Das Glück schrieb die Rechnung - Janine Nicolai - E-Book

Das Glück schrieb die Rechnung E-Book

Janine Nicolai

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Janine Nicolai

Das Glück schrieb die Rechnung

Die wahre Geschichte einer trügerischen Liebe

Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Dateien sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

Impressum: © 2010 Verlag Kern © Inhaltliche Rechte bei Janine Nicolai (Autor) Herstellung: Verlag Kern, www.verlag-kern.de Umschlagdesign und Satz: ok www.winkler-layout.de 1. Digitale Auflage 2012 Zeilenwert GmbH ISBN 9783939478553

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Prolog

Das Glück schrieb die Rechnung

Epilog

Danksagung

Ich hab dich am Strand gesehen. Es war dunkel schon und aus deinen Haaren tropfte noch das Meer. Es war fast am anderen Ende der Welt.

Niemand gab mir ein Zeichen und keiner legte die Karten auf den Tisch. Als du deinen Stuhl hinter meinen rücktest, spielte das Schicksal grinsend: „Paradies”.

Meine Füße fühlten nicht dein Netz verborgen unter Puderzuckersand. Als dein Lachen mich gefangen nahm, schrieb mir das Glück schon die Rechnung.

Mein Verstand unter Narkose. Du warst viel zu weich und warm. Hast mich zukunftsschwanger abgeschickt in deine Endlos-Warteschleife.

Meine Zweifel tropensonnengebleicht keine Erklärung war dir zu viel. Meine Seele gab es im Ausverkauf und meine Hoffnung, die zuletzt ging, lachte ihr „ichhabsjagleichgewusst”-Lachen,  vom Abstellgleis.

Janine

Prolog

Er kam mir nach, die Treppe herauf, ich lief in mein Zimmer und versuchte, schnell die Tür zu schließen, aber ich schaffte es nicht, er warf sich dagegen und stand vor mir, sein Gesicht wutverzerrt, gab er mir einen Stoß, dass ich rücklings auf das Bett fiel, mir den Oberschenkel hart am Holzrahmen anstieß und dabei das Moskitonetz herunterriss. Ich war wie taub, rappelte mich wieder auf, aber kaum, dass ich stand, fuchtelte er mir mit einer großen Eisentaschenlampe vor dem Gesicht herum und schrie etwas auf Singha. Er zerrte meinen Rock vom Kleiderständer und wickelte ihn zu einem Strick, dann kam er erneut auf mich zu. In dem Moment wurde die Tür geöffnet und mein Sohn Nils stand im Zimmer. Geistesgegenwärtig riss er Kathu den Rock aus der Hand. Kathu bedrohte auch ihn mit der Taschenlampe, Nils bettelte, er solle ihm nichts tun. Ich konnte nicht helfen, denn er gab mir erneut einen Stoß, diesmal fiel ich auf den Bettrahmen. Ich spürte einen scharfen Schmerz im Rücken, sackte an der Seite herunter und blieb auf dem Fußboden liegen. Bewegen konnte ich mich nicht mehr. Ich hörte, wie mein Sohn schrie: „Mau, er sucht unsere Pässe!” Aber ich konnte nicht aufstehen. Nils legte mir ein Kissen unter den Kopf und rief immer wieder: „Mau, was ist passiert? Rede doch, bist du wach? Rede doch”, dann rief er Kathu zu: „Meine Mama wacht nicht mehr auf, was soll ich denn machen?” – „Wenn sie jetzt nicht aufwacht, dann eben morgen”, antwortete er.

Irgendwann, es war schon Nacht, konnte ich aufstehen, die Insekten hatten mich fast aufgefressen, meine Haare waren voller Schmutz, mein Sohn schlief auf dem Bett und von Kathu keine Spur. Das war einer meiner letzten Abende im Paradies. In Tangalle, im Süden von Sri Lanka. Für dieses Paradies hatte ich gekämpft, gearbeitet und fast zwei Jahre gewartet, bis ich endlich mit meinem Sohn dort leben konnte. Dafür hatte ich in Deutschland alles aufgegeben, meinen Job im Ingenieurbüro gekündigt, Nils von der Schule abgemeldet, meine Möbel verkauft, meine Wohnung vermietet. War in den Flieger gestiegen und alles, womit ich in Sri Lanka ankam, waren zwei Koffer und ein Rucksack voller Hoffnung und so viel Liebe, wie eine Frau für einen Mann nur empfinden kann.

Ich saß in einem dieser Busse, die durch Sri Lanka brausen, als wäre der Teufel hinter ihnen her. Jede Kurve eine Herausforderung der Schwerkraft, jedes Schlagloch der Tod eines europäischen Stoßdämpfers. Singha-Musik so laut, dass sie jeden Walkman übertönte. Und der Ticketverkäufer, der erst dann kam, wenn der Bus so voll war, dass niemand mehr sein Geld aus der Tasche holen konnte.

Es war meine zweite Reise auf diese Insel und ich wollte irgendwo in den Süden, wo ich noch nicht gewesen war. Aber es begann, wie aus Eimern zu schütten, ich hatte keine Chance auszusteigen, ohne bis auf die Haut nass zu werden und so harrte ich im Bus aus, bis der Schauer vorüber war. Dann stand ich genau vor dem Hotel, in dem ich mit meinem Sohn vorher schon gewesen war, in Tangalle, einem kleinen Dorf, eigentlich zu verschlafen für mich. Wenige Touristen verirrten sich dorthin, es war nach wie vor ein Geheimtipp mit seinen endlosen Stränden und den kleinen Hotels direkt am Indischen Ozean. Aber ich stieg trotzdem aus und nahm ein Zimmer. Das Gleiche wie damals, man erinnerte sich an mich und fragte sogleich: „Where is your son?“

Mein Sohn, Nils, war über die Weihnachtsferien bei seinem Vater geblieben, von dem ich seit fast 10 Jahren geschieden war. Die beiden hatten ein gutes Verhältnis, sahen sich jedes zweite Wochenende und manchmal in den Ferien. Ich hatte mir meinen Exmann als Freund bewahrt, wir hatten guten Kontakt und halfen uns immer noch gegenseitig, wenn Not am Mann war, oder trafen uns einfach nur auf einen Kaffee.

Ich bezog also das gleiche Zimmer wie damals und man fragte mich, ob ich das Abendessen im Restaurant einnehmen wollte. Das verneinte ich, denn ich wollte nicht ganz alleine sitzen, ich war im Hotel die einzige Touristin und es war mir dort für den Abend dann doch zu einsam.

Und so ging ich aus dem Tor, fühlte begeistert wieder den weißen, warmen Sand unter meinen nackten Füßen und lief auf das kleine Restaurant am anderen Ende der Bucht zu, dort war ich ebenfalls damals mit meinem Sohn gewesen und es hatte uns sehr gefallen. Die Kerzen auf den Tischen brannten schon und es sah paradiesisch aus, das kleine Lokal direkt am breiten Strand. Auch hier war ich fast der einzige Gast. Ich wollte mich gerade an einen der Tische setzen, als ein junger Mann kam, mir behilflich war und sofort lachte und sagte: „I remember you”. Ich blickte in ein dunkelbraunes Gesicht mit strahlend weißen Zähnen. Ja, dachte ich, I remember ebenfalls, bei meinem letzten Besuch kam er abends gerade vom Schwimmen, er stand mit seinem Bodyboard nicht weit von mir und aus seinen halblangen, lockigen Haaren tropfte noch das Meer, er redete mit seinem Kollegen, beachtete mich aber nicht weiter, ich dachte damals schon, er sei ein süßer Typ, aber eben viel zu jung für mich. Wie ich später herausfinden sollte, war er der Eigentümer des Restaurants und oben hatte er auch noch drei Zimmer mit Balkon, direkt über dem Strand.

Ich setzte mich also und bestellte mir ein Fisch Curry und ein Bier, das ich in einer Teekanne bekam, weil es verboten war, Alkohol auszuschenken. Für eine Alkohollizenz musste man in Sri Lanka eine Menge Geld bezahlen, und das rechnete sich nicht mit den Einnahmen, und so schenkte nahezu jedes Restaurant Alkohol in Tarnung aus, wie in Kaffee- oder Teekannen mit kleinen Tässchen.

Ich bat, mir wenigstens ein Glas zu bringen und keine Teetasse für mein Bier. Gesagt, getan. Der junge Sri Lankan und sein Kollege setzten sich sofort zu mir, sie hatten beide offensichtlich keinen Zweifel an meinem Wunsch nach Gesellschaft. Aber ok, wir unterhielten uns so gut es in meinem brüchigen Englisch möglich war und die Stunden verflogen. Irgendwann begann es wieder zu regnen und mein Tisch wurde hineingeräumt. An einem anderen Tisch hatten noch ein paar junge Leute gesessen, auch deren Tisch wurde unter das Dach gebracht.

Wieder setzte sich der junge Typ mit den lockigen Haaren neben mich. Wenn er lachte, konnte ich so strahlend weiße Zähne sehen, dass mir meine eigenen Zähne vorkamen wie eine Kiesgrube. Wir lachten und redeten über die Touristen im Allgemeinen. Ich hätte eigentlich gehen sollen, denn ich war nunmehr die Einzige dort, aber ich blieb, ich weiß nicht warum, ich blieb einfach. Nebenbei fragte er mich nach meinem Namen, da er ihn nicht richtig aussprechen konnte, wurde aus Juliane, Juli. Er sei Kathunaranga, aber für mich Kathu. So wie es schien, gehörte ihm das Restaurant, denn er fragte mich, ob ich auf dem Balkon über uns mit ihm Arrak trinken wolle, er würde mir auch gerne die Zimmer zeigen. Arrak ist ein Kokosschnaps, das Nationalgetränk in Sri Lanka, sie trinken ihn meist mit Cola, Soda oder Gingerbier, oder eben pur. Arrak wird dort konsumiert wie in Deutschland der Kaffee.

Irgendwie hatte er mich eingewickelt, arglos ging ich mit ihm hinauf. Eine Entscheidung, die man durchaus als folgenschwer bezeichnen konnte.

Wir stiegen eine Holztreppe zu einem kleinen offenen Gang hinauf, von dem drei Zimmer abgingen. Kathu öffnete die Tür zum ersten Zimmer, es war ausgestattet mit zwei massiven Betten, einem Tisch, Stühlen, einem Kleiderständer und einem Moskitonetz. Sonst nichts. Es roch nach frischem Holz und Meer. Als er mir den Balkon zeigte, öffnete sich mir ein Blick durch Palmen, unter uns der Strand. Ein Balkon, fast direkt über dem Meer, das hatte ich nicht erwartet. Mir stockte der Atem: wenn das nicht das Paradies war!

Wir setzten uns auf diesen Balkon, jemand brachte die Getränke und so saßen wir bei Arrak und Gingerbier, er brachte mir auf Singha „Sonnenaufgang und Sonnenuntergang” bei und ich ihm „Glühwürmchen” auf Deutsch. Er wiederholte es mehrmals, aber er konnte den Umlaut nicht aussprechen, ich lachte nur und sagte, es sei nicht so wichtig, nur, wir hätten diese Tierchen fast nicht mehr in Deutschland und sie erinnerten mich an meine Kindheit, als ich mit meinem Vater auf der Haustreppe saß und diese Glühwürmchen beobachtete. Nicht unbedingt eine Unterhaltung mit Tiefgang, aber ich fühlte mich bei ihm sofort wie zu Hause. Ich weiß nicht mehr, was wir alles redeten, oder ob wir überhaupt viel sprachen. Irgendwann wurde ihm heiß und er fragte, ob er sein T-Shirt ausziehen könnte, als ich nicht verneinte, riss er sich sein Shirt vom Körper und ich stellte mit Beruhigung fest, dass er darunter noch ein ärmelloses, für Sri Lanka typisches Cricketshirt trug und nun nicht, wie ich zuerst befürchtet hatte, mit nacktem Oberkörper vor mir saß. Meine Beruhigung hielt jedoch nicht lange an, denn er stellte sich hinter mich und fing an, mir die Schultern zu massieren. Ja, er könne weitermachen, das täte gut, sagte eine Juli, die ich nicht kannte.

War ich das? Hatte ich das gesagt? Ich kannte mich selbst nicht mehr. Normalerweise war ich zurückhaltend, ja eher abweisend und konnte wunderbar abblocken und auflaufen lassen. Ich war der Typ Frau, dem es schwerfällt, zuzugeben, wenn etwas guttut, ich hatte immer Angst, zu viel von mir preiszugeben, umso mehr, wenn ich jemanden nicht kannte. Das hier war ganz und gar nicht typisch für mich.

Er zog seinen Stuhl hinter meinen und hielt mich von hinten in den Armen, ich ließ es nicht nur geschehen, ich genoss es auch noch. Nein, ich musste wirklich aufpassen, dass er mich hier nicht einwickelte, dachte ich noch, als er mich halb herumdrehte, seine Nase an meiner rieb und ich genau wusste, was nun folgen würde. Ich sei zu alt für ihn, versuchte ich zu entkommen, aber er lachte nur, schüttelte seine Locken und seine weißen Zähne blitzten in seinem dunkelbraunen, ebenen Gesicht. Und so küssten wir uns, und lagen uns in den Armen, da oben, über den Palmen in dieser Tropennacht, das Meer rauschte, der Sternenhimmel war so perfekt wie diese Nacht. Ich wusste, dass ich besser hätte gehen sollen, aber ich wollte einfach diese Nacht nicht beenden. Ich hätte ewig dort sitzen können mit ihm.

Schließlich stand er auf, nahm meine Hand und zog mich aufs Bett, er wollte mit mir schlafen. Das ging mir dann doch zu weit, ich hatte Angst, denn so eine Frau war ich nun doch nicht. Ich stieg niemals mit einem Mann sofort ins Bett. Aber woher sollte er das wissen? Vielleicht war ich ja eine von diesen Sex-Touristinnen, die ausgehungert von der europäischen Kälte auf der Suche nach lauschigen Tropennächten mit dunkelbraunen Männern waren? Natürlich war Kathu stärker als ich und er setzte seinen Körper geschickt ein, um zu bekommen, was er wollte: eine lauschige Tropennacht mit einer allein reisenden Touristin.

Ich rief ihn beim Namen und bat ihn aufzuhören, ich wollte das nicht. Daraufhin entschuldigte er sich wider Erwarten sofort und kuschelte sich an mich. Ich sollte an seiner Schulter schlafen, sagte er. Wie hätte ich da noch gehen können? An einer starken Schulter schlafen, ohne irgendwelche Forderungen, genau das wollte ich. Ich genoss das Gefühl und genoss, für diesen Moment einen starken Mann an meiner Seite zu haben.

Es war schließlich ein paar Jahre her, dass ich mich hatte anlehnen dürfen, war ich doch eine emanzipierte, alleinerziehende Frau und Mutter mit Fulltime-Job, ich hatte immer stark zu sein und alles zu managen, jedem Sturm standzuhalten und das war in Deutschland nicht unbedingt ein leichtes Dasein. Schwach sein, das war mir fremd geworden. Wenn ich Schwäche zeigte, wurde ich ausgenutzt, so kannte ich das Leben bisher.

Wir schliefen ein. Wie die Löffel in der Schublade - er hatte seine Knie in meiner Kniekehle und seine Arme um mich. Die Matratze war steinhart, aber das machte nichts, seine Locken auf meinem Hals, seinen Geruch in meiner Nase schlief ich sicher und traumlos.

Wie hatte ich ahnen können, dass ich einem Mann so nah sein konnte, den ich noch nie vorher gesehen hatte, der fast am anderen Ende der Welt lebte und aufgewachsen war. Einem Mann, der eine völlig andere Herkunft und Kultur hatte als ich und der noch nicht einmal meine Sprache sprach.

Irgendwann wachte ich auf und wusste, wenn ich hier wieder raus wollte, musste ich jetzt gehen. Ich wollte mich wegschleichen, er wachte ebenfalls auf, bat mich, bis zum Morgen zu bleiben. Aber ich wollte nicht am Morgen meine Sachen zusammensammeln und eventuell erleben müssen, dass es ihm peinlich war, was diese Nacht geschehen war. Ich wollte das Gefühl behalten, das ich in jenem Moment hatte und für immer bewahren.

Außerdem hatte ich zu viel Angst vor ihm, vor dem, was er in mir ausgraben könnte, vor der Nähe und der Liebe, die ich in mir trug, und die nur darauf wartete, vergeben zu werden. Danach würde ich wieder nur leiden, und weinen und dennoch alleine sein.

In meinem Leben hatte ich früh lernen müssen, dass ich, wenn ich mich öffnete und alles gab, leider meistens nur verletzt und benutzt wurde und die Menschen mich immer an meiner schwachen Stelle trafen. Wenn die Menschen meine Schwachstellen kannten, hakten sie genau da ein. Diese Erfahrung hatte mich vorsichtig gemacht und irgendwann hatte sich mein Herz verschlossen, war immun gegen die Liebe geworden, denn der Preis für die Vertrautheit, die Nähe, die schönen Momente und Gefühle war für mich zu hoch geworden. Deshalb hatte ich mich vor zwei Jahren von meinem langjährigen Freund getrennt, und war seitdem alleine geblieben.

Ich wartete, bis er wieder eingeschlafen war, und stand dann leise auf und ging. Mir war klar, dass er weiterschlafen würde, und ich morgen früh schon ad acta liegen würde. Doch weit gefehlt. Als ich die letzten Treppenstufen erreichte, sah ich, dass er mir mit einer Lampe folgte und mit mir gehen wollte, er wollte mich offensichtlich in mein Hotel bringen. So ging ich neben ihm den Strand entlang und konnte nicht glauben, dass er mich wirklich nur bringen wollte. Aber an meinem Hotel angekommen wünschte er mir alles Gute, dankte mir für die Zeit, die ich mit ihm verbracht hatte und sagte: „Gott möge dich segnen.“ Wenn ich aufwachen würde, sollte ich zu ihm kommen. Das hatte ich nicht erwartet, im ersten Moment dachte ich: „Der hat sie nicht alle, der ist verrückt, so etwas gibt es nicht.“ Aber das gab es, ich täuschte mich in ihm und es sollte nur einer der vielen Situationen sein, in denen ich mich in ihm täuschen würde.

Ich versprach zurückzukommen, allerdings verbrachte ich den nächsten Tag erst einmal mit Schlafen am Strand, Einkaufen und anderen Dingen. Erst am Abend ging ich wieder in sein „Tangalle Hill” Restaurant. Ich setzte mich an einen Tisch und bestellte einen Ananassaft. Als ich kurze Zeit später auf die Toilette ging, um mir die Hände zu waschen und dabei die Tür offen ließ, kam er gerade aus der Dusche und sein Weg führte an der Damentoilette vorbei. Nur mit einem Handtuch um die braunen Hüften ging er an mir vorüber, sah mich im Augenwinkel, stoppte, lachte, zeigte mir seinen Arm, an dem mein Armband war, das ich ihm letzte Nacht geschenkt hatte und versprach, sofort zu kommen. Ich war wieder an meinem Tisch, da ging er fast achtlos vorbei, aber er legte mir ein Päckchen vor die Nase, darin war ein wunderschönes Armband und eine Kette aus Holz, genau mein Geschmack. „Ein Mann der Tat“, dachte ich, „was wird das hier?“

Was es wurde, sollte ich bald sehen. Als die letzten Gäste gegangen waren, setzte er sich wieder an meinen Tisch und wieder gingen wir später in das Zimmer mit dem atemberaubenden Ausblick, diesmal schliefen wir zusammen und wieder ging ich spät in mein Hotel. Allerdings verabredeten wir, dass ich am nächsten Morgen um sechs Uhr mit ihm zum Fischerhafen gehen würde, um frischen Fisch zu kaufen. Er brachte mich wieder zurück in mein Hotel, diese Nacht allerdings konnte ich kaum schlafen. Ich war aufgeregt wie ein Teenager und hatte jede Menge Schmetterlinge im Bauch. Ich wachte gegen vier Uhr morgens auf und hatte derart Ameisen im Hintern, dass ich schon mal duschte und den Strand entlangging bis zu seinem Restaurant. Dort angekommen, leuchtete mir jemand derart mit einer starken Taschenlampe ins Gesicht, dass ich es mit der Angst bekam. Donnerwetter, hat der einen guten Security-Service, dachte ich und machte, dass ich davon kam. Schließlich musste Kathu nicht wissen, dass ich unser Treffen sehnsüchtig erwartete und nicht hatte schlafen können, um das preiszugeben, war es noch viel zu früh.

Eine volle Stunde wanderte ich noch diesen paradiesischen Strand entlang, ich, alleine mit den Sternen, voller Vorfreude auf den kommenden Tag mit Kathu. Gegen sechs stieg ich dann die Treppe herauf, klopfte an unsere Zimmertür und es öffnete mir ein ziemlich verschlafener und verknautschter Kathu. In der Dunkelheit konnte ich den dunkelbraunen Mann fast nicht erkennen, ich sah nur an seinen weißen blitzenden Zähnen, dass er lachte. Er zog mich ins Zimmer und führte mich auf den Balkon, legte seine Arme um mich und schnupperte an mir. Wir sprachen kein Wort. Dieser Mann war so warm und er fühlte sich gut an. Ich lehnte mich an ihn und genoss seinen Morgengeruch. Dass er sogar nach dem Aufwachen noch gut roch, gab mir das Gefühl, dass wir zusammengehörten. Dann löste er sich. Er würde nur schnell sein Gesicht waschen sagte er, dann könnten wir los.

Ich wartete so lange auf dem Balkon, machte ein Foto von dem herandämmernden Tag und wünschte mir, diese Zeit irgendwie festhalten zu können. Warum konnte man das Glück nicht in eine Konservendose packen und fest verschließen, um sie zu öffnen, wenn ich wieder in Deutschland war und diese Zeit vermissen würde?

Er kam zurück, stellte sich hinter mich und hielt mich fest, so schauten wir gemeinsam aufs Meer und jedes Wort war überflüssig, während langsam der Tag kam.

Ich hatte erwartet, mit einem großen Auto zu einem weit entfernten Hafen zu fahren, um jede Menge Fisch für sein Restaurant zu kaufen, aber er schwang sich kurzerhand auf seinen Roller und deutete mir an, aufzusteigen. So fuhren wir ca. fünf Minuten zum kleinen Tangalle-Fischerhafen. Nie hatte ich gedacht, um diese Uhrzeit derart viele Menschen, und ausschließlich Männer, an einem Platz versammelt zu sehen wie in diesem kleinen Hafen. Und nie hatte ich mich derart fehl am Platz gefühlt wie zwischen all diesen Männern, ich, nur bekleidet mit ärmellosem Shirt und Minirock. Typisch Ausländerin. Über solche Frauen regte ich mich gewöhnlich gern auf, nun war ich selbst so blauäugig gewesen, mich derart anzuziehen. Es war mir peinlich. Sehr peinlich. Zumal Kathunaranga mich zeitweise mit seinen dunklen Augen musterte und ich nicht deuten konnte, was in ihm vorging.

Er bestellte seinen Fisch, den dann ein anderer Mann für ihn kaufte und wir fuhren wieder zurück in sein „Tangalle Hill”. Ich war froh, vom Hafen weg zu sein und ziemlich müde legte ich mich in sein Bett, was ich sonst um sieben Uhr morgens hätte tun sollen, wusste ich nicht. Kathu brachte mir Tee und ein kleines Frühstück und sagte, dass ich erst essen solle, dann könne ich schlafen. Außerdem bat er mich, in meinem Hotel auszuchecken und zu ihm überzusiedeln. Ich wusste nicht recht, ob das gut gehen würde, wusste aber auch, wenn ich es nicht tat, würden wir beide nie herausfinden, ob es je mit uns gut gehen würde. Schließlich hatte ich nur noch knappe zwei Wochen. In dieser Zeit konnte ich aufs Ganze gehen, andernfalls würde ich nie erfahren, was hätte werden können. Also ging ich in mein Hotel und räumte mein Zimmer.

Ich checkte aus, aus meinem Singledasein und begab mich in die Höhle des Löwen. Nach außen mutig, in mir drin aber mit weichen Knien, denn ich wusste, wenn ich diesen Ort wieder verlassen würde, dann war ich entweder am Boden zerstört oder auf Wolke sieben. Ein Mittelmaß würde es nicht geben. Volles Risiko also.

Und so ging ich gegen Mittag den breiten Strand entlang zu seinem Paradies, zog in das besagte Zimmer und es begannen die besten 13 Tage meines Lebens.

Wir waren wie Bruder und Schwester, wie Mutter und Sohn, wie ein Ehepaar, wie Freunde, alles zusammen. Ich arbeitete mit ihm im Restaurant, manchmal 16 Stunden am Tag waren wir auf den Beinen, bis der letzte Gast gegangen war, galt es im Restaurant zur Verfügung zu stehen. Wir machten zusammen den Service, er vertraute mir jeden Abend seine Kassenabrechnung an, wir gingen zusammen einkaufen, wachten zusammen auf und schliefen zusammen ein.

Ich bin ein eingefleischter Single, ich teile nicht ohne Weiteres Tisch - und schon gar nicht ein Bett mit jemandem. Ich bin eigen. Ich bin beim Schlafen gern alleine, möchte nicht, dass jemand sieht, wenn ich mit offenem Mund schlafe und mir aus dem Mundwinkel ein bisschen Sabber auf das Kissen läuft.

Mit Kathunaranga konnte ich einschlafen und aufwachen. Ich hatte nicht das Bedürfnis, alleine zu sein und auch nicht das Verlangen, mir vor dem ersten Kuss am Morgen die Zähne putzen zu müssen. Ich konnte sein, wie ich war und auch ihn nahm ich, wie er war. Nichts stieß mich ab, ich konnte ihn auch beim Aufwachen noch riechen und sein verknautschtes Gesicht fand ich süß. Auch die Art zu schlafen, war exakt dieselbe wie meine. Wir schliefen eng umschlungen wie die Löffel im Besteckkasten, keiner von uns beiden wollte Distanz. Wir hatten nicht das Gefühl, es sei zu eng, wir brauchten es so.

Wenn er manchmal morgens um sechs leise alleine aufstand, sich seinen Sarong umschlang, davonschlich, um zum Fischerhafen zu fahren, glaubte er, mich nicht geweckt zu haben und ich gab nicht zu erkennen, dass ich davon aufgewacht war. Doch ich wachte jedes Mal auf und jedes Mal hatte ich ein flaues Verlustgefühl im Bauch. Und jedes Mal wartete ich, bis er wiederkam, ich seine Stimme unten hörte, dann erst ging ich auch runter, duschte und half mit beim Frühstück.

Es gab eine Verbindung zwischen uns, die ich zwischen Mann und Frau niemals für möglich gehalten hatte. Teilweise wusste ich, was er dachte und nahm seine Hand, um ihm ohne Worte zu sagen, dass er sich nicht verrückt machen soll. Er sah mich dann verständnislos an, konnte nicht glauben, dass ich wusste, was in ihm vorging. Aber es war so. Auch er merkte bald, dass ich ihm wenig sagen musste, teilweise wusste er besser über mein Gefühl Bescheid als ich. Oft traf er in Gesprächen den Nagel auf den Kopf, während ich noch drum herumredete, ohne zu merken, dass er meine Gedanken längst erkannt hatte.

Auch später, als ich wieder in Deutschland war, hatten wir fast zeitgleich ähnliche Erlebnisse wie beispielsweise Arztbesuche, schlaflose Nächte, kleinere Unfälle etc. Es war fast schon ein bisschen unheimlich.

An einem der Abende, es war nicht viel los und mir war etwas langweilig, saß ich auf der Holzbrüstung und sah aufs Meer, Kathu kam und schlug vor, heute früher schlafen zu gehen. Es war erst neun Uhr! Ich wollte nicht wirklich schon schlafen gehen, ließ mich aber überreden.

Gerade als ich Zähneputzen wollte, rief mich jemand auf Schweizerdeutsch. Ich drehte mich um und sah einen glatzköpfigen aber toughen Mann in meinem Alter, der mit den anderen Angestellten an einem Tisch saß und mir zuwinkte, ich solle mich setzen, er hätte sich gerade ein Hefeweizenbier bestellt. Ob es denn hier Hefeweizen gäbe, fragte ich lachend und setzte mich gerne, dankbar entkam ich so dem frühen Schlafengehen.

Wir verstanden uns von Anfang an prächtig, er war Schweizer, hieß Ricola und sagte mir, er sei hier, weil er unbedingt von zu Hause weg musste, und nachdenken. Er hatte wegen derber Probleme mit seinem Ehe- und Liebesleben die Flucht ins Exil nach Sri Lanka angetreten und ich hatte ja auch einiges an Neuem in meinem Leben zu verarbeiten. Und so saßen wir beide bis tief in die Nacht und redeten, als würden wir uns schon unser halbes Leben kennen.

Kathu war irgendwann alleine ins Bett gegangen, erst hatte er sich zu uns gesellt aber, da er kein Wort verstand, zog er es vor zu schlafen. Schade eigentlich, dachte ich, aber das war eben die Barriere unserer verschiedenen Sprachen.

Von dem Abend an ging ich zwar unregelmäßig, aber öfter mal mit Ricola in einer anderen Bar am Strand etwas trinken und wir unterhielten uns.

Wir redeten in einer Vertrautheit über unsere Probleme und unser Leben, die man nur hat, wenn man sich weit weg von zu Hause trifft und weiß, dass man sich nie mehr wiedersieht.

Dass wir uns noch oft wiedersehen sollten, wusste ich noch nicht. Mit Ricola entstand eine Freundschaft, die ich noch brauchen sollte.

Wenn wir dann, teilweise spätabends von unseren Gesprächen zurückkamen, stand Kathu am Strand vor seinem Restaurant und sah uns entgegen. Er sagte nie etwas, aber ich wusste, er hatte stundenlang auf mich gewartet und immer gehofft, dass es bei den Gesprächen zwischen Ricola und mir bleiben würde.

Es blieb bei Gesprächen.

Ricola blieb nicht die ganze Zeit nur in Tangalle, er wollte auch ein paar Tage mit seinem Freund in Unawatuna, ca. 60 km entfernt, verbringen. Als er uns das sagte, ging bei mir ein Licht auf: Ich war vorher dort gewesen und ich altes Schussel hatte meine Unterwäsche dort an die Tür gehängt und glatt vergessen. Mutig fragte ich Ricola, ob er wohl einmal nachfragen könnte, in meinem Hotel müssten sie noch meine Unterwäsche haben, es war ja erst ein paar Tage her, dass ich dort war. Kein Problem, gebeten, getan. Und so kam kurze Zeit später ein lachender Schweizer, den ich erst ein paar Tage kannte, mit einer Tüte meiner Unterwäsche im „Tangalle Hill” an, legte sie vor meine Tür und einige fragten sich wohl, was hier vorging. In der Tat war es für Sri Lankan etwas seltsam, sie gingen ja lange nicht so offen miteinander um wie wir Europäer. Wir versuchten, es mehrmals glaubhaft zu erklären, aber es war so verrückt und unglaubwürdig, dass wir unter Gelächter aufgaben.

Kathu sagte dazu nicht viel, nur ein paar Tage später saß er alleine auf seiner Holzbalustrade und starrte vor sich hin, ich ging zu ihm und fragte was er habe, da fragte er mich: „Warum hat Swizerland deine Unterwäsche?” Kathu nannte Ricola immer nur „Swizerland“. Und Ricola nannte mich komischerweise immer nur „Germania“. Ich musste lachen, wie er da saß, tief in Gedanken versunken über meine Unterwäsche. Ich versuchte, es ihm zu erklären, aber ich glaube, er verstand es nicht wirklich. Er dachte sich wohl: „That’s Europe”.

Weihnachten nahte und wider Willen erreichte uns die Weihnachtszeit nun auch in Sri Lanka, zwar abgeschwächt, aber sie hatten ein kleines Bäumchen mit Lichterketten am Strand platziert und Kathu hatte es mühevoll mit einem schweren Baumstumpf an den Strand geschleppt. Ich stand daneben, wollte ihm helfen, wusste aber nicht, wo ich anfassen sollte und dachte schon, dass er sauer sei, weil ich nur dumm rumstand. Aber er setzte schweißgebadet den Baumstumpf ab, richtete sich auf, strahlte mich an und fragte: „Ist es schön?“

An einem dieser Abende saß ich mit Ricola und einem englischen Pärchen an einem Tisch zum Abendessen, da kam plötzlich die Polizei in einem Zivilwagen. Niemand sah sie kommen, nicht mal die Jungs, die im Restaurant arbeiteten. Langsam gingen sie auf das Restaurant zu, sprachen Kathunaranga an und redeten auf ihn ein. Die ganze Szene wirkte auf mich bedrohlich und das war sie auch, denn kurz darauf verfrachteten sie Kathu einfach in ihren Jeep. Er hatte nicht einmal Zeit, mir zu sagen, was passiert war, er lief kurz zu mir und entschuldigte sich, dass er die nächste Nacht nicht hier sei. Ich rief: „Was? Wieso?”, aber er musste gehen. Er wurde einfach in den Polizeiwagen gesetzt und war weg. Die englischen Freunde erklärten mir dann, dass er wegen fehlender Alkohollizenz ins Gefängnis müsse. Er dürfe hier keinen Alkohol verkaufen, die Polizei kontrollierte das sporadisch, und wenn sie Bier oder Arrak fanden, müsse der Restaurantbesitzer kurzerhand ins hiesige Gefängnis. Für wie lange, wusste niemand. Das war abhängig von Beziehungen und Schmiergeldern.

An diesem Abend ging meine Welt unter. Ich musste in ein paar Tagen abfliegen und wusste nicht, ob ich ihn noch mal sehen würde vorher. Die Anderen aßen und tranken und feierten den letzten Abend der englischen Freunde. Ricola schob mir einen Teller hin und meinte, ich solle diesen wunderbar gegrillten Fisch probieren, aber ich wusste, ich würde keinen Bissen herunterbekommen, ich saß nur dabei, sprach nicht, aß nicht und nahm die fröhliche Runde am Tisch nur wie im Nebel wahr. Gegen Mitternacht ging ich in unser Zimmer, zum ersten Mal alleine. Ich warf mich einfach mit Klamotten aufs Bett, nutzte kein Moskitonetz, es war mir egal, ob die Moskitos mich auffraßen oder nicht. Ich heulte mich in den Schlaf.

Irgendwann träumte ich, dass Kathu mich rief: „Sweety, sweety”, er steckte das Moskitonetz fest um mich und dann klappte die Tür. Später rief er mich wieder und legte sich neben mich, ich wusste, es war ein Traum, rief aber dennoch „Kathu?” Und er sagte: „Yes, sweety”. Es war kein Traum, er war da! Ich ertastete ihn im Dunkel und hielt ihn so fest ich konnte. Er war zurückgekommen! Ich drückte ihm fast die Luft ab vor lauter Angst, es könne immer noch ein Traum sein. In dieser Nacht wusste ich: Ich wollte nie mehr ohne diesen Mann sein.

Und so war es: Wie oft ich in der Zukunft auch versuchte, ihn zu vergessen, es gelang mir nicht, ich konnte nicht ohne ihn sein. Wie oft ich auch gesagt bekam: „Vergiss ihn, es hat keine Zukunft!“, ich konnte es nicht. Ich wollte mit diesem Mann sein. Nie hatte ich mich jemandem so nah gefühlt, nie dieses Gefühl der Seelenverwandtschaft erlebt.

Er war von der Polizeistation alleine mit dem Roller zurückgekommen, weil er denen erzählt hatte, dass er eine deutsche Freundin habe, diese in ein paar Tagen nach Deutschland zurück müsse und er sie noch mal sehen wolle. Daraufhin hatten sie wohl Mitleid und ließen ihn frei.

Welch ein Abend, welch eine Nacht, welch ein Land, was für ein Abenteuer.

Wenig feierlich, dafür arbeits- und ereignisreich war der Silvesterabend. Wir hatten viele Restaurantgäste, daher arbeiteten wir wie jeden Abend, nichts ließ darauf schließen, dass die letzten Stunden des Jahres gekommen waren, es war ganz anders als in Deutschland, wo den ganzen Tag schon vom kommenden, neuen Jahr geredet wird, man bei Chips und Drinks zusammensitzt, um das neue Jahr zu begießen. Hier war es ein Abend wie fast jeder andere. Das neue Jahr um diese Zeit gab es nur im Kalender, denn das neue Jahr begann für die Buddhisten erst im Frühjahr. Aber auch das wusste ich damals noch nicht und auch diese simple Tatsache sollte später noch zu einem Missverständnis führen.

Um kurz vor Mitternacht kam Kathu auf die Idee, noch einmal schwimmen zu gehen und so schwammen wir in der Dunkelheit im Mondlicht dem neuen Jahr entgegen. Als wir aus dem Wasser kamen, schafften wir es gerade noch, uns anzuziehen, es war kurz vor Mitternacht und plötzlich waren jede Menge Leute am Strand, jeder stieß mit jedem an, natürlich fehlte der bei uns obligatorische Sekt und auch die Medien, die die Sekunden abzählten bis zum neuen Jahr. Aber dennoch gab es eine improvisierte Beach-Party am Strand - fast am anderen Ende der Welt. In einer warmen Nacht, viereinhalb Stunden nach unserer Zeit, feierten wir das neue Jahr 2007.

Gegen zwei Uhr war die Zeit gekommen, mir den Schlaf der restlichen Nacht zu reservieren, ich war gerade auf dem Weg ins Bett, als ich aus der Küche Stimmen hörte, die zwar auf Singha stritten, aber dennoch sehr deutlich als unfreundlich zu erkennen waren. Eine dieser Stimmen war von Kathunaranga. Ich schaute durch die Küchentür und sah ein paar Männer auf Kathu einreden, als einer davon Kathu am Arm zerrte und zu Boden schlagen wollte, ging ich in klarem, lauten Deutsch dazwischen und zerrte Kathu aus dem Raum zum Strand. Dort begann er zu weinen und erzählte mir ein bisschen von den ungeschriebenen Gesetzen hier in Tangalle-Beach. Von den Kämpfen zwischen den Restaurantbesitzern, von den Geldern und den Arrakflaschen, mit denen man sich gegenseitig bestach. Jeder war hier auf jeden neidisch, wenn ein Restaurant ein besseres Geschäft machte als die Anderen, versuchten diese nicht wie bei uns, es ihm gleich zu tun, nein, sie fingen Schlägereien an und versuchten, das Geschäft zu zerstören. Auch Pistolen wurden eingesetzt, wie ich später noch erfahren sollte.

Ich begann zu verstehen, dass ich niemals, niemals wirklich durchblicken würde, wie das Leben hier war. Es gab nicht die klaren Linien, die ich so brauche, es gab kein Schwarz und Weiß, aber umso mehr Grauzonen.

Kathu hatte Angst um sein Leben, denn seine Neider trachteten danach. So unmöglich es schien, so einfach und real war es doch. Was sich bei uns wie ein Krimi liest, war in Sri Lanka an der Tagesordnung.

Ich überredete ihn, schlafen zu gehen, es würde nichts mehr passieren diese Nacht.

Dachten wir.

Gegen drei Uhr hörten wir ein fürchterliches Krachen, ganz in der Nähe, aber keiner von uns reagierte. Wir waren einfach zu müde, um das Geräusch mehr als im Unbewussten zu registrieren.

Am nächsten Morgen jedoch, dem Neujahrsmorgen, sollten wir rasch erfahren, was in der Nacht passiert war: Wir saßen gerade bei einem schnellen Morgentee, denn die ersten Frühstücksgäste waren schon im Anmarsch, als Ricola von oben die Treppe herunter stapfte, er lachte, rief uns ein „Frohes neues Jahr“ zu - und hatte seine halbe Zimmertür unter dem Arm.

War da nicht das Krachen letzte Nacht? Ein paar Puzzleteilchen kamen und setzten sich zusammen: Ricola war mit Prio, einem der Angestellten von Kathu, bei der Silvesterfeier irgendwo ganz schrecklich versackt, hatte viel zu viel Arrak getrunken, dann zu allem Überfluss seinen Zimmerschlüssel verloren und ohne groß danach zu suchen, beherzt die Tür eingetreten, dann in seinem Rausch noch das Moskitonetz um sein Bett stecken wollen, es aber komplett abgerissen, um sich zu guter Letzt auf dem Fußboden vor dem Bett schlafen zu legen.

Wir lachten uns kaputt, als wir die Story hörten. Waren wir froh, dass er die richtige Tür eingetreten hatte: seine eigene!

Unsere letzten Tage begannen. Wir schmiedeten Pläne für die Zukunft. Ich wollte unbedingt mit ihm in Tangalle leben, hatte schon lange den Wunsch, Deutschland den Rücken zu kehren und weil ich, wenn ich etwas will, dann ganz und sofort, war ich bereit, lieber heute als morgen mit meinem Sohn zu ihm zu kommen. Er wollte das auch, aber es war jetzt noch nicht möglich, da er vorhatte, bis Juli in Kandy zu studieren, bis dahin müsse ich warten. Auch sagte sein Horoskop nichts Gutes für dieses Jahr, er würde dieses Jahr nichts Verbindliches eingehen. Ich solle das verstehen.

Ein halbes Jahr? Und was sollte das heißen? Dieses Jahr nichts Verbindliches eingehen wegen eines Horoskops? Das Jahr hatte schließlich gerade erst begonnen! Und wieso war ein Horoskop wichtiger als unsere Liebe? Panik machte sich breit in mir. Ich wusste damals noch nicht, dass das Horoskop in Sri Lanka eine wichtige Zukunftsprognose war, dem man sich nicht entgegenstellte. Und ich wusste noch nicht, dass das Jahr nicht Silvester, wie bei uns, zu Ende war, sondern im Frühling.

Um mich herum drehte sich alles im Kreis. Ich verstand gar nichts mehr. Glaubte ich doch, wir sind seelenverwandt, denken und fühlen dasselbe. Jetzt war Kathu meilenweit von mir weg. Ich kam nicht an ihn ran.

Warum, wenn man sich liebt, Zeit verschwenden? Warum konnte ich nicht in Tangalle sein und mit meinem Sohn schon mal eine Schule suchen, eine Wohnung für uns und dabei auf sein Restaurant aufpassen? Am Wochenende könnten wir zusammen sein und unter der Woche wäre er in Kandy. Er versuchte wieder und wieder, mir seine Situation zu erklären, aber wir kamen nicht zusammen. Er kam an meinem Dickkopf nicht vorbei. Und ich nicht an seinem.

Wir schalteten den Schweizer, Ricola, ein, uns zu übersetzen, damit wir keinem Missverständnis erliegen. Dabei kam heraus, dass Kathu streng nach seinem Horoskop lebte, was besagte, dass dieses Jahr kein gutes Jahr sei und er warten müsse bis August. Auch seien seine Eltern ein Problem, denn ich wollte keine Kinder mehr, aber die Eltern wollten Enkelkinder. Außerdem sei ich weiß und eine Ausländerin, noch dazu zehn Jahre älter als er. Das alles müsse er seinen Eltern erklären und die Erlaubnis erbitten. Er habe auch einen Bruder, der in Korea arbeite und heiraten wolle, dieser sei jünger als Kathu und das heißt, dass Kathu zuerst heiraten müsse, weil er der Ältere war. Genau das konnte er aber nicht, weil die Eltern sich für ihn eine Singha Frau wünschten, keine Ausländerin.