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Beschreibung

***Ganz entspannt im Hier und Jetzt*** Achtsamkeit gehört zu den großen Themen unserer hektischen Zeit. Entschleunigung, Gelassenheit und Ruhe wollen gelernt sein und bewahrt werden. Mit den Gedanken großer Autoren führt dieses Buch durch die Jahrzehnte und zu innerer Klarheit - eine kleine Auszeit, die den Kopf frei macht und Platz schafft für neue Energie.

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Seitenzahl: 239

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Das große Buch der Achtsamkeit

Die schönsten Texte zum Innehalten

Herausgegeben von Alice Huth

FISCHER E-Books

Inhalt

VorwortAlain de BottonDie Furcht vor dem Glück1234567891011121314151617Der Tod12345678Dale CarnegieSieben Wörter, die unser Leben verwandeln könnenElizabeth GilbertEin verborgener SchatzKreatives Leben, eine DefinitionEine intensivere ExistenzEat. Pray. Love.Jon Kabat-ZinnIm Alltag Ruhe findenWas ist Achtsamkeit?Lob des Nicht-TunsDas Paradox des Nicht-TunsNicht-Tun in AktionDie Praxis des Nicht-TunsGeduldLoslassenNicht-UrteilenVertrauenGroßzügigkeitJorge BucayDer angekettete ElefantVerallgemeinerungsfaktorBrust oder MilchDer launenhafte KönigBesitzansprücheAuf der Suche nach BuddhaLaotseDer Lauf des LebensLars AmendDer ZEN-Meister und sein SchülerMagic MondayOprah WinfreyWas ich vom Leben gelernt habe[Kapitel][Kapitel][Kapitel][Kapitel][Kapitel][Kapitel][Kapitel][Kapitel][Kapitel]Pema ChödrönFreudePico IyerReise nach NirgendwoSkizzen der StilleThich Nhat HanhDas Wunder der AchtsamkeitVom Alltagsbewusstsein zum Kern der ÜbungAbwaschen, um abzuwaschenDie Tasse in der HandKönnen wir wirklich eine Mandarine essen?Der Kern der ÜbungGehmeditationDas Wunder, auf der Erde zu gehenSitzenBewusst atmenDen Atem zählen und dem Atem folgenStilles AtmenDen Atem zählenJede Handlung ist ein RitualGönnen Sie sich einen Tag der AchtsamkeitQuellenverzeichnis

Vorwort

Ausmalbücher, Kochbücher und Hörbücher, Comicstrips, TED-Talks, Sonderausgaben von Trend-Zeitschriften mit Retro-Anmutung und recyceltem Papier, pädagogische, psychotherapeutische und esoterische Ratgeber, Interviews und Essays, Bekenntnisse von Ex-Managern, Hausfrauen und Yogalehrern, Statements von Achtsamkeits-Befürwortern und Gegnern.

Als ich begann, mich damit zu beschäftigen, wie Das große Buch der Achtsamkeit aussehen und welche Texte es versammeln würde, fühlte ich mich heillos überfordert. Achtsamkeits-Anwärtern stehen alle Türen offen: Sie haben die Wahl zwischen rund 2000 Buchtiteln, können mehrwöchige Seminare und zehntägige Vipassana-Kurse besuchen, nach einem Guru Ausschau halten oder täglich im Selbstversuch meditieren. Dabei kommt der Konzentration auf die Atmung besondere Bedeutung zu.

Allein, mir fehlte die Zeit.

Was stand hinter diesem Trend, dem sich Millionen Menschen anschlossen?

Wo sollte ich ansetzen?

Und wie konnte ich herausfinden, was gut gedacht und richtig war?

Atmen.

Einen Augenblick verschränkte ich die Arme auf dem Schreibtisch, ließ den Kopf sinken und richtete den Blick nach innen. Das heißt, ich versuchte es. Ein und aus. Ein und aus. Ein und aus … Ich zählte meine Atemzüge, bis ich ruhiger wurde. Und plötzlich tauchte etwas auf. Da war etwas. Der Zipfel eines Gedankens, den ich schnellstmöglich fassen wollte.

A wie Achtsamkeit. Atmen. Und Augenblick. Diese Assoziation weckte eine Erinnerung in mir. Ich dachte an Johann Wolfgang Goethes Faust. An Dr. Faustus, den großen Gelehrten, Getriebenen, Suchenden und ewig Skeptischen. An diesen chronisch unzufriedenen Unsympath der Weltliteratur. Den Mann, dessen Genie alles auffraß und sich einverleibte, was ihm in die Quere kam; unter anderem das arme Gretchen.

Fast jedes Kind weiß um Fausts Teufelspakt, und vielleicht jedes zehnte kennt auch den Fortgang der Geschichte: Faust wird Hand of the King, Ausbeuter und Großunternehmer. Ruhelos greift er nach allem, was er fassen kann, bis ihn im Alter etwas Unvorhersehbares trifft. Es ist die Sorge: Die Fürsorge haucht Faust an, und er erblindet. Seine Augen werden trüb, sein Blick aber wendet sich nach innen. Er fühlt – vielleicht zum ersten Mal – in sich hinein und findet etwas für ihn Neues: Bescheidenheit und Demut. Fürsorge, für sich und andere. Endlich ruft der alte, blinde Mann: Es kann die Spur von meinen Erdetagen / Nicht in Aeonen untergehn. – Im Vorgefühl von solchem hohen Glück / Genieß’ ich jetzt den höchsten Augenblick.

Ruft’s, sinkt hin und wird errettet.

Goethes Faust, begriff ich, ist ein Urvater des Flow! Der Achtsamkeit avant la lettre. Faust ist wie wir, nur weiß er nichts davon. Der Ärmste glaubt, er suche Diesseitsfülle, dabei sehnt er sich nach Achtsamkeit.

Diese Vorstellung hatte etwas Beglückendes.

Nicht nur wir Kinder des einundzwanzigsten Jahrhunderts fühlen uns verloren. Unsere Suche ist nicht neu, sie ist uralt, ein Seelen-Leitmotiv, auch wenn sie heute, in Zeiten ständiger Erreichbarkeit, wo die Uhren schneller gehen und die Welt zusammenschrumpft, womöglich stärker ist und uns mehr und mehr bewusst wird.

Völlig unerwartet hatte Goethes Faust mir Mut gemacht. Eine Achtsamkeits-Anthologie dürfte Gestriges und Heutiges verbinden.

 

»Achtsamkeit« war kein Thema, das sich wie das kleine Einmaleins beherrschen ließ. Warum also nicht innehalten und in Ruhe lesen, ohne Vorurteile und Erwartungen? War das nicht eine Fähigkeit der Achtsamen? Nicht untergehen, sondern schwimmen – egal, ob man hilflos im Meer seiner Gefühle, im Meer schlechter Nachrichten oder ungefilterter Informationen paddelt? Womöglich würde ich jener Gelassenheit auf die Spur kommen, nach der sich viele Menschen sehnen. Jenen Momenten, in denen wir uns aus unseren vermeintlichen Sorgen und Bedenken lösen und ganz bei der Sache sind. Womöglich ließe sich sogar eine Brücke schlagen, eine Verbindung zwischen der Praxis des Lesens und dem Achtsamkeitsgedanken.

 

Die Recherche war eine Entdeckungsreise. Eine Lektüre ergab die nächste, jeder Text wies neue Wege und bot neue Ausblicke.

Ich las Elizabeth Gilbert, die wiederum ihren Namensvetter Jack Gilbert, Rumi und Augustinus las. Pico Iyer las und hörte Leonard Cohens Lyrik. Dale Carnegie, der Urahn aller Lebenscoachs, las Ralph Waldo Emerson. Selbigen las auch Jon Kabat-Zinn – eine merkwürdige Übereinstimmung: Kabat-Zinn und Carnegie, der Wissenschaftler und der Self-Made-Man, die in ganz anderen Zeiten zu Hause waren, trafen sich in der Lektüre.

Lesen ist Begegnung. Romane, Ratgeber und Kurzgeschichten spiegeln unser Leben und zugleich das Leben anderer. Wir finden zu uns selbst – und wir verlieren uns, indem wir uns dem Rhythmus eines fremden Herzschlags, dem Klang einer fremden Stimme und dem Blick durch fremde Augen anvertrauen. Der Schriftsteller und Therapeut Jorge Bucay weiß, wie bedeutsam Erzählungen sind: »Kindern erzählen wir Geschichten zum Einschlafen«, schreibt er, »– Erwachsenen, damit sie aufwachen.«

 

Das große Buch der Achtsamkeit versammelt Texte aus verschiedenen Zeiten und Kulturen ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Praktische Meditationsübungen stehen neben Selbsterfahrungsberichten, Fiktion und lebensphilosophischen Betrachtungen. Die Anordnung der Texte folgt bewusst dem Alphabet – und damit einem ganz beliebigen Strukturprinzip.

Ich hoffe, Ihre Neugier wird geweckt und Sie wagen sich nach der Lektüre weiter vor, in ein Feld, das weit ist wie der Himmel.

 

Alice Huth im März 2018

Alain de Botton

(*1969)

»Einer der größten Nachteile der Liebe ist,

daß sie, zumindest eine Weile,

Gefahr läuft, uns glücklich zu machen.«

Alain de Botton ist kein Zen-Meister, und doch sind seine Texte Meditationen über das Leben und die Liebe. Anstatt die Götter anzurufen, beruft er sich auf Schöpfungen des Geistes und der Kunst, auf Essays, Bilder und Geschichten. Luzide betrachtet er jene Augenblicke, in denen wir uns selbst abhandenkommen – sei es in der Liebe, im Beruf oder im Alltag –, und zeigt auf, dass ein Problem, das uns unlösbar scheint, vielleicht nur eine Spiegelung der großen Fragen ist, die wir uns viel zu selten stellen.

 

In de Bottons Romandebüt Versuch über die Liebe erkrankt Chloe an Anhedonia – einer mysteriösen Krankheit, die laut Ich-Erzähler aus jenem plötzlichen Schrecken resultiert, den drohendes Glück hervorbringen kann. Warum aber reagiert sie allergisch auf das Glück im Augenblick? Neigen Liebende dazu, aus dem Hier und Jetzt zu fliehen – und wenn ja, weshalb?

Die Frage nach dem Leben in der Gegenwart stellt de Botton auch in seinem sozialphilosophischen Band »StatusAngst«. Wer vor Geltungsdrang und Ehrgeiz ganz zerfressen ist und ständig nach Erfolgen giert, verschließt die Augen vor dem Unabänderlichen: vor der Tatsache, dass keiner von uns ewig hier ist.

Alain de Botton lesen heißt begreifen, dass der Gedanke an den Tod dem Glück nicht unbedingt im Weg steht – wenn wir ihm gelassen und mit Mut und Lebenslust begegnen. Genauso wie der Liebe.

Die Furcht vor dem Glück

aus: Versuch über die Liebe

1

Einer der größten Nachteile der Liebe ist, daß sie, zumindest eine Weile, Gefahr läuft, uns glücklich zu machen.

2

Chloe und ich beschlossen, in der letzten Augustwoche nach Spanien zu reisen – Reisen ist (wie die Liebe) ein Versuch, einen Traum in die Wirklichkeit hinein zu verfolgen. In London hatten wir die Prospekte von Utopia Travel studiert, Spezialisten für den spanischen Ferienhausmarkt, und hatten uns geeinigt auf ein umgebautes Bauernhaus in dem Dorf Aras de Alpuente, in den Bergen hinter Valencia. Das Haus sah in der Wirklichkeit besser aus als auf den Abbildungen. Die Räume waren schlicht, aber bequem möbliert; im Badezimmer funktionierte alles; es gab eine von Weinblättern beschattete Terrasse, einen See in der Nähe, in dem man schwimmen konnte, und einen Bauern nebenan, der eine Ziege hielt und uns mit einer Gabe von Olivenöl und Käse willkommenhieß.

3

Wir waren am späten Nachmittag angekommen, hatten am Flughafen ein Auto gemietet und waren die schmalen Gebirgsstraßen hinaufgefahren. Wir gingen sofort schwimmen, sprangen in das klare blaue Wasser und ließen uns von der sinkenden Sonne trocknen. Dann kehrten wir zum Haus zurück und setzten uns mit einer Flasche Wein und Oliven auf die Terrasse, um zuzusehen, wie die Sonne hinter den Hügeln unterging.

»Ist es nicht wunderbar?« bemerkte ich in lyrischem Ton.

»Nicht wahr?« kam das Echo von Chloe.

»Aber ist es das wirklich?« fragte ich im Scherz.

»Pscht, du verdirbst die Szene!«

»Nein, im Ernst, es ist wirklich wunderbar. Ich hätte mir ein Fleckchen wie dieses nie vorstellen können. Es wirkt so abgeschieden von allem – wie ein Paradies, so klein, daß niemand sich die Mühe macht, es zu zerstören.«

»Ich könnte mein ganzes Leben hier verbringen.«

»Ich auch.«

»Wir könnten hier zusammen leben. Ich würde die Ziegen hüten, du würdest dich um die Oliven kümmern, wir würden Bücher schreiben, malen und –«

»Was ist? Ist dir nicht gut?« fragte ich, denn ich sah, daß Chloe sich plötzlich vor Schmerzen wand.

»So. Jetzt geht’s wieder. Ich weiß nicht, was da passiert war. Ich hatte plötzlich so einen furchtbaren Schmerz im Kopf, wie ein gräßliches Pochen oder so. Ist wahrscheinlich nichts. Oh, verdammt, Scheiße, es kommt schon wieder.«

»Laß mich fühlen.«

»Du kannst bestimmt gar nichts fühlen, es ist drinnen im Kopf.«

»Ich weiß, aber ich will mitfühlen.«

»O Gott, ich glaube, ich sollte mich hinlegen. Wahrscheinlich ist es nur die Reise oder die Höhe, oder so. Aber ich gehe besser rein. Bleib du nur hier draußen, ich komme schon zurecht.«

4

Chloes Schmerzen wurden nicht besser. Sie nahm ein Aspirin und ging zu Bett, konnte aber nicht schlafen. Unsicher, wie ernst ich ihren Zustand nehmen mußte, aber besorgt, weil er angesichts ihrer Neigung, Dinge herunterzuspielen, wahrscheinlich ernster war, als es schien, beschloß ich, einen Arzt zu rufen. Der Bauer und seine Frau waren in ihrem Häuschen und saßen beim Abendessen, als ich anklopfte und in bruchstückhaftem Spanisch fragte, wo ich den nächsten Doktor fände. Es stellte sich heraus, daß er in Villar del Arzobispo wohnte, einem ungefähr zwanzig Kilometer entfernten Dorf.

5

Dr. Saavedra war über die Maßen würdevoll für einen Landarzt. Er trug einen weißen Leinenanzug, hatte in den fünfziger Jahren ein Semester am Imperial College studiert, war ein Liebhaber der englischen Theater-Tradition und schien mich mit dem größten Vergnügen zurückzubegleiten, um der jungen Dame zu helfen, die so schnell nach Beginn ihres spanischen Aufenthalts krank geworden war. Als wir in Aras de Alpuente ankamen, hatte sich Chloes Zustand noch nicht gebessert. Ich ließ den Doktor mit ihr allein und wartete nervös im Nebenzimmer. Zehn Minuten später kam der Arzt wieder zum Vorschein.

»Ees notting to worry about – Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.«

»Wird sie bald wieder O.K. sein?«

»Yes, my friend. Morgen früh wird sie wieder O.K. sein.«

»Was fehlt ihr?«

»Nichts Besonderes, ein bißchen Magen, ein bißchen Kopf, etwas sehr Verbreitetes unter den Feriengästen. Ich gebe ihr Tabletten. Im Grunde nur eine kleine Anhedonia, das kann schon vorkommen.«

6

Dr. Saavedra hatte einen Fall von Anhedonia diagnostiziert, eine Krankheit, die von der British Medical Association als eine dem Bergkoller auffällig verwandte Reaktion beschrieben wird; sie resultiert aus dem plötzlichen Schrecken, den drohendes Glück hervorbringen kann. Es war eine verbreitete Krankheit unter den Touristen in dieser Region Spaniens: in dieser idyllischen Umgebung mit der plötzlichen Erkenntnis konfrontiert, daß irdisches Glück anscheinend in Reichweite lag, erlitten sie eine starke psychologische Reaktion, die darauf abzielte, einer solchen Möglichkeit entgegenzuwirken.

7

Das Problem mit dem Glück besteht darin, daß es sich, selten wie es ist, als höchst erschreckend und Angst einflößend und darum als schwer anzunehmen erweist. Daher hatten Chloe und ich (auch wenn ich nicht krank geworden war) mehr oder weniger unbewußt immer dazu geneigt, die Hedonie entweder in der Erinnerung oder in der Vorfreude anzusiedeln. Obwohl das Streben nach Glück ein erklärtes zentrales Ziel war, schwang dabei immer der Glaube mit, daß die Verwirklichung dieses Aristotelismus irgendwo in einer sehr fernen Zukunft liege – ein Glaube, der herausgefordert wurde durch die Idylle, die wir in Aras de Alpuente und, in einem geringeren Maße, einer in des anderen Armen gefunden hatten.

8

Warum lebten wir so? Vielleicht, weil glücklich sein in der Gegenwart auch bedeutet hätte, sich in einer unvollkommenen oder gefährlich ephemeren Realität zu engagieren, statt sich hinter dem bequemen Glauben an ein Nachleben zu verstecken. Leben im Futur Perfekt bedeutete, festzuhalten an einem idealen Leben im Gegensatz zum gegenwärtigen, einem Leben, das uns vor der Notwendigkeit bewahrte, uns für die Situation, die uns umgab, verantwortlich zu fühlen. Es war ein Muster, jenem verwandt, dem wir in bestimmten Religionen begegnen, in denen das Erdenleben nur ein Vorspiel zu einer ewigen und weitaus freudenreicheren himmlischen Existenz ist. Unsere Haltung Ferien, Partys, Arbeit und vielleicht auch der Liebe gegenüber hatte etwas an sich, als hielten wir uns für unsterblich, als weilten wir lange genug auf Erden, um uns nicht so tief herablassen zu müssen, etwa zu denken, daß die Zahl dieser Gelegenheiten begrenzt und wir daher gezwungen seien, Nutzen aus ihnen zu ziehen. Es liegt eine gewisse Bequemlichkeit im Leben im Futur Perfekt: es bewahrt uns vor der Notwendigkeit, die Gegenwart als real zu empfinden, oder vor der Erkenntnis, daß wir einander lieben oder sterben müssen.

9

Daß Chloe gerade jetzt krank geworden war – lag es nicht vielleicht auch daran, daß die Gegenwart ihre Unzufriedenheit einholte? Sie hatte, einen kurzen Augenblick lang, aufgehört, irgend etwas zu vermissen, was die Zukunft bereithalten mochte. Aber war ich nicht ebenso schuld an der Erkrankung wie Chloe? Hatte es nicht viele Gelegenheiten gegeben, bei denen die Freuden der Gegenwart rüde übergangen worden waren, im Namen einer nicht näher zu bezeichnenden Zukunft? Liebesgeschichten, bei denen ich es, unmerklich fast, vermieden hatte, mich dieser Liebe vorbehaltlos hinzugeben, indem ich mich mit dem Unsterblichkeitsgedanken tröstete, daß es andere Liebesaffären gäbe, die ich eines Tages mit der Sorglosigkeit der Männer in den Magazinen genießen würde, künftige Lieben, die meine unglücklichen Versuche wettmachten, mit einem anderen Menschen zu kommunizieren, den die Geschichte zu mehr oder weniger derselben Zeit auf Erden herumwirbeln ließ?

10

Aber die Sehnsucht nach einer Zukunft, die nie kommt, ist nur die Kehrseite der Sehnsucht nach einer Zeit, die immer bereits vergangen ist. Ist die Vergangenheit nicht oft besser, einfach weil sie vergangen ist? Ich erinnerte mich daran, daß in meiner Kindheit die Ferien immer erst dann vollkommen wurden, wenn sie vorbei waren, denn dann hatte sich die Furcht vor der Gegenwart auf ein paar wenige überschaubare Erinnerungen reduziert. Es machte nicht so viel aus, was geschah, Hauptsache, daß es alles möglichst schnell geschah und mir die Möglichkeit gab, eine Wunde zu pflegen oder ein Spiel wiederzuspielen. Ich verbrachte ganze Jahre meiner Kindheit in der Vorfreude auf die Winterferien, wenn die Familie von Zürich in die Berge fuhr, um zwei Wochen skilaufend im Engadin zu verbringen. Doch wenn ich dann oben am Hang stand und eine makellos weiße Piste hinunterblickte, wurde ich mir einer Furcht bewußt, die aus der Erinnerung an das Ereignis verflogen sein würde, einer Erinnerung, die sich ausschließlich aus objektiven Bedingungen zusammensetzte (der Gipfel eines Berges, ein strahlender Tag) und daher frei sein würde von allem, was den eigentlichen Moment zur Hölle gemacht hatte. Es war mehr als nur der Umstand, daß mir vielleicht die Nase lief oder daß ich durstig war oder meinen Schal vergessen hatte, was die Gegenwart unerfreulich machte – es war einfach Widerwille zu akzeptieren, daß ich endlich eine Möglichkeit durchlebte, die das ganze Jahr hindurch in den tröstlichen Rockfalten der Zukunft gewartet hatte. Das Skilaufen, eingebettet zwischen jiepriger Vorfreude und rosiger Erinnerung, war im Nu über die Gegenwart hinweggeschlittert. Sobald ich den Fuß des Hangs erreicht hatte, blickte ich zurück, den Berg hinauf, und erklärte mir, daß es eine perfekte und wunderbare Abfahrt gewesen sei. Und so verliefen die Skiferien (und ein großer Teil meines Lebens allgemein): Vorfreude am Abend, Furcht, wenn es dann wirklich soweit war, und angenehme Erinnerungen am Abend.

11

Lange Zeit gab es etwas von diesem angespannten Paradox in meiner Beziehung zu Chloe: Ich freute mich den ganzen Tag lang auf eine gemeinsame Mahlzeit mit ihr, verließ diese dann auch mit den besten Eindrücken, sah mich aber mit einer Gegenwart konfrontiert, die niemals der Vorfreude oder der Erinnerung daran gleichgekommen wäre. An einem Abend, den ich, kurz bevor wir nach Spanien reisten, mit Chloe und Freunden von uns auf Will Knotts Hausboot verbrachte, geschah es, daß ich mir, eben weil alles so perfekt war, zum erstenmal deutlich meines ständig lauernden Mißtrauens gegenüber der Gegenwart bewußt wurde. Meistens ist die Gegenwart zu gemischt, um uns daran zu erinnern, daß die Krankheit, im Imperfekt zu leben, in uns selber steckt und nichts mit der Außenwelt zu tun hat. Aber an diesem Abend in Chelsea war einfach nichts, was ich dem Augenblick hätte anlasten können, und so mußte ich einsehen, daß das Problem bei mir lag: das Essen war köstlich, Freunde waren da, Chloe sah hübsch aus, saß neben mir und hielt meine Hand. Und doch, irgend etwas stimmte nicht – es war der Umstand, daß ich es nicht abwarten konnte, bis das Ereignis in die Geschichte hinübergeglitten war.

12

Die Unfähigkeit, in der Gegenwart zu leben, liegt vielleicht in der Furcht vor der Erkenntnis, daß dies nun womöglich die Ankunft dessen sei, worauf man ein Leben lang gewartet hat, der Furcht vor dem Verlassen der relativ geschützten Position der Vorfreude oder Erinnerung und damit vor dem stillschweigenden Eingeständnis, daß dies das einzige Leben ist, das wir aller Wahrscheinlichkeit nach (eine Intervention des Himmels ausgenommen) je leben werden. Wenn wir Hingabe einmal als eine Anzahl von Eiern betrachten, dann bedeutet Hingabe an die Gegenwart, daß wir es riskieren, alle Eier, die uns gehören, in den Gegenwartskorb zu legen, statt sie auf die Körbe Vergangenheit und Zukunft zu verteilen. Und, analog auf die Liebe angewandt: Hätte ich endlich akzeptiert, daß ich mit Chloe glücklich war, hätte das bedeutet zu akzeptieren, daß, trotz aller Risiken, alle meine Eier fest in ihrem Korb lagen.

13

Ich weiß nicht, was für Tabletten der gute Doktor ihr gegeben hatte, jedenfalls schien Chloe am nächsten Morgen vollkommen geheilt. Wir bereiteten ein Picknick vor und gingen wieder zu dem See, wo wir den Tag schwimmend und am Wasser sitzend und lesend verbrachten. Wir blieben zehn Tage in Spanien, und ich glaube (soweit man der eigenen Erinnerung trauen kann), daß wir beide es zum erstenmal riskierten, diese Tage in der Gegenwart zu leben. In dieser Zeitform zu leben bedeutete nicht immer himmlisches Glück; die Ängste, die aus unstabilem Liebesglück entstehen, explodierten regelmäßig in Streit. Ich erinnere mich an einen heftigen Krach in dem Dorf Fuentelespino de Moya, wo wir haltgemacht hatten, um zu Mittag zu essen. Es hatte mit einem Scherz über eine frühere Freundin angefangen und hatte sich ausgewachsen zu dem Verdacht in Chloes Kopf, daß ich diese Freundin noch liebte. Nichts hätte der Wahrheit ferner liegen können, doch war ich inzwischen dazu übergegangen, solche Verdächtigungen als eine Projektion der abnehmenden Gefühle Chloes für mich zu werten, und eben das warf ich ihr vor. Bis das Streiten, Schmollen und Versöhnen hinter uns lag, war es Nachmittag geworden, und am Ende fragten wir uns beide, worüber wir eigentlich Tränen vergossen und uns angeschrien hatten. Es gab weitere Streitigkeiten. Ich erinnere mich an einen Krach in der Nähe von Losa del Obispo darüber, ob wir uns miteinander langweilten oder nicht, und an einen weiteren bei Sot de Chera, der angefangen hatte, als ich Chloe vorwarf, sie sei als Kartenleserin unfähig, und sie meinem Vorwurf damit begegnete, daß sie mich des kartographischen Faschismus bezichtigte.

14

Die Gründe für solche Streitigkeiten wären nie diejenigen, um die es an der Oberfläche ging. Chloes Unzulänglichkeiten im Umgang mit dem Guide Michelin oder meine Intoleranz, wenn ich in weiten Kreisen durch die spanische Landschaft fuhr, mochten noch so groß sein, das, worum es eigentlich ging, waren tiefere Ängste. Die Heftigkeit, mit der wir einander beschuldigten, der Mangel unserer Vorwürfe an Plausibilität zeigten, daß wir nicht stritten, weil wir einander haßten, sondern weil wir einander zu sehr liebten – oder, auf die Gefahr hin, es noch komplizierter zu machen: weil wir es haßten, einander in dem Maße zu lieben, in dem wir uns liebten. Unsere Beschuldigungen waren immer mit einem komplizierten Subtext geladen: Ich hasse dich, weil ich dich liebe. Wir verstiegen uns zu dem fundamentalen Protest: Ich hasse es, daß ich keine andere Wahl habe, als zu riskieren, dich so sehr zu lieben. Die Freuden, von jemandem abzuhängen, verblassen neben den paralysierenden Ängsten, die solche Abhängigkeit mit sich bringt. Unsere mehrfachen wilden und einigermaßen unerklärlichen Streitigkeiten, während wir durch Valencia gingen, waren nichts als ein notwendiger Abbau von Spannungen, die aus der Erkenntnis herrührten, daß wir beide alle unsere Eier in des anderen Korb gelegt hatten – und uns nun hilflos um eine vernünftigere Haushaltsführung bemühten. Unsere Kräche hatten manchmal etwas nahezu Theatralisches: Freude und Überschwang traten zutage, wenn wir darangingen, das Bücherregal zu zertrümmern, das Geschirr zu zerschlagen oder mit den Türen zu knallen: »Es ist ein schönes Gefühl, daß ich imstande bin, dich so sehr zu hassen«, hatte Chloe einmal zu mir gesagt. »Es gibt mir die Sicherheit, daß du es aushältst; daß ich zu dir sagen kann: Verpiß dich doch! Und du schmeißt mit irgend etwas nach mir, aber du bleibst.« Daß wir einander anschrien, brauchten wir teilweise, um zu sehen, ob einer des anderen Geschrei ertragen konnte oder nicht. Wir wollten einer des anderen Überlebensfähigkeit testen: Erst wenn wir vergeblich einander zu vernichten versucht hätten, würden wir wissen, daß wir sicher waren.

15

Am leichtesten ist Glück zu akzeptieren, wenn es durch Dinge hervorgebracht wird, die man kontrollieren kann, die man nach großen Mühen und viel Nachdenken erreicht hat. Doch das Glück, das ich mit Chloe erlangt hatte, war mir nicht nach tiefgründigem Philosophieren oder als Belohnung für eine persönliche Leistung zuteil geworden. Es war einzig und allein so, daß ich, durch das Wunder einer göttlichen Intervention, eine Person gefunden hatte, deren Gesellschaft mir mehr wert war als die fast aller anderen in der Welt. Solches Glück war gefährlich, eben weil es ihm an selbstgenügsamer Dauer mangelte. Hätte ich nach Monaten steter harter Arbeit eine wissenschaftliche Formel zustande gebracht, welche die Welt der Molekularbiologie bewegt hätte, ich hätte keinerlei Bedenken gehabt, das Glück zu akzeptieren, das auf solche Entdeckungen folgte. Die Schwierigkeit, das Glück, das Chloe repräsentierte, anzunehmen, rührte daher, daß ich bei dem eigentlichen Prozeß, der es begründet hatte, nicht dabeigewesen war und folglich keine Kontrolle über das Glück einflößende Element in meinem Leben hatte. Es schien von den Göttern arrangiert und war daher begleitet von all den uralten Ängsten vor göttlicher Vergeltung.

16

»Alles Unglück des Menschen rührt von seiner Unfähigkeit her, allein in seinem Zimmer zu sitzen«, hat Pascal einmal gesagt, als er sich dafür aussprach, daß die Menschen sich ihre eigenen Mittel gegen eine schwächende Abhängigkeit von allem Gesellschaftlichen schafften. Aber wie ließe sich dies in der Sphäre der Liebe erreichen? Proust erzählt die Geschichte von Mohammed II., der, als er spürte, daß er sich in eine seiner Haremsfrauen verliebte, diese sogleich töten ließ, da er nicht in der geistigen Knechtschaft eines anderen Menschen leben wollte. Um es kurz zu machen, ich hatte vor langer Zeit jede Hoffnung aufgegeben, Selbstzufriedenheit zu erlangen. Ich war aus meinem Zimmer hinausgegangen und hatte einen anderen Menschen zu lieben begonnen – womit ich das Risiko auf mich nahm, das untrennbar damit verbunden war, wenn man die eigene Existenz um ein anderes menschliches Wesen herum gründete.

17

Die Sorge, Chloe zu sehr zu lieben, war zu einem Teil auch die Angst davor, in einer Lage zu sein, in der der Grund meines Glücks so leicht schwinden konnte: Chloe konnte plötzlich das Interesse verlieren, sterben oder einen anderen Menschen heiraten. Auf dem Höhepunkt unserer Liebesgeschichte tauchte daher die Versuchung auf, die Beziehung vorzeitig zu beenden, so daß entweder Chloe oder ich den Initiator unserer Trennung spielen konnte, statt mit anzusehen, wie der andere – oder wie Gewohnheit und Vertrautheit – den Dingen ein Ende machte. Manchmal überkam uns der Drang (der sich in unseren Streitereien über nichts und wieder nichts manifestierte), unsere Liebesgeschichte abzutöten, bevor sie ihr natürliches Ende finden würde, ein Mord, nicht aus Haß begangen, sondern aus einem Übermaß an Liebe – oder vielmehr aus der Furcht, die ein Übermaß an Liebe mit sich bringen kann. Liebende sind imstande, ihre eigene Liebesgeschichte zu töten, nur weil sie unfähig sind, die Ungewißheit ihrer Zukunft zu ertragen, das schiere Risiko, das ihr Versuch mit dem Glück ihnen eingebracht hat.

Der Tod

aus: StatusAngst

1

Der Held der Tolstoi-Novelle Der Tod des Iwan Iljitsch (1886) ist seit langem seiner Frau entfremdet, seine Kinder sind ihm ein Rätsel, und er hat nur solche Freunde, die seiner Karriere dienlich sind und in deren Glanz er sich sonnen kann. Iwan Iljitsch ist ganz vom Gedanken an seinen Status beherrscht. Er bewohnt eine große Wohnung in St. Petersburg, die ganz auf der Höhe des Geschmacks eingerichtet ist, und dort gibt er häufig Abendgesellschaften, bei denen es äußerst förmlich zugeht und kein von Herzen kommendes Wort gesprochen wird. Er ist Richter am Obersten Gericht und schätzt diesen Posten hauptsächlich wegen des Ansehens, das damit verbunden ist. Manchmal, spätnachts, liest Iwan Iljitsch ein Buch, das gerade »Stadtgespräch« ist, und Rezensionen entnimmt er, was davon zu halten sei. Tolstoi bringt das Leben des Richters folgendermaßen auf den Begriff: »Die Freuden des Dienstes waren Freuden des Ehrgeizes, die Freuden der Gesellschaft waren Freuden der Eitelkeit; Iwan Iljitschs wahre Freuden waren aber die Freuden einer Partie Whist.«

Im Alter von fünfundvierzig Jahren beginnt ihn ein Schmerz in der Seite zu plagen, der sich allmählich auf den ganzen Körper ausbreitet. Vergeblich suchen die Ärzte nach der Ursache. Sie schwadronieren nebulös von Wanderniere und bedenklichem Natriumhaushalt und verschreiben ihm immer kostspieligere und nutzlosere Arzneien. Vor Erschöpfung ist er bald außerstande zu arbeiten, seine Eingeweide brennen wie Feuer, er verliert die Lust am Essen und, weit bedeutsamer, am Whistspiel. Langsam dämmert ihm und seiner Umgebung, dass seine Tage gezählt sind.

Den Kollegen bei Gericht kommt das nicht ungelegen. Fjodor Wassiljewitschs Aussichten auf eine Beförderung stiegen, er hätte dann 800 Rubel mehr und erhielte eine administrative Zulage. Ein anderer Kollege, Pjotr Iwanowitsch, hegt die Hoffnung, nach Iwan Iljitschs Tod die Versetzung seines Schwagers aus Kaluga zu bewerkstelligen, was seiner Gattin gefallen und dem Ehefrieden dienlich sein wird. Iwans Familie trifft es etwas härter. Seine Frau, ohne den bevorstehenden Verlust als nachgerade schmerzlich zu empfinden, macht sich Sorgen um die Höhe der zu erwartenden Pension, während Iwans Tochter fürchtet, dass das Begräbnis des Vaters ihre Hochzeitspläne durchkreuzen werde.

Iwan, den Tod vor Augen, erkennt hingegen, dass er seine Zeit auf Erden vergeudet hat, dass er ein nach außen hin respektables, innerlich aber leeres Leben gelebt hat. Er lässt Kindheit, Werdegang und Karriere Revue passieren und stellt fest, dass er stets vor anderen Eindruck hat machen wollen, dass er seine wirklichen Interessen und Begabungen geopfert hat, um Menschen zu imponieren, denen er, wie er jetzt erleben muss, vollkommen gleichgültig ist. Eines Nachts, von Schmerzen gequält, kommt ihm der Gedanke, »dass die von ihm kaum bemerkten Neigungen, sich gegen das zu wehren, was von den Hochgestellten des Lebens für gut gehalten wurde, jene kaum merkbaren Neigungen, die er stets sofort unterdrückt hatte, wirklich berechtigt waren und dass alles andere nichts war: Sein Dienst, seine Lebensgestaltung, seine Familie, die Interessen der Gesellschaft und des Dienstes – alles das war vielleicht nichts, nichts.«