Uni so weit weg ist, oder: Die Kinder melden sich nur noch Sonntagsnachmittags. Jetzt geht es um die Enkelkinder und Urenkel. Die Frauen haben ihre Mutterschaft immer mit breiter Brust vor sich hergetragen; Tova hingegen behält sie für sich, tief in sich verborgen, wie eine Kugel von einer Schussverletzung. Das ist für sie etwas Persönliches.

Ein paar Tage vor Eriks Verschwinden hatte Tova einen Mandelkuchen zu seinem achtzehnten Geburtstag gebacken. Noch tagelang hielt sich der Marzipanduft im Haus. Bis heute erinnert Tova sich daran, wie er in der Küche hing. Er war wie ein Besuch ohne Anstand, wie jemand, der nicht weiß, wann es Zeit ist zu gehen.

Anfangs nahm man an, Erik sei davongelaufen. Der Letzte, der ihn gesehen hatte, war ein Steward von der Elf-Uhr-Fähre in südlicher Richtung, der letzten Tour des Tages. Er sagte, ihm sei nichts Besonderes aufgefallen. Erik musste das Kassenhäuschen nach Schichtende abschließen, was er auch immer pflichtbewusst tat. Er war sehr stolz darauf, dass man ihm den Schlüssel anvertraut hatte; schließlich war es nur ein Ferienjob. Der Sheriff sagte später, das Kassenhäuschen sei offen gewesen, die gesamten Einnahmen hätten noch in der Kasse gelegen. Eriks Rucksack fand man unter dem Stuhl, zusammen mit seinem tragbaren Kassettenrekorder und den Kopfhörern. Selbst sein Portemonnaie war da. Bevor Fremdverschulden ausgeschlossen werden konnte, spekulierte der Sheriff, Erik hätte vielleicht nur Pause gemacht.

Aber warum sollte er das Häuschen während seiner Schicht verlassen? Das hatte Tova nie verstanden. Will vertrat immer die These, dass ein Mädchen im Spiel gewesen sei, aber davon gab es keine Spur – ebenso wenig von einem Jungen, was das betraf. Eriks Freunde waren sich sicher, dass er damals mit niemandem zusammen war. Sie behaupteten, wenn er eine Freundin gehabt hätte, hätten sie es gewusst. Erik war beliebt.

Eine Woche später fand man das Boot: ein verrostetes altes Segelbötchen, dessen Fehlen niemand in der bescheidenen Marina neben dem Fähranleger bemerkt hatte. Es wurde mit durchtrennter Ankerleine angespült. Eriks Fingerabdrücke waren auf dem Ruder. Eine dünne Beweislage, sagte der Sheriff, aber alles deute darauf hin, dass sich der Junge das Leben genommen habe.

Verbreiteten die Nachbarn.

Stand in der Zeitung.

Alle glaubten es.

Nur Tova nicht. Nicht eine Minute lang.

Blinzelnd schaut sie in den Spiegel auf der Gästetoilette und tupft sich das Gesicht ab. Seit Jahren ist sie mit den Stricklieseln befreundet, aber manchmal fühlt es sich an, als sei sie ein Teil im falschen Puzzle.

Tova holt ihre Tasse aus der Spüle, schenkt sich noch mal Tee ein und setzt sich wieder hin, um sich am Gespräch zu beteiligen. Es geht um den Nachbarn von Mary Ann, der seinen Orthopäden wegen einer verunglückten Operation verklagen will. Die Frauen sind sich einig, dass der Arzt zur Verantwortung gezogen werden muss. Dann bewundern sie die Fotos von Janices kleinem Yorkie Rolo, der oft in der Handtasche mit zu den Stricklieseln gebracht wird. Heute musste er allerdings mit einem übersäuerten Magen zu Hause bleiben.

»Armer Rolo«, sagt Mary Ann. »Glaubst du, er hat was Falsches gefressen?«

»Du darfst ihm nichts von deinem Essen geben«, mahnt Barb. »Rick hat unserer Sully hinter meinem Rücken oft die Reste vom Teller zugesteckt. Aber ich habe es immer gemerkt. Oh, wie die Häufchen stanken!«

»Barbara!«, mahnt Mary Ann mit aufgerissenen Augen. Janice und Tova lachen.

»Entschuldigt meine Ausdrucksweise, aber dieser Hund konnte das ganze Haus zustinken. Möge er in Frieden ruhen.« Barb drückt die Hände wie zum Gebet aneinander.

Tova weiß, wie sehr Barb ihre Golden-Retriever-Hündin Sully geliebt hat. Vielleicht mehr als ihren verstorbenen Ehemann Rick. Im letzten Jahr verlor sie beide innerhalb weniger Monate. Tova fragt sich manchmal, ob es besser ist, wenn sich persönliche Tragödien häufen, weil die schon bestehende Trauer dann nur größer wird. Man hat es schneller hinter sich. Aus Erfahrung wusste sie, dass die Abgründe der Verzweiflung ein Ende hatten. Wenn die Seele voll Kummer war, perlte weiteres Leid einfach ab, floss über, so wie der Ahornsirup, den Erik sich samstagsmorgens auf den Pfannkuchen goss, wenn Tova es erlaubte.

Um drei Uhr holen die Stricklieseln ihre Jacken und Taschen, um aufzubrechen. Mary Ann nimmt Tova zur Seite.

»Sag bitte Bescheid, wenn du Hilfe brauchst.« Sie legt ihre Hände um Tovas. Mary Anns olivbraune italienische Haut wirkt vergleichsweise jung und glatt. Tovas skandinavische Gene, die in ihrer Jugend so gut zu ihr waren, haben sich im Alter gegen sie verschworen. Schon mit vierzig Jahren war ihr hellblondes Haar grau. Mit fünfzig waren die Falten in ihrem Gesicht wie in Lehm gebrannt. Jetzt sieht Tova manchmal ihr Spiegelbild in einem Schaufenster und merkt, dass sie die Schultern hochzieht. Sie kann kaum glauben, dass das ihr Körper ist.

»Ich versichere dir, dass ich keine Hilfe brauche.«

»Aber wenn dir dieser Job zu viel wird, hörst du auf, ja?«

»Natürlich.«

»Gut.« Mary Ann wirkt nicht überzeugt.

»Vielen Dank für Speis und Trank, Mary Ann.« Tova schlüpft in ihre Jacke und lächelt den dreien zu. »War ein schöner Nachmittag, wie immer.«

Tova streicht übers Armaturenbrett und drückt aufs Gaspedal, damit der alte Automatik noch einen Gang runterschaltet. Stöhnend nimmt der Wagen den Berg.

Mary Ann wohnt in einem breiten Tal, in dem es früher nur Narzissenfelder gab. Tova weiß noch, wie sie als kleines Mädchen hindurchgefahren ist, zusammen mit ihrem großen Bruder Lars auf der Rückbank des alten Packards. Papa am Steuer, Mama daneben mit heruntergedrehter Scheibe, das Kopftuch unterm Kinn festgehalten, damit es nicht davonflog. Tova ließ ihre Scheibe auch hinunter und reckte den Kopf so weit hinaus, wie sie sich traute. Im Tal roch es süßlich nach Mist. Millionen gelber Blüten verschwammen zu einem Meer aus Sonnenschein.

Heute durchzieht ein Schachbrettmuster aus Wohnstraßen das Tal. Alle paar Jahre macht der Landkreis großen Wirbel um die Ausbesserung der Straße, die sich den Hang hinauf windet. Mary Ann schreibt deswegen ständig Briefe an die Verwaltung. Die Straße sei zu steil, behauptet sie, das begünstige die Bildung von Schlammlawinen.

»Nicht zu steil für uns«, sagt Tova, als ihr Wagen den höchsten Punkt überwunden hat.

Auf der anderen Seite hat man einen weiten Blick über den Puget-Sund. Durch die Wolken fällt ein Sonnenstrahl aufs Wasser. Plötzlich reißt die Lücke auf, wie von einer unsichtbaren Hand geöffnet, und taucht das Meer in helles Licht.

»Na, wie find ich das denn?«, sagt Tova und klappt die Sonnenblende hinunter. Blinzelnd biegt sie rechts auf den Sound View Drive, der sich an der Kammlinie entlangzieht. Sie fährt Richtung Heimat.

Endlich Sonne! Tova muss die Blüten ihrer Astern zurückschneiden. Schon seit Wochen dämpft das kühle, feuchte Wetter, selbst für die Verhältnisse am Nordwestpazifik ungewöhnlich, Tovas Begeisterung für die Gartenarbeit. Bei der Vorstellung, endlich loslegen zu können, drückt sie das Gaspedal durch. Vielleicht schafft sie noch vor dem Abendessen das gesamte Blumenbeet.

Zu Hause angekommen, schwebt sie regelrecht durch die Räume in den Garten und nimmt noch ein Glas Wasser mit. Nur kurz bleibt sie stehen, um auf den blinkenden roten Knopf ihres Anrufbeantworters zu drücken. Der Apparat ist ständig voll; irgendwelche Leute versuchen, ihr irgendwas zu verkaufen, dennoch hört Tova immer zuerst die Nachrichten ab. Wie kann man ein rot blinkendes Licht im Hintergrund einfach ignorieren?

Als Erstes spricht jemand, der Spenden sammelt. Löschen.

Die zweite Nachricht ist auf jeden Fall ein Betrugsversuch. Wer ist schon so dumm und ruft zurück, um seine Kontonummer durchzugeben? Löschen.

Die dritte Nachricht kann nur ein Versehen sein. Unterdrückte Stimmen, dann ein Klicken. Mit dem Hintern gewählt, wie Janice Kim das nennt. Das Risiko, das man eingeht, wenn man sein Handy in die Gesäßtasche steckt. Löschen.

Die vierte Nachricht beginnt mit Schweigen. Tova will schon auf die Löschtaste drücken, da meldet sich eine Frauenstimme. »Tova Sullivan?« Sie räuspert sich. »Hier ist Maureen Cochran. Aus dem Pflegeheim Charter Village.«

Mit einem Klirren stellt Tova ihr Wasserglas auf die Arbeitsfläche.

»Wir haben leider eine schlechte Nachricht für Sie …«

Tova drückt kräftig auf die Taste, um den Apparat zum Schweigen zu bringen. Sie braucht nicht mehr zu hören. Mit dieser Nachricht rechnet sie schon seit einiger Zeit.

Ihr Bruder Lars.

1301. Tag in Gefangenschaft

Ich mache es folgendermaßen:

Am oberen Ende meines Beckens ist ein Loch für die Pumpe in der Scheibe. Zwischen dem Pumpengehäuse und dem Glas befindet sich ein Spalt, groß genug, dass ich das Ende eines Tentakels hindurchschieben und das Gehäuse abschrauben kann. Dann treibt die Pumpe im Becken, und das Loch ist offen. Es ist klein. Ungefähr so breit wie zwei oder drei Menschenfinger.

Jetzt kommt der Einwand: Aber das ist ja winzig! Du bist doch riesengroß!

Das stimmt, aber ich habe kein Problem damit, meinen Körper so zu verformen, dass er hindurchpasst. Das ist der einfache Part.

Wenn ich draußen bin, rutsche ich an der Scheibe in den Pumpenraum hinunter, der hinter meinem Bassin liegt. Nun beginnt die Herausforderung: Man könnte sagen, die Uhr läuft. Sobald ich das Wasser verlassen habe, bleiben mir achtzehn Minuten Zeit. Dann muss ich zurück sein, sonst bekomme ich »die Konsequenzen« zu spüren. Achtzehn Minuten kann ich außerhalb des Wassers überleben. Diese Information steht natürlich nicht auf dem Schild neben dem Becken. Das habe ich selbst herausgefunden.

Auf dem kalten Betonboden muss ich mich schnell entscheiden, ob ich im Pumpenraum bleiben oder die Tür öffnen will. Jede Wahl hat ihre Vor- und Nachteile.

Wenn ich beschließe, im Pumpenraum zu bleiben, habe ich freien Zugang zu den Becken neben meinem. Leider üben sie nur begrenzte Anziehungskraft auf mich aus. Die Seewölfe kommen schlichtweg nicht in Frage, und zwar aus offensichtlichen Gründen. Diese Zähne! Pazifische Kompassquallen sind mir zu würzig, die Gelbbauch-Schnurwürmer schmecken wie Gummi. Miesmuscheln sind vom Geschmack her irgendwie langweilig, und Seegurken sind zwar köstlich, dennoch muss ich mich zusammenreißen. Wenn ich noch mehr davon fresse, riskiere ich, dass Terry mir auf die Schliche kommt.

Wenn ich hingegen die Tür öffne, kann ich mich im Gang und im großen Becken bedienen. Ein deutlich ansprechenderes Angebot. Doch es hat seinen Preis: Zuerst muss ich mehrere Minuten in das Öffnen der Tür investieren. Da sie schwer ist und wieder zufällt, brauche ich auf dem Rückweg noch mal mehrere Minuten, um sie erneut aufzumachen.

Warum ich sie nicht offen halte?

Nun, das liegt auf der Hand.

Einmal habe ich etwas davorgestellt. Den Hocker, der unter meinem Becken steht. In den gewonnenen Minuten in Freiheit plünderte ich einen Eimer mit frischen Heilbuttstücken, den Terry unter der Klappe des großen Beckens stehen gelassen hatte. (Ich nehme an, dass der Heilbutt als Frühstück für die Haie am nächsten Morgen gedacht war. Aber die dämlichen Tiere sind dermaßen begriffsstutzig. Tut mir also nicht leid.)

Mit dieser trügerischen Muße war es ein fast angenehmer Ausflug. Vielleicht das schönste Erlebnis, seit ich gefangen genommen wurde. Doch als ich zurückkehrte, musste ich etwas feststellen, das ich bis heute nicht verstanden habe: Durch irgendein Ungeschick hatte der Hocker die Tür nicht aufgehalten.

Die Lektion des Tages: Traue keiner offenen Tür.

Als ich sie endlich wieder aufgezogen hatte, schwanden meine Kräfte. »Die Konsequenzen« entfalteten ihre volle Wirkung.

Meine Gliedmaßen bewegten sich langsamer, ich konnte nur noch verschwommen sehen. Mein Mantel wurde schwer und hing schlaff hinunter. Wie durch einen Schleier nahm ich wahr, dass meine Haut einen blassen bräunlich-grauen Farbton angenommen hatte.

Als ich durch den Pumpenraum kroch, fühlte sich der Boden nicht mehr kalt an. Ich nahm keine Temperatur mehr wahr. Irgendwie gelang es meinen schwerfälligen Saugnäpfen, mich ins Becken zu befördern.

Ich drückte meine Tentakel und den Mantel durch die Öffnung. Mittendrin hielt ich inne, schwebte über dem Wasser. Meine Tentakel waren völlig taub, spürten nichts mehr.

Kurz erwog ich, dort zu bleiben. Nichts war auch eine Möglichkeit. Was verbarg sich wohl jenseits des Lebens?

Als das Wasser mich aufnahm, kehrten meine Sinne zurück. Mein Sehvermögen schärfte sich, ich erkannte die vertraute Umgebung meines Beckens. Ich schlang einen Tentakel um die Pumpe und setzte sie wieder ein, um die Lücke zu schließen. Kraftvoll und flink schwamm ich in meine Höhle hinter dem Stein, schleppte meinen Mantel durch das kalte Wasser. Mein Bauch, randvoll mit Heilbutt, war angenehm gefüllt.

Als ich mich anschließend in meiner Höhle ausruhte, pochten meine drei Herzen. Die dumpfen Schläge schlichter Erleichterung. Ein Urinstinkt, ausgelöst von einem unerwarteten Sieg über den Tod. Ich könnte mir vorstellen, dass eine Muschel sich so fühlt, wenn sie sich vor meinem zuschnappenden Schnabel im Sand vergraben kann. Wenn man dem Schicksal getrotzt hat, wie Menschen es nennen.

Die Konsequenzen. Es war nicht das einzige Mal, dass ich sie erfahren habe. Auch bei anderen Gelegenheiten habe ich die Grenzen meiner Freiheit ausgereizt. Doch nie wieder habe ich versucht, ein paar Minuten mehr herauszuschinden, indem ich die Tür offen halte.

Ich muss nicht extra erklären, dass Terry nichts von diesem Spalt ahnt. Außer mir weiß niemand davon. Und da ich möchte, dass es so bleibt, bedanke ich mich schon im Voraus für die Verschwiegenheit aller, die es hier lesen.

Mir wurde die Frage gestellt, ich habe geantwortet.

So ist das.

Der Wohnpark Welina ist was für Liebhaber

Cameron Cassmore späht mit zusammengekniffenen Augen durch die Windschutzscheibe, so erbarmungslos knallt die Sonne vom Himmel. Er hätte seine Sonnenbrille aufsetzen sollen. Zu dieser unchristlichen Stunde um neun Uhr am Samstagmorgen mit einem dicken Kater nach Welina zu fahren … uargh. Durstig greift er zu der offenen Dose im Becherhalter von Brads Pick-up und trinkt einen Schluck. Uargh, ein abartiger Energydrink. Mit einem Geräusch des Ekels spuckt Cameron die Flüssigkeit aus dem Fenster und wischt sich den Mund mit dem Hemdärmel ab, dann zerdrückt er die Dose und wirft sie auf den Beifahrersitz.

»Um was musst du dich kümmern?«, hatte Brad mit müden Triefaugen gefragt, als Cameron ihn gebeten hatte, ihm den Wagen zu leihen. Nach der improvisierten Wahnsinns-Metal-Show ihrer Band Moth Sausage in Dell’s Saloon am Vorabend hatte Cameron bei Brad und Elizabeth auf der Couch übernachtet.

»Um eine Clematis«, hatte Cameron geantwortet. Aus dem panischen Anruf seiner Tante Jeanne hatte er entnommen, dass der bescheuerte Wohnparkbesitzer ihr wieder wegen der Kletterpflanze in den Ohren lag. Letztes Mal war es so weit gekommen, dass der Vermieter damit drohte, Tante Jeanne wegen des Rankgerüsts zwangsräumen zu lassen.

»Was zur Hölle ist eine Clematis?« Ein leichtes Grinsen umspielte Brads Mundwinkel. »Klingt irgendwie heiß.«

»Das ist ’ne Pflanze, du Penner!« Cameron hatte sich nicht die Mühe gemacht zu erklären, dass es sich um eine blühende, mehrjährige Kletterpflanze aus der Familie der Hahnenfußgewächse handelte. Ursprünglich aus China und Japan, war sie in der viktorianischen Zeit nach Westeuropa gelangt und wurde für die Fähigkeit geschätzt, Gerüste zu begrünen.

Warum konnte er sich solchen Blödsinn merken? Wenn er doch nur das nutzlose Wissen aus dem Kopf bekäme, das seine Gedanken blockierte! Als Cameron auf den Highway fährt, der ihn zu Tante Jeannes Wohnpark bringt, gibt er Gas und lässt alle Scheiben runter, um sich eine Zigarette anzuzünden. Normalerweise raucht er nicht mehr, nur wenn er sich scheiße fühlt; und an diesem Vormittag fühlt er sich wie ein riesengroßes Stück Scheiße. Der Qualm weht aus dem Fenster und löst sich über dem flachen, verstaubten Ackerland von Merced Valley auf.

In Tante Jeannes Garten wiegen sich Maßliebchen im Wind. Sie hat noch ein paar große Büsche mit weißen Blüten, ein blinkendes gitterartiges Netz und einen Brunnen, der mit sechs DD-Batterien läuft. Das weiß Cameron, weil seine Tante ihn gefühlt bei jedem Besuch darum bittet, die Batterien auszutauschen.

Und sie hat Frösche. Überall Frösche. Kleine Zementfrösche mit Rissen, in denen Moos wächst, Frösche als Blumentöpfe, eine Stars-and-Stripes-Windhose an einem rostigen Mast, dekoriert mit drei grinsenden, patriotisch in Rot, Weiß und Blau gekleideten Fröschen.

Weihnachtsfrösche.

Wenn es im Wohnpark Welina einen Preis für den schönsten Garten gäbe, wäre Tante Jeanne auf jeden Fall eine heiße Kandidatin. Nein, sie würde gewinnen. Das Auffälligste an ihrem mustergültigen Garten ist der absolute Gegensatz zu dem Chaos im Trailer, das Cameron nur zu gut kennt.

Die Verandastufen quietschen unter seinen Arbeitsstiefeln. Ein Blatt Papier klemmt hinterm Griff der Insektengittertür. Cameron nimmt es heraus und schielt darauf: ein Flyer für die Bingo-Meisterschaft im Trailerpark. Er zerknüllt die Einladung und stopft sie in die Hosentasche. Nie im Leben würde Tante Jeanne zu so einer albernen Veranstaltung gehen. Die gesamte Anlage ist furchtbar. Schon der Name: Welina. Das heißt »willkommen« auf Hawaiianisch. Dabei könnte Hawaii nicht weiter weg sein.

Gerade will Cameron auf die Klingel drücken, natürlich in der Form eines Frosches, da hört er Geschrei hinter dem Trailer.

»Wenn Sissy Baker, diese blöde Kuh, sich um ihren eigenen Mist kümmern würde, käme sie nicht auf solche bescheuerten Ideen, oder?«, dröhnt Tante Jeanne, und Cameron kann sich gut vorstellen, wie sie da in ihrem grauen Lieblingssweatshirt steht, die Hände in die breiten Hüften gestützt, und finster dreinschaut. Als er um den Trailer herumgeht, muss er ungewollt grinsen.

»Jeanne, bitte, das müssen Sie doch verstehen!« Die Stimme des Wohnparkinhabers ist leise und gönnerhaft. Jimmy Delmonico. Wirklich ein Schlappschwanz erster Güte. »Die anderen Bewohner bekommen Angst, wenn sie von Schlangen hören. Das verstehen Sie doch, oder?«

»Hier sind aber keine Schlangen! Wieso bilden Sie sich überhaupt ein, mir erzählen zu können, was ich mit meinem Busch machen soll?«

»Es gibt Vorschriften, Jeanne.«

Cameron marschiert hinter den Trailer. Delmonico sieht Tante Jeanne empört an, die tatsächlich ihren grauen Sweater trägt. Mit rotem Gesicht hält sie eine Handvoll dichter Ranken hoch, die das hinten an ihrem Trailer angebrachte Spalier überziehen. Ihr Gehstock, auf dessen oberes Ende ein verblasster grüner Tennisball geklemmt ist, lehnt an der Außenwand.

»Cammy!«

Tante Jeanne ist der einzige Mensch auf der Welt, der Cameron so nennen darf.

Er trottet zu ihr hinüber und grinst, als sie ihn kurz an sich drückt. Wie immer riecht sie nach abgestandenem Kaffee. Dann wendet er sich mit ernstem Gesicht an Delmonico. »Wo ist das Problem?«

Tante Jeanne schnappt sich ihren Stock und weist damit anklagend auf den Wohnparkbesitzer. »Cammy, sag ihm, dass ich keine Schlangen in meiner Clematis habe! Er will, dass ich sie rausreiße! Und das nur, weil Sissy Baker behauptet, sie hätte da was gesehen. Dabei weiß jeder, dass die alte Eule so gut wie blind ist!«

»Sie haben es gehört: Da sind keine Schlangen drin«, sagt Cameron mit fester Stimme und weist mit dem Kopf auf die üppig rankende Pflanze, die seit seinem letzten Besuch förmlich explodiert ist. Wie lange ist das her? Einen Monat?

Delmonico zwickt sich in den Nasenrücken. »Freut mich, Sie wiederzusehen, Cameron.«

»Ganz meinerseits.«

»Hören Sie, das steht so in der Satzung des Wohnparks.« Delmonico seufzt. »Wenn sich ein Anwohner beschwert, bin ich verpflichtet, der Angelegenheit auf den Grund zu gehen. Und Missus Baker hat behauptet, sie hätte eine Schlange gesehen. Und zwar genau in dem Busch da. Da hätten sie zwei gelbe Augen angeblinzelt.«

Cameron lacht höhnisch. »Dann muss sie lügen.«

»Muss sie«, echot Tante Jeanne und wirft Cameron aus dem Augenwinkel einen fragenden Blick zu.

»Ach, ja?« Delmonico verschränkt die Arme vor der Brust. »Missus Baker ist seit vielen Jahren ein angesehenes Mitglied dieser Gemeinschaft.«

»Sissy Baker ist wirklich nicht mehr ganz richtig im Kopf!«

»Cammy!« Vorwurfsvoll schlägt Tante Jeanne ihm auf den Arm. Seine saftige Ausdrucksweise stammt von der Frau, die ihm beim Lernen des Alphabets beibrachte, es heiße »A wie Arsch.

»Wie bitte?« Delmonico lupft seine Brille.

»Schlangen können nicht blinzeln.« Cameron verdreht die Augen. »Geht gar nicht. Sie haben keine Augenlider. Schlagen Sie’s nach.«

Der Wohnparkbesitzer will etwas sagen, schließt den Mund aber wieder.

»Fall erledigt. Nix mit Schlangen.« Cameron verschränkt die Arme, die mindestens doppelt so breit wie Delmonicos sind. In letzter Zeit war im Fitnessstudio öfter Bizepstag.

Delmonico sieht tatsächlich aus, als würde er gern gehen. Mit Blick auf seine Schuhe brummt er: »Auch wenn das stimmt, das mit den Schlangen und den Augenlidern … Es gibt Vorschriften. Beschwert euch deswegen beim Landkreis, wenn ihr wollt, aber wenn ich einen Hinweis bekomme, dass eine meiner Parzellen von Schädlingen befallen ist …«

»Ich habe doch gesagt, hier gibt es keine Schlangen!« Tante Jeanne wirft die Hände in die Luft. Ihr Gehstock landet auf dem Rasen. »Sie haben meinen Neffen gehört. Keine Augenlider! Wissen Sie, um was es in Wirklichkeit geht? Sissy Baker ist neidisch auf meinen Garten!«

»Ja, Jeanne.« Delmonico hebt Einhalt gebietend die Hand. »Wir wissen alle, dass Sie einen wunderschönen Garten haben.«

»Sissy Baker lügt, und sie ist blind!«

»Das mag sein, wie es wolle, aber es gibt Sicherheitsvorschriften. Und wenn irgendwo eine gefährliche Situation entsteht …«

Cameron macht drohend einen Schritt auf Delmonico zu. »Ich glaube nicht, dass hier irgendwer jemanden gefährden will.« Eigentlich blufft er. Cameron hasst Prügeleien. Aber das muss dieser Hampelmann ja nicht wissen.

Delmonico erschreckt sich fast wie eine Comicfigur, klopft auf seine Tasche und zieht dann umständlich sein Handy hervor. »Hey, tut mir leid. Da muss ich drangehen.«

Cameron schmunzelt. Der alte Telefontrick. Der Typ ist echt armselig.

»Schneiden Sie den Strauch einfach ein bisschen zurück, Jeanne, ja?«, ruft er auf dem Kiesweg über die Schulter.

Cameron braucht fast eine ganze Stunde, um die Clematis zu beschneiden. Auf einer wackligen Trittleiter stehend, führt er Tante Jeannes pingelige Anweisungen aus: »Da noch ein bisschen«, »Nein, nicht so viel!«, »Mach links was weniger!«, »Nein, ich meinte rechts. Ach, nee, doch links.« Seine Tante sammelt die abgeschnittenen Zweige und violetten Blüten in einem Gartenmüllsack.

»Stimmt das eigentlich mit den Schlangen, Cammy?«

»Ja, klar.« Er steigt die Leiter hinunter.

Tante Jeanne runzelt die Stirn. »Also, in meiner Clematis sind wirklich keine Schlangen, oder?«

Während Cameron die Handschuhe auszieht, wirft er ihr einen Seitenblick zu. »Hast du da schon mal eine entdeckt?«

»Ähm, nein …«

»Na, siehst du!«

Tante Jeanne lacht, öffnet die Hintertür ihres Trailers und schiebt mit ihrem Gehstock einen Stapel Zeitungen hinein. »Bleib noch ein bisschen, Schatz. Willst du einen Kaffee? Tee? Whiskey?«

»Whiskey, dein Ernst?« Es ist noch keine zehn Uhr morgens. Bei dem Gedanken an Alkohol zieht sich Camerons Magen zusammen. Er duckt sich unter dem Türrahmen hindurch und gewöhnt sich drinnen blinzelnd an das trübe Licht. Angesichts des Zustands im Trailer stößt er einen Seufzer der Erleichterung aus. Ja, es ist schlimm. Aber nicht schlimmer als beim letzten Mal. Eine Zeitlang hatte er den Eindruck, als würde sich der Müll vermehren wie eine Schar Karnickel.

»Also einfach einen Kaffee«, sagt Tante Jeanne augenzwinkernd. »Du wirst alt, Cammy. Macht keinen Spaß mehr mit dir!«

Er grummelt etwas vor sich hin von wegen, er hätte am Vorabend zu viel Spaß gehabt, und Tante Jeanne nickt wie immer leicht amüsiert. Sie merkt natürlich, dass er an diesem Morgen in den Seilen hängt. Vielleicht wird er wirklich alt. Bisher ist dreißig echt Scheiße.

Um an die Kaffeemaschine zu gelangen, schiebt seine Tante das Durcheinander aus Kartons und Papier auf der winzigen Arbeitsfläche zur Seite. Cameron nimmt ein Taschenbuch von einem Berg Müll, unter dem ein klappriger kleiner Schreibtisch fast verschwindet. Ein uralter Computer summt in den Tiefen des Tohuwabohus. Das Büchlein ist ein Liebesroman, einer von der Sorte, wo ein muskulöser Mann mit nacktem Oberkörper auf dem Cover abgebildet ist. Cameron legt das Taschenbuch zurück, und der Stapel kippt um.

Wann ging das los? Tante Jeanne sagt, sie würde halt Sachen sammeln. In Camerons Kindheit war sie anders. Manchmal fährt er in Modesto, wo er aufgewachsen ist, durch die Gegend, vorbei an dem kleinen Häuschen, in dem sie ihn aufzog. Da war immer alles sauber. Vor ein paar Jahren hat sie es verkauft, um die Arztrechnungen aus dem Sommer davor bezahlen zu können. Es stellte sich heraus, dass es ein Vermögen kostet, wenn man auf dem Parkplatz von Dell’s Saloon umgeschubst wird, und das war nicht mal Tante Jeannes Schuld. Irgendwelche Arschlöcher vom Land machten Ärger, und sie wollte nur, dass sich alle ein bisschen beruhigten. Unbeabsichtigt bekam sie einen Schlag an die Schläfe, fiel hin und lag dann reglos auf dem Pflaster. Eine schlimme Gehirnerschütterung, eine gebrochene Hüfte, monatelange Physio- und Ergotherapie. Um seine Tante zu pflegen, ließ Cameron eine gute Stelle bei einer Renovierungsfirma sausen, wo er eventuell eine Ausbildung hätte machen können. Er schlief auf ihrer Couch, damit sie nicht vergaß, ihre Medikamente zu nehmen, fuhr sie zu dem Spezialisten für Kopfverletzungen in Stockton und holte sie wieder ab. Jeden Nachmittag drückte er lautlos die Verandatür auf und fing den Postboten ab, damit sie nicht mitbekam, wenn eine neue Rechnung eintrudelte. Sein armseliges Sparkonto hielt ihnen die Geldeintreiber eine Weile vom Leib.

Als Tante Jeanne das Haus letztlich verkaufen musste, war sie gerade zweiundfünfzig geworden, das Mindestalter für den Trailerpark Welina. Aus Gründen, die Cameron bis heute nicht versteht, beschloss seine Tante nicht etwa, sich ein kleines Apartment zu leisten, sondern kaufte von dem übrig gebliebenen kleinen Geldbetrag diesen Trailer und zog her. War das der Punkt, wo sie mit dem Sammeln anfing? Ist diese Müllhalde von Campingplatz der Grund dafür, dass es bergab ging?

Tante Jeanne stellt zwei dampfende Kaffeebecher auf den Tisch und macht Cameron ein Zeichen, sich neben sie aufs Sofa zu setzen. Dabei erzählt sie, dass Sissy Baker sie seit einem Missverständnis beim letzten Sommerfest eh auf dem Kieker habe (Cameron fragt nicht näher nach).

»Und, wie war’s auf der Arbeit?«

Cameron zuckt mit den Schultern.

»Haben sie dich wieder rausgeschmissen?«

Er antwortet nicht.

Tante Jeanne kneift die Augen zusammen. »Cammy! Du weißt genau, dass ich unten in der Verwaltung meine Beziehungen hab spielen lassen, damit du eine Stelle bei dem großen Bauprojekt bekommst.« Tante Jeanne sitzt halbtags am Empfang der Bezirksverwaltung. Schon seit Jahren. Natürlich kennt sie da jeden. Und es stimmt, es war ein großes Bauvorhaben, ein Büropark am Stadtrand. Egal, Cameron war am zweiten Tag nur lächerliche zehn Minuten zu spät, und dieses Arschloch von Vorarbeiter sagte, er könne sich verziehen. Doch nicht Camerons Schuld, dass der Vorarbeiter nicht das kleinste bisschen Verständnis hatte!

»Ich hab dich nicht gebeten, deine Beziehungen spielen zu lassen«, brummt er und erklärt, was passiert ist.

»Das heißt, du hast es verbockt. So richtig. Und jetzt?«

Cameron zieht einen Schmollmund. Tante Jeanne sollte eigentlich auf seiner Seite stehen. Schweigen macht sich zwischen ihnen breit; sie trinkt einen Schluck Kaffee. Auf ihrem Becher tanzen Comicfrösche, darüber steht in knallroten Buchstaben: »WHO LET THE FROGS OUT?« Cameron schüttelt den Kopf und versucht, das Thema zu wechseln. »Deine neue Flagge draußen ist cool.«

»Ja?« Ein klein wenig erhellt sich ihr Gesicht. »Hab ich in einem Katalog gefunden und bestellt.«

Cameron nickt. Das überrascht ihn nicht.

»Wie geht’s Katie?«, fragt Tante Jeanne.

»Gut«, sagt Cameron heiter. Tatsächlich hat er seine Freundin nicht mehr gesehen, seit er ihr am Vortag, als sie zur Arbeit fuhr, einen Abschiedskuss gab. Eigentlich wollte sie sich den Auftritt von Moth Sausage ansehen, bekam dann aber Kopfschmerzen, und Cameron war länger als geplant unterwegs und übernachtete schließlich bei Brad. Trotzdem geht’s Katie gut. Sie gehört zu den Mädels, die nie Probleme haben, denen es immer gut geht.

»Sie ist ein guter Fang.«

»Ja, sie ist super.«

»Ich wünsche mir nur, dass du glücklich bist.«

»Bin ich.«

»Und es wäre schön, wenn du einen Job mal länger als zwei Tage behalten könntest.«

Na super, schon wieder. Cameron schaut finster drein und reibt sich das Gesicht. Hinter seinen Augen pocht es. Wäre wahrscheinlich gesünder, wenn er Wasser trinken würde.

»Du bist so intelligent, Cammy, so verdammt clever …«

Er steht vom Sofa auf und guckt aus dem Fenster. Nach einer langen Minute sagt er: »Tja, für Intelligenz wird man bloß nicht bezahlt.«

»Bei dir sollten sie eine Ausnahme machen.« Tante Jeanne klopft auf den Platz neben sich auf dem Sofa. Cameron lässt sich darauf sacken und lehnt seinen dröhnenden Kopf an ihre Schulter. Er liebt seine Tante Jeanne, natürlich. Aber sie versteht ihn einfach nicht.

Keiner in der Familie weiß, woher Cameron seine Intelligenz hat. Und mit Familie sind er und Tante Jeanne gemeint. Das ist seine gesamte Verwandtschaft.

An das Gesicht seiner Mutter kann er sich kaum erinnern. Er war neun Jahre, als Tante Jeanne ihn bei ihr abholte. Seine Mutter hatte gesagt, er solle seine Tasche packen, er würde das Wochenende bei seiner Tante verbringen. Das war nichts Ungewöhnliches. Cameron übernachtete öfter bei Tante Jeanne. Aber diesmal holte seine Mutter ihn nicht wieder ab. Er erinnert sich daran, wie sie ihn zum Abschied an sich drückte und tintige Tränen über ihr geschminktes Gesicht liefen. Mit seltener Klarheit weiß er noch, wie knochig sich ihre Arme anfühlten.

Aus dem Wochenende wurde eine Woche, dann ein Monat. Schließlich ein Jahr.

Irgendwo in ihrem vollgestopften Kramschrank bewahrt Tante Jeanne die Keramikteile auf, die seine Mutter als Kind gesammelt hat. Herzen, Sterne, Tiere. Auf einigen steht ihr Name: Daphne Ann Cassmore. Immer mal wieder fragt seine Tante, ob er die Gegenstände haben wolle, und jedes Mal verneint Cameron. Was soll er mit dem alten Mist, wenn seine Mutter nicht lange genug clean bleiben konnte, um sich um ihn zu kümmern?

Zumindest weiß Cameron, von wem er das Katastrophen-Gen geerbt hat.

Tante Jeanne beantragte das alleinige Sorgerecht für ihn, was ihr umgehend gewährt wurde. Es sei deutlich besser, wenn Cameron bei einer Verwandten sei, als wenn er »ins System komme«, sagte die zuständige Frau beim Jugendamt leise, daran erinnert er sich noch.

Tante Jeanne war zwölf Jahre älter als Daphne, hatte nie geheiratet und keine eigenen Kinder. Für sie war Cameron immer das Gottesgeschenk, das sie sich nicht zu träumen erhofft hatte.

Seine Kindheit bei Tante Jeanne war gut. Sie war anders als die Mütter seiner Freunde. Wer würde vergessen, wie sie Halloween in einem Freddy-Krueger-Kostüm zum Umzug seiner Grundschule kam? Doch irgendwie funktionierte es.

In der Schule kam Cameron gut mit. Dort lernte er erst Elizabeth, dann Brad kennen. Manchmal hörte er Leute