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Cornelia Funke

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Beschreibung

Die zwölfjährige Caspia muss den gesamten Sommer mit ihren Eltern in Brooklyn verbringen. Dabei hasst sie Großstädte, allen voran New York. Zu viele Menschen, zu laut, zu schmutzig. In dem Kinderzimmer des Apartments, das die Familie gemietet hat, steht eine Kommode, in der Caspia Briefe von einem blinden Mädchen entdeckt, das an der Seite ihres Botaniker-Vaters in den 50er und 60er Jahren die Welt bereiste und Pflanzen auf ihre ganz eigene Art beschrieb. Jeder Brief wird mit einem Pflanzenrätsel eröffnet. Und so macht Caspia sich auf die Suche, um die Rätsel zu lösen, und kommt dabei den unterschiedlichsten Pflanzen auf die Spur: Rose, Zimt, Löwenzahn, Bambus und vielen weiteren. Ganz nebenbei lernt sie die Orte und Menschen in ihrer neuen Nachbarschaft kennen ... und schlägt nach und nach Wurzeln an einem Ort, von dem sie es nie vermutet hätte. Auf den Spuren der Natur: Lerne die Kraft der Pflanzen kennen - Wer hätte gedacht, dass eine Metropole wie New York doch so grün ist? Tauche ein in die Natur und begib dich auf eine Entdeckungsreise durch Brooklyn. - Zusammen mit Caspia versteckte Oasen finden: Geheimnisvolle Briefe und knifflige Rätsel sorgen für aufregenden Lesespaß. - Ein sommerliches Abenteuer über neue Freundschaften und eine gemeinsame Leidenschaft. Denn Caspia zeigt uns: Natur verbindet. - Bestsellerautorin Cornelia Funke und Pflanzenexpertin Tammi Hartung nehmen uns mit auf eine Reise in die magische Welt der Pflanzen. - Auch zum Nachmachen und Recherchieren: Mit Rezepten und der Pflanzenübersicht selbst auf Forschungsreise gehen und Das grüne Königreich erleben.

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Über dieses Buch

Die zwölfjährige Caspia muss den gesamten Sommer mit ihren Eltern in Brooklyn verbringen. Drei lange Monate! Dabei hasst Caspia Großstädte, allen voran New York. Zu viele Menschen, zu laut, zu schmutzig. Doch da entdeckt sie in einer alten Kommode die Briefe eines blinden Mädchens, das vor langer Zeit an der Seite seines Botaniker-Vaters die Welt bereiste. Und das Erstaunliche: Jeder Brief beginnt mit einem Pflanzenrätsel. So begibt sich Caspia auf eine Reise in das grüne Königreich, um all die Bewohner zu finden, die Rosalinde in ihren Briefen auf so faszinierende Weise beschreibt. Und ganz nebenbei schlägt sie dabei nach und nach Wurzeln an einem Ort, von dem sie es nie vermutet hätte.

 

Die Kraft der Natur und die Magie der Pflanzen verwoben in einer einzigartigen Geschichte.

Mit Illustrationen von Franziska Blinde

 

 

 

Für die echte Caspia und ihre Mutter Juliane, die unsere Späher in Brooklyn waren.

1Der verlorene Sommer

Den ganzen Sommer? »Komm schon, Caspia, es sind doch bloß elf Wochen«, hatte Dad gesagt. Aber was sollte sie bitte elf Wochen lang ohne ihre Freunde, ihre Sachen, ihr Bett, ihr einfach ALLES machen? Und ausgerechnet die besten elf Wochen des Jahres! Kein Eisessen in der Gefrorenen Eidechse, kein Schwimmen im Fluss, keine Übernachtungspartys bei Ellie. »Das findest du allen Ernstes schlimm?!«, spottete Laryssa, als Caspia ihr und Ellie erzählte, wo sie den Sommer verbringen würde. »Du wirst in Brooklyn sein! Ich bin giftgrün vor Neid.«

Aber Caspia war kein Stadtmensch. Sie hatte ihr ganzes Leben in Wilmerton, einem kleinen Ort im Norden von Maine, gelebt. Sie und Ellie hatten sich immer über Stadtmenschen lustig gemacht, vor allem über die Touristen aus New York, die wie Heuschrecken in Wilmerton einfielen, sobald das Laub sich im Herbst verfärbte, und Sachen sagten wie: »O guck mal! Wie authentisch!«

Pech! Das war es. Ärgerliches, sommerverschlingendes Pech.

»Hier«, sagte Ellie und schob ihr ein Armband übers Handgelenk, als sie zum letzten Mal zusammen am Fluss saßen. »Meine Cousine hat es aus Indien mitgebracht. Ich glaub, es ist irgendeine getrocknete Ranke. Ein bisschen komisch, ich weiß, aber es soll vor allem Möglichen schützen und Glück bringen.«

Es sah auf jeden Fall komisch aus und ziemlich vertrocknet, aber Caspia versprach trotzdem, es zu tragen.

Dad war inzwischen irritierend aufgeregt darüber, dass er auf einer Baustelle in New York arbeiten würde. »Wir werden an einem zehnten Stockwerk bauen. Stell dir das mal vor! Und ich werde die Jamaica Bay vom Gerüst aus sehen können.«

Caspia fand, dass das furchtbar gefährlich klang, aber Dad grinste bei der Aussicht wie ein kleiner Junge.

Mom freute sich auch. »Das wird die perfekte Zeit, um endlich an meinem Kochbuch zu arbeiten«, sagte sie, während sie die Koffer packten.

Mom wollte ein Kochbuch schreiben, seit Caspia zur Schule ging. Aber den Hinweis verkniff sie sich lieber. Ihre Großmutter machte sich schon genug über die Idee lustig. Sie waren vor sechs Jahren ins Haus von Moms Eltern gezogen, weil die zu viel Platz und einen großen Garten hatten. Aber es hatte seine Nachteile. Caspia liebte die Gerichte ihrer Mutter, obwohl Mom es mit dem Experimentieren manchmal etwas zu weit trieb, und sie fand es schade, dass aus dem Buch immer noch nichts geworden war.

»Ich habe mich bei elf Kochkursen angemeldet!«, verkündete Mom, während sie auf ihren Koffer kletterte, um ihn zuzubekommen. »In Wilmerton gilt chinesisches Essen schon als extravagant. Aber hör dir das mal an: ›Die authentische Küche Balis‹«, las sie von ihrem Handy ab, »›Geheimnisse südindischer Küche‹, ›Ukrainische Bohnengerichte‹. Ich konnte mich kaum entscheiden. Bist du nicht wenigstens ein kleines bisschen aufgeregt, meine Süße?«

Nein, war sie nicht! Es hätte ihr weit weniger ausgemacht, eine Weile ohne die Gefrorene Eidechse und ihre Freundinnen auszukommen, wenn sie irgendeine abenteuerliche Reise gemacht hätten. Nach Madagaskar zum Beispiel, wo Caspia hinwollte, seit sie zum ersten Mal eine Dokumentation über Lemuren gesehen hatte. Sie hatte ihren Eltern schon oft vorgeschlagen, eine große Sommerreise zu unternehmen, ein Familien-Urlaubsabenteuer sozusagen. Und was machten sie nun stattdessen? Brooklyn!

 

Es war eine lange Fahrt, aber Caspia sagte kaum ein Wort.

»Brooklyn ist nicht Manhattan, Caspia.« Mom hatte ihr das mindestens ein halbes Dutzend Mal versichert, nachdem sie nicht gerade erfreut auf Dads Neuigkeit reagiert hatte, dass er dort einem alten Schulfreund den ganzen Sommer über aushelfen musste. »Brooklyn ist viel schöner und ruhiger.«

Ruhiger? Die Straße, in der Dad ein Airbnb gemietet hatte, schwärmte nur so von Menschen und Autos. Das Haus, in dem die Wohnung war, sah ziemlich alt aus, und der Aufzug war kaputt, sodass sie ihre Koffer fünf Stockwerke hochschleppen mussten. Fünf!

Und all das nur, weil Dads tollpatschiger Freund sich ein paar Ziegel auf den Fuß hatte fallen lassen und jetzt seine Hilfe auf der Baustelle brauchte! Ja, das Ganze war auf jeden Fall ganz abscheuliches Pech, dachte Caspia, während sie Ellies seltsames Armband unter ihren Ärmel schob und ihren Koffer die nächste Stufe hochzerrte.

»Da sind wir!«, sagte Dad, als er endlich mit dem verbogenen Schlüssel, den die Vermieterin ihm zugeschickt hatte, die Wohnungstür aufschloss. »Es ist hübsch, oder?«

Caspia tauschte einen Blick mit Mom. Geblümte Tapeten! Kissen mit Blumen. Sogar die Teppiche hatten ein Blumenmuster. Die ganze Wohnung sah aus wie das Haus von Laryssas Großmutter, die allen immer ganz stolz erzählte, dass sie in ihrer Jugend ein Hippie gewesen war. Was hieß: vor hundert Jahren.

»Die Frau, die die Wohnung vermietet, hatte noch keine Gelegenheit, zu renovieren, seit ihre Mutter gestorben ist«, erklärte Dad, als er ihre Gesichter sah. »Deswegen ist es ein bisschen altmodisch.«

»Sie ist gestorben?« Caspia warf ihm einen entgeisterten Blick zu. »Aber nicht hier, oder?«

»Wir hatten Glück, dass wir so kurzfristig überhaupt noch was gefunden haben, Caspia«, antwortete Dad. »Okay, es hat ein bisschen was von Mary Poppins. Aber es könnte schlimmer sein.«

Eher von »Unsere kleine Farm«, dachte Caspia. In Brooklyn.

»Die Küche ist großartig«, sagte Mom. »Und wir können ja ein paar Kissen wegräumen. Wir werden es uns hier schon gemütlich machen.«

Am Abend verkündete sie bereits, dass sie die Lebensmittelläden in der Gegend liebte, und Dad schwärmte von all den coolen Gebäuden, die er schon gesehen hatte, und wie viel aufregender es sein würde, auf einer Baustelle in New York zu arbeiten statt in Wilmerton, wo kein Haus mehr als zwei Stockwerke hatte.

Wie konnten die zwei nur solche Verräter sein?

Drei Monate. Weit weg von allem, was sie kannte …

Die erste Nacht war schlimm. Dad hatte natürlich vergessen, darauf zu achten, dass die Wohnung eine Klimaanlage hatte, und in ihrem Zimmer war es so warm, dass Caspia das Fenster aufmachte, nur um festzustellen, dass es draußen nicht viel kühler war. Außerdem drang ein solcher Lärm von der Straße hinauf, dass sie kein Auge zubekam und den Gedanken an Schlaf schließlich aufgab.

Es gab nur eine Stelle in ihrem Zimmer, wo das Internet richtig funktionierte – auf der Fensterbank. Also hockte sie sich dorthin und textete Laryssa und Ellie in der Hoffnung, dass sie noch wach waren. Es war erst halb zehn, und schließlich war es Freitagabend. Doch die beiden schliefen entweder schon oder waren unterwegs. Laryssa verbrachte die Wochenenden oft mit ihren Cousins, und Ellie mit den »Wilmerton-Grünlingen« – die Caspias Großmutter für Kommunisten hielt, seit sie Proteste gegen das neue Kaufhaus organisierten, das auf der Wiese neben dem Fluss gebaut werden sollte.

Caspia legte das Handy zur Seite, als sie keine Antwort erhielt, und seufzte. Drei Monate! Sie schloss die Finger um den kleinen Tonfisch, den sie an einem Band um den Hals trug. Laryssa und Ellie hatten denselben. Sie hatten sie sich in einem kleinen Laden in Wilmerton gekauft, um zu feiern, dass sie schon seit sieben Jahren befreundet waren. Das war mehr als ihr halbes Leben! Drei Monate. Sollte sie einen Kalender anlegen, auf dem sie die Tage abhaken konnte? Nein, das würde sie nur daran erinnern, wie viele es noch waren. Vielleicht sollte sie ihre Sachen einfach im Koffer lassen, damit es sich so anfühlte, als würden sie bald wieder fahren. Sie seufzte erneut und musterte ihren Koffer. Nein, Caspia, sagte sie sich. Es sei denn, du willst dich als Landei aus Maine outen, das mit zerknitterten T-Shirts in Brooklyn rumläuft. Sie konnte nur hoffen, dass die Leute hier nicht so gemein zu ihr sein würden, wie sie und Ellie es zu den Touristen aus New York oft waren …

Unter dem Fenster stand eine große alte Kommode. Vielleicht sollte sie ihre Sachen da reinlegen. Sie war eigentlich ganz schön. Natürlich war sie ebenfalls mit Blumen bedeckt. Aber diese sahen aus, als hätte sie jemand selbst gemalt, jemand, der sich Mühe gegeben hatte, echte Blumen abzubilden, auch wenn Caspia keine Ahnung hatte, welche. Sie hatte nie viel auf Pflanzen geachtet, außer auf das giftige Efeu, das am Fluss wuchs.

Sie fuhr mit den Fingern über die gemalten Blüten und Blätter. Sie konnte Pinselstriche spüren. Ja, jemand hatte sie tatsächlich mit der Hand bemalt.

Die oberste Schublade ließ sich nur mit einem starken Ruck öffnen. Aber das kannte sie von den alten Kommoden ihrer Großmutter. Überraschung! Die Schublade war mit verblichenem Blumenpapier ausgelegt. Caspia bedeckte es mit ihren T-Shirts und ihrer Unterwäsche. In der zweiten war Platz für ihre Hosen und Socken. Und für all die Pullover, die sie mitgebracht hatte, weil sie an kühles Maine-Wetter gewöhnt war. Würde es so warm bleiben? Wie konnte man in dieser Hitze auch nur irgendwas zustande bringen?

Die untere Schublade klemmte noch schlimmer als die anderen, und Caspia war kurz davor, aufzugeben, als sie sich endlich bewegte. Diese war nicht leer. Ein Bündel mit Briefen lag auf dem Blumenpapier – als wäre es hinten aus der Schublade gerutscht, als sie sie aufgezogen hatte.

Briefe … das fühlte sich so altmodisch an wie die Tapete. Eine ihrer Großtanten schickte noch Geburtstagskarten in Umschlägen. Aber Caspia konnte sich an keinen anderen Brief erinnern, den sie je geöffnet oder auch nur in den Händen gehalten hatte.

Die Umschläge waren lang und schmal und aus blassgrünem Leinenpapier. Jemand hatte sie mit einem dunkelgrünen Samtband zusammengebunden und eine getrocknete Blume unter die Schleife geschoben. Sie war violettblau.

Caspia nahm das Bündel aus der Schublade. Es sah aus, als wären die Briefe jemandem sehr kostbar gewesen. Vielleicht der alten Frau, die hier gewohnt hatte. Es war wohl besser, der Vermieterin von ihnen zu erzählen. Aber die Briefe sahen so einladend aus. Als flüsterten sie: Caspia, komm schon. Lies uns! Wir haben auf dich gewartet.

Waren es Liebesbriefe? In Filmen waren sie das normalerweise.

Caspia machte ein Foto, um es an Ellie und Laryssa zu schicken.

Die violette Blume fiel ihr in den Schoß, als sie die Schleife aufband, und die Umschläge fühlten sich an, als könnten sie es kaum erwarten, die Worte, die in ihnen versteckt waren, zu offenbaren. Es waren zehn Briefe, und sie waren alle schon einmal geöffnet worden. Die Handschrift auf den Umschlägen war ausladend und altmodisch. Caspia konnte sie kaum entziffern.

Der Empfänger war immer derselbe.

 

Minna Reynolds

2101 Beekman Place #5C

Brooklyn, NY

USA

 

Das war die Adresse dieser Wohnung. Aber die Adresse des Absenders war auf jedem Brief eine andere. Von einigen Orten wusste Caspia nicht mal, wo sie waren, aber sie kannte einige der Länder: China, Ägypten, Schottland … ja, die Briefe kamen von überallher, aber nur eine Person hatte sie geschickt.

Rosalinde Reynolds

Caspia zögerte und strich über den ersten Umschlag. Was konnte es schon schaden, wenn sie einen der Briefe las? Dad konnte sie danach immer noch der Besitzerin geben.

Sie öffnete den Umschlag und zog den Brief heraus, der so sorgfältig gefaltet war, dass er genau hineinpasste. Das Papier war ebenso blassgrün wie der Umschlag, und die Handschrift darauf war auch dieselbe.

 

Liebe Schwester,

 

hier kommt mein erstes Rätsel! Damit wir zusammen reisen können, obwohl Du so weit weg bist. Wie versprochen, werden die Pflanzen, die Du erraten musst, weder sehr selten noch Dir unbekannt sein. Außerdem hat jede eine Verbindung zur menschlichen Welt.

Stell Dir vor, Minna, Papa und ich sind inzwischen richtige Berühmtheiten! Der britische Botaniker und seine blinde Tochter, die zusammen die Welt bereisen, um das grüne Königreich zu erkunden. Ich mach all die Gärtner ziemlich nervös, wenn ich mit meinen Fingern ihre Pflanzen berühre, um sie kennenzulernen! Aber ich glaube, den Pflanzen gefällt es.

Also … hier sind, wie abgemacht, fünf Hinweise, die Dir das Raten erleichtern! Aber hoffentlich nicht zu sehr!

 

Caspia starrte auf den Brief in ihrer Hand, während draußen die Nacht immer noch mit Stimmen und Autolärm gefüllt war. Es stand ein Datum oben in der rechten Ecke: 27. März 1958. Selbst ihre Mutter war da noch nicht geboren. Aber die Worte auf dem blassgrünen Papier … sie waren so lebendig. Sie klangen, als hätte jemand nach ihrer Hand gegriffen.

»Hallo, Rosalinde«, sagte sie leise. »Freut mich, dich kennenzulernen.«

Nein, sie würde diese Briefe nicht zurückgeben. Noch nicht.

Rosalindes erster Brief

27. März 1958

 

Liebe Schwester,

 

hier kommt mein erstes Rätsel! Damit wir zusammen reisen können, obwohl Du so weit weg bist. Wie versprochen, werden die Pflanzen, die Du erraten musst, weder sehr selten noch Dir unbekannt sein. Außerdem hat jede eine Verbindung zur menschlichen Welt.

Stell Dir vor, Minna, Papa und ich sind inzwischen richtige Berühmtheiten! Der britische Botaniker und seine blinde Tochter, die zusammen die Welt bereisen, um das grüne Königreich zu erkunden. Ich mach all die Gärtner ziemlich nervös, wenn ich mit meinen Fingern ihre Pflanzen berühre, um sie kennenzulernen! Aber ich glaube, den Pflanzen gefällt es.

Also … hier sind, wie abgemacht, ein paar Hinweise, die Dir das Raten erleichtern. Aber hoffentlich nicht zu sehr!

Menschen stehlen die Haut dieses Baumes schon seit Tausenden von Jahren.

Er ist das Zuhause von Weißbartlanguren und 45 verschiedenen Arten von Eidechsen.

Seine Haut dient Köchen und Bäckern gleichermaßen, UND sie kann Fieber heilen!

Hier ist mein Lieblingshinweis: Dieser Baum soll von giftigen fliegenden Schlangen beschützt werden.

»Rosalinde!«, hör ich Dich seufzen. »Das ist zu schwierig. Es gibt mehr als 73000 Baumarten auf diesem Planeten!«

 

Also gut. Noch ein letzter Hinweis:

Es ist heiß und schwül da, wo Papa und ich sind. Dieser Baum mag Kälte überhaupt nicht.

Also … welcher Mitbürger des grünen Königreichs ist es?

 

Ich schlage vor, Du nimmst Deine Sticknadel zur Hand, Minna, und das Garn, mit dem Du meine Finger schon so oft verzaubert hast. Stick ein Porträt der Pflanze, die mein Rätsel beschreibt, und schick es mir! Sollte es meinen Fingern bekannt vorkommen, dann schicke ich Dir das nächste Rätsel.

 

Aber jetzt sende ich Dir fürs Erste eine feste Umarmung!

 

Von Deiner kleinen Schwester,

Rosalinde

2Der Gewürzladen

Es ist eigentlich gar nicht so schlecht hier«, sagte Caspia beim Frühstück.

Ihre Eltern wechselten einen überraschten Blick. Der Hausmeister hatte am Morgen verkündet, dass der Aufzug endlich repariert worden war. Aber Mom war trotzdem darin stecken geblieben, nachdem sie Croissants in der Bäckerei nebenan gekauft hatte. Daher war sie heute etwas weniger begeistert von ihrem Brooklyn-Abenteuer.

»Weiß einer von euch, welchem Baum Menschen die Haut stehlen?«, fragte Caspia.

Noch ein verwirrter Blick.

»Kork ist aus Baumrinde … glaub ich«, sagte Dad. »Aber keine Ahnung, von welchem Baum.«

»Diese Rinde kann man auch zum Kochen und Backen benutzen.« Caspia sah Mom fragend an, während sie sich das Glas mit Orangensaft füllte. Wuchsen Orangen eigentlich an Büschen oder an Bäumen?

Sie hatte das Foto von den Briefen immer noch nicht an Ellie und Laryssa geschickt. Sie hatte auch eins von dem ersten Rätsel gemacht, aber was, wenn die beiden es seltsam fanden, dass sie die uralten Briefe eines blinden Mädchens an seine Schwester faszinierend fand? Ellie würde es vermutlich verstehen, aber Laryssa?

Mom hatte den Zeitplan für ihre Kochkurse ausgedruckt und musterte ihn mit gerunzelter Stirn. »Ist das mit dem Baum eine Hausaufgabe, die ihr über den Sommer aufbekommen habt?«

»Nein. Nur ein Rätsel, das jemand gepostet hat«, antwortete Caspia ausweichend. Das war nicht wirklich gelogen, oder? Rosalinde hatte es eben nur auf sehr altmodische Art gepostet.

Sie hatte kein Glück gehabt, als sie die gestohlene Baumhaut gegoogelt hatte. Aber vielleicht war der Hinweis mit den Weißbartlanguren und den Eidechsen hilfreicher? Kombiniert mit dem über die gestohlene Rinde. Da … ja! Das könnte die Antwort sein.

»Zimt!«, murmelte Caspia. »Ich hatte keine Ahnung, dass Zimt eigentlich Baumrinde ist.«

»Kein Telefon am Frühstückstisch!«, sagte Mom. »Die Regel gilt auch in Brooklyn.«

»Ich muss los.« Dad stand auf und gab Mom zum Abschied einen Kuss. »Sorry, ich will nicht am ersten Tag zu spät kommen. Aber es gefällt mir, beim Frühstück über Bäume zu reden. Natürlich! Schließlich kann man Boote aus ihnen bauen.«

Dad liebte Boote. Zu Hause baute er abends oft stundenlang Modellschiffe, und die Papierschiffe, die er Caspia, als sie klein war, für die Badewanne gefaltet hatte, waren immer sehr gut geschwommen. Vielleicht würde es ja irgendwann doch noch was mit ihrer Reise zum Amazonas werden. Auch wenn Dad sich diesen Sommer damit zufriedengab, von einem Baugerüst in Brooklyn aufs Wasser zu starren.

»Ich glaub, ich war etwas übereifrig mit dem Buchen meiner Kochkurse«, murmelte Mom. »Ich hab unterschätzt, wie lange es dauert, überall hinzukommen. Die Veranstaltungsorte sind über ganz Brooklyn verteilt!«

Caspia war sehr versucht, ihr von den Briefen zu erzählen. Aber sie machte sich immer noch Sorgen, dass Mom sie sofort der Vermieterin geben würde. Und sie wollte wirklich gern wissen, ob Minna das Rätsel gelöst hatte und Zimt die richtige Antwort war.

»Na ja.« Mom legte ihre Liste zur Seite. »Der erste Kurs fängt erst morgen an. Vielleicht denk ich mir heute ein paar neue Rezepte aus.«

Sie hatte sich in den letzten Jahren unzählige Rezepte ausgedacht und sie mit mehr oder weniger großem Erfolg an Caspia und Dad ausprobiert. Aber Caspias Großmutter machte sich gern darüber lustig, dass ihre Tochter davon träumte, ein Kochbuch aus ihnen zu machen. »Ich hab auch mein Leben lang gut gekocht«, sagte sie immer. »Aber das heißt nicht, dass ich mich für eine Buchautorin halte.« Für Moms Mom gab es nur drei Arten von Leuten, die vernünftige Berufe hatten: Lehrer, Banker und Anwälte. Was auf jeden Fall Dad ausschloss, der nicht mal aufs College gegangen war, und Mom ebenfalls, weil sie das College abgebrochen hatte, um eine Tochter namens Caspia zu bekommen. Nein, Kochbücher schreiben war nichts, was Grandma als richtige Arbeit anerkannte. Aber Grandma war nicht hier, und vielleicht würde Mom sich diesmal wirklich hinsetzen und an ihrem Traum arbeiten.

Als ihre Mutter in der Küche verschwand, nahm Caspia den Rest ihres Frühstücks mit auf ihr Zimmer. Die Kommode war ein guter Beobachtungsposten, also stellte Caspia ihren Teller und ihr Glas auf das dunkle Holz, setzte sich im Schneidersitz daneben und blickte hinunter in die Sackgasse, in der ihr Apartmenthaus stand. Zur Rechten hatte jemand einen Garten an die Mauer gemalt, die die Häuser von den Schienen trennte, die dahinter lagen. Zur Linken öffnete die kleine Straße sich bald auf die Flatbush Avenue, durch die Tag und Nacht Scharen von Fußgängern, Hunden, Fahrrädern und Autos strömten. So viele Menschen, so viele Fenster, so viele Geschichten … wie die in Rosalindes Briefen.

Seit Caspia von ihr und Minna wusste, sah die Blumentapete eigentlich ganz nett aus. Obwohl sie die Blüten darauf ebenso wenig benennen konnte wie die auf der Kommode. Es waren keine Rosen, die kannte sie aus dem Garten ihrer Großeltern. Grandma liebte Rosen. Es waren die einzigen Blumen, die dort erlaubt waren.

Ein Vogel flog am Fenster vorbei, und direkt vor der Scheibe spann eine Spinne ihr Netz. Über den Dächern trieben Wolken am Himmel, die aussahen wie eine Herde Schafe, die auf einer endlosen blauen Wiese grasten. Vielleicht war es doch nicht so schlecht, für eine Weile im fünften Stock zu wohnen.

War es wirklich ein Zimtbaum, über den Rosalinde geschrieben hatte? Caspia kletterte von der Kommode und holte den ersten Brief noch einmal aus der Schublade. Wenn man Rosalindes Worte las, vergaß man, dass sie blind war. Sie hielten die ganze Welt in sich. Caspia las die Adresse auf dem Umschlag. Anuradhapura. Ceylon. War das nicht das heutige Sri Lanka? Ja, das passte. Zimtbäume wuchsen in Sri Lanka auf riesigen Plantagen.

Wenn Minna zu derselben Schlussfolgerung gekommen war …

Caspia verglich die Fotos, die ihr Handy ihr von Zimtbäumen zeigte, mit den Pflanzen, die auf die Kommode gemalt waren. Da! Ein Ast auf der ersten Schublade sah auf jeden Fall aus wie ein Zimtbaumast. Also war Minna auf dieselbe Lösung gekommen, und sie hatte die Antwort auf Rosalindes Rätsel nicht nur gestickt, sondern auch auf ihre Kommode gemalt. Ja, so musste es gewesen sein. Caspia schloss die Augen und stellte sich vor, das Geschnatter von Weißbartlanguren zu hören. Für einen Moment malte sie sich aus, dass die großen, alten Schubladen sich mit Wäldern und Dschungeln füllten und sie hineinklettern und Rosalinde dort finden würde. Und deine Socken und Unterwäsche, Caspia!

Sie stieg erneut auf die Kommode und sah hinunter in den von Menschen gebauten Dschungel. Ping! Ein riesiges Fragezeichen erschien auf ihrem Handy.

Gestohlene Baumhaut? Was treibst du? Ich dachte, du bist in Brooklyn?

Laryssa. Natürlich. Sie hatte die Fotos von dem Briefstapel und Rosalindes erstem Rätsel gesehen. Caspia hatte sie doch noch abgeschickt. Sie vermisste Ellie und Laryssa, obwohl die manchmal wirklich anstrengend sein konnte. Caspia hatte den Verdacht, dass Laryssa es manchmal sogar genoss, anstrengend zu sein.

Nein, ich bin in Anuradhapura, schrieb sie zurück. Undich glaube, die Antwort ist: Zimtbaum.

Du bist in einer der aufregendsten Städte der Welt!, antwortete Laryssa. Wen interessieren da Baumrätsel? Schick uns Fotos von den Läden und den Leuten!

Mir gefällt der Hinweis mit den fliegenden Schlangen. Das war Ellie. Sie dachte oft ähnlich wie Caspia.

Vielleicht hat mein Armband dich dazu gebracht, die Schublade zu öffnen, schrieb sie. Vielleicht hat es sogar die Briefe herbeigezaubert.

Na ja, zugegeben … manchmal glaubte Ellie an die seltsamsten Dinge. Und sie hielt entschieden zu viel von Amuletten und Armbändern. Aber niemand war perfekt.

Caspia legte ihr Handy zur Seite und blickte erneut aus dem Fenster. In Brooklyn gab es sicher keine Zimtbäume. Aber man konnte bestimmt irgendwo Zimtpulver kaufen. Und vielleicht konnte Mom dann ein neues Rezept damit erfinden?

Sie nahm die Briefe aus der Schublade und legte sie nebeneinander, bis sie sich wie eine blassgrüne Straße über den Teppich zogen. Wenn sie jede Woche einen öffnete, würden sie mehr als zwei Monate halten und ihr das Gefühl geben, mit Rosalinde um die Welt zu reisen und Abenteuer an fernen Orten zu erleben, statt nur in Brooklyn festzusitzen. Aber bloß ein Brief pro Woche … Caspia konnte sich schon jetzt kaum davon abhalten, den zweiten zu öffnen! Vielleicht war ein Brief alle drei Tage realistischer?

Ja.