Das Haus auf dem Wasser - Emuna Elon - E-Book
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Das Haus auf dem Wasser E-Book

Emuna Elon

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Beschreibung

»Dieses Buch ist ein Wunder - berührend, faszinierend und raffiniert!« Amos Oz.

Emuna Elon erzählt die bewegende Geschichte des israelischen Schriftstellers Joel Bloom, der während einer Lesereise in Amsterdam in einem Holocaust-Museum plötzlich ein altes Familienfoto entdeckt: Er erkennt seinen Vater, seine Schwester und seine Mutter. In ihrem Armen hält sie ein Baby, das ihm jedoch kein bisschen ähnlich sieht. Joel begibt sich sofort auf eine Spurensuche zwischen Amsterdam und Tel Aviv. Je tiefer er in die Familienvergangenheit eintaucht, desto dringlicher wird die Frage, die ihn schon lange verfolgt: Wer bin ich?

Ein mitreißender Identitätsroman über die Untrennbarkeit von Vergangenheit und Gegenwart - und die unerschütterliche Liebe zwischen Mutter und Sohn.

Emuna Elon gehört zweifellos zu den aufregendsten literarischen Stimmen Israels.

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Seitenzahl: 449

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Über das Buch

„Emuna Elon verwischt die Grenzen zwischen Geschichte und Fiktion und beeindruckt durch ihr tiefes Einfühlungsvermögen.“ Kirkus Review    

Trotz des Versprechens, niemals einen Fuß in diese Stadt zu setzen, befindet sich der berühmte israelische Schriftsteller Joel Blum nun mit seiner Frau auf Lesereise in Amsterdam. Zu Besuch im Jüdischen Museum beginnt er plötzlich zu ahnen, warum seine geliebte, inzwischen verstorbene Mutter, ihn von hier fernhalten wollte. Unter den schwarzweißen Archivfotos befindet sich ein ihm unbekanntes Familienbild: Joel erkennt seinen Vater, seine große Schwester Nettie und seine Mutter – mit einem Baby auf dem Arm, das ihm kein bisschen ähnlich sieht. Zurück in Tel Aviv mahnt Nettie Joel inständig, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Doch der Schriftsteller findet keine Ruhe mehr, fährt erneut nach Amsterdam und sucht in den Untiefen der jüdischen Stadtgeschichte nach Antworten. Je länger er bleibt, desto mehr Bilder werden an die Oberfläche des Kanalwassers gespült und verdichtet sich die Handlung seines entstehenden Romans – über zwei befreundete jüdische Familien, über Sonia, die ums Überleben und um ihre Kinder kämpft ... Ein bewegendes Stück Literatur über Liebe und Freundschaft, Hoffnung und Verrat, in dem die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen.

Über Emuna Elon

Emuna Elon ist eine international gefeierte Schriftstellerin, Journalistin und Frauenaktivistin. Sie wurde 1955 in einer Familie prominenter Rabbiner und Gelehrter geboren und wuchs in Jerusalem und New York auf. Sie unterrichtet Judentum, Chassidismus und hebräische Literatur. Ihr erster Roman war Finalist des National Jewish Book Award.

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Emuna Elon

Das Haus auf dem Wasser

Roman

Aus dem Hebräischen von Barbara Linner

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Erstes Notizheft

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Zweites Notizheft

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Drittes Notizheft

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Viertes Notizheft

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Danksagung

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne...

Erstes Notizheft

1

Nacheinander verschwinden die Menschen in der Maschine nach Amsterdam, einer hinter dem anderen. Auch Joel nähert sich dem Einstieg, doch plötzlich stockt der Strom der Passagiere wegen einer Frau in einer orangefarbenen Windjacke, die wie festgewachsen in der Tür der Boeing 737 stehen geblieben ist und sich hineinzugehen weigert. Joel ist in Gedanken schon bei dem neuen Roman, den er zu schreiben beschlossen hat, und er denkt über diese Frau nach, fragt sich, wer von seinen neuen Charakteren wohl fähig wäre, sich die nackte, fundamentale Angst einzugestehen, die einen jeden Sterblichen befällt, der diese fliegende Falle betritt, die sich Flugzeug nennt. Wer würde sich anbieten, mit dem eigenen Körper die »Alles in Ordnung«-Fassade zu stören und die geheiligte Ordnung zu entweihen, an die sich die Menschen klammern, nur, um nicht zugeben zu müssen, dass in Wahrheit alles Chaos ist?

Von seinem Platz aus in der Warteschlange sieht Joel nur den Rücken der Frau, doch auch durch das orangefarbene Plastik ihrer Jacke hindurch ist erkennbar, wie verkrampft er ist, und über die Schultern der vor ihm Stehenden hinweg nimmt er die Schweißtropfen wahr, die mit einem Schlag in ihrem Nacken und um ihre Ohren herum ausbrechen. Die Schlange beginnt nervös zu brodeln, die Leute spähen besorgt auf die Bordkarten mit der Nummer so und so in ihren Händen, halten die rechteckigen Papierabschnitte wie eine Versicherung umklammert, dass das Flugzeug am Ende abheben wird. Da taucht von irgendwoher ein Mann in glanzvoller Uniform mit grauem Haar und einer Aura von Autorität auf, stellt sich als der leitende Flugbegleiter vor und legt väterlich einen Arm um die Schultern der paralysierten Passagierin. Während er sie behutsam zur Seite nimmt, füllt sich das Flugzeug weiter, und als Joel an ihnen vorbeigeht, hört er ihn zu ihr sagen: Glauben Sie mir, meine Liebe, ich habe auf jedem Flug Passagiere, die Angst haben, das ist völlig in Ordnung. Ich verspreche, dass ich zu Ihnen kommen und Ihre Hand halten werde, wenn das Flugzeug startet!

Wenn er wegen seiner Bücher ins Ausland eingeladen wird, fliegen Bat-Ami und er normalerweise in der Businessclass, wodurch ihm die Berührung mit der Menge der Passagiere und ihrer Blicke erspart bleibt. Da er dieses Mal jedoch allein fliegt und vor allem, weil er das Ticket aus eigener Tasche bezahlt, hat er sich entschlossen, in der Touristenklasse zu reisen, so dass ihm momentan nichts anderes übrig bleibt, als sich so diskret wie möglich in seinen Sitz hineinzuschleusen. Schau nur geradeaus und nach unten, mahnt er sich, nur geradeaus und nach unten, hebe den Blick nicht nach oben und nicht zur Seite, damit du nicht auf den Blick von jemandem stößt, der dich erkennen könnte. Und ganz besonders nimm dich in Acht vor Leuten, die dich bereits erkannt haben und deine Aufmerksamkeit zu erhaschen suchen sowie vor denen, die du zueinander sagen hörst, da ist ja Joel Blum. Oder, das ist dieser Schriftsteller. Oder, da ist dieser berühmte Typ mit der Schirmmütze, jetzt sag mir, wie heißt er gleich noch mal?

Erst eine Woche ist vergangen seit seiner ersten Reise nach Amsterdam und dem Empfang, den sein holländischer Verleger ihm zu Ehren unter Teilnahme lokaler Größen aus dem Literatur- und Medienbereich veranstaltete. Erst eine Woche, seit Bat-Ami und er zwischen der hochgewachsenen Menschenmenge in der Stadt der Fahrräder und Grachten durch Sträßchen, Plätze, Paläste und Museen gewandert sind. Am Abend waren sie erschlagen und hungrig in dem schönen Haus des Verlegers in der Apollolaan im alten Südteil Amsterdams eingetroffen, waren jedoch gezwungen gewesen, sich mit einer Mahlzeit aus Karotten- und Gurkenstücken zu begnügen. Das Angebot auf den Tischen war zwar reichhaltig und vielfältig, doch war auch hier, wie bei vielen festlichen Veranstaltungen ihm zu Ehren in aller Welt, ersichtlich, dass die Gastgeber nicht auf die Idee gekommen waren, dass es in diesen aufgeklärten Zeiten noch zivilisierte Menschen gab, die sich an die uralten jüdischen koscheren Speisevorschriften hielten.

Als sich der zweite Teil der Veranstaltung näherte, wurde der israelische Gast gebeten, sich auf einen gedrechselten Stuhl in der Mitte des holländischen Wohnzimmers nahe des dekorativen holländischen Büfetts zu setzen, auf dessen Regalen das weiße, blau verzierte Delfter Porzellan arrangiert war, mit Blick auf das große, breite holländische Fenster, das sich auf einen mit glitzernden Reflexionen übersäten Kanal hin öffnete. Seine Zuhörer platzierten sich ihm gegenüber in Erwartung seiner Antwort auf die Frage des rotwangigen Gastgebers nach dem Unterschied zwischen den israelischen Schriftstellern, die als Schriftsteller der Gründungsgeneration des Staates Israel eingestuft wurden, und denen, die – wie Herr Blum, wobei ich hoffe, dass es von Ihrer Seite aus in Ordnung ist, wenn wir Sie hier einfach Joel nennen – als Schriftsteller der neuen israelischen Welle bekannt waren.

Die Vergangenheit lässt sich nicht verbergen, trug Joel in fließendem Englisch die Antwort vor, die er immer auf diese Frage gab, während er die Beine übereinanderschlug und einen freundlichen Blick auf sein Publikum richtete. Es ist, meiner Ansicht nach, unmöglich, israelische Literatur ohne einen direkten oder indirekten Bezug zu dem archäologischen Tel zu schreiben, auf dem der Staat Israel gedeiht und dessen Gestade von seinen alten wie neuen Wellen gleichermaßen beleckt werden.

Aufmerksame Gesichter nickten ihm verstehend, womöglich sogar empathisch zu. Aufmerksame Gesichter nicken ihm immer verstehend oder gar empathisch zu.

Trotzdem, betonte er mit dem dramatischen Crescendo, zu dem seine Stimme stets an diesem Punkt anhebt, sind zeitgenössische israelische Schriftsteller zuallererst israelische Schriftsteller dieser Zeit. Ich selbst hoffe, dass mein Schreiben nicht im Sumpf der Vergangenheit gründet, sondern meine Seele und die Seelen meiner Leser zu dem trägt, was gegenwärtig ist, und was in Zukunft sein wird.

Das Spiel ging weiter. Die Holländer fragten, so, wie ihn die Leute überall fragten, ob die Charaktere, die seine Bücher bevölkerten, typisch israelische Charaktere seien. Und er antwortete, wie immer und überall, dass seine Charaktere in seinen Augen universal seien.

Einen Moment lang schwankte er, ob er von seiner Gewohnheit abweichen und, gerade diesem Publikum, erzählen sollte, wie hart er beim Schreiben arbeitete, um jede Figur exakt so auszuführen, dass sie Jedermann verkörperte. In jeder Bewegung all die Bewegungen einzufangen, die jemals waren und sein würden. Den Kern der Worte zu formulieren, den Kern der Dinge selbst.

Ähnlich den Charakteren eines jeden Schriftstellers, sagte er, wie er immer sagte, leben und agieren auch meine Figuren in einer Realität, die ich aus der Nähe kenne. Als Schriftsteller, der in der israelischen Wirklichkeit lebt, ist es nur natürlich, dass auch meine Charaktere mit dieser Wirklichkeit verbunden sind. Doch die Geschichten, die ich über diese Figuren erzähle, erzählen vom Menschen, wo immer er atmet, wo immer er liebt, wonach immer er sich sehnt.

Die roten Wangen des Verlegers röteten sich noch mehr, als er den Gästen aus einer Buchbesprechung der New York Times vorlas: »Es nimmt nicht Wunder, dass Joel Blums Bücher bereits in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt und ihm die renommiertesten literarischen Preise verliehen wurden. Joel Blum ist ein Zauberer, der mit einem Schwung seines Zauberstabs jede menschliche Anekdote in das Kernstück der persönlichen Geschichte eines jeden Lesers verwandelt.«

Und die Farbe der holländischen Wangen vertiefte sich zu purpurrot, als er noch weiterlas: »Man nimmt einen Roman von Joel Blum zur Hand und kann versichert sein, dass er einem sein tiefstgehütetes Geheimnis enthüllen wird: Das Geheimnis, von dessen Existenz man nicht einmal gewusst hat.«

Noch einige bekannte, unumgängliche Fragen – und Joel vermutete bereits, dass sich der Abend seinem gewünschten Ende näherte.

Doch da wurde ihm eine unerwartete Frage gestellt, von einem Mann, der ihm zuvor als ein Lokaljournalist namens Neumark oder vielleicht Neuberg vorgestellt worden war.

Wenn ich mich nicht irre, rief ihm der Fragesteller von seinem Sitz am rechten Rand des Stuhlkreises aus zu: Wenn ich mich nicht irre – Herr Blum, Joel –, sind Sie hier, in Amsterdam, geboren?

Verblüffte Stille machte sich im Raum breit. Auch Joel war schockiert, denn seines Wissens nach tauchte diese Tatsache in keiner gedruckten oder virtuellen Informationsquelle auf, die sich mit ihm und seiner Lebensgeschichte befasste. Er versuchte, sich an den Namen dieses Journalisten zu erinnern. Neustadt? Neumann? War er Jude?

Währenddessen hörte er sich selbst ruhig antworten: Diese Tatsache ist richtig, das heißt bürokratisch gesehen wurde ich tatsächlich in Amsterdam geboren. Aber meine Familie ist nach Israel emigriert, als ich noch ein Baby war, und daher habe ich mich immer als gebürtiger Israeli betrachtet.

Anschließend gelang es ihm, das Gespräch von seiner persönlichen auf die kollektive israelische Geschichte zurückzulenken und noch ein paar Worte über die hebräische Literatur im Wandel der Zeit zu äußern. Doch das Faktum seiner holländischen Herkunft schien sich im Zentrum des Kreises eingenistet zu haben, keiner der Anwesenden konnte es mehr übergehen. Joel nahm an, dass sie weitere biographische Einzelheiten von ihm erwarteten, die über das hinausgingen, was ihnen dieser Neuhaus oder Neufeld bereits geliefert hatte – dass der berühmte israelische Schriftsteller Sohn einer alteingesessenen jüdischen Amsterdamer Familie war, die infolge der Ereignisse des Zweiten Weltkriegs entwurzelt worden war.

Sie hätten sich nicht vorstellen können, dass auch der israelische Schriftsteller selbst keine weiteren Details dazu kannte.

2

Er fliegt mehrfach im Jahr in Länder, in denen seine Bücher in den verschiedenen Sprachen veröffentlicht werden. Bis vergangene Woche jedoch ist er nie nach Amsterdam geflogen, weder zu Ehren der ersten Übersetzung eines seiner Bücher ins Holländische, noch anlässlich der zweiten Übersetzung. Als bekannt wurde, dass Anfang Herbst sein dritter Roman in Holland publiziert würde, drängte Zvika, sein literarischer Agent, darauf, dass Joel dieses Mal hinfuhr und den Verkauf des Buches beförderte. Schick mich, wohin du möchtest, hatte Joel zu ihm gesagt, nur nicht nach Amsterdam. Ich kann nicht nach Amsterdam reisen. Doch sein Agent belagerte ihn weiter: Du kannst einen Verlag nicht so ignorieren, du kannst dein Leserpublikum unmöglich so missachten. Und als Joel Bat-Ami davon erzählte, entschied sie, dass er sich nicht weigern könnte. Wir fahren, sagte sie entschlossen. Wir bleiben nur kurz dort.

Er versuchte zu protestieren. Meine Mutter, sagte er, hat verlangt, dass ich nie einen Fuß nach Amsterdam setze.

Deine Mutter ist tot, Joel.

Die Worte trafen ihn, als wäre es gerade erst passiert.

Dabei hatte ihn seine Mutter schon lange, bevor sie endgültig aus dieser Welt geschieden war, verlassen. Ganz langsam verabschiedete sich ihr Verstand, dann ihre Seele und schließlich ihr Körper. Schritt für Schritt ließ sie ihren Halt in der Realität fallen. Trennte die Nähte, die ihn mit ihr verbanden, auf. Eine Naht und noch eine, ein Faden und noch einer, bis sie sich völlig von ihm gelöst hatte und zur Gänze gegangen war.

So, wie sie ihn, als er ein Kind war, Schwimmen gelehrt hatte. Sie stand im seichten Becken des städtischen Schwimmbads und hielt ihn über Wasser, ihre kräftigen Hände stützten seinen Bauch und seine Brust von unten, während sich seine dünnen Arme und Beine gemäß ihren Anweisungen mit Schwimmbewegungen streckten und beugten. Und dann zog sie, Millimeter für Millimeter, so allmählich, dass er es nicht einmal spürte, ihre großen Hände unter seinem Körper weg. Stückchen für Stückchen, ein Stückchen und noch eins, zog sie sie weg, bis sie ihre Arme vor der Brust verschränkte und nur neben ihm stand, zusah, ihn aber nicht berührte. Beim ersten Mal, als er bemerkte, dass sie ihn nicht mehr hielt, dass er im Prinzip aus eigener Kraft schwamm, verkrampfte er sich dermaßen, dass er das Gleichgewicht verlor, zappelnd um sich zu treten begann und unterging, eine gewaltige Wassermenge schluckte und meinte, er würde gleich ertrinken.

Danach gewöhnte er sich daran.

Die erste Reise zu seiner Geburtsstadt verbrachte er hauptsächlich mit Qualen der Reue darüber, dass er überhaupt zugestimmt hatte zu fahren. Ich hätte dabeibleiben müssen, jammerte er Bat-Ami im Taxi auf der Fahrt von Jerusalem zum Flughafen wiederholt vor. Worum hat mich meine Mutter denn schon gebeten? Um so wenig hat sie gebeten, ich hätte ihren Wunsch respektieren sollen.

Wovor hatte sie solche Angst?, fragte Bat-Ami.

Was meinst du damit?

Warum wollte sie nicht, dass du nach Amsterdam fährst? Was hat sie befürchtet, das du dort finden würdest?

Nichts. Was könnte nach so vielen Jahren dort noch sein? Sie wollte einfach nicht, dass Nettie oder ich irgendeine Verbindung mit dem Ort hätten, an dem sie meinen Vater, ihre Eltern und Geschwister verloren hat und das Leben, das sie hätte haben können.

An der Ben-Schemesch-Kreuzung fiel ihm ein, dass er seine Gebetsriemen zu Hause vergessen hatte, und er beschloss auf der Stelle, alles zu streichen und nicht zu fliegen. Dass ich die Tefillin vergessen habe, ist ein eindeutiges Zeichen, erklärte er Bat-Ami aufgeregt, fast schreiend und befahl dem Taxifahrer, eine Kehrtwende zu machen und nach Jerusalem zurückzufahren. Die Tefillin eines Juden sind seine Selbstidentität, und Tatsache ist, dass es mir, obwohl ich so viel reise, noch nie passiert ist, dass ich sie vergessen habe.

Nur mit äußerster Mühe gelang es Bat-Ami, ihn zu beruhigen. Wir sind hier nicht in einer Geschichte von Agnon, stellte sie fest, und bislang hast du überhaupt keine Selbstidentität verloren. Ihren exakten Instruktionen nach setzte der Fahrer die Fahrt in Richtung Flughafen fort, rief unterdessen die Taxizentrale an und beorderte einen anderen Jerusalemer Fahrer, zum Haus des Schriftstellers zu fahren, sich von Bat-Amis Schwester, die im Erdgeschoss wohnte, die Wohnungsschlüssel zu besorgen, die Tefillin aus der Wohnung zu holen und sie schnellstmöglich zum Ben Gurion Flughafen zu bringen. Bat-Ami blieb am Telefon, als sie und Joel den Flughafen erreichten, als sie die Koffer in die Terminalhalle rollten und sogar während der Sicherheitskontrolle und des Check-ins. Sie geleitete den Tefillinkurier präzise durch alle einzelnen Stadien seiner komplexen Mission, und als sie vollbracht war und der Fahrer sein Eintreffen am Haupteingang mit dem bestickten Samttäschchen meldete, eilte sie, um ihn in Empfang zu nehmen, und bezahlte ihn großzügig, während Joel mit revoltierendem Magen in der Abflughalle auf sie wartete.

Seine geordneten Erinnerungen beginnen im Kindergarten in Netanja. Als er heranwuchs und fragte, was vor dem Kindergarten gewesen sei, pflegte seine Mutter in eine andere Richtung zu schauen und vorzugeben, in irgendeine lebenswichtige Beschäftigung vertieft zu sein, die keinen Aufschub duldete, und laut und deutlich zu verkünden: Was war, das war, diese Wasser sind schon vor langer Zeit den Bach hinuntergeflossen.

Mehr als einmal sagte er, er wolle trotzdem etwas über den Ort wissen, an dem er geboren worden sei, doch seine Mutter erwiderte: Wer als Säugling nach Israel eingewandert ist, gilt als geborener Israeli. Du bist quasi hier in diesem Land geboren, Joel.

Seine große Schwester, Nettie, erklärte ihm, so sei das mit den Holländern. Holländer reden nicht über das, worüber man nicht reden muss, und schon gar nicht über Wasser, das längst den Bach hinuntergeflossen ist. Überhaupt, fügte sie mit ihrer bis heute für sie charakteristischen Ernsthaftigkeit hinzu, es ist nicht einfach, Holländer zu sein.

Im Bemühen, den Abend im Haus des Verlegers in angenehmer Atmosphäre ausklingen zu lassen, entschied sich Joel dafür, am Schluss, als eine Art Zugabe, in einem anderen, leichteren Ton eine der Geschichten zu erzählen, mit denen er häufig seine Vorträge im Ausland würzte.

Gott ruft die Führer der drei großen Religionen zu sich, erzählte er, und verkündet ihnen, dass er in achtundvierzig Stunden eine große und schreckliche Flut über die Welt bringen wird. Die drei Führer eilen, um ihre Leute zu versammeln – einer in der Kirche, einer in der Moschee und einer in der Synagoge –, und bereiten sie auf das Bevorstehende vor. Der Bischof ruft seine Herde dazu auf, vor dem Tod die letzte Beichte abzulegen, und ähnliche Dinge sagt auch der Imam zur Menge der muslimischen Gläubigen. Der Rabbiner aber betritt das Podium im Zentrum der Synagoge, schlägt mit der flachen Hand auf das Pult und verkündet: Juden, wir haben achtundvierzig Stunden, um zu lernen, wie man unter Wasser lebt!

Du weißt schon, dass das ein antisemitischer Witz ist, murmelte Bat-Ami später in der Nacht, als sie bereits im Hotelzimmerbett eingekuschelt lag.

Sie schlief ein, kaum dass sie den Satz beendet hatte. Auch Joel war müde, so todmüde, als wäre er seit Generationen die Kanäle Amsterdams entlanggewandert.

3

Und nun ist nur eine Woche seit jener Nacht vergangen, und er fliegt wieder nach Amsterdam. Er reist dorthin, um an einem neuen Roman zu arbeiten, nachdem er in den wenigen Tagen, die seit seiner vorigen Reise vergangen sind, erkannt hat, worüber er schreiben muss.

Man kann schwerlich sagen, dass er nicht voller Befürchtungen vor dem langen Aufenthalt in seinem fremden Heimatland ist.

Man kann schwerlich sagen, dass er nicht an seiner Fähigkeit zweifelt, das nötige Material zu sammeln, seine Hefte mit Notizen und Ideen zu füllen und danach die Kraft zu finden, nach Hause zurückzukehren und all das in ein Buch zu verwandeln.

Doch etwas in ihm sagt ihm, sollte ihm das alles gelingen, würde dieses Buch der Roman seines Lebens werden – nur um diesen Roman zu schreiben, sei er überhaupt ein Schriftsteller geworden.

Diesmal fliegt Joel allein nach Amsterdam und alles, was er dort tun oder nicht tun wird, hängt nur von ihm ab. Doch bei seinem ersten Besuch der verbotenen Stadt war er so von Angst besetzt gewesen, weil er den letzten Willen seiner Mutter entweihte, dass ihn Bat-Ami wie ein verlorenes Kind an die Hand genommen und ihn an den Ort geführt hatte, den sie sich ausgesucht hatte.

Sie waren auf Kosten der Gastgeber im Hotel Paris untergebracht, eines der zahlreichen kleinen, gepflegten Hotels, die im Vergnügungsviertel um den Leidseplein herum verstreut liegen, und Bat-Ami behauptete, es sei eines der bezauberndsten Hotels, in denen sie je logiert hätten. Von dem Augenblick an, in dem sie am Flughafen Schiphol gelandet waren, hatte sie kein Ende gefunden, enthusiastisch die malerische Architektur Amsterdams zu bewundern, den Zauber der Kanäle, Brücken, Alleen und Gebäude, die mannigfaltigen Farben und Formen und natürlich die hochgewachsenen Einwohner mit den freundlichen Gesichtern, die auf ihren Fahrrädern dahinströmten.

Er begriff nicht, wie es überhaupt möglich war, sich in dieser merkwürdigen Stadt zurechtzufinden, die fast zur Gänze in einem Halbkreis lag, der von den vier Hauptkanälen umrissen wurde.

Wenn nun, beispielsweise, die Keizersgracht am westlichen Ende von Amsterdam beginnt und nach einem Halbkreis am östlichen Ende endet, dann weiß man zwar, wenn man ein Schild neben sich sieht, auf dem »Keizersgracht« steht, dass man sich am Ufer dieses Kanals befindet, doch man kann nicht erahnen, ob man im Stadtzentrum, im Westen oder im Osten ist.

Trotzdem lernte Bat-Ami sofort mühelos, sich im Gewirr der Streifen trockenen Landes zwischen all dem Wasser zurechtzufinden. Sie trieb ihn energischen Schritts und sicher durch dieses Labyrinth, während sie unentwegt den Geist der Freiheit pries, der über allem weilte, und sich sogar an rein touristischen Attraktionen wie dem schwimmenden Blumenmarkt begeisterte, ebenso wie an Absonderlichkeiten wie den nahezu lebensgefährlich steilen holländischen Treppen.

Sie bauen ihre Treppen in einem so extremen Steigungswinkel zunächst einmal, um teuren festen Grund zu sparen, erklärte sie ihm, und zweitens, um sich im Falle einer Überflutung in die Höhe zu retten. Und sie erzählte ihm auch mit leuchtenden Augen, dass die Holländer Möbel und andere große Gegenstände, da die Treppen so schmal und steil waren, durch die Fenster hinein- und hinausbeförderten, normalerweise per Kran.

Auch der Brauch der Holländer, den er von Grund auf abwegig fand, ihre großen Fenster allen Blicken auszusetzen und ihr Privatleben nicht hinter Fensterläden oder Vorhängen zu verbergen, eroberte ihr Herz. Ihn erschütterte diese blanke Ausgesetztheit zutiefst, doch die glückliche Bat-Ami hörte nicht auf, zu sagen: Sieh mal, schau dir das an, und schau dir jenes an, und hauptsächlich: Sieh mal, wie sich nichts hier in Amsterdam verändert hat seit Hollands goldenem Zeitalter. Was ist uns Juden seither nicht alles widerfahren, während hier, die ganze lange Zeit über – die gleichen Gebäude, die gleichen Straßen, das gleiche Wasser und die gleichen Menschen waren. Schau dir zum Beispiel diesen Typ an, flüsterte sie ihm beim Betreten des Hotel Paris zu, als der alte, Krawatte tragende Rezeptionist ihnen den Zimmerschlüssel über die Theke reichte, die mit holländischen Holzschuhen, Miniaturwindmühlen und Bildern von Segelschiffen überfrachtet war. Ich wette mit dir, dass er sich seit der Zeit Philips des Zweiten nicht von dieser Theke weggerührt hat.

Wie es scheint, ist Bat-Ami bei ihren Besuchen im Ausland leichter zumute als in Israel. Wenn sie in Israel ist, lasten sämtliche Bürden der Familie, des Hauses, des Staates Israel und der menschlichen Spezies auf ihren Schultern. In dem Moment jedoch, in dem sich die Räder des Flugzeugs vom Rollfeld des Ben Gurion Flughafens lösen, löst sich Bat-Ami aus ihrer permanenten Habachtstellung und lässt die Welt ihren Lauf nehmen. Im Ausland befreit sie sich sogar von der Last des schweren Schlüsselbunds, ohne den sie sich in Israel nicht von der Stelle bewegt. Sie ist zwar auch im Ausland immer mit großer Handtasche und Mobiltelefon bewaffnet, doch es besteht kein Zweifel, dass ihr leichter zumute ist ohne das silberne Hamsa mit dem eingelegten Miniaturfamilienfoto, an dem stets die klirrenden Wohnungsschlüssel hängen, die Schlüssel für den Lagerraum und das Gartentor, für die Tür zum Dach, den Briefkasten und den Schuppen mit den Gasflaschen, für ihr Auto und sein Auto und die Notfallschlüssel für die Wohnung ihres Bruders und ihrer Schwestern sowie für alle Wohnungen ihrer drei Töchter und noch mehr große und kleine Schlüssel, von denen nur sie weiß, für welches geheimnisvolle Schlüsselloch jeder einzelne bestimmt ist.

4

Am Tag darauf, nach dem literarischen Abend im Haus des holländischen Verlegers, beschloss Bat-Ami zwischen einem Abstecher in ein Museum am anderen Ufer der Amstel und einer von ihr geplanten Blitztour ins Rembrandthaus und auf den Flohmarkt, dass sie unmöglich direkt durch das alte Judenviertel gehen könnten, ohne einen Blick in das Jüdische Museum zu werfen. Und so fand sich Joel in einer abgedunkelten Ausstellungshalle wieder, in der ihm aus einer langen Reihe erleuchteter Glasvitrinen von Türstöcken abgerissene Mesusen entgegenblickten, ein verwittertes Holzschild mit der warnenden schwarzen Aufschrift »Voor Joden verboden«, Fotografien, Dokumente und diverse Utensilien. Er dachte, er sollte sich besser von dort entfernen, er sollte den letzten Willen seiner Mutter respektieren, die so sehr gewollt hatte, dass er diese Dinge nicht sähe. Doch als er sich umblickte, fand er Bat-Ami nicht, und Panik ergriff ihn, bis er sie in dem gedämpften Licht der Halle auf einer der Bänke sitzen sah.

Er bahnte sich den Weg zu ihr zwischen anderen Besuchern, die dort still umherliefen, umging eine Gruppe holländischer Jugendlicher, die ihrer Lehrerin hinterhertrotteten. Bat-Ami schien ihn nicht bemerkt zu haben, und als er ihre Schulter berührte, wandte sie ihm nicht den Blick zu, sondern bedeutete ihm nur mit einer stummen Handbewegung, mit unterdrückter Erregung, er solle sich neben sie setzen. Als Joel gehorchte und sich niederließ, sah er, dass sie sich alte Filmausschnitte in Schwarz-Weiß anschaute, die auf die gesamte gegenüberliegende Wand projiziert wurden.

Was, fragte sich Joel, fesselte seine Frau so an diesen stummen Bildern? Als er die alten Bilder betrachtete, sah er Menschen bei einer Hochzeitsfeier, die Männer in Smokings, barhäuptig mit Brillantine im Haar, und die Frauen in prachtvollen Abendkleidern mit eleganten Frisuren. Er wandte sein Gesicht wieder Bat-Ami zu, aber sie reagierte nicht. Ihre Augen klebten weiter an den flimmernden Bildern, doch sie spürte seinen Blick und gestikulierte nachdrücklich: Schau an die Wand, schau den Film an. Also blickte er, wie befohlen, wieder dorthin, sah die Braut und den Bräutigam und danach Nahaufnahmen von den Eltern des Paars, von den Brautjungfern, die hinter der Braut einherschritten und ehrfürchtig das Ende der langen Brautkleidschleppe trugen. Dann tauchte das Bild einer Frau auf, die ein Baby hielt, auf die Kamera deutete und versuchte, das desinteressierte Baby dazu zu bringen, in die Linse zu lächeln, gefolgt von einer Aufnahme von zwei jungen Männern mit Fliegen, die in die Kamera winkten, und hier griff Bat-Ami angespannt nach seinem Arm. Das Bild wurde von dem einer jungen Familie abgelöst: ein Mann und eine Frau, in seinen Armen ein kleines Mädchen, in ihren Armen ein Baby. Sie flackerten nur für einen winzigen Augenblick auf, doch auch in diesem Sekundenbruchteil konnte Joel erkennen, dass die Frau, diese Frau auf diesem Bild, seine Mutter war. Seine Mutter in ihrer Jugend, seine Mutter in Tagen, die vor seiner Erinnerungsspanne lagen, aber seine Mutter.

Ihm stockte der Atem.

Warte, flüsterte ihm Bat-Ami zu und lockerte ihren Griff an seinem Arm, das läuft in Dauerschleife, gleich zeigen sie es noch einmal. Als sie »Schleife« sagte, zeichnete sie mit dem Finger einen imaginären Kreis in die Luft. Joel schluckte und nickte, auch wenn er außer der Sache mit der Wiederholungsschleife nichts begriff.

Ein ums andere Mal verfolgten Joel und Bat-Ami die Bilder des alten Hochzeitsfilms. Lange Zeit saßen sie auf der Bank im Zentrum der Museumshalle und sahen wieder und wieder die Braut und den Bräutigam, anschließend die besorgten und glücklichen Eltern des Brautpaars, dann die Mädchen, die todernst die Schleppe trugen, und danach die deutende Hand der Frau mit dem Baby und die winkenden jungen Männer mit den Fliegen, und dann – da, sagte sich Joel, jetzt aufgepasst –, und er starrte mit aller Macht auf die Wand, aber auch beim zehnten Mal, als er den Filmausschnitt sah, genau wie beim zweiundzwanzigsten und beim dreißigsten Mal, war er immer noch felsenfest überzeugt, dass die Frau, die da für ein, zwei Sekunden vor ihm auftauchte, seine Mutter war. Das Bild war etwas verschwommen, doch zweifellos waren es ihre hohe Statur, ihre großen Hände und ihre Haltung, und zweifellos war es ihr breites, bäuerliches Gesicht, das er so liebte, das in diesem Film von vorn und im Profil gezeigt wurde, als sie ihren Kopf nach rechts drehte und ihrem Mann zulächelte, seinem Vater. Er war ein Säugling gewesen, als sein Vater abgeholt wurde, und in jener Zeit waren alle Fotografien seiner Eltern zusammen mit dem Rest ihrer Habe verlorengegangen. Doch jetzt war er sich sicher, dass der zierliche, bebrillte Mann in dem Film sein Vater war, vor allem wegen der warmen Bewunderung in den Augen seiner Mutter, während sie einen Blick aus den Augenwinkeln auf den Mann warf, der kleiner war als sie.

Das kleine Mädchen, das der Mann in seinen Armen hielt, war Nettie. Daran bestand für ihn kein Zweifel: die Gesichtszüge, der Ausdruck, alles. Aber wer ist das fremde Baby, fragte sein Herz, wer ist der fremde Säugling, den deine Mutter in ihren Armen hat?

Das Baby musst du sein, flüsterte Bat-Ami, als hätte sie die Frage gehört.

Aber das bin nicht ich, gab er flüsternd zurück.

Woher willst du das wissen?

Das bin nicht ich. Schau dir seine Kopfform an, die Augen, die Haare. Das bin nicht ich.

Vielleicht hat sie, schlug sie vor, nachdem die Gestalten wiederaufgetaucht und verschwunden waren, vielleicht hat sie ja gerade in dem Moment, in dem man sie gefilmt hat, ein anderes Baby gehalten?

Joel hätte sich diese Annahme gern zueigen gemacht. Er wünschte, er hätte es gekonnt. Aber die Wiederholungsschleife war wieder am Ende des Durchlaufs angelangt, das Bild erschien ein weiteres Mal an der Wand, und wieder sah er seine Mutter mit dem unbekannten Baby, das sie so hielt, wie Mütter nur ihre eigenen Kinder halten. Und nicht nur das: Er sah – denn es war schlicht nicht zu übersehen –, wie sehr ihr dieses unbekannte Baby glich, besonders die breiten Wangen und die hellen, in den Winkeln leicht abwärts tendierenden Augen, und dass nicht einmal die leiseste Spur einer Ähnlichkeit zwischen dem Gesicht des unbekannten Babys und seinem bestand, das dunkel und länglich war auf den Fotos aus seiner Kindheit, die nach der Einwanderung nach Israel aufgenommen und von seiner Mutter mithilfe winziger Fotoecken auf die rauen, schwarzen Seiten des wohlgeordneten Fotoalbums geklebt worden waren, das auf dem Büfett im Wohnzimmer ihrer Wohnung in Netanja stand.

Sobald sie vom Jüdischen Museum zu ihrem Hotelzimmer zurückgekehrt waren, nahm Joel sein Mobiltelefon zur Hand. Als Netties Telefonnummer auf dem Display erschien, betrachtete er die erleuchtete digitale Zahlenreihe und dachte an seine Schwester, die zu dieser Stunde der Dämmerung in ihrer kleinen Wohnung in dem Kibbuz zwischen dem Jordan und dem Bergrücken des Gilboa sitzt. Ihr Gesicht ist ruhig, ein offenes Buch liegt auf ihrem Schoß, und in ihrem alten Radioapparat, auf den immer gleichen Sender eingestellt, spielt klassische Musik. Ihr Mann, Eliezer, erwartet sie auf dem Kibbuzfriedhof zu Füßen des Berges. Er ist neben Israel begraben, ihrem hübschen Erstgeborenen mit der schönen Haarmähne, der im Jom-Kippur-Krieg und im ersten Libanonkrieg gekämpft hat, jedoch nicht in den Kämpfen getötet wurde, sondern in der Dattelpalmenplantage des Kibbuz. Joel hatte nie vermocht, sich den Tag vorzustellen, an dem sie alle kamen, um Nettie und Eliezer und ihrer Tochter mitzuteilen, dass der Kran, der in der Dattelpalmenplantage eingesetzt wurde, ein elektrisches Kabel getroffen hatte und Israel tot war, noch bevor sein starker Körper in der blauen Arbeitsmontur sich zusammenkrümmte und mit einem dumpfen Schlag auf dem Boden aufprallte.

Bald wird Nettie ihr Buch zur Seite legen, seufzen und den Fernseher einschalten, um die erste Ausgabe der Abendnachrichten zu sehen.

Joel schaltete das Telefon aus.

Im Fenster des Gebäudes, das ihrem Hotelzimmer gegenüberlag, sah er eine Küche, in der eine Frau stand und eine Kanne abspülte, und er verfolgte fasziniert ihre Bewegungen, als sie die Kanne einschäumte, mit einer langen Bürste von außen und innen schrubbte und sie dann gründlich unterm Wasserhahn nachspülte. Im Laufe des vergangenen Tages hatte er schon mitbekommen, dass diese Frau in einer ordentlichen Zweizimmerwohnung nur mit einem braunweißen Hund und den Pflanzen lebte, die sie in einem Blumenkasten auf dem Fensterbrett pflegte. Sie war eine gut aussehende Frau mit kurzgeschnittenen, glatten blonden Haaren, und wenn sie die Küche betrat, band sie sich eine geblümte Schürze um die schlanke Taille. Am Morgen hatte er sehen können, wie sie sich eine Tasse Kaffee machte, bevor sie zur Arbeit aufbrach, untertags hatte er gesehen, wie der kurzbeinige Hund mit den Schlappohren kummervoll auf dem Wohnzimmersessel auf sie wartete, und um sechs Uhr abends, als sie nach Hause kam und das Licht einschaltete, sah er, wie sie sich, nur wenige Meter von ihm entfernt, bückte, um das Futter für den Hund in eine Schüssel zu geben, die offenbar unter dem Küchenfenster am Boden stand. Er fragte sich, ob sie wusste, dass man sie beobachtete, und ob es ihr etwas ausmachte. Danach musste er ihr aus unerfindlichem Grunde zuschauen, wie sie Eier verquirlte und Gemüse klein schnitt, in einer tiefen Schüssel vermischte, probierte. Er konnte das Klirren und Klappern des Geschirrs und der Küchenutensilien hören und fast auch ihre Atemzüge.

Er hatte früh gelernt, Geschichten zu erfinden, dank seiner Kameraden im Kindergarten und in der Nachbarschaft.

Sag mal, Joel, warum hast du keinen Papa?

Ich hab einen Papa! Mein Papa ist in der Arbeit. Mein Papa ist in der Armee. Mein Papa ist auf einer geheimen Mission im Ausland.

Die Geschichten, die sich in seinem Kopf seine ganze Kindheit hindurch um die Gestalt seines abwesenden Vaters rankten, waren voll mysteriösem Zauber. Sie statteten seinen Vater mit einer Vielzahl tollkühner Rollen in der Armee und beim Geheimdienst aus, einer Palette an bahnbrechenden wissenschaftlichen Forschungen und lebenswichtigen Missionen jenseits des Meeres.

Wobei er jedes Mal, wenn er, nach seinem Vater gefragt, eine neue Antwort erfand, aus ganzem Herzen daran glaubte. Die Geschichte, die ihm seine Mutter erzählt hatte, von einem jungen Mann, der in einem fernen, unverständlichen Krieg gestorben war, war in seinen Augen nur eine der möglichen Antworten auf die Frage, wo sein Vater war. Nur eine Geschichte eben, die gegenüber all den anderen keinerlei Vorzug besaß, und Joel sah keinen Grund, warum er ihren dürftigen Inhalt nicht nach Lust und Laune durch spannendere Handlungen ersetzen sollte, wohin ihn die Phantasie auch trug.

5

In jener Nacht konnte er nicht einschlafen. Bat-Ami schnarchte leicht, als er sich aus der lastenden Decke und dem fremden Hotelbett befreite, von dem er sich fragte, ob die, die vor ihm darin gelegen hatten, fröhlich oder traurig gewesen waren, einsam oder geliebt. Er suchte leise einen Platz für sich, bemüht, nicht an die Möbel und Dinge zu stoßen, die den kleinen Raum anfüllten, bis er an einer der Wände eine freie Teppichstelle entdeckte, auf der er sich mit gekreuzten Beinen niederlassen konnte. Eigentlich brauchte er frische Luft, eigentlich verspürte er Lust, das überfüllte Zimmer zu verlassen und auf die Straße hinunterzugehen, doch er ging nicht hinunter und ging nicht hinaus, da er fürchtete, Bat-Ami würde in seiner Abwesenheit aufwachen, und er wusste, würde er mitten in der Nacht aufwachen und sehen, dass sie nicht im Zimmer war, würde er Angst bekommen, dass ihr etwas Schlimmes passiert wäre, dass sie ihn verlassen hätte, dass er sie nie wiedersehen würde.

Bei zweiter Überlegung fragte er sich allerdings, ob Bat-Ami tatsächlich verstört wäre, wenn sie aufwachen und ihn nicht im Zimmer vorfinden würde. Er rückte sich auf dem Teppich zurecht, streckte seinen Rücken an der Wand durch, legte die Hände auf seine gekreuzten Beine und sah sich um. Wie anders die Wände des Hotelzimmers und die Ecken der Decke von diesem Winkel aus wirkten. Wie anders der Schrank, das Bett und die Frau, die in dem Bett schlief. Er hörte sie im Schlaf etwas murmeln und dachte: Was weiß ich von ihren Träumen, was weiß ich von ihr? Ich war mir seit jeher sicher, dass ich über Menschen schreiben kann, weil ich sie zu sehen weiß, doch nun musste ich heute entdecken, dass ich nicht einmal meine Mutter jemals wirklich sehen konnte. Ich dachte, ich sei dir nahe, meine geliebte Mutter, ich dachte, ich kenne dich gut, aber nun stellt sich heraus, dass du all die Zeit mit einem toten Kind unterm Herzen herumgegangen bist – und ich, dein lebendiges Kind, habe es nicht gespürt und nicht geahnt.

Dunkelheit kroch ihn aus den vier Ecken des Zimmers an, schloss ihn ein, die schwarzen Partikel kletterten über seinen Körper und drangen durch die Poren unter seine Haut, bis er gezwungen war, aufzustehen und sich schnell anzuziehen, um auf die Straße zu flüchten. Bat-Ami ist nicht ich, wiederholte er für sich, als er sich bückte, um seine Schnürsenkel zuzubinden. Bat-Ami ist Bat-Ami. Und wenn sie aufwacht und sieht, dass ich nicht da bin, wird sie verstehen, dass ich frische Luft schnappen gegangen bin, und sofort die Augen schließen und wieder einschlafen.

Gegenüber dem Hoteleingang, auf der anderen Straßenseite, tanzten bunte Lichter in einem schmalen, gut besuchten Pub. Ein riesiger Kerl, dessen bloße, muskelbepackte Arme mit Tätowierungen bedeckt waren, ging in den Pub hinein und wurde verschluckt.

Joel wandte sich zum Gehen.

An dem Tag, an dem Joel nach den sieben Trauertagen für seine Mutter aufgestanden war und das Haus verlassen hatte, hatte er erkannt, dass er nicht wusste, wie man in einer Welt gehen sollte, in der seine Mutter nicht mehr war. Ganz langsam lehrte er sich selbst wieder zu gehen, und seitdem hatte es für ihn den Anschein gehabt, dass er ordnungsgemäß ginge. Doch zu dieser nächtlichen Stunde, allein in den Gassen der Stadt, in der er geboren worden war und zum ersten Mal gehen gelernt hatte, hatte er das Gefühl, er müsste seinen Körper wieder anleiten, die erforderlichen Aktionen auszuführen: Rechten Fuß heben, so, ausgezeichnet. Und jetzt den rechten Fuß nach vorn bewegen und ihn auf den Gehsteig setzen. Alle Achtung, Joel, und jetzt den linken Fuß heben, nach vorn bewegen …

Er schlug den Mantelkragen bis zu den Ohren hoch, vergrub den Kopf zwischen den Schultern und stapfte Schritt für Schritt vorwärts, mit Blick auf die Füße und die darunter liegenden Pflastersteine. Am Ende der Häuserreihe stieg der Bürgersteig an, und als er aus seinem Mantelkragen hinausspähte, sah er, dass er einen Brückenbogen erreicht hatte, der über eine Gracht führte. Am Ufer des Kanals entdeckte er eine Bank und ließ seinen Körper erschöpft darauf fallen.

Dunkel und still strömte das Wasser des Kanals in seinem alten Lauf, dunkel und still und alles erinnernd. Joel saß auf der Bank, und sein Blick versank in dem Wasser, als wollte er daraus einen verbliebenen flüchtigen Schatten oder ein Echo seines verlorenen Bruders schöpfen, der seiner Berechnung nach, die hauptsächlich auf Netties geschätztem Alter in dem Museumsfilm beruhte, ein bisschen jünger war als er. Sein kleiner Bruder.

Was war mit ihm passiert, mit dem hellhäutigen Baby? Wo war er, Joel, als der Hochzeitsfotograf seinen kleinen Bruder mit seinen Eltern und seiner Schwester Nettie verewigt hatte? War das, was mit seinem kleinen Bruder passiert war, auch Joel beinahe passiert, was vielleicht eine Erklärung für die frühe Erinnerung sein konnte, in der sein Körper, in irgendeine Ecke geworfen und völlig verlassen, der Körper des kleinen Jungen, der er damals war, vor Nässe, Kälte und Angst zitterte? Sein Leben lang hatte er sich gesagt, dass jene frühe Erinnerung nur die Frucht seiner blühenden Phantasie sei, sein Leben lang hatte er sie in die Tiefen seines Unterbewusstseins verdrängt, aber dennoch war die Erinnerung wieder hochgeschwemmt und hatte ihn in die allumfassende Seelenqual eines Kleinkinds versetzt, das seine Gefühle noch nicht in Worte zu fassen weiß. Gleich, ob er diese Qualen in Wirklichkeit erlebte oder in seiner Phantasie, er kann die harte Berührung mit der Fläche nicht vergessen, auf der er lag, er kann nicht vergessen, dass die Fläche unter ihm zu schwanken und zu rütteln schien, während er weinte, bis seine Kraft erschöpft war, und er kann nicht vergessen, wie er sich nur noch wünschte, dass seine verlassene Seele sterbe, starb und nicht mehr sei. Und dabei verfolgte ihn unablässig das Bild seiner Mutter, seine Mutter, die, während er diese Qualen litt, neben ihm saß, einfach dasaß und nichts tat, als wäre sie gar nicht seine Mutter.

Ein Grüppchen von fünf oder sechs jungen Leuten überquerte die Brücke neben seiner Bank, streute Fetzen von Jubel und Gelächter in die Luft der Nacht, und im Kanal zog das dunkle Wasser weiter seine Bahn, irgendwohin, schwemmte diesen Tag, der gerade geendet hatte, mit sich, barg die Erinnerungen an all die Bilder, die sich je darin gespiegelt hatten, und all die Stimmen in sich.

6

Im Morgengrauen, als noch Dunkelheit herrschte in Amsterdam, so dass Joel die Gebetsriemen für das erste Morgengebet noch nicht anlegen konnte, schaltete er sein Mobiltelefon wieder ein. Bat-Ami schlief noch und schien nicht einmal bemerkt zu haben, dass er mitten in der Nacht das Zimmer verlassen hatte und vor Kurzem zurückgekehrt war. Er stand am Fenster des Hotelzimmers und tippte die Nummer seiner Schwester auf dem Display, entschlossen, sie zu erreichen, bevor sie zur Arbeit im Kleidermagazin des Kibbuz aufbrach.

Im Licht der Straßenlaternen glitten die ersten Radfahrer des Tages vorbei. Einer, noch einer und nach ihnen zwei oder drei weitere. Am Eingang des Pubs auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand ein grüner Lastwagen mit der Aufschrift »Heineken« und zwei Männer in grünen Overalls entluden grüne Kästen mit Bierflaschen.

Guten Morgen, Nettie. Seine Stimme schwankte.

Joel!, rief sie erfreut. Joel, wie geht es dir? Und wie geht es Bat-Ami?

Wir sind in Amsterdam, Nettie, sagte er ohne Umschweife.

Stille. Nur das Klirren der Bierflaschen war von der anderen Gehsteigseite zu hören, als die Männer in Grün die vollen Bierkästen in den Pub karrten und dann begannen, die leeren in den Lastwagen einzuladen.

Mein drittes Buch, erklärte er ihr, wobei er sich bemühte, seine Stimme zu festigen, mein drittes Buch ist ins Holländische übersetzt worden und … wir sind nach Amsterdam geflogen, Bat-Ami und ich.

Alles, was Nettie nach langen Schweigesekunden sagen konnte, war: Ihr seid in Amsterdam.

Alles, was Joel fragen konnte, war: Warum hast du mir nichts erzählt?

Sie schwieg.

Ein großes, schweres Bierfass wurde ganz langsam vom Lastwagen auf den Bürgersteig hinuntergelassen.

Warum hast du mir nichts erzählt?, wiederholte Joel. Bat-Ami und ich sind gestern hier ins Jüdische Museum gegangen, und wir haben gesehen … Warum hast du mir nichts gesagt, Nettie? Warum hat mir Mama nichts erzählt? Wie konntet ihr zulassen, dass ich so etwas selbst entdecken muss, und dann nach so vielen Jahren per Zufall?

Es schmerzte ihn, ihr weh zu tun. Er tat ihr weh. Und es schmerzte ihn.

Aber Joel … Ihre Stimme wurde heiser, und der holländische Akzent, der sich bei ihr immer verstärkte, wenn sie erregt war, verhärtete ihre Aussprache. Wie … Wie hast du es herausgefunden?

Das heißt, es stimmt?, rief er verzweifelt, als hätte er bis zu diesem Moment noch gehofft, sie würde ihn davon überzeugen, dass er sich täuschte. Als hätte er bis zu diesem Augenblick noch gedacht, sie würde ihm sagen, dass sie beide keinen weiteren Bruder hätten, und dass der Säugling in dem Film, das blonde Baby, das ihre Mutter an ihr Herz drückte, das Kind einer anderen Frau sei.

Du musst mir alles erzählen. Er erhob seine Stimme, als ob er das Meer überbrücken wollte. Du musst mir erzählen …

Doch sie schwieg.

Zuletzt sagte sie bestimmt, wenngleich nicht unsanft: Wenn du zurückkommst, Joel, komm mich besuchen. Dann werde ich dir alles erzählen, was ich weiß.

In wenigen Minuten, dachte Joel, wird sie einen dünnen Pullover gegen die morgendliche Kühle überziehen. Sie wird ihren viereckigen grünen Plastikkorb nehmen, aus ihrer kleinen Wohnung gehen und die Tür zumachen, ohne abzusperren. Sie wird die zwei flachen Stufen zu dem altersrissigen Pfad hinuntergehen, den Korb an der Lenkstange des alten Fahrrads befestigen, das im Schatten des duftenden Geißblatts steht, vorsichtig aufsteigen und zum Kleidermagazin hinter dem Speisesaal fahren. Ganz sacht wird sie in die Pedale treten, eingetaucht im Licht, das den Hang und die Kibbuzpfade hinunterfließt, die Felder und die Reihen der Dattelpalmen flutet.

Gegenüber des Hotelzimmerfensters wurde der grüne Lastwagen nun mit den Bierfässern beladen, die im Laufe der Nacht geleert worden waren.

Der Lastwagen fuhr weg.

Bat-Ami wachte auf.

In Amsterdam war die Dunkelheit noch nicht gewichen.

7

Jetzt starrt er aus dem Flugzeugfenster in die langgestreckten Wolkenfelder, Furche um Furche von dichtem, weißem Schaum von Horizont zu Horizont.

Er kehrt nach Amsterdam zurück, drei Tage, nachdem er bei Nettie im Kibbuz auf dem altgedienten braunen Sofa gesessen und zugehört hat, wie sie ihm erzählte – anfangs zögerlich, dann mit zunehmendem Fluss –, was ihr von seinen ersten Lebensjahren bekannt war. Als er sich spät nachts an der Tür von ihr verabschiedete, sagte sie, von kummervoller Reue erfüllt: Ach Gott, was habe ich dir angetan, Joel, wozu musste ich das kaputtmachen, was du dein ganzes Leben von dir gedacht hast? Er blickte in ihre Augen, die hell und klar waren, so lange er sich erinnern konnte, und sagte: Danke, Nettie. Danke, meine Schwester, dass du dich bereitgefunden hast, mir die Wahrheit zu erzählen. Dann ging er die zwei Stufen zu dem aufgesprungenen Pfad hinunter, passierte den Geißblattstrauch und registrierte, dass das Fahrrad von Eliezer, seinem toten Schwager, immer noch in dem verrosteten Eisenständer neben Netties Fahrrad stand.

Gute Reise, rief sie ihm hinterher. Gute Reise!

Er warf noch einen Blick auf ihre Gestalt, die im Licht des Türrechtecks stand, auf ihr Gesicht, das von Sorge um ihn überschattet war, und wusste, dass ihr »Gute Reise« bedeutete: Du bist mein Bruder. Du bist mein Bruder, und du bist mir lieb und teuer.

Er fühlte sich wie ein neuer, anderer Joel, während er umringt vom Chor der Zikaden und Frösche unter dem Baldachin von Pappeln und Jakarandabäumen von Netties Wohnung zu dem Platz ging, wo der frühere, alte Joel zuvor sein Auto geparkt hatte. Während der gesamten Rückfahrt, vom Beit Schean Tal bis nach Jerusalem, erzählte er sich wieder und wieder, was er aus Netties Mund erfahren hatte, und wiederholte mit lauter Stimme: Wie kann das sein? Wie kann das sein? Sein Fuß drückte aufs Gaspedal, beschleunigte den Wagen in den Kurven des Jordantals auf den Fersen seiner vorderen Scheinwerferlichter, die das Tuch der urzeitlichen Finsternis durchschnitten, als erleuchteten sie zum ersten Mal die Kapitel seines Lebens, Kurve um Kurve, Stück für Stück. Wie kann das sein?, fragte er die Nacht. Wie ist es möglich, dass sie mir nie etwas gesagt, nie etwas angedeutet haben, dass ich nie einen Verdacht oder eine Vermutung hatte?

Doch die Nacht schwieg, der Wagen fuhr aus den Hügeln in das offene Flachland hinaus, das sich vom Norden des Landes nach Süden erstreckt, und niemand war so vollkommen verwaist wie Joel Blum in der dunklen Weite zwischen den schwärzlichen Hügelrücken Samarias zu seiner Rechten und dem Bergzug des Gilboa, der links von ihm glomm, jenseits des Jordans, dessen Wasser irgendwo dort parallel zur Straße vom See Genezareth zum Toten Meer strebten. Ihm schien, als sei das Land, auf dem er fuhr, ein lebender Körper, sein Körper, und der syrisch-afrikanische Graben eine Narbe auf seiner Haut – eine lange, alte Narbe, die plötzlich aufgebrochen war und nun von Neuem blutete.

Als er die Umgebung von Jericho erreichte und in die Straße einbog, die nach Jerusalem hinaufführte, begannen sich seine Gedanken zu klären. Als er das Schild erreichte, das die Meereshöhe auswies, wusste er schon, dass er so bald wie möglich nach Amsterdam zurückfliegen musste.

Und er wusste, dass er das allein tun musste.

Warte, bedrängte ihn Bat-Ami am nächsten Morgen, nachdem er ihr alles erzählt hatte. Warte, fahr nicht gleich wieder hin, gib dir Zeit, dich zu beruhigen, um das zu verdauen, was du gerade erst erfahren hast.

Doch Joel wollte nicht warten, wollte sich nicht beruhigen. Er hatte es so eilig, als würde jemand in Amsterdam sehnsüchtig auf ihn warten. Oder als stünde es in seiner Macht, den Lauf der Ereignisse, die ihm Nettie im Wesentlichen geschildert hatte, zu verändern, wenn er nur sofort und auf der Stelle an den Ort gelangte, an dem sich diese Ereignisse abgespielt hatten.

8

Die gesamten vierundzwanzig Stunden vor diesem Flug, seinem zweiten Flug nach Amsterdam, hatte er das Haus nicht verlassen. Tatsächlich setzte er kaum einen Fuß über die Schwelle seines Arbeitszimmers, wo er sich an seinem Schreibtisch in das Ordnen von Papieren, Heften und Dokumenten vertiefte und alle zu Stapeln in Schubladen und Ordner sortierte, wobei er sie nacheinander einzeln durchforstete, als suchte er nach irgendeinem Hinweis. Zwischen Ordnen und Ablegen hob er den Kopf und betrachtete durchs Fenster die Fahrzeuge, die durch das Kreuztal am Fuße des alten Klosters fuhren – für einen Moment zwischen den silbernen Olivenbäumen am Hang auftauchten, dazwischen verschwanden und wiederauftauchten, verschwanden und auftauchten.

Hin und wieder steckte Bat-Ami ihren Kopf durch die Tür, spähte ins Arbeitszimmer, als fürchtete sie zu stören, und kam dann herein, um ihm ein Glas Kräutertee und ein Tellerchen mit Granola Keksen zu servieren, oder sie rief ihn zu einer der normalen Essenszeiten in die Küche. Sie lachte, wie immer, über seine Gewohnheit, den ultramodernen Laptop offen eingeschaltet und betriebsbereit vor sich stehen zu haben, obwohl er ihn nie benutzte. Ich bin sicher, sagte sie, wie immer, dass du der letzte Schriftsteller auf dem Planeten bist, der die Manuskripte seiner Bücher immer noch tatsächlich in eigener Handschrift in Notizhefte schreibt.

Doch was sollte er machen, wenn er sich bei all seiner Bewunderung für die Innovationen der Zeit und die Möglichkeiten eines glänzenden, kompakten, mit sämtlichen Funktionen ausgestatteten Laptops wie dem auf seinem Schreibtisch noch immer nicht imstande sah, damit zu schreiben, weder Artikel noch Vorentwürfe, keine erste und keine zweite Version, sondern mit einem Kugelschreiber in Schulhefte schrieb, wie sie in seiner Kindheit gebräuchlich waren – vierzig linierte Seiten mit dünnem, braunem Kartonumschlag, auf dessen Rückseite die Multiplikationstabelle abgedruckt war. Schon seit Jahren versprach er sich, dass er versuchen würde, sich, natürlich graduell, anzugewöhnen, auf dem Computer zu schreiben wie jeder andere Mensch. Von Zeit zu Zeit tauschte er seinen alten Laptop sogar gegen einen neueren aus, auf dem, wie ihm versichert wurde, das Schreiben noch leichter und flüssiger wäre.

Doch er kehrte immer wieder zu den alten Heften zurück, die er stets bei dem gleichen alten Händler in dem gleichen kleinen Laden in einer Gasse im Stadtzentrum kaufte.

Vielleicht würde der Tag kommen, an dem er sich selbst beibrächte, einen Word Processor zu benutzen. Vielleicht würde sogar der Tag kommen, an dem er sich selbst beibrächte zu leben, ein Tag, an dem er wie jeder andere auf Erden gehen würde, ohne von dem Gedanken beherrscht zu werden, dass es im Prinzip merkwürdig, sogar lächerlich war, ein menschliches Wesen zu sein, eine Gliederansammlung, die sich unentwegt verschleißt, während sie hierhin und dorthin rennt, die Körperteile in allerlei Stoffe hüllt und alle möglichen Geräusche und Töne von sich gibt.

Gegen Abend wirkte das Fenster seines Arbeitszimmers wie ein Bilderrahmen um das sich rötende Himmelszelt über dem Kreuztal. Licht erleuchtete von den Felsen die weiß-grauen Würfel des Israel Museums, das zu dieser Stunde in seinen Augen dem klassischen mediterranen Dorf glich, wie in der Vision der Museumsarchitekten beschrieben. In einem der Räume dieser Würfel war er bei seinem letzten Besuch dort dem Gemälde des holländischen Malers Jozef Israëls begegnet, das den Titel trug Mutter und Kind gehen auf den Dünen, undatiert, und hatte für einen kurzen Moment begriffen, wonach er sein Leben lang gesucht hatte. Klar und scharf war dieses Verstehen in ihm aufgeblitzt, glasklar bis an die Schmerzgrenze. Doch es verflüchtigte sich sofort und ließ ihn stumm und verloren mit einer Sehnsucht aus tiefster Seele zurück, ohne zu wissen, wonach.

Jetzt konnte er sich nur noch an die wässrigen Farbflecken erinnern, die ineinander verschmolzen: Das Kind, das an der Seite seiner Mutter ging, ein Kind-Fleck in einen Mutter-Fleck schmelzend, der in einen Meer-Fleck und einen Himmel-Fleck schmolz vor dem Hintergrund eines Fischerdorf-Flecks.

9

Er hatte bereits einen Stapel neue, leere, linierte Vierzigseitenhefte für die Reise eingepackt, und während er sich an ihrem Geruch erfreute, den er liebte, steckte Bat-Ami wieder ihren Kopf durch die Tür seines Arbeitszimmers. Galia und Zohar sind gekommen, um sich von dir zu verabschieden, teilte sie ihm fröhlich mit, und er setzte das väterlichste Lächeln auf, das ihm in diesem Moment zur Verfügung stand, erhob sich und ging ins Wohnzimmer, um seine Töchter zu begrüßen, die wohl weniger zum Verabschieden gekommen waren, als vielmehr, um ihre Mutter zu beruhigen, die sich Sorgen um ihn machte, wenn er ohne sie verreiste.