Das Glück kommt in Wellen - Gabriella Engelmann - E-Book
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Das Glück kommt in Wellen E-Book

Gabriella Engelmann

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Beschreibung

Liebe, Freundschaft und Geheimnisse in einer zauberhaften Kleinstadt an der Nordsee: »Das Glück kommt in Wellen« ist der zweite Band der Wohlfühlroman-Serie »Zauberhaftes Lütteby« von Bestseller-Autorin Gabriella Engelmann.   In Lütteby, der märchenhaft schönen Kleinstadt an der Nordsee, stehen große Entscheidungen an: Soll Lina Hansens beste Freundin, Pastorin Sinje, endlich ihren Verlobten Gunnar heiraten und eine Familie gründen, obwohl sie sich noch nicht bereit fühlt? Was wird aus der Spukvilla am Waldrand, die Sinje gerne zum Pastorat umbauen würde, die Grotersums skrupelloser Bürgermeister Falk van Hove sich aber unter den Nagel reißen will, um ein Golfhotel daraus zu machen? Auch bei Lina und ihrem Vorgesetzten Jonas Carstensen läuft nicht alles wie erhofft – Lina bekommt bei seinem Anblick Herzklopfen, und auch Jonas fühlt sich zu ihr hingezogen. Aber die Hinweise verdichten sich, dass er gemeinsame Sache mit Falk van Hove macht. Schlaflose Nächte bescheren Lina auch die Nachforschungen, die sie anstellt, um endlich ihre Mutter Florence zu finden. Warum ist sie verschwunden und hat Lina als Säugling bei Oma Henrikje gelassen? Warum hat sie nie ein Lebenszeichen gesendet? Zum Glück hat Oma Henrikje immer einen weisen Rat zur Hand: Die Zukunft macht, was sie will, besser du vertraust ihr und stemmst dich nicht gegen sie.   Wie die Liebesgeschichte zwischen Lina Hansen und ihrem neuen Chef Jonas Carstensen beginnt, erzählt Gabriella Engelmann im ersten Band der Wohlfühlroman-Serie, »Die Liebe tanzt barfuß am Strand«.

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Seitenzahl: 345

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Gabriella Engelmann

Das Glück kommt in Wellen

Roman

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Das Glück kommt in Wellen ist der zweite Band der Wohlfühlroman-Serie Zauberhaftes Lütteby von Bestseller-Autorin Gabriella Engelmann.

In Lütteby, der märchenhaft schönen Kleinstadt an der Nordsee, stehen große Entscheidungen an: Soll Lina Hansens beste Freundin, Pastorin Sinje, endlich ihren Verlobten Gunnar heiraten und eine Familie gründen, obwohl sie sich noch nicht bereit fühlt? Was wird aus der Spukvilla am Waldrand, die Sinje gerne zum Pastorat umbauen würde, die Grotersums skrupelloser Bürgermeister Falk van Hove sich aber unter den Nagel reißen will, um ein Golfhotel daraus zu machen? Auch bei Lina und ihrem Vorgesetzten Jonas Carstensen läuft nicht alles wie erhofft – Lina bekommt bei seinem Anblick Herzklopfen, und auch Jonas fühlt sich zu ihr hingezogen. Aber die Hinweise verdichten sich, dass er gemeinsame Sache mit Falk van Hove macht. Schlaflose Nächte bescheren Lina auch die Nachforschungen, die sie anstellt, um endlich ihre Mutter Florence zu finden. Warum ist sie verschwunden und hat Lina als Säugling bei Oma Henrikje gelassen? Warum hat sie nie ein Lebenszeichen gesendet? Zum Glück hat Oma Henrikje immer einen weisen Rat zur Hand: Die Zukunft macht, was sie will, besser du vertraust ihr und stemmst dich nicht gegen sie.

Inhaltsübersicht

Vorspann

Winter vor achtundvierzig Jahren

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

Winter vor achtundvierzig Jahren

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

Biike-Brennen vor achtundvierzig Jahren

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

Frühling vor achtundvierzig Jahren

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

Sommer vor sechsundvierzig Jahren

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

Sommer vor zweiundvierzig Jahren

24. Kapitel

Sommer vor sechsunddreißig Jahren

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

Leseprobe »Das Wunder küsst uns bei Nacht«

Es waren einmal zwei kleine Städte am Meer.

Die Menschen lebten dort in friedlicher Eintracht, glücklich und wohlhabend. Alles, was die Nordsee und die Natur ihnen im Überfluss schenkten, machten sie sich nutzbar.

Doch im Jahre 1350 suchte die Pest Nordfriesland heim.

Die zahllosen Opfer des Schwarzen Todes von Grotersum und Lütteby wurden unter einer Anhöhe am Meer beerdigt, auf der Wald gepflanzt worden war, um die unterirdisch Bestatteten in den endlosen Frieden des Himmels zu geleiten.

Die Kosten hierfür wurden hälftig von »Greewhuger« Ragnar Ketelsen getragen, die restlichen Gelder stammten aus Spenden der Bewohner Lüttebys. Sie alle wollten sich Seelenheil für vermeintliche Sünden erkaufen und künftige Katastrophen von sich und ihren Liebsten abwenden.

Doch es sollte anders kommen, verheerende Sturmfluten brachen über das Land herein und brachten großes Leid und Armut. Darüber entzweiten sich die beiden Gemeinden, anstatt gemeinsam dafür zu kämpfen, dass wieder Wohlstand und damit Sicherheit einkehrten.

Dies ist bis heute so geblieben, sehr zum Missfallen des Herrn …

Winter vor achtundvierzig Jahren

Die Eisschicht auf dem Waldsee glitzerte in der frühen Februarsonne wie ein Teppich aus Kristallen.

Das kleine Mädchen stand am Ufer und blickte verzaubert auf das bläulich gefrorene Wasser des Weihers, auf dem die Sonnenstrahlen fröhlich umhertanzten.

In den Baumwipfeln sangen die Waldvögel den Frühling herbei, obgleich es noch viel zu früh dafür war. Denn Biike-Brennen, das Fest zur Vertreibung der Wintergeister, stand erst bevor.

Dieser Monat war der kälteste im noch blutjungen Jahr.

Doch das Mädchen liebte ihn, weil er sich rau und kühl gebärdete.

»Geh auf gar keinen Fall aufs Eis, es ist noch zu dünn und trägt dich nicht«, hatte ihre Mutter sie gewarnt, seitdem die Kleine davon träumte, Pirouetten auf dem zugefrorenen See zu drehen und Bilder mit den Kufen ihrer nagelneuen Schlittschuhe ins Eis zu kratzen, das danach aussehen würde wie Pulverschnee. Sie hatte ihrer Mutter nichts versprochen, sondern einfach gar nichts gesagt. Schon von klein auf hatte sie ihren eigenen Kopf, war wild und voller Abenteuerlust. Doch zuweilen auch verschlossen wie eine Auster und so traurig, dass es in der Seele wehtat.

Zu ihren Lieblingsbüchern gehörte die Geschichte von Ronja Räubertochter von Astrid Lindgren, die ihr die Mutter allabendlich vorlas, weil sie selbst noch nicht so gut lesen konnte. Doch mittlerweile gelang es ihr besser, die Geheimnisse der Buchstaben zu entschlüsseln, sie zusammenzusetzen und mit mutiger, wenn auch unbeholfener Kinderschrift zu Papier zu bringen.

Die tapfere, starke Ronja war ihr großes Vorbild, deshalb war sie so gern im Wald, suchte zwischen bemoosten Findlingen nach Spuren von Graugnomen und Dunkeldruden, nach wilden Brombeeren und giftigen Pilzen. Vor allem aber nach den Unterirdischen, die vor Jahrhunderten unter der dreißig Meter in den Himmel ragenden Anhöhe begraben worden waren, an deren Hängen sich der Gespensterwald entlangschlängelte und auf einem Plateau über der stürmischen Nordsee thronte.

Obwohl sie sich vor den Unterirdischen fürchtete, fühlte sie sich auf eine unerklärliche Weise von ihnen angezogen …

Je länger sie auf die Eisschicht starrte, desto mehr vermischte sich der Gesang der Vögel mit Klängen, die sich tief in ihr Herz bohrten, etwas darin anrührten und kitzelten.

Waren das die sirenenhaften Locktöne der Unterirdischen, die Ronja an einem Nebelschwadentag in ihre Gefilde holen wollten, aus denen keiner jemals zurückgekehrt war?

Die Kleine bekam Gänsehaut, die Gesänge wurden lauter und lauter. Das Gewicht der Schlittschuhe, die sie sich über die Schulter geworfen hatte, zog plötzlich an ihr wie Blei, also stellte sie die schneeweißen Schühchen vor sich auf den Waldboden.

Wie hübsch sie aussahen, und wie schön sie glänzten.

Sie hatten im Dezember letzten Jahres unter dem Weihnachtsbaum auf das Mädchen gewartet, und von diesem Tage an freute sie sich darauf, sie endlich anzuziehen und mit ihnen auf dem Eis zu tanzen, über sich den weiten, hohen Himmel, umgeben vom Dunkel des Waldes.

»Ich probiere sie jetzt an«, murmelte sie leise, obschon kein Mensch weit und breit zu sehen oder zu hören war. »Anprobieren kann nicht schaden.«

In dem Bewusstsein, etwas Verbotenes zu tun, setzte sie sich auf eine überfrorene, dicke Baumwurzel, streifte die Winterstiefel ab, stellte sie beiseite und schlüpfte in die Schlittschuhe. Dann stand sie auf und freute sich darüber, dass sie mit diesen Schuhen ein kleines Stück größer war.

Wie schön musste es sein, endlich erwachsen zu sein, tun und lassen zu können, was sie wollte.

Dann durfte sie selbst entscheiden, wann sie Schlittschuh lief, wie lange sie nachts las, konnte sich den Bauch mit Grießschnitten und Apfelmus vollschlagen und ihr Herz mit Geschichten über ferne Länder füllen, die sie bereisen wollte. Ihre Welt war ihr schon immer zu klein und zu eng gewesen.

Es gab Tage und Nächte, in denen die Kleine glaubte, ersticken zu müssen. Und Tage, an denen sich Trauer und ein Gefühl von Einsamkeit über sie legte wie ein schwarzes Tuch. Nur hier im Wald und am Meer konnte sie frei atmen und sie selbst sein.

Wie von einer fremden Macht getrieben, setzte sie einen Fuß auf das Eis, das am Rande des Waldsees mit Fichtennadeln, Eicheln, Bucheckern und Tannenzapfen bedeckt war. Doch sie vernahm kein verdächtiges Knacken, das ein Zeichen dafür gewesen wäre, dass die Schicht zu dünn war.

»Ich bleibe wohl trotzdem besser am Rand«, sagte sie leise zu sich und stand, ehe sie sichs versah, mit beiden Beinen auf dem verbotenen Eis.

Plötzlich ergriff Übermut Besitz von ihr.

Vorsichtig, doch zugleich voller Drang nach Abenteuer, entfernte sie sich schließlich vom Uferrand.

Immer ein bisschen weiter … und weiter … und weiter …

Als eine leise, warnende Stimme sich in den Gesang mischte, der sie so sehr betörte und antrieb, beschwor sie in sich den Satz, den Ronja stets gesagt hatte, wenn dunkle Furcht nach ihr griff und sie zu lähmen drohte.

Ihre Lippen formten die Worte: »Im Mattiswald ist man am sichersten, wenn man sich nicht fürchtet. Manchmal muss man auch etwas wagen.«

Da wurde sie mutiger und damit fröhlicher und erfreute sich an dem Geräusch, das die scharf geschliffenen Kufen machten, und an dem Gefühl von Freiheit, das ihr Flügel verlieh.

Ihre ersten Bewegungen waren geprägt von Unsicherheit, doch dann wurden die Drehungen schwungvoller, die Bewegungen kühner, wackelige Kreise zu perfekten Pirouetten.

Irgendwann drehte sich das Mädchen wie ein Wirbelwind um die eigene Achse, und das aufgeraute Eis spritzte nach allen Seiten, dass es eine reine Freude war. Die Baumkronen tanzten um sie herum, beugten sich zu ihr herab, als wollten sie sich ehrfürchtig vor ihr verneigen, die Waldgeister klatschten hörbar Beifall.

Als das Eis plötzlich brach und binnen Sekunden an ein Spinnennetz erinnerte, wurde dem Mädchen kalt ums Herz.

Während sie zwischen den Eisschollen im Wasser einsank, dachte sie an ihre Mutter, an die kleine Stadt am Meer und an alles, was sie so gern noch erlebt hätte.

Ihre Kleidung hatte sich mittlerweile vollgesogen und zog sie in die Tiefe des Waldsees. Zudem kam es ihr so vor, als umklammerten die Seenixen ihre Beine, um sie zu sich in die Unterwelt zu holen. Das Mädchen schlug um sich, obgleich es wusste, dass dies nicht ratsam war.

Doch sie erkannte, dass sie noch nicht bereit war, ins Reich der Toten zu gehen.

Sie wollte leben – um jeden Preis.

In diesem Moment flog ein schwerer, langer Ast in ihre Richtung und verfehlte nur um ein Haar ihr Gesicht.

»Schnapp ihn dir, ich ziehe dich heraus«, rief eine Stimme.

Beinahe blind vor Angst griff sie mit klammer, steifer Hand nach dem Ast, der in diesem Moment wegglitschte und übers Eis schoss wie ein Puck.

»Halte durch, ich werfe dir noch einen zu«, rief die Stimme, und diesmal gelang es ihr, den Ast festzuhalten.

Ihre Zähne klapperten, ihr war schwindelig und übel, doch der Zweig war ein Geschenk der schützenden Bäume, ein Rettungsanker, der ihr Mut machte und Zuversicht gab. Ihre Mutter hatte stets gesagt, dass Bäume denjenigen Schutz boten, die ihn suchten und brauchten, und sie hatte recht gehabt.

»Versuch dich weiter nach oben zu stemmen, damit ich dich besser zu mir ziehen kann«, sagte die Stimme, und dann begann es auf einmal zu schneien.

Dicke, weiche Flocken segelten auf das Mädchen herab und bedeckten zuerst ihre Haare und dann ihr Gesicht.

In diesem Augenblick fühlte die Kleine sich, als sei sie gefangen in einer Zwischenwelt, die schön und grausam zugleich war. Sie liebte den Schnee und die Kälte und genoss die weichen Flocken auf ihrer Haut. Doch sie dachte auch voller Wehmut an das Gutenachtlied, das die Mutter stets für sie gesungen hatte, genau wie Lovis, die Räubermutter, das Wolfslied für Ronja.

Ich werde meiner Tochter keine Lieder singen können, fuhr es ihr schmerzhaft in den Sinn, und dann verschmolz sie mit der kalten, ewig währenden Dunkelheit …

1

Geht’s dir ein bisschen besser?«, fragt Sinje mitfühlend, als ich ihr den Schlüssel für die Eingangstür zum Kirchturm zurückgebe. Ich war auf der Plattform, von der man einen tollen Ausblick auf unseren kleinen Marktplatz hat, um meine Gedanken zu sortieren und einen anderen Blick auf die Dinge zu gewinnen, die vergangene Nacht passiert sind. Doch die Zeit war viel zu kurz, ich fühle mich immer noch, als hätte ein Panzer meine Seele überrollt.

Der Verrat durch zwei Menschen, die mir viel bedeuten, wiegt schwer wie Blei. Henrikje hat mir verschwiegen, dass sie Kontakt zu meiner verschollen geglaubten Mutter hat, und Jonas scheint ein falsches Spiel mit mir zu spielen, weil Bürgermeister Falk van Hove ihn offenbar dafür engagierte, uns Mitarbeiter der Touristeninformation auszuspionieren.

»Leider nein, aber ich sehe immerhin ein wenig klarer in Bezug darauf, was ich will«, erwidere ich mit einem Trauerkloß im Hals, der mir das Sprechen erschwert. »Doch ich weiß trotzdem noch nicht, wen ich zuerst zur Rede stellen soll: Henrikje oder Jonas, beide haben mich gleichermaßen verletzt.«

Sinje seufzt und wiegt ihren Kopf nachdenklich hin und her, dabei fallen ihr die blonden, seidigen Haare tief ins Gesicht. Wir haben bis in die frühen Morgenstunden bei ihr im Pastorat darüber gesprochen, was gestern Nacht passiert ist, und ich bin unendlich froh, sie in dieser Situation an meiner Seite zu haben. Eine bessere Freundin als sie kann man sich nicht wünschen.

Sinje öffnet gerade den Mund, um zu antworten, als ein melodisches Pling den Eingang einer Nachricht ankündigt. Alarmiert zücke ich das Handy, denn trotz der Wut auf meine Großmutter bin ich natürlich besorgt wegen ihres plötzlichen Verschwindens, das so gar nicht zu ihr passt. Sie weiß genau, wie sehr ich unter dem mysteriösen Abtauchen meiner Mutter Florence leide und dass dieses Kindheitstrauma eine Verlustangst in mir ausgelöst hat, die ich wohl nie ganz überwinden werde, egal, wie alt ich bin.

Dass ich gestern Nacht durch Zufall eine Postkarte von Florence aus Paris gefunden habe, macht die Sache nicht besser, denn meine Großmutter ließ mich in dem Glauben, sie hätte niemals ein einziges Lebenszeichen von ihrer verschollenen Tochter erhalten.

Die Textnachricht ist von Henrikje und zieht mir beinahe den Boden unter den Füßen weg. Die Buchstaben verschwimmen vor meinen Augen, als ich sie laut vorlese. »Helmut ist tot. Herzinfarkt«, stammle ich, mir ist flau im Magen, und mein Kopf fühlt sich an, als bestünde er aus Watte.

»Helmut, tot?!« Sinje reißt ungläubig die Augen auf. »Du meinst Ankas Mann Helmut?«

»Ja. Henrikje bittet mich, dir Bescheid zu geben, damit du schnellstmöglich bei Anka vorbeischaust. Und ich soll bis auf Weiteres allein im Lädchen arbeiten. Wie gut, dass ich heute keinen Dienst in der Touristeninformation habe. Ich … ich kann das gar nicht fassen …«

»Oh, mein Gott«, murmelt Sinje betroffen. »Was ist denn auf einmal los? Erst diese fürchterlichen Geschichten mit Jonas und Henrikje, und nun stirbt auch noch Helmut, einer der nettesten Männer Lüttebys. Er war doch topfit, sportlich und hat sich gesund ernährt. Puh! Ich kann es gar nicht fassen. Kommst du denn …?«

»… allein klar?«, beende ich Sinjes zögerliche Frage, weil ich ihren Zwiespalt geradezu körperlich spüren kann. »Natürlich tue ich das. Kümmere du dich um Anka, sie braucht dich und deinen seelischen Beistand jetzt viel dringender als ich. Aber vielleicht können wir ja den heutigen Abend zusammen verbringen.« Mir graut bei dem Gedanken an die kommenden Tage, in denen so vieles geklärt werden muss, das zu heftigen Auseinandersetzungen führen wird. Vom schmerzhaften Liebeskummer und meiner unbändigen Wut auf Jonas mal ganz zu schweigen. Damit muss ich zwar allein fertigwerden, doch mit Sinjes Beistand wird es bestimmt ein wenig leichter.

»Aber natürlich«, sagt sie. »Magst du gegen acht vorbeikommen? Wenn du Lust hast, kannst du dich auch gern für länger im Pastorat einquartieren, dann hätten wir endlich mal wieder so richtig Zeit füreinander und könnten es uns gemütlich machen. Gunnar ist übrigens gerade für eine Woche auf Motorradtour mit seinem Kumpel.«

Da ich Henrikje sowieso gerade nicht mit dem Fund der Karte konfrontieren kann, erscheint mir Sinjes Vorschlag äußerst verlockend. Ich hätte ohnehin große Lust, mich entweder ebenso in Luft aufzulösen wie Florence damals oder meine Siebensachen zu packen und für ein paar Wochen zu verreisen, egal wie sehr ich Lütteby vermissen würde. Doch angesichts des unfassbaren Leids, das Anka widerfahren ist, schäme ich mich wegen meiner ichbezogenen Gedanken und Wünsche.

Denn ich fühle nicht nur mit Henrikjes bester Freundin mit, sondern auch mit meiner Großmutter.

Sie hing mindestens genauso sehr an Helmut wie ich, denn wie Sinje schon ganz richtig sagt: Er war ein äußerst liebenswerter, kluger und humorvoller Mann. Immer optimistisch, egal, wie viele Stolpersteine das Leben ihm oder seiner Frau vor die Füße warf. Einer von ihnen war so schwer gewesen, dass so mancher aus Lütteby geglaubt hatte, die beiden würden sich niemals von dieser Tragödie vor etwa vierzig Jahren erholen, die einen weiteren Keil zwischen Grotersum und unserer kleinen Stadt am Meer getrieben hatte.

Ich war als Kind häufig bei den Enzmanns zu Besuch, wenn Henrikje verreist war oder etwas zu tun hatte, das ihre volle Aufmerksamkeit erforderte. Beide eroberten sich schnell den Platz als »Ersatz-Großeltern« in meinem Leben, schade, dass wir uns in letzter Zeit nicht mehr so häufig wie früher gesehen haben.

»Also dann bis heute Abend«, murmele ich, immer noch erschüttert von der Tragödie, die nicht nur Anka, sondern auch Blumenhändlerin Violetta ereilt hat, denn Helmut war ihr Onkel. Ob Vio und ihre Tochter Mathilda schon von seinem Tod wissen?

Sinje umarmt mich kurz und schultert ihre Umhängetasche. »Also dann bis später. Halt die Öhrchen steif und lass dich nicht unterkriegen. Alles Weitere beschnacken wir später«, sagt sie und geht zu ihrem Fahrrad.

Kaum ist sie aus meinem Blickfeld entschwunden, fällt mir ein, dass das Lädchen noch gar nicht geöffnet hat, weil Henrikje bei Anka ist.

Also marschiere ich raschen Schrittes in Richtung des Geschäfts und krame im Gehen nach dem Ladenschlüssel. Es tut gut, sich auf die banale Normalität zu besinnen, wenn die Welt in Scherben liegt, das habe ich schon häufig festgestellt. Arbeit kann eine enorme Ablenkung und Hilfe sein, allein schon deshalb, weil man sich seinen Kummer nicht anmerken lassen darf und funktionieren muss.

»Was ist los, wieso ist hier noch keiner?«, fragt mich eine blondierte, stark geschminkte Frau, geschätzt um die fünfzig, die vor der verschlossenen Tür steht. »Ich brauche dringend Sun-Lotion, bevor die Sonne mir noch den Teint ruiniert. Sind hier etwa alle so unzuverlässig wie Sie?«

Mir liegt auf der Zunge zu sagen, dass es weitaus größere Probleme gibt als einen Laden, der eine halbe Stunde später öffnet, als es auf dem Türschild steht. Doch ich spare mir die Bemerkung, denn mir fehlt gerade die Kraft für eine Auseinandersetzung dieser Art. »Gibt’s denn hier eigentlich weit und breit keinen Drogeriemarkt oder eine Parfümerie?«

Die Stimme der Dame, die ich noch nie zuvor in Lütteby gesehen habe, ist vorwurfsvoll und herrisch.

Ich öffne die Tür und lasse ihr den Vortritt. Das verschafft mir Luft, einmal tief durchzuatmen und zudem zu überlegen, wo Henrikje wohl gerade die Sonnenschutzmittel aufbewahrt. Sie hat nämlich gestern begonnen, umzudekorieren, und dann bleibt erfahrungsgemäß kein Stein auf dem anderen.

»Drüben in Grotersum finden Sie beides«, erwidere ich und schaue mich suchend um. Im Lädchen sieht es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen.

»Etwa in dem Ort auf der anderen Seite des Flusses, wo das Rathaus steht?«, fragt die Dame und sieht sich naserümpfend um. »Ich habe absolut keine Zeit, dorthin zu gehen, denn es kommen gleich Handwerker, die ich ins Haus lassen muss. Sie haben doch sicher von dem neuen Restaurant gehört, das bald das gastronomische Highlight der Region sein wird. Beste Nachbarschaft für Sie, würde ich mal sagen.«

Oh, nein! Das Restaurant im Erdgeschoss des Giebelhäuschens der alten Stine wird also doch eröffnet, obwohl die Werbegemeinschaft Unser kleiner Marktplatz versuchen wollte, dies zu verhindern. Dann waren wir offenbar doch zu spät, um diesen Plan zu vereiteln. Und Bürgermeister Falk van Hove hat mich eiskalt angelogen, als er am Telefon sagte, er wolle seine Entscheidung hinsichtlich der Flächennutzung noch mal überdenken und sich dann wieder bei mir melden.

»Habe ich«, erwidere ich so knapp wie möglich, schlucke meinen Frust hinunter und überlege, wie ich Federico vom italienischen Restaurant Dal Trullo und Cafébesitzerin Amelie diese unschöne Neuigkeit möglichst schonend beibringe.

Und natürlich Sinje, die sich unendlich schuldig fühlen wird, weil sie vergessen hat, unsere Vorschläge zur Nutzung der freien Mietfläche an den Bürgermeister weiterzugeben.

Während ich darüber nachdenke, welche Konsequenzen das alles nach sich ziehen wird, suche ich nach der Lotion und bin froh, dass ich schließlich zwischen Kirschkernkissen, Traumfängern und Flipflops fündig werde. Wenn man diesen Sonnenschutz mit Lichtschutzfaktor fünfzig aufträgt, sieht man allerdings aus wie eine Mumie und könnte im Prinzip gleich einen Neoprenanzug tragen.

»Der ist ja für Kinder«, schnaubt die Dame empört, als ich ihr die Flasche reiche.

»Tut mir leid, aber das ist momentan alles, was ich Ihnen anbieten kann. Ansonsten finden Sie bestimmt noch etwas bei Kai Bredow in der Markt-Apotheke.«

Allerdings zu Apothekerpreisen, füge ich im Geiste hinzu.

Und plötzlich bekomme ich unerwartet Schützenhilfe, allerdings von demjenigen, dem ich auf gar keinen Fall begegnen wollte. »Das ist eine hervorragende Creme. Mit diesem Hautschutz können Sie problemlos den Himalaja besteigen oder sich fünf Stunden bei sengender Hitze auf einer Luftmatratze über die Wellen schaukeln lassen«, sagt Jonas, den ich vor lauter Suchen gar nicht habe hereinkommen sehen. »Nehmen Sie die, Sie werden keine bessere finden, deshalb benutze ich sie selbst auch.«

Ich hyperventiliere beinahe vor Schreck. Mein Herz sinkt ins Bodenlose, ich fühle mich völlig überfordert, zumal ich vor der Kundin nicht so mit ihm reden kann, wie ich es tun würde, wenn wir allein wären.

»Ach wirklich?«, fragt die Überschminkte und schnurrt wie eine Katze. »Vielen Dank für den Tipp. Dann will ich Ihnen mal vertrauen und hoffe, Sie bald als Gast in meinem neuen Restaurant Alles, was glücklich macht begrüßen zu dürfen. Wir eröffnen am Freitag, den fünfzehnten Juli, direkt nebenan.«

»Das habe ich bereits in der Zeitung gelesen«, erwidert Jonas und lächelt so charmant, dass mir übel wird.

Er hat seine Information natürlich nicht aus der Lokalpresse, sondern aus allererster Hand und war wahrscheinlich sogar derjenige, der Bürgermeister Falk van Hove frühzeitig gesteckt hat, dass Stines Haus zum Verkauf stand. Der kann es wiederum sicher kaum erwarten, das Familienimperium um ein gut gehendes Restaurant zu erweitern, dessen Pacht viel Geld in seine Privatschatulle spült. Doch Jonas ahnt nicht, dass ich von seinen geheimen Machenschaften weiß, und plaudert fröhlich weiter. »Kompliment, der Name ist gut gewählt, schließlich möchte jeder Mensch glücklich sein. Und gutes Essen macht nun mal glücklich.«

»Ach, wie schön, da spricht offenbar ein Experte«, freut die Dame sich und reicht mir die Sonnencreme, damit ich den Betrag in Henrikjes uralter silberner Registrierkasse eingeben kann.

»Leben Sie hier, oder machen Sie Urlaub in Lütteby? Ich bin übrigens Nicola Bartelsen, freut mich, Sie kennenzulernen.«

Das verzückte Lächeln der Kundin ist mindestens so schwer zu ertragen wie der routinierte Flirt von Jonas. Der Dialog zwischen den beiden beweist, dass er genau weiß, wie man Frauen manipulieren kann, und diese Fähigkeit bei Bedarf gezielt einsetzt. Bei der Vorstellung, dass Jonas’ Verhalten mir gegenüber nichts weiter war als Taktik, könnte ich glatt den Schneeschieber nehmen, der in greifbarer Nähe steht, und ihn Jonas mit voller Wucht über den Kopf ziehen.

»Ich arbeite vertretungsweise in diesem schönen Städtchen, denke aber gerade ernsthaft darüber nach, dauerhaft hier zu leben«, erwidert Jonas, strahlt und zwinkert mir zu. Dieses strahlende Zwinkern schmerzt bis tief in die Zehenspitzen.

Sein Lächeln wirkt auch in diesem Moment so echt und ehrlich, dass ich kaum glauben kann, dass er uns von der ersten Sekunde an im Namen Falk van Hoves ausspioniert und mich für seine Zwecke benutzt hat.

Es ist genau dieses Lächeln, das mein Herz zum Tanzen und meinen anfänglichen Widerstand gegen ihn zum Schmelzen gebracht hat wie die Schlagsahnehaube auf einem Becher Pharisäer. Doch wird er die Show des Mannes, der sich angeblich Hals über Kopf in mich verliebt hat, tatsächlich weiter durchhalten?

»Dann ziehen Sie mal ruhig hierher«, säuselt die Dame. »Ich habe zwar Angestellte, die sich um das Restaurant kümmern, werde es mir aber nicht nehmen lassen, gerade in der Anfangsphase immer wieder persönlich in diesem wunderhübschen Städtchen nach dem Rechten zu sehen. Vielleicht nehme ich mir hier sogar ein Zimmer, dann muss ich die weite Strecke nach Kiel nicht so häufig fahren.«

Frag doch gleich, ob Jonas mit dir ins Bett will, denke ich und weiß kaum wohin mit meinen überbordenden Gefühlen.

Ich schäme mich dafür, dass ich rasend eifersüchtig bin, obwohl Jonas sich so schäbig benommen hat, dass ich es immer noch nicht fassen kann.

Was für ein Mensch tut so etwas?

Wie können einem Beruf, Geld und Macht so wichtig sein, dass man dafür alle Prinzipien der Menschlichkeit über Bord wirft?

Doch halt: Wer sagt denn eigentlich, dass Jonas die jemals hatte und nicht nur so getan hat, als ob …

Während die beiden über die Stadt Kiel plaudern, fliegen meine Gedanken zurück zu dem Tag, als Jonas zum ersten Mal in der Touristeninformation aufgetaucht ist. Da bin ich intuitiv auf Abstand gegangen und fand ihn von der ersten Sekunde an ekelhaft überheblich. Doch da war dieser unglaublich tolle Duft, der mir auch jetzt wieder in die Nase steigt.

Als Nicola Bartelsen endlich gegangen ist, blickt Jonas mich fragend an, geht einen Schritt auf mich zu, und ich weiche mehrere zurück. Ich wollte doch vorbereitet sein, wollte einen Plan haben, eine Strategie, wenn wir einander treffen. Ohne diese Strategie fühle ich mich hilflos. Und das macht mich noch wütender.

»Alles in Ordnung mit dir?«, fragt Jonas. »Freust du dich denn gar nicht, mich zu sehen?«

Ich habe keine Chance, auf seine Frage zu antworten, ihn zur Rede zu stellen oder hochkant aus dem Lädchen zu werfen, denn Michaela aus dem Modestübchen kommt durch die Tür und schaut sich suchend um. »Moin, ihr beiden, ist Henrikje gar nicht da? Sie hat einen Tee gegen meine Magenprobleme für mich gemischt.« Michaela und ihr untrügliches Gespür für schlechtes Timing.

»Nein, sie ist bei Anka. Du hast vielleicht schon gehört, dass Helmut letzte Nacht gestorben ist.«

»Wie bitte?!« Michaela ist so entsetzt, dass sie leicht taumelt und sich am Kassentresen festhalten muss. Jonas stützt sie, führt sie zu einem Stuhl und schenkt ihr ein großes Glas Wasser aus der Karaffe, die Henrikje für Kundschaft bereithält, ein. Er streichelt behutsam ihren Arm, eine rührende Geste, die so gar nicht zum Bild eines herzlosen Karrieristen passt.

Ein leiser Hoffnungsschimmer keimt in mir auf.

Vielleicht ist Rantjes gestrige Enthüllung am Ende nichts weiter als ein riesengroßes Missverständnis?!

Gibt es womöglich doch eine Erklärung für die vermeintliche »Spionage«, die Jonas’ E-Mail-Austausch mit Falk van Hove in einem anderen Licht erscheinen lässt?

Und sollte man nicht erst mal denjenigen, über den schlecht geredet wird, konfrontieren, statt sich ein vorschnelles Urteil zu bilden?

Henrikje hat mir von Kindesbeinen an eingebläut, dass jede Form von Vorverurteilung mindestens ebenso schlimm ist wie das vermeintliche Vergehen des anderen. Ein Teil von mir wünscht sich so sehr, dass die Anschuldigungen gegen Jonas falsch sind, dass es beinahe wehtut.

Doch der andere befürchtet, dass dem nicht so ist und ich mich damit abfinden muss, einem abgekarteten Machtspiel zum Opfer gefallen zu sein.

2

Was ist los mit dir?«, fragt Jonas, nachdem Michaela sich halbwegs berappelt hat, ich ihr Henrikjes Spezialmischung Magentee gegeben habe und sie wieder zurück ins Modestübchen gegangen ist. »Irre ich mich, oder bist du irgendwie …« Seltsam, diesen sonst so eloquenten und toughen Mann um Worte ringen zu sehen. »… abweisend? Im Moment wirkst du so, als hättest du gar nichts mit der Frau gemeinsam, mit der ich gestern Abend Hand in Hand zur Villa spaziert bin.«

»Ach was, das kommt dir nur so vor«, erwidere ich mit einem gequälten Lächeln, das wahrscheinlich aussieht wie eine Grimasse, denn ich fühle mich wie im falschen Film. Gestern haben wir uns noch leidenschaftlich geküsst, und heute stehen wir uns als Gegner gegenüber. »Der plötzliche Tod von Helmut macht mich traurig. Er war, genau wie Thorsten, eine Art Opa für mich.« Ich nenne bewusst den Namen meines Chefs, damit Jonas merkt, wie gern ich Thorsten Näler mag und wie sehr ich mich auch privat mit meinem Chef verbunden fühle. Er muss wissen, dass er mit seiner Handlungsweise eine Menge Menschen verletzt, die mir viel bedeuten.

»Oh, das wusste ich nicht«, murmelt Jonas betreten. »Mir sagte der Name nichts, aber so oder so ist es immer furchtbar traurig, wenn Menschen aus dem Leben scheiden, erst recht natürlich, wenn das eigene Herz an ihnen hängt.«

Jonas’ Worte jagen mir einen Schauer über den Rücken.

Doch keinen wohligen, prickelnden, sondern einen der Art, die zeigt, dass man zutiefst im Inneren berührt ist.

Berührt von Worten, die ehrlich gemeint sind und klingen, als verbinde derjenige, der sie ausspricht, eigene Erfahrungen und Empfindungen damit. Und genau dieses Gefühl lässt mich plötzlich etwas sagen, was ich ursprünglich gar nicht sagen wollte.

Ich hatte eigentlich vor, erst eine Strategie mit Thorsten zu besprechen, gemeinsam mit ihm zu beratschlagen, wie wir mit dieser schwierigen Situation umgehen. Doch stattdessen höre ich auf meine Intuition und schließe die Ladentür von innen ab, denn jetzt darf keinesfalls jemand stören. »Machst du gemeinsame Sache mit Falk van Hove, um seinen Einfluss in Lütteby zu stärken?« Meine Frage schafft einen so großen Abstand zwischen uns, als sei Jonas gerade im südlichsten Apulien und ich hier, nahe der Nordseeküste.

»Wie meinst du das?«, fragt Jonas zögerlich.

Ich versuche, aus dem Tonfall seiner Stimme herauszuhören, ob er sich ertappt fühlt, und suche in seinen wunderschönen grünen Augen nach der Wahrheit. Ich werde seine Frage nicht beantworten, sosehr es mich auch reizt, ihn mit Rantjes Erkenntnissen zu konfrontieren. Denn ich weiß aus Erfahrung, dass es in solchen Situationen ratsam ist, so wenig wie möglich zu sagen, denn langes, beharrliches Schweigen bringt das Gegenüber unweigerlich zum Sprechen.

Tatsächlich funktioniert meine Taktik. »Ich habe den Job von Falk bekommen, wenn es das ist, was du wissen willst«, erwidert Jonas, nun wieder mit deutlich festerer Stimme. »Wir kennen uns von einem Tourismus-Kongress in Berlin, der vor einigen Monaten stattgefunden hat. Zu dieser Zeit habe ich mit meiner Arbeit als Dozent gehadert, weil ich lieber wieder praktisch arbeiten will, als zu lehren. Das Unterrichten ist, wie du selbst am besten weißt, nicht jedermanns Sache und sollte denjenigen überlassen werden, die dies mit Leidenschaft tun und nicht immer wieder mit ihrem Beruf hadern.«

In diesem Moment steigt mir unerklärlicherweise der Duft des Meeres in die Nase, dieser wunderbare, einzigartige Cocktail aus Wind, Algen, Salzwasser und unendlicher Weite.

Wir haben vor nicht allzu langer Zeit an einem Abend am Strand darüber gesprochen, dass ich meinen Beruf als Lehrerin nach dem Referendariat an den Nagel gehängt habe. Ich befürchtete, keine so gute Lehrkraft zu sein, wie die Kinder es verdient hatten. Das Gespräch über diesen Bruch in meiner beruflichen Laufbahn war der Auftakt zu einer Vielzahl von unerwarteten Gemeinsamkeiten, die mir nach und nach das Gefühl gaben, meinen ersten Eindruck von Jonas korrigieren zu müssen.

Und ebendiese Gemeinsamkeiten flochten nach und nach unmerklich ein Band zwischen uns, in dem ich mich gerade emotional verheddere.

»Als Thorsten den Unfall hatte, rief Falk mich an und fragte, ob ich mir vorstellen könnte, Herrn Näler für eine Weile in Lütteby zu vertreten«, fährt Jonas fort. »Er sagte, dass der Job eine Möglichkeit wäre zu testen, ob mir die praktische Arbeit wirklich so viel Freude macht, wie ich es mir in tristen Stunden in Luzern ausgemalt habe.«

Bis jetzt klingt seine Geschichte plausibel und ganz und gar nicht so, als steckte irgendeine Taktik oder gar ein perfider Plan dahinter. Zudem deckt sie sich damit, was Thorstens Freund über die Verbindung zwischen Jonas und dem Bürgermeister gesagt hat. »Nachdem ich signalisiert hatte, dass ich diese Chance gern nutzen würde, stellte Falk den Kontakt zu Moiken Haase in Husum her, über deren Schreibtisch alles läuft, was den Tourismus im Kreis Nordfriesland betrifft. Sie war einverstanden und schloss mit mir einen Vertrag über den Zeitraum von vier Wochen.«

Jonas sieht mich dermaßen intensiv an, dass es mir schwerfällt, seinem Blick standzuhalten. Doch trotz – oder gerade wegen – dieser skurrilen Situation muss ich beinahe lachen, als ich mir vorstelle, was für ein Bild wir abgeben: Ich habe meine Arme abwehrend vor der Brust verschränkt und stehe leicht breitbeinig da, um mich zu erden. Diese Haltung hat Henrikje mir gezeigt, als ich ihr von meinem Autoritätsproblem gegenüber den Schulkids erzählt habe, und sie »Sei ein Baum« genannt.

Jonas steht vis-à-vis, seine Körperhaltung ist allerdings eindeutig lässiger als meine. Er hat die rechte Hand in die Tasche seiner Hose gesteckt, die andere baumelt locker am Körper. Alles an ihm signalisiert, dass er sich weder ertappt fühlt noch im Unrecht. In diesem Moment sieht er unschuldig und jungenhaft aus und – leider! – so unwiderstehlich, dass ich schwer an mich halten muss, um ihn nicht zu umarmen. Bei der bloßen Erinnerung an seine zärtlichen, sinnlichen Küsse beginnen meine Knie zu zittern, und ich schmelze innerlich dahin. Doch Jonas darf auf keinen Fall wissen, wie ich mich fühle, also muss ich mich schleunigst auf eine rationale Ebene begeben.

»Mal was ganz anderes«, sage ich, weil meine Gedanken natürlich auch um die Touristeninformation kreisen, »hast du Rantje gesagt, wo du steckst? Musst du nicht wieder zurück ins Büro?«

»Sie weiß, dass ich hier bin, und meldet sich, sollte sie plötzlich von Urlaubern überrannt werden. Übrigens war sie vorhin auch nicht gerade ein Ausbund an Freundlichkeit und guter Laune. Gibt es irgendetwas, das ich wissen sollte?«

Ich ringe mit mir. Soll ich ihn jetzt mit den E-Mails auf Rantjes USB-Stick konfrontieren oder lieber einen geeigneteren Zeitpunkt abwarten? Immerhin müssen wir beide arbeiten, und draußen stehen schon zwei Kunden, die sich bestimmt wundern, weshalb ich hinter verschlossener Tür mit Jonas rede.

»Ja, das solltest du, allerdings ist das gerade weder der richtige Ort noch die passende Zeit.«

»Wie wäre es dann heute Abend? Da sind wir ja ohnehin verabredet«, sagt Jonas und schenkt mir einen Blick, den ich unter anderen Umständen als sehnsuchtsvoll deuten würde.

Sofort gerät mein Herz wieder aus dem Takt, denn ich würde ihn liebend gern treffen. Der gestrige Abend mit ihm, diese unerwartete Nähe, der gemeinsame Spaziergang zur Spukvilla und die aufregenden Küsse gehören zu meinen schönsten Erlebnissen der vergangenen Jahre. Doch ich muss jetzt standhaft auf Kurs bleiben, egal, wie sehr mein Herz sich nach etwas völlig anderem sehnt.

»Da kann ich leider doch nicht, denn ich bin bei Sinje eingeladen. Außerdem werde ich mich auch um Anka und Henrikje kümmern müssen, denn gerade Anka braucht jetzt jede Unterstützung, die sie kriegen kann.«

»Das verstehe ich«, sagt Jonas, geht allerdings gar nicht weiter darauf ein, dass wir gestern Nacht vereinbart hatten, den heutigen Abend gemeinsam zu verbringen, was mich erst recht verwirrt. Ist seine lapidar klingende Antwort ein Zeichen dafür, dass ihn meine Absage gar nicht tangiert?

Oder ist er womöglich sogar erleichtert, dass wir uns nicht sehen? Das würde zu meiner Befürchtung passen, dass Jonas ein falsches Spiel spielt. »Hast du eine Idee, was ich dazu beitragen könnte, zu helfen? Ich kenne Anka zwar nicht, aber ich weiß, wie man sich fühlt, wenn man trauert.«

»Momentan fällt mir nichts Konkretes ein, aber es ist gut zu wissen, dass du ihr beistehen möchtest. Ich melde mich wieder bei dir, ja?«

Obwohl seine Bemerkung hinsichtlich der Trauer mich neugierig macht, muss ich ihn unbedingt loswerden, denn mir wird die Fahrt auf dieser emotionalen Achterbahn gerade zu viel, also öffne ich die Tür und komplimentiere Jonas hinaus.

Nachdem er sich verabschiedet hat, verspüre ich allerdings ein wehmütiges Ziehen in meiner Brust anstelle von Erleichterung.

Wieso muss das alles nur so kompliziert sein?

Wieso musste ich mich ausgerechnet in einen Mann verlieben, der meine Gefühle wahrscheinlich gar nicht erwidert und seine für mich nur vorgetäuscht hat?

Wie gut, dass Mareike, der Star unserer Trachtentanzgruppe, eine Urlauberin und viele weitere Kunden mich ablenken und Dinge bei mir kaufen, die ich tatsächlich auf Anhieb finde.

So vergeht der Tag schneller als gedacht, im Handumdrehen ist es 16 Uhr. Samstags schließen alle Geschäfte in Lütteby zwei Stunden eher als üblich, und wir Marktplätzler treffen uns zumeist auf einen kleinen Umtrunk. Doch heute herrscht bei Kai aus der Apotheke, Amelie aus dem Café, Federico vom italienischen Restaurant, Ahmet und Michaela ebenfalls gedrückte Stimmung.

Deshalb erscheint es mir unpassend zu erzählen, dass es leider nicht gelungen ist, die Eröffnung des neuen Restaurants zu verhindern, also verschiebe ich diesen Punkt auf meiner To-do-Liste innerlich auf Montag.

Blumenhändlerin Violetta und ihre Tochter Mathilda fehlen bei unserem Treffen vor dem Lädchen, auch Henrikje ist noch nicht wieder aufgetaucht, und Sinje hat zu viel zu tun, um vorbeizukommen. Unsere Runde ist ungewohnt unvollständig, was mich noch trauriger macht, als ich es ohnehin schon bin.

»Was soll isch zum Anstoßen auf den lieben ’elmut bringen?«, fragt Amelie, die heute noch zarter wirkt als sonst. Ihre Augen sind leicht geschwollen, vermutlich hat sie geweint.

»Keine Ahnung, mir ist gerade alles egal«, murmelt Apotheker Kai betrübt. Helmut war ein guter Freund von ihm, die beiden haben zusammen Karten gespielt, Radtouren unternommen und stundenlang mit ihren Ferngläsern Vögel beobachtet.

»Auf alle Fälle etwas Starkes, auch wenn mein Magen gerade herumspinnt«, sagt Michaela, immer noch blass um die Nase. Federico nickt zustimmend.

»Für mich bitte türkischen Tee mit Minze und Honig«, lautet der Wunsch von Ahmet, der, wie immer, gedankenverloren in die Ferne blickt. Irgendwann werde ich ihn fragen, ob er an etwas Bestimmtes denkt, wenn er den Blick so schweifen lässt. Oder ob das seine Art ist, nach einem langen Arbeitstag zu entspannen.

»Ich komme mit und helfe dir«, sage ich zu Amelie und folge ihr ins Café, das beinahe direkt neben Henrikjes Giebelhäuschen liegt. Dazwischen befindet sich nur ein Wohnhaus, dessen Erdgeschoss nicht gewerblich genutzt wird.

Es gehört einer wohlhabenden Hamburger Familie, die allerdings nur sehr selten hier ist. Schade, denn es gibt genug Suchende in unserer kleinen Stadt, die sehr gern in einer der vier Wohnungen in diesem Haus leben würden und sich stattdessen mit einem Kompromiss zufriedengeben müssen.

Als wir durch die schöne Tür mit den Blumenornamenten treten, bin ich, wie immer, entzückt von der Behaglichkeit, die Chez Amelie ausstrahlt. Es ist diese besondere, von der Französin kreierte Mischung, die diesen Ort so einzigartig macht: Die sanfte, aber ungewöhnliche französische Melodie, die erklingt, wenn man hereinkommt. Die ausladende Vitrine mit Köstlichkeiten, die einem das Wasser im Munde zusammenlaufen lassen. Der Duft von Vanillezucker, Zimt, frisch gepresster Zitrone und Anis, der stets in der Luft liegt. Als sei er das eigens kreierte Parfüm des Cafés mit den nostalgischen Plüschmöbeln aus einem Theaterfundus, kombiniert mit von Amelie gestalteten Bildern und Figurinen, die an Künstlerinnen des Surrealismus wie Louise Bourgeois, Meret Oppenheim oder Leonora Carrington erinnern.

Ich schnappe mir den Kräutertopf mit Minze, schneide ein paar Stängel ab und wasche sie, während Amelie den Wasserkocher für Ahmets Tee einschaltet. Dann füllt sie fünf Likörgläser mit La grande Prune, einem Pflaumenbrand, den Amelies Eltern aus den Früchten der Bäume ihres Gartens auf der Île d’Oléron brennen.

»Lasst uns auf Helmut, Anka und das Leben anstoßen«, sage ich, als wir ein wenig später die Getränke serviert haben.

»Was wollen wir tun, um Anka in dieser schweren Zeit zu unterstützen? Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, das Essen für die Bewirtung bei der Trauerfeier zu übernehmen«, sagt Federico, der als Erstes das schweigende Gedenken an den Verstorbenen unterbricht.

»Gute Idee, isch ’elfe dir dabei und backe Tartes«, stimmt Amelie, wie aus der Pistole geschossen, zu.

»Ich sorge mit meiner Band für den musikalischen Part«, sagt Rantje, die sich nach Dienstschluss zu uns gesellt hat. »Auch wenn Helmut Shantys geliebt hat und ein großer Fan von Santiano war.« Rantje sagt das in einem derart entsetzten Tonfall, dass schon wieder dieses unsägliche Kichern in mir aufsteigt, das immer zur unpassendsten Zeit kommt. »Doch für Helmut und Anka bin ich sogar bereit, Die letzte Fahrt zu schmettern.«

»Mal schauen, was ich beisteuern kann«, sagt Kai Bredow leise. »Momentan bin ich aber leider noch nicht in der Lage, mir hilfreiche oder kreative Gedanken zu machen.«

»Das ist doch völlig verständlich«, sagt Michaela und legt den Arm um den rundlichen Apotheker, in dessen Augen Tränen schimmern. »Der Schock sitzt bei uns allen tief, ich kann es auch immer noch nicht glauben.«

Es rührt mich an, zu sehen, wie unsere kleine Gemeinschaft zusammenhält. Momente wie dieser sind es, die mir zeigen, wie unglaublich schön es in Lütteby ist, und zwar nicht nur, weil unser Städtchen schön ist. Sondern vor allem, weil diese Menschen eine innere Schönheit in sich tragen, sich umeinander kümmern, füreinander einstehen und aufeinander aufpassen, egal, was auch geschieht.

In diesem Augenblick, der mir beinahe Tränen in die Augen treibt, flattert ein weißer Vogel auf uns zu und setzt sich mitten auf den Tisch.

»Hallo, Abraxas«, begrüße ich den weißen Raben, der Thorsten Näler gehört und zudem das Maskottchen von Lütteby ist. Abraxas tippelt zwischen den Gläsern hin und her und fegt dabei das von Amelie herunter, doch sie fängt es mit der Leichtigkeit und Eleganz einer Jongleurin auf.

Der weiße Rabe, den ich seit unserer Begegnung in meiner Dachgeschosswohnung innerlich den Seelenvogel nenne und der wie ein Botschafter aus einer anderen Welt wirkt, sieht nacheinander jeden Einzelnen von uns intensiv an.

Dann schlägt er erneut mit den Flügeln und fliegt mit lautem Kraaaraaa von dannen, in Richtung des Hauses von Anka …

3

Nachdem die Marktplätzler sich in alle Winde zerstreut haben, gehe ich ins Haus, um Kleidung und Kosmetika für die Übernachtung bei Sinje zusammenzupacken.

Für gewöhnlich fühle ich mich in dem schiefen Giebelhäuschen meiner Großmutter wohlig aufgehoben, doch nun ist auf einmal alles anders. Der Schock, völlig unerwartet ein Lebenszeichen von meiner Mutter gefunden zu haben, sitzt mindestens so tief wie die Wut, die ich auf sie und Henrikje verspüre.

Statt wie üblich dem Foto von Florence im Flur zu erzählen, was mich bewegt, drehe ich es um, genauso wie die zweite Fotografie in meinem Schlafzimmer. Bevor ich nicht weiß, was wirklich los ist, kann ich den Anblick dieser Frau, die mich wenige Wochen nach meiner Geburt im Stich gelassen hat, nicht ertragen.

Kopflos stopfe ich alles Mögliche in meinen blau-weiß geringelten Seesack aus Leinen und verlasse dann fluchtartig das Haus.

Bloß weg hier!

Bloß weg von diesem Ort, der plötzlich keine Heimat mehr für mich ist, sondern ein Lügengebäude, das meine Großmutter offenbar gemeinsam mit Florence errichtet hat.

Als Sinje mir wenig später die Tür des Pastorats öffnet, könnte ich vor Erschöpfung weinen. Die schlaflose Nacht, die vielen ungeklärten Fragen, meine Familie und Jonas betreffend, und zudem noch der Tod von Helmut – das ist einfach zu viel.

»Komm rein, du Süße«, sagt Sinje und nimmt mich fest in den Arm. »Schön, dass du da bist. Wollen wir in den Garten gehen, oder möchtest du lieber in der Küche essen?«