Das Grundinger-Haus - Teresa Weber - E-Book

Das Grundinger-Haus E-Book

Teresa Weber

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Beschreibung

Die scheue Vivienne kehrt nach einem Auslandsjahr zurück nach Deutschland, um ihr Psychologiestudium zu beenden. In der heimischen Kleinstadt entdeckt sie ein neues Gesicht. Sie lernt den geheimnisvollen Steve kennen, zu dem sie sich auf unerklärliche Weise hingezogen fühlt. Doch nicht alle Stadtbewohner sind von dem undurchsichtigen Fremden in der schwarzen Lederjacke angetan. Vivienne erfährt, dass Steve im alten Waisenhaus der Stadt aufgewachsen ist. Die Einrichtung wurde geschlossen, nachdem die Direktorin bei einem Aufstand ums Leben gekommen war. Als Viviennes beste Freundin plötzlich spurlos verschwindet, wird Steve in Gewahrsam genommen. Doch Vivienne glaubt an seine Unschuld. Sie beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln. Dabei kommt sie dem Täter gefährlich nahe und gerät schließlich selbst in Lebensgefahr …

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Die AutorinTeresa Weber ist das Pseudonym der jungen Autorin Teresa Nagengast, unter dem sie Krimis, Thriller und Spannungsliteratur veröffentlicht. Sie wuchs als Drillingskind im ländlichen Gebiet in Unterfranken auf. Schon damals verschlang sie zahlreiche Bücher. Nach dem Abitur entschied sie sich für ein Journalismusstudium. Heute arbeitet sie bei einem Bildungsverlag in Nürnberg.

Das BuchDie scheue Vivienne kehrt nach einem Auslandsjahr zurück nach Deutschland, um ihr Psychologiestudium zu beenden. In der heimischen Kleinstadt entdeckt sie ein neues Gesicht. Sie lernt den geheimnisvollen Steve kennen, zu dem sie sich auf unerklärliche Weise hingezogen fühlt. Doch nicht alle Stadtbewohner sind von dem undurchsichtigen Fremden in der schwarzen Lederjacke angetan. Vivienne erfährt, dass Steve im alten Waisenhaus der Stadt aufgewachsen ist. Die Einrichtung wurde geschlossen, nachdem die Direktorin bei einem Aufstand ums Leben gekommen war. Als Viviennes beste Freundin plötzlich spurlos verschwindet, wird Steve in Gewahrsam genommen. Doch Vivienne glaubt an seine Unschuld. Sie beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln. Dabei kommt sie dem Täter gefährlich nahe und gerät schließlich selbst in Lebensgefahr …

Teresa Weber

Das Grundinger-Haus

Thriller

Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de

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Heiligabend – nach dem Gottesdienst

Claras Körper prallte gegen eine Kiste, als der Lieferwagen rechts abbog. Das Tuch, das um ihre Augen gebunden war, schnitt ihr in die Schläfen, wodurch ihre Kopfschmerzen, die sie von dem Schlag auf ihren Kopf bekommen hatte, noch verstärkt wurden. Sie hätte gerne geprüft, ob sie blutete, doch ihre gefesselten Hände hinderten sie daran. »Oh Gott, wo bin ich hier nur?«, dachte sie schluchzend.

Clara spürte, wie der Wagen über einen unebenen Boden schlitterte und schließlich mit quietschenden Reifen anhielt. Panisch bewegten sich ihre Augen unter dem Tuch hin und her, ihr Herz raste und pochte so laut, dass sie kaum wahrnahm, wie der Mann, der den Wagen gefahren hatte, vom Fahrersitz sprang und die Tür zur Ladefläche öffnete.

Durch einen Spalt am Rande ihre Augenbinde konnte Clara die dreckigen Spitzen seiner Springerstiefel erkennen. Ihr Puls ging mittlerweile so schnell, dass es fast wie ein monotones Rauschen in ihren Ohren klang. »Lassen Sie mich in Ruhe!«, wollte sie brüllen, doch der dreckige Lumpen in ihrem Mund hinderte sie daran, mehr als ein paar unverständliche Laute hervorzupressen. Verzweifelt versuchte sie mit ihren gefesselten Beinen um sich zu treten, als der Mann sie um den Bauch packte und aus dem Van zog. »Manuel, komm her!«, hörte Clara ihn rufen. Manuel? Sie kannte keinen Manuel! Und sie kannte auch die Stimme des anderen Mannes nicht. Was war bloß passiert?

Sie wusste nur noch, dass sie vor einer halben Stunde im Gottesdienst gesessen und »O du fröhliche« gesungen hatte. Beim Verlassen der Kirche hatte sie auf einmal ein harter Schlag gegen den Kopf getroffen, und sie war mit verbundenen Augen und gefesselten Gliedmaßen in dem Lieferwagen wieder zu sich gekommen.

Durch den Spalt am Rande ihrer Augenbinde sah sie nun, wie sich einer der Männer niederbeugte und eine Holzklappe öffnete. Dann wurde sie weitergezerrt, und plötzlich verlor sie den Boden unter den Füßen. Für den Bruchteil einer Sekunde hing sie in der Luft, bevor sie schmerzhaft auf den harten Grund knallte. Sie stöhnte auf. Bevor sie sich aufraffen und prüfen konnte, ob sie sich verletzt hatte, waren ihre Entführer bereits neben ihr und zerrten sie erbarmungslos weiter.

»Willkommen in deiner Suite!«, knurrte der Mann, der den Lieferwagen gefahren hatte, böse, und Clara spürte, wie sie auf etwas, was sich wie eine Pritsche anfühlte, gelegt wurde und die Männer ihre Arme und Beine an etwas Hartes und Kaltes banden. Sie versuchte sich zu wehren, doch die Männer lachten nur angesichts ihrer hilflosen Rettungsversuche.

»Wie süß, da will sich wohl jemand widersetzen«, flüsterte ihr der Fahrer ins Ohr. »Oh, mit dir werde ich bestimmt noch viel Spaß haben.« Er strich ihr mit einer schwieligen, rauen Hand über die Wange.

Clara spürte, wie ihr übel wurde. Sie unterdrückte den Würgereiz. Wenn sie sich jetzt übergab, würde sie daran ersticken. Ihre Arme und Beine waren mittlerweile so fest gebunden, dass Clara sich keinen Zentimeter mehr bewegen konnte.

»Was ist mit der anderen? Vivienne?«, hörte Clara den Komplizen, diesen Manuel, fragen.

»Keine Sorge. Die werde ich auch bald holen.«

Vivienne? Sprachen sie etwa von ihrer Freundin Vivienne? Clara spürte, wie ihr vor Angst die Tränen heiß über die Wangen liefen. Irgendjemand lachte erneut. Diesmal konnte sie nicht genau erkennen, welcher ihrer Entführer es war. »Frohe Weihnachten!«, rief einer der Entführer noch spöttisch, bevor sie Clara in ihrem Gefängnis alleine ließen.

Fünf Tage vor Weihnachten

Vivienne spürte, wie ihr Herz vor Aufregung ungeduldig gegen die Brust klopfte und ihr Mund immer trockener wurde. Schon bald würde sie die Lichter des Bahnhofs sehen und endgültig realisieren müssen, dass sie wieder zurück war. 365 Tage waren seither vergangen und viele ihrer Freundinnen durch das Studium oder ihren aktuellen Partner längst aus der kleinen Stadt, in der sie ihre Schulzeit verbracht hatten, verschwunden.

Nachdenklich blickte Vivienne wieder aus dem beschlagenen Zugfenster und sah zu, wie der Schnee wie Watte durch die Luft gewirbelt wurde. Als sie im letzten Jahr nach Kalifornien gegangen war, um ein Studienjahr im Ausland zu machen, hatte es in Deutschland auch geschneit. Sie wusste noch, wie sie sogar in ihrer wärmsten Jacke gefroren und sich auf das warme Klima an der Westküste gefreut hatte. Doch jetzt genoss sie den Schnee und diese Vorfreude, welche die Vorweihnachtszeit vor allem in erwartungsvollen Kinderaugen auslöste.

Eigentlich wollten ihre Eltern sie vom Flughafen abholen, doch sie waren mal wieder auf einer wichtigen internationalen Geschäftsreise. Ihr Vater war selbstständig und verkaufte medizinische Geräte an Krankenhäuser auf der ganzen Welt. Das machte ihr aber nichts aus, denn sie fuhr gerne mit dem Zug. Außerdem war sie es ja gewohnt, dass ihre Eltern die meiste Zeit unterwegs waren.

Im Vierersitz hinter ihr tollte ein Junge mit rotblonden Haaren und Sommersprossen auf der Nase auf den durchgesessenen grünen Sitzen herum. Vivienne schätzte ihn auf Kindergartenalter. Immer wieder blickte er über die Lehne zu ihr hinüber, mit neugierigen Augen, den Finger in den Mund gesteckt. Freundlich lächelte sie ihm zu. Sie hätte immer gerne ein kleines Geschwisterchen gehabt, doch ihre Eltern waren ja schon mit ihr überfordert gewesen.

Etwas wehmütig blickte Vivienne zu dem Bahnhof, der allmählich größer wurde. Das letzte Jahr in Kalifornien hatte ihr wirklich gut gefallen. Sie mochte es, früh am Morgen in dem kühlen Meer zu schwimmen, bevor die ganzen Touristen den Strand belagerten. Doch jetzt wurde es Zeit, ihre Zukunft zu planen. Bald würde sie ihren Abschluss in Psychologie ablegen, und dann musste sie sich darüber klar werden, welchen Weg sie beruflich einschlagen wollte.

Beim Erreichen des Bahnhofes hievte Vivienne mit aller Kraft ihren großen Designerkoffer, ein Geschenk ihrer Mutter Inga vor der Abreise, von der Ablage. Ihre Freundin Clara hatte ihr versprochen sie vom Bahnhof abzuholen. Im Gegenzug sollte Vivienne später mit ihr auf die Weihnachtsfeier der Nachbarschaft gehen. Was war ihr also anderes übrig geblieben, als zuzustimmen. Zwei Kilometer zu Fuß mit einem großen Koffer als Gepäck und Temperaturen unter dem Nullpunkt hatten sie davor abgeschreckt, den Heimweg alleine zu meistern.

Mit dem roten Mantel und den langen blonden Locken stach Clara sofort aus der Menge der Menschen heraus, die ebenfalls auf Bekannte und Familienmitglieder warteten. Clara hatte die typische Ausstrahlung eines Menschen, der mit sich und seinem Leben vollkommen zufrieden ist. Sie bemerkte nicht einmal die Blicke der männlichen Bahnbesucher, die sie aufmerksam musterten. Trotz ihres strahlenden Aussehens war Clara weder arrogant noch eingebildet. Sie schminkte sich selten übermäßig und war zu jedem Menschen freundlich und aufgeschlossen. Sie hatte einfach das Glück gehabt, in dem richtigen Körper, in der richtigen Familie und mit der richtigen Portion Selbstbewusstsein aufzuwachsen.

Vivienne und Clara kannten sich seit ihrer Geburt und waren von klein auf die allerbesten Freundinnen. »Die zwei Gegensätze«, hatten sie die Bekannten oft genannt und über diese Freundschaft den Kopf geschüttelt. Während Clara aufgeweckt, impulsiv, lebenslustig und redselig war, erschien Vivienne von Natur aus eher zurückhaltend und in sich gekehrt. Nicht, dass sie extrem schüchtern wäre, doch sie dachte einfach gründlicher über die Dinge nach und fasste nur langsam Vertrauen zu anderen Leuten.

Fröhlich winkte Clara Vivienne zu, als sie die Freundin im Zugabteil entdeckte, und unbewusst stahl sich ein Lächeln auf Viviennes Lippen. Claras Herzlichkeit war entwaffnend, und Vivienne spürte, dass sie sich wirklich darüber freute, Clara zu sehen.

»Hallo, Urlauberin. Wie war die Heimreise?«, fragte Clara und schloss Vivienne sofort in eine feste Umarmung.

»Sehr lang. Ich bin hundemüde. Muss ich wirklich noch mit auf die Weihnachtsfeier?«

»Natürlich gehst du mit. Wir müssen immerhin darauf anstoßen, dass du wieder zu Hause bist.« Zusammen verstauten sie den Koffer in Claras rotem Mini. Er passte gerade so in den Kofferraum.

»Versuch ja nicht, dich zu drücken. Das lasse ich nicht durchgehen«, sagte Clara streng zu Vivienne, während sie losfuhr. Denn sie wusste, dass Vivienne nur zu gern davon fernbleiben würde. Vivienne seufzte ergeben und blickte auf die altbekannten Häuser, die an ihren Augen vorbeizogen.

Stürmisch drückte Clara Vivienne einen Kuss auf die Backe, als sie vor dem Eisentor des großen Herrenhauses hielten, in dem Vivienne mit ihren Eltern wohnte. »Ruh dich noch zwei Stunden aus. Ich hole dich dann gegen halb sieben ab.«

»Na gut!«, gab Vivienne klein bei, im Wissen, dass bei Clara jeder Widerspruch zwecklos war. Schon zu Schulzeiten war Clara sehr bestimmend gewesen. Es blieb Vivienne nichts anderes übrig, als in den sauren Apfel zu beißen. Es graute ihr bereits jetzt vor den vielen Fragen und diesem gezwungenen Small Talk mit den alten Bekannten.

Vivienne unterdrückte ein Gähnen, während sie den Koffer über den schmalen Schotterweg zur Eingangstür zog. Hoffentlich lag der Schlüssel noch unter der getöpferten Dekoschale, die im Sommer stets mit Blumen gefüllt war, denn sie hatte bei ihrem Aufbruch nach Kalifornien ihren Haustürschlüssel daheim gelassen.

Zwar waren nunmehr nur noch einige welke Blätter vorhanden, doch immerhin hatte ihre Mutter die Schale an dem Fenstersims stehen gelassen. Vivienne fröstelte, schließlich war sie dieses kalte Winterwetter nicht mehr gewohnt. Der Wind fuhr ihr unerbittlich durch die hellbraunen Haare, die sie zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden hatte. Sie hasste es, wenn ihr die Haare ins Gesicht fielen. Erleichtert atmete sie auf, als sie mit den Fingerspitzen die kalten Konturen des Schlüssels ertastete.

Nachdem sie die Tür aufgeschlossen hatte und in den hohen Gang mit dem dunklen Marmorboden getreten war, hatte sie für einen Augenblick den Wunsch, von irgendjemandem empfangen zu werden und nach einem Jahr Abwesenheit nicht nur in ein verlassenes Haus zu treten.

»Stell dich nicht so an!«, schalt sie sich selbst und griff nach ihrem Koffer. »Du bist es immerhin gewohnt.« Die Rollen ihres Koffers hallten durch den leeren Gang, der von den alten Kronleuchtern in ein geheimnisvolles Licht getaucht wurde, sodass man meinen könnte, dass die gerahmten Bilder an den Wänden, die von der Geschichte und den Bewohnern des Herrenhauses erzählten, zum Leben erwacht wären. Vivienne ließ den Koffer an der ebenfalls marmorsteinernen Wendeltreppe stehen und bog links in die topmoderne Küche ab, die neben einem vollautomatischen Herd, allen erdenklichen Küchengeräten und einem Spülbecken, das ebenfalls aus dunklem Marmor bestand, auch einen riesigen Kühlschrank beherbergte. Wenigstens war dieser bis oben gefüllt. Nach einem kleinen Snack schleppte Vivienne sich und den Koffer in ihr Zimmer und fiel erschöpft auf ihr großes Himmelbett, um bis zur Weihnachtsfeier zu schlafen.

Ein schrilles Klingeln riss sie aus dem Schlaf. »Ja!«, murmelte Vivienne im Halbschlaf in ihr Handy.

»Aufstehen, Sonnenschein. In einer Stunde hole ich dich ab«, tönte ihr Claras fröhliche Stimme entgegen, und bevor Vivienne etwas erwidern konnte, war bereits ein Knacken in der Leitung zu hören. Clara hatte schon wieder aufgelegt.

Stöhnend richtete Vivienne sich auf und brauchte einen Moment, um sich zu besinnen wo sie war. Sie fühlte sich noch immer zerschlagen von dem langen Flug und der anderen Zeitzone. Außerdem hatte sie Kopfschmerzen. Um die Lebensgeister zu wecken, beschloss sie, erst einmal eine heiße Dusche zu nehmen. Während das fast dampfende Wasser den Schmutz und die Strapazen der vergangenen zwanzig Stunden abwusch, dachte sie darüber nach, was sie sich vorgenommen hatte. Sie brauchte noch ein Semester, bevor sie ihren Abschluss in der Tasche hatte. Sie sollte dringend anfangen, sich zu bewerben, doch dafür musste sie erst einmal wissen, wo sie beruflich hinwollte.

Vivienne wickelte ihre nassen Haare in ein nach Rosen duftendes Handtuch – Josepha, die Haushälterin liebte den Geruch von Rosen – und stieg aus der Dusche. In einer halben Stunde musste sie fertig sein. Ihre Klamotten, die sie in Amerika dabeigehabt hatte, lagen zusammengeknüllt in ihrem Koffer, den sie einfach in einer Ecke ihres Zimmers abgestellt hatte. Dort würden sie wahrscheinlich auch noch etwas liegen bleiben. Clara hatte ihr eingebläut, dass sie sich etwas Schönes anziehen sollte – ein Kleid oder eine elegante Bluse. Sie wusste von Viviennes Vorliebe für Jeans und Kapuzenpullover.

Seufzend öffnete Vivienne ihren großen viertürigen Holzschrank, mit den aufwendigen Verzierungen am Rahmen, die sie schon als kleines Mädchen geliebt hatte. Kleider, nach Farben sortiert und ordentlich in Reih und Glied aufgehängt, hingen an hölzernen Kleiderstangen. Ihre Mutter hatte ihr die Klamotten gekauft, in der Hoffnung, dadurch endlich eine richtige vornehme Lady aus ihr zu machen. Ihre Mutter hoffte auch, dass sich Vivienne einen reichen Lebensgefährten suchen und nicht Psychologie studieren würde, doch vergeblich. Keines der Kleider hatte Vivienne bislang getragen, geschweige denn sich einen Mann nach den Vorstellungen ihrer Mutter ausgesucht. Sie hatte sich einfach überhaupt keinen Mann gesucht.

Zielstrebig zog Vivienne ein dunkelblaues Kleid hervor, das weder einen großen Ausschnitt hatte noch nur bis knapp über den Po ging. Mit einer blickdichten Strumpfhose, ihren bequemen braunen Schnürstiefeln und einem dicken Schal könnte es klappen, dass sie sich nicht den ganzen Abend unwohl fühlen würde und Clara dennoch zufriedengestellt war.

Ihr noch feuchtes Haar band Vivienne erneut zu einem Pferdeschwanz zusammen. Zum Föhnen hatte sie keine Zeit mehr. Sie war gerade dabei, ihren Wintermantel anzuziehen, da ertönte auch schon ein lautes Hupen von der Straße.

Clara wartete in einem atemberaubenden blassgelben Kleid mit halblangen Ärmeln und Spitze am Saum in ihrem Auto. »Na dann los. Bringen wir es hinter uns«, sprach Vivienne sich selbst Mut zu und lief die Auffahrt hinab – diesmal nahm sie ihren Haustürschlüssel mit.

»Zieh deinen Mantel aus!«, befahl Clara, kaumdass Vivienne sich auf den Beifahrersitz fallen gelassen hatte. Natürlich vertraute Clara ihr nicht, schließlich würde Vivienne sich in dem Bereich selber auch nicht vertrauen. Vivienne öffnete ihren Mantel, damit sich Clara überzeugen konnte, dass sie etwas Ausgehtaugliches angezogen hatte. »Schönes Kleid! War das nun wirklich so schwer?« Vivienne sparte sich die Antwort.

Zufrieden drückte Clara das Gaspedal durch. Die Weihnachtsfeier fand im Gemeindehaus statt, direkt neben der kleinen weißen Kirche am Rande der Stadt. Vivienne liebte diesen Ort. Schon als kleines Mädchen hatte sie stundenlang auf den dunkelbraunen Holzbänken gesessen und gemalt, wenn ihre Eltern wieder den ganzen Tag unterwegs gewesen waren.

Die Kirche hatte sich in dem vergangenen Jahr kein bisschen verändert. Noch immer blätterte bereits an einigen Stellen der weiße Putz von der Wand, und noch immer fehlte ein Mosaikstein in dem bunten Fenster, das Maria und Joseph Kopf an Kopf abbilden sollte. Wie auf Kommando ging ein Strahler an und brachte die bunten Steine des Fensters zum Glitzern.

Sie waren früh dran, und nur vereinzelt standen bereits ein paar Menschen vor dem Gemeindehaus. Vivienne konnte ihren ehemaligen Nachbarn Nikolai erkennen, der in dem kleinen Haus neben ihrem prachtvollen Anwesen gewohnt hatte, bevor er vor drei Jahren aufgrund des Nachwuchses in ein größeres Haus gezogen war. Sie mochte ihn und seine Frau Maria gern. Sie wusste noch, wie sie früher als Kind oft bei ihnen zu Mittag gegessen hatte, wenn sie keine Lust gehabt hatte, sich etwas in der Mikrowelle warm zu machen. Das war eigentlich fast jede Woche vorgekommen. Zu Beginn hatte Nikolai sie immer etwas eingeschüchtert mit seiner blauen Kluft und der Pistole im Gürtel. Doch er hatte ihr lächelnd erklärt, dass die Polizisten die Guten seien und sie vor bösen Männern beschützen würden. Das hatte Vivienne schließlich beruhigt.

Bereits damals hätten Nikolai und seine Frau Maria gerne ein Kind bekommen, doch Maria war erst im Alter von 38 schwanger geworden. Mittlerweile war die kleine Sophia fünf Jahre alt und rannte in einem umwerfend süßen rosafarbenen Mantel um ihre Eltern herum.

»Bist du so weit?«, riss Clara Vivienne aus ihren Erinnerungen und schaltete den Motor ab. Vivienne holte einmal tief Luft, bevor sie die Autotür aufstieß und sich von Clara Richtung Kirche ziehen ließ. Sie erblickte noch mehr bekannte Gesichter – Freunde ihrer Eltern, Leute aus dem Tennisverein und ein paar frühere Schulfreundinnen. Sie hätte sich am liebsten gleich ins Gemeindehaus begeben, um sich klammheimlich einen Platz in den hinteren Reihen zu suchen, doch Clara steuerte direkt auf zwei frühere Freundinnen aus Schulzeiten zu und begrüßte sie mit Küsschen auf beide Backen.

»Hallo, Sarah! Hallo, Angelina! Ist das lange her, dass man sich gesehen hat. Wie geht es euch? Was treibt ihr so?« Während Sarah, eine junge Frau mit kurzen blonden Haaren, stahlblauen Augen und einer Körpergröße von gerade einmal einem Meter fünfzig, von ihrer anstehenden Hochzeit erzählte, ließ Vivienne die Augen über den sich langsam füllenden Platz vor dem Gemeindehaus streifen.

Einige Meter entfernt sah sie Christoph, einen früheren Schulkameraden, stehen, der vor Jahren für ein paar Monate mit Clara zusammen gewesen war. Er sah noch immer aus wie früher, mit seinen stachelkurzen braunen Haaren und den traurigen blauen Augen, die im Minutentakt an Claras blonden Haaren hängen blieben. Vivienne hob die Hand zu einem Gruß, während er ihr erfreut zuwinkte. Vielleicht würde der Abend ja doch nicht so schlimm werden.

Sie wollte sich gerade wieder zu Clara umdrehen, doch etwas lenkte ihren Blick weg von der tratschenden Menschenmenge, die mittlerweile beträchtlich angewachsen war. Sie blickte in die schwarzen Augen eines Mannes, den sie noch nie gesehen hatte. Er stand am Rand des Platzes, lässig an eine Laterne gelehnt, die Arme verschränkt, und starrte ihr direkt in die Augen. Vivienne schätzte ihn auf Ende zwanzig. Trotz der kalten Temperaturen trug der Mann nur eine schwarze Lederjacke über einem grauen Pullover, durch den man seine Muskeln fast schon erahnen konnte. Er musste gute ein Meter neunzig sein. Mit seinen fast schon gewellten längeren dunkelbraunen Haaren, den tiefschwarzen Augen, die sie so eindringlich fixierten, und der durchtrainierten Figur, erinnerte er Vivienne an einen Tiger kurz vor seinem Angriff.

Alles an seinem Anblick drängte Vivienne dazu, sich in Acht zu nehmen, sich abzuwenden, doch der Ausdruck in seinen Augen ließ sie nicht los. Noch nie hatte sie so dunkle Augen gesehen. Fröstelnd schlang sie die Arme um ihren Mantel, da ließ Claras Stimme sie zusammenfahren. »Kommst du?«

Vivienne blinzelte und drehte den Kopf zu Clara, die ungeduldig neben ihr stand und mit dem Fuß wippte. Die meisten Menschen waren bereits ins Gemeindehaus verschwunden. Vivienne nickte verwirrt und folgte ihrer Freundin, doch bevor sie das Gemeindehaus betrat, blickte sie sich noch einmal um.

Der Mann war verschwunden, doch der Ausdruck seiner schwarzen Augen hatte sich in ihren Kopf eingebrannt. Vielleicht war es jedoch auch nur sein unverschämt gutes Aussehen, gegen das selbst sie nicht immun zu sein schien. »Was ist denn da hinten Interessantes?« Diesmal klang Clara wirklich genervt, und Vivienne beeilte sich, den unbekannten Mann aus ihrem Kopf zu verscheuchen und mit Clara einen Platz zu suchen.

Natürlich waren mittlerweile fast alle Stühle besetzt, sodass sich die beiden Freundinnen ganz hinten hinsetzen mussten, um überhaupt noch einen Platz nebeneinander zu ergattern. Während der erste Vorstandsvorsitzende, ein älterer kleiner Mann mit wenig Haaren auf dem Kopf, doch dafür einem umso dickeren Bauch, von den Ereignissen des vergangenen Jahres erzählte, schweiften Viviennes Gedanken ab.

Wer war dieser geheimnisvolle Mann mit den schwarzen Augen? Wieso hatte sie ihn noch nie gesehen? Ob er wohl erst hergezogen war? Ihr Verstand und ihre Kenntnisse aus dem Psychologie-Studium sagten ihr, dass sie sich am besten von ihm fernhalten sollte, dass er nur Ärger bringen würde, doch dieser Ausdruck in seinen Augen beängstigte und faszinierte sie gleichermaßen.

Mittlerweile hatte der Vorstandsvorsitzende seine Rede beendet und wackelte auf seinen kurzen Beinen zurück an seinen Platz. Eine Frau im mittleren Alter, mit ordentlich frisierten blondgefärbten Haaren, die auf Kinnlänge geschnitten waren, und einem knalligen roten Lippenstift, war stattdessen auf die Bühne getreten. Vivienne kannte sie von früher. Sie war eine Freundin ihrer Mutter, und ihrem Mann gehörten an die zehn Hotels über ganz Europa verteilt. Die meiste Zeit des Jahres war er geschäftlich unterwegs, obwohl Vivienne sicher war, dass sein privates Vergnügen auf den Reisen auch nicht zu kurz kam. Wie sie diese reiche Gesellschaft mit ihrer Oberflächlichkeit und ihren Machtintrigen verabscheute!

Nachdem die langweiligen Reden nach einer gefühlten Ewigkeit überstanden waren, hallte das Knarzen von hundert Stühlen über den Laminatboden, während sich bereits die ersten Menschen auf das aufwendig vorbereitete Buffet stürzten. Viviennes Magen begann ebenfalls zu knurren, und als sich die Menschenmasse die Teller mit Hähnchenschenkeln, Salat und Beilagen gefüllt hatte, machte sie sich langsam auf den Weg zum bereits halb geleerten Buffet.

»Soll ich dir etwas mitbringen?«, fragte sie Clara noch, die bereits erneut in ein Gespräch mit der alten Schulfreundin vertieft war. »Nein, danke. Ich hole mir später etwas Nachtisch«, antwortete Clara kurz angebunden und wandte sich wieder Sarah zu, die gerade wild gestikulierend ihr Hochzeitskleid beschrieb.

Vivienne zuckte nur mit den Schultern und durchsuchte das Buffet nach vegetarischen Speisen. Seit sie zehn Jahre alt war, hatte sie kein Fleisch und keinen Fisch mehr gegessen. Vorsichtig häufte sie etwas Gemüse und Salat auf ihren Teller, da nahm sie neben sich eine Bewegung wahr. »Hast du doch Hunger bekommen?«, fragte Vivienne in der Annahme, dass Clara sich zu ihr gesellt hatte. Lächelnd drehte sie den Kopf zur Seite und hätte vor Schreck beinahe ihren Teller fallen gelassen. Neben ihr stand der unbekannte Mann, den sie vor dem Gemeindehaus gesehen hatte, so nahe, dass sie sein betörendes Aftershave riechen konnte. »’tschuldigung«, stammelte sie verlegen und wandte schnell den Kopf ab, denn wie so oft schoss ihr die Röte ins Gesicht.

»Macht nichts.« Seine Stimme klang tief und rau und erschreckend anziehend. Vivienne spürte, wie sich die zarten Haare an ihren Armen aufstellten. Mit leicht zittriger Hand häufte sie etwas von dem Buffet auf ihren Teller und versuchte ihre Fassung wiederzubekommen. So kannte sie sich gar nicht. Denn Vivienne ließ sich nur selten aus der Fassung bringen – erst recht nicht von irgendwelchen Männern.

Fahrig strich sie sich mit der Hand eine Strähne, die sich gelöst hatte, hinter das Ohr und hoffte, dass der Mann verschwinden würde, doch der lächelte sie nur amüsiert an, als würde ihm ihre Unbeholfenheit auch noch gefallen. »Wie heißt du?«, fragte er geradeheraus.

Vivienne wagte einen scheuen Blick zu ihrem Gegenüber und bemerkte, dass er sich unverfroren an den Buffettisch lehnte, die Füße überkreuzt und die Hände lässig in den Taschen seiner ausgewaschenen Lederjacke. »Vivienne«, antwortete sie mit schwacher Stimme. Vivienne fühlte sich wie ein verunsichertes Kind, das gleich Ärger bekommen würde, und die Tatsache, dass der Mann gute zwanzig Zentimeter größer war als sie, führte nicht gerade dazu, dass sie sich besser fühlte.

»Ich bin Steve«, stellte er sich vor, ohne Anstalten zu machen, ihr höflicherweise die Hand zu reichen. Doch darüber war Vivienne ausnahmsweise erleichtert, denn noch immer bebten ihre Hände. Sie räusperte sich, um den Kloß, der in ihrem Hals anzuschwellen schien, loszuwerden. »Das freut mich.« Mehr fiel ihr nicht mehr ein. Für eine Sekunde blieb sie unschlüssig stehen, den vollen Teller in den Händen, dann nickte sie ihm unsicher zu und stakste zurück zu ihrem Platz.

»Was ist denn mit dir passiert?«, fragte Clara schockiert.

Vivienne ließ sich erschöpft auf den harten Holzstuhl neben ihr plumpsen. »Was? Warum?«, stotterte sie, noch immer vollkommen durcheinander.

»Du bist so weiß wie ein Gespenst.« Besorgt rückte Clara näher.

»Ach so. Es ist nichts. Alles gut«, antwortete Vivienne verstreut und wandte den Blick erneut unauffällig zum Buffet. Der Buffettisch war verlassen, doch sie sah gerade noch, wie der Fremde durch die Tür des Gemeindehauses verschwand.

»Bist du sicher?«, fragte Clara erneut skeptisch.

»Ja.«

»Und wieso hast du dir dann heute Fleisch geholt?«

Vivienne blickte auf den vollen Teller in ihren Händen und seufzte. Mist, sie hatte sich tatsächlich einen Hähnchenschenkel auf draufgelegt. Doch ihr Hunger war sowieso längst verflogen.

Während Clara sie nach Hause fuhr, blickte Vivienne stumm aus dem Fenster. Sie nickte bloß, wenn Clara eine Frage stellte, und hörte nur mit halbem Ohr zu, als ihre Freundin von den vergangenen Monaten erzählte. Viviennes Gedanken kreisten um den Unbekannten, und sie war innerlich schon dabei, seine Körperhaltung und seinen Blick ausgiebig zu analysieren.

Endlich hielten sie vor dem Tor, und Vivienne sprang mit einem kurzen Abschiedsgruß aus dem Auto und eilte den sorgsam gepflegten Schotterweg zu ihrem Haus hoch. Der Himmel war bereits tiefschwarz, und nur eine kleine Laterne leuchtete ihr den Weg, bis das Nachtlicht über der Haustür durch den Bewegungsmelder ansprang.

Obwohl sie die Stille der Nacht für gewöhnlich liebte, fühlte sie sich heute unwohl in dieser Lautlosigkeit. Sie fragte sich, ob Steve daran schuld war, denn wohin sie auch blickte, sie sah nur seine schwarzen Augen, die fast so dunkel wie ihre Umgebung waren. Nachdem sie es beim zweiten Anlauf geschafft hatte, die Tür aufzuschließen, tat sie etwas, was sie seit Jahren nicht mehr gemacht hatte. Sie schaltete die Alarmanlage des Hauses an und schob sogar den Sperrriegel vor das Schloss. Erst dann atmete sie erleichtert auf.

»Reiß dich zusammen!«, schalt sie sich erneut, als sie bei einem Knarzen der Decke vor Schreck zusammenfuhr. »Seit wann bist du denn so schreckhaft?«

Sie atmete tief durch und zählte bis zehn, um ihren Puls zu beruhigen, dann ging Vivienne durch den hohen Gang mit den alten, glitzernden Kronleuchtern, vorbei an den unheimlich beleuchteten Bildern, ins Wohnzimmer. Es war der größte Raum in dem Haus und besaß neben zwei kompletten dunkelgrauen Sofagarnituren jede Menge Regale, die mit Figuren und anderen Souvenirs aus der ganzen Welt gefüllt waren.

Im ersten Schrank standen aufwendig geschnitzte Holztiere, die dank einer unfassbaren Detailtreue so echt wirkten, als ob sie Vivienne gleich entgegenspringen würden. Im nächsten Regal befanden sich die Lehmschalen aus dem kleinen Dorf in Afrika, in das ihre Eltern sie im Alter von neun Jahren mitgenommen hatten. Damals war ihr der Ort sonderbar und bezaubernd vorgekommen. Sie hatte die afrikanischen Kinder um die einfachen Lehm- und Holzhütten beneidet, weil es sie an Zeltlager und Abenteuer erinnert hatte, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass hier Hungersnot und Unterdrückung herrschten.

Vorsichtig hob Vivienne eine der Schalen heraus und strich der Hand über die glatte Oberfläche. Es war ein schöner Urlaub gewesen. Ganze zwei Wochen lang war sie mit ihren Eltern zusammen gewesen, na ja zumindest dann, wenn ihr Vater nicht gerade die medizinischen Geräte in den einfachen Krankenhäusern in Afrika angebracht hatte. Sie hatte mit den Kindern aus dem nahe liegenden Dorf gespielt und dabei nie eine Jacke gebraucht. Und ihre Spielkameraden hatten sieaufgrund ihrer hellen Haut für etwas ganz Besonderes gehalten. Abends war sie mit ihrer Mutter zurück in das Hotel gegangen, das sich keine zehn Minuten zu Fuß entfernt an einem traumhaften Strand mit fast weißem Sand befand.

Vivienne hatte immer vorgehabt, eines Tages in das Dorf zurückzukehren, doch bislang hatte sie es noch nicht geschafft. Wehmütig stellte sie die mit Elefanten verzierte Holzschale sorgsam zurück an ihren Platz und griff stattdessen nach der Fernbedienung. Wahllos zappte sie durch das Programm. Es war seltsam, die Personen im Fernseher Deutsch sprechen zu hören, nachdem sie ein ganzes Jahr nur Englisch gesprochen und gehört hatte.

Während gerade ein Streifen mit Bruce Willis, wahrscheinlich einer der »Stirb langsam«-Filme, begann, kuschelte sich Vivienne unter eine der vielen flauschigen Decken, die sorgfältig in einer großen Kiste am Fuße des Sofas zusammengelegt waren. Es war mittlerweile nach ein Uhr nachts, und Vivienne konnte ein Gähnen nicht mehr unterdrücken, obwohl an Schlaf nicht zu denken war.

Schließlich war es in Kalifornien gerade mitten am Nachmittag. Wenn sie sich vorstellte, dass sie vor drei Tagen um diese Zeit noch am warmen Strand gelegen und in einem ihrer vielen Bücher gelesen hatte … Nein, es war gut, dass sie wieder zurück in Deutschland war. Sie freute sich darauf, mehr Zeit mit Clara zu verbringen, denn, wenn sie ehrlich zu sich war, hatte ihr der Abend ganz gut gefallen.

Sie verdrängte den Gedanken daran, dass es etwas mit dem fremden Mann zu tun haben könnte. Steve! Noch immer spürte sie ein leichtes Kribbeln, wenn sie an die tiefe, raue Stimme dachte und den Blick, der bis in ihre Seele vorgedrungen war. Noch immer fühlte sie sich etwas eingeschüchtert und zugleich von ihm angezogen, wenn sie nur an die geraden Gesichtszüge und das stoppelige Kinn dachte.

Wieso nur hatte sie nicht kühl und desinteressiert antworten können, anstatt wie eine unsichere Vierzehnjährige herumzustottern. Sie Interessierte sich doch gar nicht für Männer und erst recht nicht für Männer wie ihn, die sich mit größter Wahrscheinlichkeit in Bars prügelten und zu viel Alkohol tranken.

Bevor sie sich noch mehr Gedanken machen konnte, beschloss sie, lieber doch ins Bett zu gehen. Während Vivienne in dem riesigen Badezimmer mit den weißen Marmorsteinen und der fast schon Whirlpool-großen Badewanne sorgfältig ihre Zähne putzte, betrachtete sie ihr Spiegelbild genauer. Zwei große braune Augen blickten ihr aus einem durch die sonnigen Monate in Kalifornien leicht gebräunten Gesicht mit Sommersprossen auf der geraden Nase fragend entgegen. Das glatte haselnussbraune Haar reichte bis über ihre Brust und war ausnahmsweise nicht mit einem Haargummi nach hinten gebunden. Ihr schmaler Körper wurde von einem hellblauen Pyjama mit weißen Nadelstreifen bedeckt, während ihre nackten schmalen Füße in kitschigen Bärenpantoffeln steckten, die Clara ihr vor zwei Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte.

Ja, Vivienne war durchgehend unauffällig, und das gefiel ihr in der Regel auch gut, doch manchmal wünschte sie sich trotzdem, etwas von Claras strahlend blauen Augen oder ihren vollen Kusslippen zu haben. Clara. Vivienne wollte sie morgen fragen, ob sie den Mann kannte, schließlich konnte es ja gut sein, dass er innerhalb des letzten Jahres hierher gezogen war. Und wieder wanderten ihre Gedanken zurück zu der tiefen Schwärze seiner Augen.

Während sie schließlich in einen unruhigen Schlaf glitt, sah sie noch immer das amüsante Grinsen auf seinem Gesicht und den breiten Rücken, als er so unauffällig, wie er gekommen war, den Raum verlassen hatte.

Genauso unauffällig stand Steve jetzt unter einer der großen knorrigen Eichen am Rande des Anwesens, lässig an das Holz gelehnt, und blickte mit nachdenklicher Miene zu dem Fenster empor, hinter dem vor einigen Minuten noch Licht gebrannt hatte. Dort verharrte er, von der Dunkelheit der Nacht verschluckt, ohne Regung und ohne sich von dem kalten Wind, der gegen seine Lederjacke peitschte, beeindrucken zu lassen.

Vier Tage vor Weihnachten

Am nächsten Morgen war es bereits nach neun Uhr, als Vivienne sich aus der warmen Decke quälte. Durch ihr Rollo konnte sie die Sonnenstrahlen blitzen sehen. Es schien ein schöner Tag zu werden. Nachdem sie sich gewaschen und angezogen hatte, ging sie nach unten, um erst einmal gemütlich zu frühstücken. Sie schaltete gerade die Kaffeemaschine an und steckte drei Aufbackbrötchen in den Hightech-Backofen, da klingelte das Telefon.

»Hallo?«

»Hallo, Schätzchen. Wie geht es dir? Wie war deine Heimreise? Du musst mir alles erzählen«, quoll ihr die quirlige Stimme ihrer Mutter entgegen. Obwohl sie sich über deren Anruf freute, verdrehte Vivienne innerlich die Augen. Ihre Mutter war am Telefon immer anstrengend, und sie wusste bereits, dass ihr Kaffee kalt sein würde, bevor das Telefonat beendet war.

»Hallo, Ma…«, begann sie seufzend. Ganze zwanzig Minuten musste sie von ihrer Zeit in Kalifornien berichten, bis ihre Mutter zufrieden war. Dann versprach sie Vivienne, dass sie spätestens bis zum 23. Dezember zurück sein würden, um mit ihr Weihnachten zu feiern, bevor sie schließlich das Telefon an ihren Mann weitergab.

»Hi, Dad.« Diesmal klang Viviennes Stimme erfreut, denn sie war schon immer ein Papakind gewesen.

»Hallo, meine Große«, begrüßte er sie wie jedes Mal. »Hat deine Mutter dir die Ohren abgekaut?«

Vivienne lachte, während sie durch den Telefonhörer ihre Mutter murren hörte. »Es war schon o. k.«, antwortete sie schnell. Dann fügte sie hinzu: »Seid ihr sicher bis Weihnachten zu Hause?«

»Natürlich sind wir Weihnachten zu Hause. Ich verspreche es dir. Es wird so schön wie immer werden.« Noch lange nachdem Vivienne sich verabschiedet und bereits ihre erste Tasse koffeinfreien Kaffee getrunken hatte, konnte sie das Gefühl nicht abschütteln, dass dieses Weihnachten nicht wie früher sein würde.

In Gedanken versunken spülte sie das Geschirr per Hand ab und blickte dabei nachdenklich auf die kahlen Obstbäume, die vom Küchenfenster aus zu sehen waren. Im Frühling würde der riesige Garten wieder farbenfroh erstrahlen und der Lieblingsort vieler zwitschernder Vögel sein, doch noch waren die Äste und der Boden mit Schnee bedeckt und die Vögel in wärmere Gebiete geflüchtet.

Vivienne legte das Geschirrtuch zur Seite und ging gemächlich in ihr Zimmer zurück, um sich umzuziehen. Sie wollte einen Spaziergang in die Stadt unternehmen, um Geschenke für ihre Eltern zu besorgen. Das war zumindest ihr Vorwand, doch eigentlich wollte sie nur raus aus dem riesigen, stillen Haus, in dem ihr, aufgrund der Tierhaarallergie ihrer Mutter, nicht einmal ein Haustier Gesellschaft leistete. UZudem hatte Josepha ein Talent, sich unsichtbar mit einem Staubwedel durch die Räume zu bewegen. Ihr Vater hatte früher immer gesagt, dass man ein gutes Hausmädchen weder sehen noch hören, sondern nur den reinlichen Geruch und den Anblick der sauberen Räume wahrnehmen dürfe. Und Josepha war in diesem Punkt wirklich ein ausgesprochen gutes Hausmädchen.

Die Sonne, die am Morgen noch in ihr Zimmer geschienen hatte, war mittlerweile hinter dicken weißen Wolken verschwunden, und es wehte ein eisiger Wind. Mit Mütze und Handschuhen bewaffnet, stapfte Vivienne durch den Neuschnee, der über Nacht gefallen war, zu dem großen Eisentor.