Das Haus, das alle Träume kennt - Gabriele Wünsch - E-Book

Das Haus, das alle Träume kennt E-Book

Gabriele Wünsch

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Beschreibung

Nachdem Birgit nach zwanzig Ehejahren von ihrem Mann verlassen wurde, weil er eine Jüngere liebt, ist sie tief verletzt. Das Haus einer Freundin, das sie hüten soll, bis diese zurückkommt, wird ihr zur Zuflucht. Nachts ist Birgit allein mit ihren Gedanken. Oder besser gesagt: fast allein. Denn spätabends bekommt sie Besuch von einer jungen Frau namens Johanna, die allerlei über das Haus zu wissen scheint. Die Geschichten der beiden Frauen verbinden sich miteinander, und es beginnt eine ungewöhnliche Freundschaft, die für beide schicksalhaft werden soll …

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Seitenzahl: 510

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Ähnliche


Gabriele Wünsch

Das Haus, das alle Träume kennt

Roman

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Birgits Leben gerät aus den Fugen, als ihr Mann sie nach zwanzig Ehejahren verlässt, weil er eine Jüngere liebt. Tief verletzt sucht sie Zuflucht in der Wohnung einer Freundin. Nachts ist Birgit allein in dem Haus, in dem bis jetzt nur sie wohnt. Oder besser gesagt: fast allein. Denn spät abends bekommt sie Besuch von einer jungen Frau namens Johanna, die allerlei über das Haus zu wissen scheint. Für einige Wochen verbinden sich die Geschichten der beiden Frauen miteinander. Es beginnt eine ungewöhnliche Freundschaft, die für beide schicksalhaft werden soll …

Inhaltsübersicht

Widmung

Motto

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

Die Stadt

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

Die Stadt

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

Die Stadt

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

Die Stadt

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

Die Stadt

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

Die Stadt

 

 

 

 

Für Thomas und Mikel

Jetzt wohnt ihr beide nicht mehr in Häusern von dieser Welt. In meiner Erinnerung werden wir immer beim Frühstück in eurer Küche sitzen und uns über irgendeinen Blödsinn die Köpfe heißreden.

 

 

 

 

»Die Geschichte eines Hauses

ist die Geschichte seiner Bewohner,

die Geschichte seiner Bewohner

ist die Geschichte der Zeit,

in welcher sie lebten und leben,

die Geschichte der Zeiten

ist die Geschichte der Menschheit.«

 

Wilhelm Raabe, Die Chronik der Sperlingsgasse

Prolog

Du. Ich. Dieses Haus, für das ihr kämpft. Alles ist nur ein winziger Tropfen im Ozean der Geschichte.« Ich hörte es ihn sagen, als er bei ihr lag. Nichts geht je verloren, das einmal in mich drang.

Ein winziger Tropfen? Dass ich nicht lache. Ich war da, bevor ihr unter den Krämpfen eurer Mütter in die Welt gepresst wurdet. Ich war da, als sie euch auf der Bahre hinaustrugen. Andere kamen. Die Welt vergaß, dass es euch gab. Doch ich vergesse nicht. Ich sauge auf, was ihr gewesen. Ich verwahre es in den Tiefen der Mauern. Euer Lachen, euer Träumen, euer Lieben, euer Hassen, euer Weinen, euer Kämpfen.

So höret ihr, die ihr euch mit dem Glauben tröstet, dass etwas bleibt. Ich bleibe. Und mit mir überdauert das Erinnern an eure kleinen Leben.

1

Die Stadt war alt und ihre Geschichte lang und wechselhaft. Doch davon wusste Birgit Imhoff nichts, als sie an einem regnerischen Dienstagmorgen im September aus der Glashalle des neuen ICE-Bahnhofs trat. Vierundzwanzig Stunden zuvor hatte sie noch nicht einmal gewusst, dass sie überhaupt in diese Stadt kommen würde. Sie blieb am Ausgang stehen und streckte den Rücken, sorgsam darauf bedacht, die Lendenwirbel nicht zu überdehnen. Dieses trockene Knacken, gefolgt von einem brennenden Schmerz, war immer noch in ihrem Körper. Sie musste es irgendwann aus ihren Gedanken löschen. Aber was musste sie nicht alles daraus löschen? Die Liste war inzwischen lang.

Sie atmete die noch morgenklare Luft tief ein. Es war lange her, dass sie zuletzt in einem Zug durch die Nacht gefahren war. Sie konnte sich kaum daran erinnern, wie es sich anfühlte, morgens in einer fremden Stadt auszusteigen. Auf jeden Fall war es damals Rom gewesen. Und sie jung. Sie griff wieder zu ihrem Trolley und zog ihn über den Bahnhofsvorplatz zur Taxispur. Dort standen nur zwei Wagen. Die Fahrerin des ersten lehnte rauchend an der geöffneten Tür des zweiten. Gestikulierend redete sie auf ihren Kollegen ein.

Birgit stellte den Trolley ab. Die Taxifahrerin streifte sie mit einem Blick, nahm einen tiefen Zug von der Zigarette und setzte ihre Unterhaltung fort.

Birgit wartete. Die Frau sprach in einem weichen, nuschelnden Dialekt, in dem die Worte zu einer endlosen Kette ineinanderflossen. Schließlich räusperte sie sich vorsichtig. »Sind Sie frei?«, fragte sie. Die Frau redete unbeirrt weiter. Birgit wiederholte ihre Frage etwas lauter. Wieder streifte sie ein musternder Blick.

»Bin gleich da. Steigen Sie schon mal ein.«

Birgit wuchtete ihren Trolley auf den Rücksitz, dann kletterte sie selbst hinterher. In ihrem Kopf lief einer dieser Monologe, die den Rest von Selbstbewusstsein zerstörten, den sie nach den letzten vier Wochen noch hatte. War das eine Unverschämtheit? O ja, das war es. Die Frau hatte in ihr sofort den Typ Fahrgast erkannt, mit dem sie so was machen konnte.

»Wo soll’s hingehen?« Die Taxifahrerin hatte ihre Unterhaltung beendet. Jetzt musterte sie ihre Passagierin im Rückspiegel.

Birgit zog den Zettel aus der Jackentasche. »Weinlände 22«, las sie ab.

»Weinlände 22?« Das Missfallen war unüberhörbar. »Das ist doch das Ziechle-Haus. Sind Sie sicher, dass Sie da hinwollen? Seit über einem Jahr sind die Handwerker dadrin. Das ganze Viertel unten am Fluss ist im Moment eine einzige Baustelle. Jeden Tag machen die da eine andere Umleitung.« Statt den Motor zu starten, wandte die Taxifahrerin sich zum Rücksitz um. Das Rot ihrer knallengen Kunstlederjacke biss sich mit dem Bordeauxton ihrer Haare. Nach der Hälfte der Drehung stockte sie und zog die rechte Schulter hoch. Sie hatte Probleme mit der Halswirbelsäule, ohne Zweifel. Die Hand, mit der sie sich auf der Rückenlehne des Beifahrersitzes abstützte, war verkrampft.

Birgit registrierte solche Details mit der Selbstverständlichkeit, mit der sie atmete. Es war wie eine Berufskrankheit. Nach fünfundzwanzig Jahren als Physiotherapeutin konnte sie es nicht abstellen, auch wenn sie in dem Beruf nie wieder arbeiten würde. Vieles würde in ihrem Leben nie wieder so sein, wie es einmal war. Der Gedanke verstärkte das Druckgefühl zwischen ihrem fünften und sechsten Lendenwirbel. »Ziechle-Haus?«, fragte sie.

»Ha, das mit dem Ziechle-Haus haben sie seinerzeit sogar im Fernsehen gebracht. Besetzt ist es gewesen, und solche Autonomen mit schwarzen Kapuzen waren da, aus Berlin.«

»Inzwischen muss das Haus saniert worden sein.« Birgit bemühte sich, Autorität in ihre Stimme zu legen. »Bitte fahren Sie, ich bin da in einer halben Stunde verabredet.«

Die Taxifahrerin zuckte mit den Schultern. »Wie Sie meinen. Sie sind der Fahrgast, Sie sind König.«

Fast lautlos löste sich ihr Daimler vom Standplatz vor dem ultramodernen Bahnhofsgebäude. Die Konstruktion aus Stahl und Glas wirkte in der baumreichen Vorstadtumgebung wie ein Ufo. Birgit lehnte sich im Sitz zurück. Sie spannte die Pomuskeln an und wölbte die Hüften vor. Halten. Dann entspannen. Wieder halten. Und locker lassen. Der Druck auf die Lendenwirbel ließ nach. Wie oft hatte sie schmerzgeplagten Patienten diese Übung mit auf den Weg gegeben, verbunden mit der Aufgabe, sich vorzustellen, wie die Bandscheiben bei jedem Strecken Gewebsflüssigkeit aufsaugten, bis sie wieder geschmeidig waren.

»Eine Krankengymnastin mit einem schweren Bandscheibenvorfall. Das ist … interessant.« Das war Georgs erster Satz gewesen, als er zu ihr ins Krankenhaus kam, an jenem Unglückstag vor sechs Monaten. Interessant! Mit einer kleinen, nachdenklichen Pause davor, die Raum ließ für die gesamte Bandbreite moderner psychotherapeutischer Ansätze. Georg verfügte über Ausbildungen in fünf verschiedenen Therapieformen. Die Warteliste seiner Praxis war auf Monate ausgebucht. Birgit sah sein Gesicht vor sich, mit dem jugendlichen, wenn auch angegrauten Dreitagebart, den er neuerdings pflegte. Georg, der Mann, mit dem sie seit achtzehn Jahren verheiratet war. Georg, den sie so gut zu kennen glaubte.

Sie spürte plötzlich mit jeder Faser, wie müde sie nach der Nacht im Schlafwagenabteil war. Die meiste Zeit hatte sie wach gelegen und dem Rattern der Räder gelauscht, das sie immer weiter wegbrachte von Hamburg, von der Wohnung, von der Küche mit dem Kiefernholzesstisch. Jenem Tisch, an dem sie beim Sonntagsfrühstück saßen, als er es ihr sagte.

Die Taxifahrerin trat so abrupt auf die Bremse, dass Birgit nach vorn geschleudert wurde.

»Da bauen sie einen Bahnhof auf den Berg, damit man mit der neuen ICE-Strecke in einer halben Stunde in die Landeshauptstadt kommt, und dann schalten sie alle Ampeln auf grüne Welle bei Tempo vierzig, so dass der Weg in die Stadt runter mindestens genauso lange dauert«, fluchte sie. »Aber ich habe es ja gleich gewusst. So was passiert, wenn die Leute einen grünen Oberbürgermeister wählen. Schauen Sie, da drüben an der Uni, da hocken sie alle, die Neunmalklugen. Die müssen sich ja nicht jeden Tag mit dem Taxi den Hang rauf- und runterquälen, die brettern auf ihren Mountainbikes an jedem Stau vorbei.«

Ihr Zeigefinger stieß anklagend in Richtung des gegenüberliegenden Berghangs. Birgit blickte auf die Ansammlung von Siebziger-Jahre-Betonbauten auf halber Höhe über dem Tal. Das war also der indirekte Anlass ihrer Reise. In einem dieser hässlichen Kästen würde der zukünftige Schreibtisch ihrer Freundin Kathrin stehen. Abteilungsleiterin Dokumentverwaltung an der Universitätsbibliothek – dafür gab sie ihr Leben in Hamburg auf. Dafür fing sie in einer viel kleineren süddeutschen Stadt, in der sie niemanden kannte, noch mal ganz neu an.

»Mensch, Bigs, das ist eine Riesenchance, die man mit fünfzig erst mal kriegen muss. Ich habe lange genug dafür gearbeitet. Außerdem ist die Gegend da unten sehr schön. Und du kriegst tolle Wohnungen zu Preisen, von denen du hier nur träumen kannst«, erinnerte Birgit sich an den Enthusiasmus ihrer Freundin, als die ihr von ihrer neuen Stelle erzählte. Und sie erinnerte sich auch an die Traurigkeit, die sie bei der Vorstellung überfiel, wie weit Kathrin dann weg sein würde. Sie kannten sich schon so lange. Niemandem fühlte sie sich näher. Außer Georg. Aber das war vor dem Frühstück am Kiefernholztisch gewesen. Vor dem Morgen, an dem die Sonne so verdammt idyllisch durch die Eichenzweige vor dem Fenster schien und ein goldenes Schattenmuster auf die Fliesen warf.

Die Ampel sprang auf Grün. Der Wagen rollte nur ein paar Meter. »Ja Himmelherrgott, da stehen die mal wieder aus der Stadt raus bis hier oben.« Die Taxifahrerin schlug mit der Hand aufs Lenkrad. In Birgits Manteltasche klingelte das Handy. Mit einem kalten Ziehen im Magen holte sie es heraus. Hatte er schon gemerkt, dass sie weg war? Doch es war Kathrins Nummer.

»Hallo, Kathi. Gerade eben habe ich deinen neuen Arbeitsplatz bewundert«, meldete sie sich. Am anderen Ende der Leitung waren diffuse Geräusche zu hören. »Kathrin? Bist du das?« Sie hielt sich das linke Ohr zu, um den Motorenlärm zu dämpfen, der durch das einen Spalt geöffnete Fahrerfenster drang. In der Gegenrichtung floss der Verkehr ohne Stau.

»Eine Sekunde«, rief Kathrin ins Telefon. Mit dem rechten Ohr hörte Birgit, wie sie etwas zu jemandem sagte, der offenbar mit ihr im Raum war. Sie verstand das Wort Papa. Dann war die Freundin wieder dran. »Entschuldige. Bist du gut angekommen? War der Schlafwagen bequem?«

»Alles bestens. Ich bin im Taxi, auf dem Weg zur Wohnung. Wie geht es deiner Mutter?«

»Sie hat sich den rechten Oberschenkel gebrochen. Das ist gestern Nachmittag sofort operiert worden. Die Ärzte konnten danach noch nichts Genaues sagen. Ich fahre nachher wieder ins Krankenhaus. Ich … Papa, lass das bitte einfach stehen …« Wieder diffuse Geräusche aus dem Hörer. Ein Scheppern, als fiele etwas zu Boden, Kathrins Stimme, dann die ungehaltene Stimme eines alten Mannes.

Birgit wartete. Kathrin hatte nie viel über ihre Eltern gesprochen. Sie war nur selten zu ihnen in die niedersächsische Kleinstadt gefahren. Irgendein Zerwürfnis mit dem Vater aus früheren Jahren. Dann am Vortag der Anruf von einer Nachbarin. Die Mutter sei beim Putzen gestürzt und ins Krankenhaus gebracht worden, und der Vater sei mit der Situation überfordert. Sie sei doch das einzige Kind, sie müsse sofort kommen. Da war der Möbelwagen mit Kathrins Sachen gerade in Hamburg losgefahren Richtung neue süddeutsche Heimat.

»Bigs?« Kathrin war wieder am Telefon. »Ich fürchte, ich schaffe es nicht, schon heute Abend runterzukommen. Ich kann im Moment auch nicht sagen, ob es morgen klappt. Ich …« Birgit setzte sich auf. Da war etwas in Kathrins Stimme, das sie nicht kannte.

»Warum? Ist es so schlimm mit deiner Mutter?«

»Nein, das heißt, ich weiß es noch nicht. Aber das Problem ist …« Kathrin schien zu zögern. Birgit sah sie vor sich, wie sie sich mit der Hand durch die Ponyfransen fuhr. »Ich kann dir das gerade nicht erklären. Lass uns heute Abend reden, dann ist mehr Ruhe.«

Birgit begriff, dass das auf den Vater gemünzt war, diesen ehemaligen Verwaltungsbeamten, der auch Frau und Tochter nach strikten Verfahrensregeln kommandierte. Jedenfalls hatte Kathrin das als Hintergrund des Zerwürfnisses angedeutet. Für Birgit war das kaum nachvollziehbar gewesen. Blieben Eltern nicht doch immer Eltern? Ihre eigenen waren fünf Jahre zuvor bei einem Autounfall gestorben. Zusammen. Irgendwie war es ein Trost für sie, dass keiner von ihnen allein zurückblieb.

»Ich habe gerade eben mit dem Umzugsunternehmen telefoniert«, fuhr Kathrin fort. »Sie kommen wie verabredet um zwölf, bringen aber mehr Leute mit. Sie haben die Anweisung, die Wohnung so weit wie möglich fertig einzurichten. Die sollen auch die Kisten auspacken. Du musst nichts heben, nicht mal eine Tasse, hörst du?«

»Aber das kostet ein Vermögen!«

»Das ist mir völlig egal. Du bist wegen mir von jetzt auf gleich losgefahren, um den Möbelwagen in Empfang zu nehmen. Ich weiß sowieso nicht, wie ich das wiedergutmachen soll …«

»Quatsch. Ich habe dir doch gesagt, dass du bei mir offene Türen einrennst. Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich bin, von Hamburg weg zu sein.« Birgit merkte, dass die Taxifahrerin sie interessiert im Rückspiegel beobachtete. Der Wagen stand wieder. Wenn das so weiterging, würde sie zum Termin mit der Maklerin zu spät kommen.

»Ach, Bigs …«

»Kümmer dich um deine Eltern, ich mache das hier schon. Ich melde mich, sobald die Möbel da sind«, beendete Birgit das Gespräch und rückte ans Seitenfenster, um dem Blickfeld des Rückspiegels zu entgehen. Sie wollte nicht, dass diese Frau die Tränen sah, die Kathrins Mitleid ihr in die Augen trieb. Sie wollte sich nicht mehr wie ein Hund fühlen, den jemand nachts an einer einsamen Landstraße ausgesetzt hat und der immer noch darauf wartet, dass Autoscheinwerfer in der Ferne auftauchen.

Es ging wieder ein Stück voran. Dieses Mal hielten sie an einer Stelle, an der eine kleine Plattform den Bürgersteig zu einem Aussichtspunkt mit Sitzbänken und Münzfernrohren erweiterte. Auch vom Auto war ein Blick ins Tal zu erhaschen. Gerade brach die Morgensonne durch eine Wolkenlücke. Ein seltsam fernes gelbliches Licht legte sich über die Stadt, auf die sie hinabsah. Es glitzerte auf dem sanft geschwungenen Fluss, der hindurchfloss. Es schimmerte auf den aneinandergedrängten Dächern der Altstadt. Alles dort unten schien wie unter einer Glocke entrückter Stille zu liegen. Für einen Moment empfand Birgit ein tiefes Gefühl von Frieden. Vielleicht war diese Reise gar keine Flucht. Vielleicht war es gut, eine Fremde zu sein in einer Stadt, die sie an nichts erinnerte.

2

Darf das jetzt wahr sein?« Die Taxifahrerin drückte zum dritten Mal lang anhaltend auf die Hupe, doch das änderte nichts daran, dass ein Lkw die Straße blockierte. Zwei Männer in Maurerklamotten traten aus dem Haus, vor dem er stand. Der ältere der beiden sah zum Taxi hinüber. In einer bedauernden Geste hob er die Hände gen Himmel.

Die Taxifahrerin stieß ihre Tür auf und zog sich am Dachrahmen hoch. »Ihr habt Nerven. Wie lange soll der Laster da noch stehen?«

»Gute Frau, Aufregen bringt nichts. Sie sehen doch, dass Sie hier nicht durchkönnen. Steht übrigens auch auf dem Hinweisschild an der Straßeneinfahrt. Das dauert mit dem Abladen.« Der Mann war ein paar Schritte näher gekommen. Sein Blick maß anerkennend die enge Lederjacke. Die Taxifahrerin schaltete den Angriffsmodus ab. Jedenfalls tat das ihre Rückenmuskulatur. Die Anspannung im Schulterbereich lockerte sich, wie Birgit registrierte. Das Leben formt den Körper. Eine schlichte Tatsache mit komplexer Wirkung, die ihr im Lauf ihrer Berufsjahre immer klarer geworden war. Das Leben formt den Körper in jeder Sekunde. Und irgendwann summieren die Sekunden sich zu Problemen, mit denen die Leute beim Physiotherapeuten landen.

»Bei euch dauert immer alles etwas länger.« Die Stimme der Taxifahrerin gurrte jetzt. »Ihr werkelt hier doch schon seit über einem Jahr herum.«

»Das Haus steckt eben voller Überraschungen. Am besten Sie drehen um und suchen einen anderen Weg durch das Chaos.« Der Mann zwinkerte der Taxifahrerin zu. Dann schlenderte er zu seinem Kollegen am Lastwagen zurück.

Birgit sah nervös aufs Handydisplay – halb zehn. Die Maklerin würde sicher schon auf sie warten. »Wie weit ist es denn noch bis Hausnummer 22? Kann ich das letzte Stück laufen?«

Die Taxifahrerin kam um den Wagen herum und hielt ihr die Tür auf. »Da müssen Sie nicht weit laufen. Grad über die Straße. Ich kann Sie nur nicht bis vor die Tür fahren.«

Ungläubig folgte Birgits Blick der Richtung, in die sie zeigte. Es war das Haus, in das die Handwerker gerade einen Sack Zement schleppten. »Das da ist Weinlände 22? Aber das ist doch eine Baustelle.«

Ein triumphierendes Lächeln legte sich auf das Gesicht der Taxifahrerin. Sie hob den Trolley vom Rücksitz und machte sich daran, ihn über die Straße zu ziehen.

»Nein, Moment!« Birgit war selbst überrascht von der Heftigkeit ihres Ausrufs. »Da stehe ich doch nur im Weg. Ich werde hier warten. Es regnet ja im Moment nicht.«

Schulterzuckend drehte die Frau um und stellte den Trolley neben Birgit auf dem Bürgersteig ab. »Soll ich vielleicht bleiben, bis Sie hier fertig sind? Dann kann ich Sie direkt ins Hotel fahren oder wohin Sie sonst wollen. Könnte nämlich dauern, bis ein Kollege hier ist, wenn Sie dann erst einen rufen.«

»Danke, nicht nötig.« Birgit spürte, wie die Euphorie, die sie beim Blick von oben auf die Stadt erfüllt hatte, in sich zusammensank. Warum hatte Kathrin kein Wort davon gesagt, dass in dem Haus noch gebaut wurde? Oder hatte sie es gesagt und sie ihr nur nicht zugehört? Sie tastete in der Jackentasche nach dem Handy. Dann zögerte sie. Wollte sie die Freundin wirklich bei der kleinsten Irritation anrufen? Vielleicht waren die Handwerker ja bei den letzten Feinarbeiten und würden noch am selben Tag aus dem Haus verschwinden. Sie musste das mit der Maklerin klären, bevor sie Kathrin damit behelligte. Wenn da nur nicht diese Mutlosigkeit wäre, die sich schon wieder in ihr ausbreitete. Sie hasste sich in diesem Zustand.

Die Taxifahrerin stand immer noch da, kaum verhüllte Gier auf ein Drama im Blick. »Danke, Sie müssen nicht warten«, wiederholte Birgit. »Was kriegen Sie für die Fahrt?«

 

Zwei Minuten später drehte das Taxi mit rasantem Schwung. Die Fahrerin nickte einen Abschiedsgruß, bevor sie davonpreschte. Birgit sah dem Wagen nach. Warum hatte sie der Frau so viel Trinkgeld gegeben? Eigentlich wollte sie es gar nicht. Doch sie hatte zu wenig Kleingeld im Portemonnaie. So musste sie ihr, um dreiundzwanzig Euro siebzig zu bezahlen, einen Zwanzig- und einen Zehneuroschein reichen. Und dann hatte sie sich nicht getraut, um Rückgeld zu bitten. Nicht mal einer ziemlich unfreundlichen Taxifahrerin gegenüber reichte ihr Selbstbewusstsein.

Sie fühlte sich schlecht. Der Gedanke, dass sie später irgendwo Geld abheben musste, machte es nicht besser. Warum hatte sie nicht in Hamburg daran gedacht? Warum hatte sie nicht mit einkalkuliert, dass sie das Trinkgeld für die Möbelpacker auslegen musste, falls Kathrin nicht rechtzeitig nachkam? Wenn Georg in den Kontoauszügen sah, an welchem Automaten die Abhebung erfolgte, dann wusste er, wo sie war. Das hatte sie verhindern wollen.

Aber das war noch nicht alles. Jedes Mal, wenn sie etwas abhob, musste sie denken, dass es sein Geld war. Seit sie verheiratet waren, hatten sie ein gemeinsames Konto. Mit ihrer Dreiviertelstelle trug sie immer nur einen kleinen Teil zum Einkommen bei. Georg wollte nie, dass sie mehr verdiente. Es rentiere sich steuerlich für ihn nicht, hatte er ihr vorgerechnet und dann eine therapeutische Diskussion darüber begonnen, warum sie glaube, dass die Balance in ihrer Beziehung etwas mit der Einkommensverteilung zu tun habe.

Jetzt, da sie nur noch Krankengeld bekam, war ihr Beitrag auf ein Minimum gesunken. Neben der quälenden Sorge, wie es nach dem Bandscheibenvorfall für sie beruflich weitergehen konnte, war das bisher nicht ihr Hauptproblem gewesen. Schließlich, so Georgs Worte, gehöre es zum Grundvertrauen in einer Partnerschaft, sich in solchen Situationen aufeinander verlassen zu können. Grundvertrauen! Die Erinnerung an das Gespräch schnitt tief wie eine Rasierklinge. Sie hatten es geführt, als sie noch in der Rehaklinik war. Da begann sie gerade zu begreifen, dass sie nie wieder Patienten würde heben können.

Es war nicht so, dass sie befürchtete, er könnte ihre EC-Karte sperren lassen. Das würde er nie tun. Auch jetzt nicht. Aber sie wollte nicht von seinem Geld abhängig sein, wollte nicht, dass er sich edel fühlen konnte, weil er sie weiter unterstützte. Sie, die seine Hilfe brauchte. Sie, die gerade so desorientiert und verletzt war. Sie kannte ihn. Sie wusste, wie er dachte. »Ich habe viel über uns nachgedacht.« So hatte er an diesem Sonntagmorgen angefangen. Der gottverfluchte Mistkerl.

»Was machst du hier?«

Schlagartig war Birgit wieder in der Gegenwart. Sie merkte, dass sie ihre Hand in der Jackentasche zur Faust geballt hatte. Sie öffnete und schloss die Finger ein paarmal, während sie sich umdrehte. Neben ihrem Trolley stand ein Mädchen mit gelber Regenjacke. Der Rucksack auf seinen Schultern sah so schwer aus, dass es fast nach hinten wegzukippen drohte.

»Ich stehe hier rum. Und was machst du?«, fragte Birgit zurück.

»Ich gehe in die Schule. Wir haben heute nämlich erst ab der dritten Stunde Unterricht. Rechnen.«

Birgit fiel auf, wie blass das Mädchen war und wie zart. Es war vielleicht zehn Jahre alt. Aus sehr großen, sehr blauen Augen sah es mit tiefer Ernsthaftigkeit zu ihr auf. Sie kannte solche Kinderblicke. Es erinnerte sie an ihre Zeit in einer Einrichtung für Kinder mit spastischen Erkrankungen. Ihre erste Stelle nach der Ausbildung. Alle im Team waren begeistert und engagiert. Nie war sie so sicher gewesen, den richtigen Beruf gewählt zu haben.

Das Mädchen sah sie immer noch unverwandt an. »Und, magst du Rechnen?«, fragte Birgit.

»Ja, sehr. Ich habe eine Zwei. Vielleicht schaffe ich bis zum Jahreszeugnis eine Zwei plus. Ich will nämlich aufs Gymnasium gehen.«

»Das ist toll. Aber weißt du was …« Birgit zögerte. Eigentlich ging es sie nichts an. Aber sie konnte manche Sachen nicht einfach mit ansehen. »Du solltest vielleicht nur das in deinen Rucksack packen, was du für den Schultag brauchst. Wenn du zu viel Zeug mit dir rumschleppst, dann ist das nicht so gut für deine Wirbelsäule. Du könntest zum Beispiel mit deiner Mama zusammen einen Plan machen, was an welchem Tag dran ist, und dir das abends immer schon hinlegen.« Ein Flackern im Blick des Mädchens signalisierte ihr, dass sie etwas Falsches gesagt hatte. »Oder du fragst deinen Papa«, ergänzte sie schnell.

»Ach, das ist schon okay. Ist gar nicht so schwer.« Die Kleine straffte demonstrativ die Schultern. »Ich muss dann mal weiter, sonst komme ich zu spät.«

»Alles klar. Dann viel Spaß beim Rechnen.«

Das Mädchen lächelte zum ersten Mal und trabte los. Doch nach ein paar Schritten drehte es sich noch einmal um. »Ich heiße Kiara. Und du?«

»Birgit.«

»Tschüs, Birgit.« Kiara winkte. Dann setzte sie ihren Weg fort. Sie ging sehr aufrecht, als wollte sie beweisen, dass ihr Rucksack ganz sicher nicht zu viel wog.

 

Birgit sah wieder aufs Handy – Viertel vor zehn. Wo blieb die Maklerin? Irgendwo in der Weinlände 22 setzte hämmernd eine Bohrmaschine ein. Sie machte ein paar Schritte, um am Lastwagen vorbei einen Blick auf das Haus zu werfen. Seine frisch renovierte Fassade stach unter den Nachbargebäuden hervor. Es war schön, stattlich sogar, mit dem Erdgeschoss dreistöckig. Über die beiden oberen Geschosse zog sich ein stuckverzierter Erker. Zwischen den Etagen prangten breite Zierfriese, die, soweit es aus der Entfernung erkennbar war, Szenen aus dem Weinbau schilderten. Sie wirkten plastisch, da sie gegen die cremefarbene Vorderfront in Weiß abgesetzt waren. Ein Fremdkörper war allerdings die metallene Bautür im Eingang. Es sah fast aus, als hätte jemand einen Mund mit einem Stahlpflaster verschlossen.

Bei den Nebenhäusern war von Sanierung noch nichts zu erkennen. Im Gebäude zur Rechten waren Eingang und Erdgeschossfenster mit Brettern zugenagelt. Die abbröckelnde Front zierten aufgesprühte Parolen. »No pasarán!« – »Wir bleiben hier!« – »Das Ziechle-Haus darf nicht fallen!« Das Haus zur Linken schien leer zu stehen, doch als Birgits Blick es streifte, nahm sie eine Bewegung an einem Fenster im ersten Stock wahr. Schemenhaft erkannte sie eine Frau mit einem Kleinkind auf dem Arm, die sich rasch hinter die Gardine zurückzog.

Der Bohrmaschinenlärm verstummte. In der einsetzenden Stille, die im Kontrast umso tiefer wirkte, hörte sie plötzlich das gleichmäßige Rauschen des Flusses. Kathrin hatte vom Blick aus dem Erkerzimmer aufs Wasser geschwärmt. Doch von der Straße aus sah man das Flussbett zunächst nicht, da es in einer tiefen Rinne lag. Sie trat an das Geländer, das den Bürgersteig sicherte. Dahinter fiel ein mit Heckenrosen und wildem Wein bewachsener Hang zum Ufer ab. Leise quakend paddelte ein Entenpaar gegen den Strom. Es musste sich anstrengen, das Wasser floss schnell.

Nach einem kurzen Stück flussaufwärts gingen die Enten an Land. An der Stelle führten Stufen vom Ufer bis zu einem Podest auf halber Höhe. Vor flüchtigen Blicken von der Straße hinter alten Bäumen verborgen, erhob sich darauf ein steinerner Engel. Er stand da, in seine Flügel gehüllt, und verdeckte das Gesicht mit den Händen. Birgit zuckte zusammen. Wie kam eine solche Friedhofsfigur an diesen Ort? Es musste irgendein Denkmal sein. Der Anblick bedrückte sie.

In dem Moment bog ein silberglänzendes Mercedes-SUV in die Straße ein. Es fuhr langsam. Die Zulassungsnummer war die der Landeshauptstadt. Am Steuer saß eine Frau. Ihr Handy hatte sie ans Ohr geklemmt, und mit einer Hand gestikulierte sie erregt. Kurz bevor sie die Höhe der Weinlände 22 erreichte, steuerte sie den schweren Wagen mit den rechten Reifen auf den Bürgersteig. Sie schaltete den Motor aus und telefonierte noch ein, zwei Minuten weiter. Dann legte sie das Handy weg und starrte vor sich hin. Es dauerte einen Moment, bis sie realisierte, dass Birgit erwartungsvoll in ihre Richtung sah. Ein Ruck schien durch ihren Körper zu gehen. Dann entstieg sie betont dynamisch ihrem sportlichen Gefährt.

»Die Verkehrssituation in dieser Stadt ist heute Morgen eine Katastrophe. Bitte entschuldigen Sie meine Verspätung«, rief sie schon von weitem und kam mit ausgestreckter Hand auf Birgit zu. »Cora von Stölzer, Stölzer Immobilien Exklusiv. Sie müssen Frau Voss sein. Hatten Sie eine angenehme Herreise?«

Birgit ergriff die dargebotene Hand. »Ich bin nicht Frau Voss, ich bin eine Freundin von ihr. Birgit Imhoff ist mein Name. Kathrin, ich meine Frau Voss, sagte mir, Sie seien informiert, dass ich heute an ihrer Stelle hier bin. Sie ist in einer dringenden Familienangelegenheit verhindert.«

Die Hand der Maklerin war kalt, ihr Druck unerwartet matt. »Sicher, ja, gewiss, äh … Ich bitte um Vergebung. Frau Voss hatte seinerzeit Kontakt mit meinem Mann. Darum weiß ich nicht, wie sie aussieht.«

Auf Cora von Stölzers Gesicht lag ein Zug irritierten Erstaunens. Einen Augenblick fragte Birgit sich, ob ihre Erscheinung nicht den Erwartungen an die Mieterin eines gehobenen Objekts entsprach. Sie trug eine praktische Allwetter-Kapuzenjacke, Jeans und Sportlaufschuhe. Das Einzige an ihrer Ausstattung inklusive Trolley, das von einem teuren Label stammte, waren die Schuhe. Doch sie hatte sie nicht wegen der trendigen Streifen gekauft. Die spezielle Gelpolsterung der Sohle tat ihrem Rücken gut. Klamotten und Accessoires waren ihr nie wichtig genug gewesen, um viel dafür auszugeben.

Ganz im Gegensatz zu Cora von Stölzer. Vom perfekt sitzenden dunkelblauen Hosenanzug über die cremefarbenen Wildlederpumps und die farblich abgestimmte Aktentasche bis zu dem dezent glitzernden Diamantring an ihrer Hand demonstrierte ihr Outfit Geld und Geschmack. Es war etwas an ihr, das Birgit zum zweiten Mal an diesem Tag ein Flashback zu den Anfängen ihrer beruflichen Laufbahn verschaffte. Genauer gesagt zu dem Teil ihrer Ausbildung, den sie in einer international bekannten Privatrehaklinik in der Schweiz absolvierte.

Es gab dort eine bestimmte Sorte wohlhabender Patientinnen um die sechzig, die ihren Aufenthalt zur Ausschau nach einem exklusiven Ehepartner über achtzig nutzten. Wobei das Alter Cora von Stölzers schwer zu schätzen war. Auch dafür hatte sie vermutlich viel Geld gezahlt. Das wurde Birgit klar, als die Maklerin sich ein strahlendes Lächeln abrang. Ihre Augenpartie konnte gar keinen anderen Ausdruck als den des Erstaunens annehmen. Sie war zu straff geliftet worden. »Wann wird Frau Voss denn eintreffen?«, fragte sie betont beiläufig.

»Das ist noch nicht ganz sicher. Dafür bin ich ja hier.«

»Natürlich. Wir hätten die Wohnungsübergabe aber auch später organisieren können, wenn Frau Voss nur etwas gesagt hätte. Jetzt mussten Sie sich die Mühe machen, extra dafür anzureisen.«

»Nicht extra dafür. Der Möbelwagen kommt in zwei Stunden. Da ist es ja wohl sinnvoll, wenn jemand in der Wohnung ist.« Birgit spürte ein nervöses Ziehen im Magen. Der Lkw stand immer noch unentladen im Weg.

Das Lächeln im Gesicht der Maklerin fror ein. »Der Möbelwagen? Sie meinen, Sie wollen heute hier einziehen?«

»Ja sicher. Ich dachte, das sei alles besprochen. Gibt es da irgendein Problem?«

»Nein, nein, ganz und gar nicht.« Cora von Stölzers Blick streifte hastig den Lastwagen. »Vielleicht gab es ein kleines Kommunikationsproblem zwischen meinem Mann und Ihrer Freundin, was den Einzugstermin …« Der Rest des Satzes ging im Lärm des wieder einsetzenden Schlagbohrers unter.

»Aber soviel ich weiß, zahlt Kathrin seit dem 1. September Miete. Das gibt es doch gar nicht, dass sie dann nicht in die Wohnung reinkann«, überbrüllte Birgit das Geräusch.

Die Maklerin lächelte eisern und deutete mit einer Handbewegung an, sie habe nichts verstanden. Birgit fühlte sich wie in einem absurden Traum. Sie sah, dass die Frau mit dem Kind auf ihren Beobachtungsposten am Fenster zurückgekehrt war. In dem Moment begann es zu nieseln. Ob es der Regen war oder ein plötzlicher Entschluss … in Cora von Stölzer kam Bewegung. Sie griff Birgits Trolley und signalisierte ihr mit dem Kopf, ihr über die Straße zu folgen. Gerade als sie den Bürgersteig betraten, wurde es im Haus wieder ruhig. Jeder Mauerstein schien erleichtert aufzuatmen.

»Meine Liebe, machen Sie sich keine Gedanken. Ich sagte ja, es gibt überhaupt kein Problem«, setzte die Maklerin das Gespräch im Konversationston fort. »Selbstverständlich ist die Wohnung bezugsfertig. Sie ist ganz entzückend geworden. Sie werden begeistert sein.«

»Aber die Bauarbeiten …«

»Wir haben insgesamt in der Zeitplanung leider eine kleine Verzögerung. Ich muss mich wirklich entschuldigen, dass es für kurze Zeit im Haus noch ein paar Unannehmlichkeiten gibt. Frau Voss ist die Erste, die einzieht. Natürlich kommen wir ihr bis zum endgültigen Abschluss der Arbeiten mit dem Mietzins entgegen. Und ab achtzehn Uhr ist es auf jeden Fall herrlich ruhig.« Mit Mühe hob Cora von Stölzer den Trolley die zwei Stufen zur Haustür hinauf. Birgit dachte an all das, was sie eingepackt hatte. Auch der Laptop war dabei. Sie könne bei ihr Asyl haben, solange sie wolle, hatte Kathrin gesagt. Die Wohnung sei groß genug.

Birgit folgte Cora von Stölzer in den Hausflur. Geradeaus begann das Treppenhaus nach oben. Die Stufen waren mit fester Plastikplane abgedeckt. An einer Stelle, an der die Plane einen Riss hatte, glänzte dunkles Holz. Zur Rechten fiel der Blick durch eine halb offen stehende Metalltür in einen Wohnungsflur, in dem Fliesenpakete darauf warteten, verlegt zu werden. Nach links führte ein kurzer Gang, an dessen Ende eine Treppe in den Keller abzweigte. Von dort drangen Männerstimmen herauf und ein Nebel von Baustaub.

»Bedauerlicherweise steht im Moment noch kein Waschkeller zur Verfügung. Und auch der Ausbau der sonstigen Kellerräume dauert noch etwas. Ich muss mich da wirklich entschuldigen, aber wir hatten in diesem Gebäude mit höherer Gewalt zu kämpfen. Da war dieses alternative Pack, an das die Stadt vermietet hatte, das nach dem Verkauf an unsere Firma einfach nicht ausziehen wollte. Sie haben vielleicht die Schmierereien am Haus nebenan gesehen. Einen Mordswirbel haben die veranstaltet, sich an die Medien gewandt, einen Aufruf im Internet gemacht. Gentrifizierung!« Die Maklerin spuckte das Wort voller Verachtung aus. »Wenn ich das schon höre. Als ob es ein Recht darauf gäbe, in schönen alten Häusern in bester Wohnlage zu leben und eine Miete wie im Studentenwohnheim zu zahlen. Wer fragt danach, was unserem Unternehmen für ein Schaden aus der Verzögerung entstanden ist? Wir mussten klagen, wir mussten den Räumungsbefehl beantragen. Und am Ende bleiben die Kosten für den Polizeieinsatz auch noch an uns hängen.«

Einen Moment nahm Cora von Stölzers Gesicht den versteinerten Ausdruck an, den es im Auto nach dem Telefonat hatte.

»Wissen Sie, woher der Name Ziechle-Haus kommt?«, fragte Birgit.

»Ach, da haben diese Besetzer eine uralte Geschichte von einem Aufrührer ausgegraben, der angeblich hier ums Leben gekommen ist. Revolution von 1848. Sogar eine Solidaritätstafel hatten sie an der Stelle angebracht, an der es passiert sein soll. Da!« Cora von Stölzer wies an die Wand des Treppenhauses. »Beim Abschrauben der Tafel kam der halbe Putz runter, und wir haben die Kacheln dahinter entdeckt.«

Jetzt erst fiel Birgit der Zierfries auf, der sich parallel zum Anstieg der Stufen auf halber Wandhöhe die Treppe hinaufzog. Auf weißem Grund flatterten blaue und gelbe Vögel. »Das ist ja hübsch«, sagte sie.

»Nicht wahr? Aber die Entdeckung bedeutete wieder einige Wochen Stillstand, bis die Leute vom Amt für Denkmalpflege das alles begutachtet hatten. Die Mosaike stammen aus der Bauzeit des Hauses um 1810.« Die Maklerin wollte wieder nach dem Trolley greifen, da polterten schwere Schritte die Kellertreppe herauf.

»Frau von Stölzer? Ich meinte doch Ihre Stimme zu hören.« Es war der Arbeiter, der mit der Taxifahrerin gesprochen hatte. »Der Chef sagt, er versucht seit Tagen, Ihren Mann oder Sie zu erreichen.«

Cora von Stölzers Lächeln wurde noch eiserner. »Ich wüsste nicht, wo da das Problem liegen sollte. Was gibt es denn?«

Der Mann wiegte vielsagend den Kopf. »Ich nicht wisse, was Cheffe alles auf Liste.« Er grinste über sein scherzhaft gebrochenes Deutsch und fuhr dann im heimischen Dialekt fort: »Aber da wäre zum Beispiel die Frage, wie wir jetzt in der Angelegenheit da unten weiter vorgehen.«

»Darüber hatten wir doch bereits gesprochen.«

»Aber wir haben inzwischen noch mehr entdeckt. Das ist ein uralter Gewölbebogen, der da hinter der Wand …«

»Herr Nägele, in Städten wie diesen stößt man beim Bauen ständig auf irgendwelche alten Mauerreste. Das bedeutet nicht, dass die historisch wertvoll sind.«

»Können Sie so gar nicht wissen, Frau von Stölzer. Können Sie nicht wissen.« Nägele legte nachdenklich einen Finger an den Mund.

»Sind Sie Polier oder Archäologe? Ich sage Ihnen, das Zeug da unten ist uninteressant. Sie machen die Wand wieder zu, legen eine Isolierschicht darüber und fertig.« Einen Moment verließ Cora von Stölzer das Lächeln. Dann schien sie sich zu erinnern, dass Birgit das Gespräch mitbekam. »Könnten Sie bitte dafür sorgen, dass der Lkw so schnell wie möglich entladen wird? Die Dame hier, Frau … äh …«

»Imhoff«, sprang Birgit ein.

»Natürlich. Frau Imhoff erwartet in zwei Stunden den Möbelwagen. Die Packer sollen die Sachen nicht die halbe Straße langschleppen müssen.«

»Sie wollen hier heute einziehen?« Der Polier betrachtete Birgit mit einem Blick, als hielte er sie für geistig nicht zurechnungsfähig. »Na, was für ein Glück, dass es seit gestern Strom in der Wohnung gibt.« Damit nahm er den Trolley und trug ihn schwungvoll die Treppe hinauf.

Die Stadt

Schon seit dem fünften vorchristlichen Jahrhundert lebten Menschen am Ufer des Flusses, der gemächlich durch ein tief eingeschnittenes Tal inmitten einer bewaldeten Hochebene floss. Dort, wo das Tal sich auf tausend Meter Länge und siebenhundert Meter Breite zu einer fruchtbaren Senke weitete, gründeten sie die erste Siedlung. Sie wuchs und gedieh zunächst unberührt von den Zeitströmen, die außerhalb des Tals bereits Spuren hinterließen. So rodeten die Römer kaum zehn Kilometer entfernt den Wald, um eine Schnellstraße über die Höhen zu führen. Ob sie den kleinen Ort am Fluss nicht bemerkten oder keine Lust hatten, die steilen Hänge hinunterzusteigen, wurde nicht überliefert.

»Welch Juwel die Stadt ist, gerahmt in liebliche Weingärten. Süße Freude erfüllt das Herz des Reisenden, der zum ersten Mal von den Höhen herabschaut auf Dächer, über denen heiterer Frieden schwebt.« So schwelgte der Universalgelehrte Johann Gottlieb von Finkenau im Jahr 1685. Dabei übersah er, dass es für Reisende seiner Zeit ungewöhnlich war, sich der Stadt von der Hochebene her zu nähern. Die Verkehrsinfrastruktur in den dichten Wäldern hatte seit den Römern kaum Fortschritte gemacht. Von Finkenau dürfte die süße Freude bei seinen Besuchen im Sommerschloss der Grafen von Merenstein überkommen haben, das hoch über der Stadt errichtet worden war. Genau genommen besuchte er dort die Gräfin von Merenstein. Aufgrund der häufigen reisebedingten Abwesenheit ihres Gatten hatte sie ihre Leidenschaft auf die Gründung eines Gelehrtenkollegs gerichtet – und auf von Finkenau, den sie zu dessen Kopf berief. Dass sein Nachruhm vor allem durch die Veröffentlichung seiner erotischen Korrespondenz mit der Gräfin begründet wurde, ist eine andere Geschichte. In den Annalen der späteren Universität wird er als erster wissenschaftlicher Leiter dezent verschwiegen.

Was die Stadt mit der Welt verband, war der Fluss. Seit dem 14. Jahrhundert transportierten Flöße Holz und Wein, die Güter der Region, bis in die großen Handelsstädte. Auf der holprigen Landstraße, die dem Talverlauf folgte, kam Geld zurück. Kaufleute errichteten bei den Anlegestellen Wohn- und Lagerhäuser, die mit ihren vorgebauten Obergeschossen aussahen, als wollten sie sich zu dem Treiben auf der Straße hinunterbeugen. Doch was sie das Tal heraufziehen sahen, war oft wenig erfreulich.

Ihr Wohlstand machte die Stadt immer wieder zum beliebten Ausflugsziel bewaffneter Scharen. Erst als das Geschlecht derer von Merenstein sie als Eigentum annektierte, wurde es ruhiger. Jedenfalls bis in der Welt draußen der Dreißigjährige Krieg ausbrach. Die Merensteiner waren evangelisch. Prompt zog ein Söldnerheer der katholischen Liga heran. Fast ein Jahr lagerte es flussabwärts auf den Wiesen. Dass es nie einen ernsthaften Sturmversuch unternahm, lag wohl vor allem an der Pestepidemie, die in den eingeschlossenen Gassen ausbrach. Ein Drittel der Bevölkerung fiel ihr zum Opfer.

3

Allein essen zu gehen war für Birgit eine seltsam unvertraute Handlung. Es hatte in ihrem bisherigen Leben kaum je eine Veranlassung dazu gegeben. Sie war fünfzig Jahre alt. Und sie war noch nie allein gewesen. Die Erkenntnis überfiel sie mit gnadenloser Macht, als sie gerade an einem der langen Tische eines Lokals in der Altstadt Platz genommen hatte.

Seit dem Jahr 1632 befand sich die Weinstube in einem alten Gewölbekeller an diesem Ort, war der Speisekarte zu entnehmen. Der Wein wurde in kleinen Bierkrügen serviert. Birgit bestellte »ein Viertele« und später noch eines. Da sie nur selten Alkohol trank, wich das Erschrecken über ihre Einsamkeit bald einer diffusen Milde. Zu ihrer Überraschung blieb nicht ein einziger Bissen der Spezialität des Hauses, Schnitzel mit Bratkartoffeln, auf dem Teller zurück. In Hamburg hatte sie sich zwingen müssen, überhaupt zu essen.

Eine Weile unterhielt sie sich mit einem älteren einheimischen Ehepaar, das ihr gegenübersaß. Die beiden erklärten ihr die Wandmalereien des Lokals, die Szenen aus der Stadtgeschichte schilderten. Die war, wie es schien, eng verbunden mit der Produktion, dem Verkauf und dem Genuss von Wein sowie mit der Universität. Auf einem Gemälde schwenkten Studenten heroisch eine schwarz-rot-goldene Fahne. Senkrecht gestreift, nicht waagrecht, die Fahne der Republikaner von 1848, erfuhr sie. Bevor sie fragen konnte, ob das Paar etwas über einen Revolutionär mit Namen Ziechle wusste, verhinderte das lautstarke Eintreffen einer japanischen Reisegruppe jede weitere Verständigung.

Als sie schließlich die Treppen zur Straße wieder hinaufstieg, war es dunkel geworden. Sie warf noch einen Blick auf den Lichtschein, der aus den Kellerfenstern drang, dann machte sie sich auf den Heimweg. Zu Fuß war die Strecke von den mittelalterlichen Gassen der Altstadt bis zum Fluss in zehn Minuten zurückzulegen. Der Nieselregen hatte aufgehört. Sie ging langsam. Nach der Geräuschkulisse des vollen Lokals hallte die Stille in den Straßen umso mehr. In Hamburg war es nie so still. In Hamburg war es auch nie so dunkel. Die Laternen verbreiteten in der gesamten Innenstadt ein weiches gelbliches Licht, das die Hausfassaden nur spärlich erleuchtete. Das wirkte romantisch, was wohl auch die Absicht war. Doch in schmalen Seitengassen und unter vorstehenden Erkern sammelten sich Schatten.

Sie bog in die Weinlände ein. Vom Taxi aus war ihr am Morgen die große Werbetafel nicht aufgefallen, die an einem Holzgerüst auf der Flussseite angebracht war. Sie zeigte ein Schaubild, wie der Straßenzug nach der Sanierung aussehen würde. »Weinlände – das Besser-leben-Quartier: Komfortabel und exklusiv wohnen im alten Herzen der Stadt« stand als Slogan darüber.

Sie ging weiter. Vor allem dunkel war es im alten Herzen der Stadt. Die Straßenlaternen der Weinlände standen auf dem Bürgersteig an der Flussseite. Ihren Schein dämpften überhängende Zweige von Bäumen hinter dem Sicherungsgeländer. Sie hielt sich auf ihrer Seite nah bei den Häusern. Die ersten Gebäude in der Straße waren bereits saniert und zum Teil bewohnt. An einem Haus, das noch eingerüstet war, hing ein Banner der Immobilienfirma. Dieser Sanierungsabschnitt gehörte offenbar nicht zum Besitz von Stölzer Immobilien Exklusiv.

Sie sah aus den Augenwinkeln nach rechts hinüber zu dem Durchgang im Bürgersteigsgeländer, auf dessen Höhe sie jetzt war. Auf dem Hinweg war sie die Treppenstufen zu dem weinenden Engel, der dort auf seiner Plattform stand, hinuntergestiegen. Er beweinte, wie sich herausgestellt hatte, die im Ersten Weltkrieg gefallenen Söhne der Stadt. Ein Kriegerdenkmal, an dem in der Vergangenheit nicht nur getrauert wurde. Das bewiesen die in den Sockel geritzten, in Herzen vereinten Namen von Liebespaaren. Von ihrer Straßenseite aus konnte sie den Engel nicht sehen. Er war im Dunkel der Bäume verborgen. Trotzdem spürte sie wieder die seltsame Schwermut, die von ihm ausging.

Sie beschleunigte ihre Schritte. Das Haus Nummer 22 lag genau in der Mitte der Weinlände, fiel ihr nun auf, da kein Lastwagen mehr den Blick versperrte. Etwa hundert Meter voraus mündete von links eine Querstraße ein. Geradeaus ging es nicht weiter, da sich dort der Grünstreifen am Flussufer zu einem kleinen Park weitete. Auch die letzten beiden Gebäude davor waren Baustellen. Ein Schuttcontainer ragte so weit in den Fahrweg hinein, dass eine Durchfahrt unmöglich war. Sowohl der Bau-Lkw als auch der Möbelwagen hatten nach dem Entladen in abenteuerlich aussehenden Manövern rückwärts aus der Weinlände hinausmanövrieren müssen.

Es war nicht sehr spät, vielleicht halb zehn, doch die Häuser lagen in absoluter Stille. Sie sah an der Fassade von Nummer 22 hoch. Die Fenster waren dunkle Schattenhöhlen, die auf sie hinunterstarrten. Als sie nach der Verabschiedung der Möbelpacker losgezogen war, um Geld abzuheben und irgendwo etwas zu essen, waren die Handwerker noch da. Polier Nägele hatte ihr den Tipp mit der Weinstube gegeben und sie dann ermahnt, beim Heimkommen auf der Treppe vorsichtig zu sein. Die Abdeckplane sei an einigen Stellen etwas tückisch. Gleichzeitig legte er ihr ans Herz, trotzdem zügig hinaufzusteigen. Die Flurbeleuchtung mit Zeitschaltung sei zwar seit einigen Tagen installiert, allerdings gebe es im Moment nur den Hauptschalter neben der Eingangstür, die Schalter auf den Stockwerken seien noch nicht angebracht. Am besten sei daher, sie besorge sich eine Taschenlampe, auch für den Fall, dass sie womöglich im Dunkeln aus dem Haus gehen wollte.

Sie hatte seine Ausführungen mit mechanischem Kopfnicken registriert. In dem Moment war sie nur erschöpft und wollte weg von dem Baulärm und Staub und dem Umzugschaos in der Wohnung. Jetzt erst fragte sie sich, warum sie nicht darauf bestanden hatte, dass er ihr auf der Stelle eine Taschenlampe besorgte. Handwerker, die in Kellern herumbohrten, hatten doch bestimmt Taschenlampen in ihren Werkzeugkoffern. Da war sie wieder einmal nicht geistesgegenwärtig genug gewesen.

Die sanfte Milde, in die der Wein sie gehüllt hatte, zerstob mit einem Schlag. Umso härter war das Begreifen, dass sie in ein fremdes, altes, dunkles Haus zurückkehrte, in dem über Nacht außer ihr niemand war.

Sie zog den Schlüssel für die Bautür aus der Jackentasche, den Nägele ihr unter allerlei bedenklichem Kopfwiegen von irgendwoher besorgt hatte. Es knirschte, als sie ihn im Schloss umdrehte. Die Tür war schwer, und sie stemmte sich mit der Schulter gegen den Zug, damit sie nicht wieder zufiel. Die Dunkelheit im Flur war so dicht, dass der ohnehin dämmrige Schein der Straßenbeleuchtung höchstens einen halben Meter hineindrang. Wo war jetzt der Lichtschalter, rechts oder links? Sie tastete links. Nichts. Sie streckte den rechten Arm so weit es ging, doch sie kam einfach nicht ran an die Wand und trat einen Schritt vor. Das Zuggewicht der Metalltür drückte sie ganz über die Schwelle und zog die Tür hinter ihr zu. Sie stand im Dunkeln.

Sekundenlang war sie wie gelähmt. In ihrem Kopf war der panische Gedanke, irgendjemand sei in der Finsternis vor oder neben ihr, und sobald sie die Hand ausstreckte, würde sie ihn berühren. Sie zwang sich, weiterzuatmen. Das war doch lächerlich! Sie benahm sich wie ein Kind. Hektisch tastete sie nach rechts und fand den Lichtschalter sofort. Mit einem Klacken des Timers wurde es im Flur hell. Natürlich stand niemand vor oder neben ihr. Doch beim Blick nach links, dorthin, wo die Treppe in den Keller vom Flur abzweigte, überlief sie eine Gänsehaut.

Sie atmete tief durch und beeilte sich, die Haustür von innen wieder zu verschließen. Es ging nicht. Sie bewegte den Schlüssel vor und zurück – er ließ sich nicht drehen. Offenbar war die Tür nicht dazu gedacht, von innen verriegelt zu werden. Okay, außen war ein fester Knauf. Aber konnte nicht jeder das Schloss mit einer Haarnadel oder so etwas Ähnlichem öffnen? Nur, warum sollte jemand in eine Baustelle einbrechen? Die Antwort gab ihr der Anblick der offenen Wohnungstür rechts. Zum Beispiel, um Kacheln zu stehlen. Unwillig, ärgerlich schüttelte sie den Kopf. Warum hatte sie nur so viel Angst, sie, die früher vor nichts Angst hatte? Sollten sie doch alles mitnehmen, was hier an Handwerksmaterialien herumlag. Sie würde oben in Kathrins Wohnung mit dem Sicherheitsschloss tief und fest schlafen. Klack. Die Zeituhr war abgelaufen. Rasch schaltete sie das Licht wieder ein. Dann stieg sie die Treppe so zügig und so vorsichtig wie möglich hinauf. Gleich am nächsten Morgen würde sie Nägele bitten, den Timer auf ein längeres Intervall einzustellen. Was hieß bitten, unmissverständlich auffordern würde sie ihn dazu.

Sie hatte gerade den Absatz auf der Hälfte des Stockwerks erreicht, als sie das Geräusch hörte. Sie war nicht sicher, von wo es gekommen war, und auch nicht, ob es das Zuschlagen einer Tür war, ein Stöhnen oder eine Stimme, die einen Namen flüsterte. Sicher war nur, da war etwas gewesen. Etwas wie – ein leiser, alles durchdringender Laut. Sie blieb stehen. Ihre Hände und Beine waren eiskalt. Angespannt lauschte sie, doch sie hörte nur das Hämmern des Herzschlags in ihren Ohren. Ihr Herz schlug so laut, dass es in jedem Winkel des Hauses vernehmbar sein musste.

Das Licht! Es durfte jetzt nicht ausgehen. Sie stürzte den Rest der Stufen zum ersten Stock hinauf und holte mit zitternden Händen den Wohnungsschlüssel aus der Tasche. Sie versuchte, ihn ins Schloss zu stecken, doch es gelang nicht. In der Sekunde klingelte ihr Handy. Sie fuhr so heftig zusammen, dass der Schlüssel ihren Fingern entglitt. Klirrend fiel er zu Boden. Dann wurde es dunkel.

4

O verdammt! Verdammt, verdammt, verdammt!« Birgit stützte die Ellbogen auf Kathrins schönen alten Esstisch und vergrub das Gesicht in den Händen, aber das nützte nichts. Es führte nur dazu, dass sie sich noch mehr hasste. Hatte sie sich nicht schon genug erniedrigt? Musste sie dasitzen wie ein jammerndes Kleinkind, das seine Augen bedeckt und glaubt, wenn es selbst blind ist, wäre es für andere unsichtbar? Langsam hob sie den Kopf. Rundum sah ihr Spiegelbild sie aus den dunklen Erkerfenstern an. Die Außenrollos waren noch nicht angebracht. Der Designerkronleuchter, den die Möbelpacker auf ihre Anweisung am Deckenstromanschluss des Erkers installiert hatten, überstrahlte das Laternenlicht draußen.

»Verdammt«, wiederholte sie matt. Die Frau in den Erkerfenstern grinste schief. Eine lächerliche Figur, die nicht wusste, was sie mit ihrer Verzweiflung anfangen sollte. Warum hatte sie vorhin den Anruf angenommen, ohne aufs Display zu schauen, wer dran war? Warum hatte sie wie eine hysterische Irre ins Handy gerufen, es sei etwas in diesem alten Haus, das Geräusche mache? »Alte Häuser machen immer Geräusche. Du bist überreizt, weil du so müde bist.« Wie beruhigend hatte seine Stimme geklungen. So wie damals an dem Abend, an dem ihn eine Patientin mit einer Panikattacke zu Hause anrief und er sie – die therapeutische Abstinenz! – mit routinierter Empathie abwimmelte.

Der Anrufer auf dem Handy war Georg. Georg, der sie den zweiten Abend zu Hause nicht erreichen konnte. Georg, der sich darum »ernsthafte Sorgen« machte. Und sie hatte ihm den Beweis geliefert, dass er allen Anlass hatte, sich Sorgen zu machen. Ganz abgesehen davon, dass er nun wusste, wo sie war, bevor er überhaupt Recherchen anhand von Kontoauszügen anstellen musste.

Himmelherrgott noch mal! In hilfloser Wut packte sie das Handy, das auf dem Tisch lag, und knallte es gegen eines ihrer Konterfeis in den Fenstern. Zum Glück steckte es in einer Lederhülle. Als sie es aufheben wollte, wurde ihr schlecht. Sie rannte in die Küche. Dann fiel ihr ein, wo das Bad in dieser fremden Wohnung war. Minutenlang bemühte sie sich würgend, das Schnitzel und die Bratkartoffeln wieder loszuwerden. Vergeblich. Es war eine seelische Übelkeit, keine körperliche. Sie war in ihr seit jenem Gespräch an dem wunderbar sonnigen Sonntagmorgen, der jetzt fast acht Wochen zurücklag. Während sie ihr Gesicht mit kaltem Wasser wusch, erinnerte sie sich plötzlich, dass sie es gewesen war, die Georg damals das Stichwort lieferte. Vermutlich hatte er schon eine Weile auf eine Gelegenheit gewartet, bei der er sich mit seiner vorbereiteten kleinen Rede einhaken konnte.

»Es ist so schön heute«, hatte sie gesagt, ohne zu ahnen, wohin es führen würde. »Was hältst du davon, wenn wir uns ins Auto setzen und einfach an die Nordsee hochfahren? Wir waren ewig nicht mehr in St. Peter-Ording. Wir sind überhaupt schon so lange nicht mehr zusammen weggefahren.«

Er hatte aus dem Fenster gesehen und geschwiegen und dann seinen Eierbecher akkurat auf die Mitte des Frühstücksbrettchens gerückt und sie mit dem Therapeutenblick angesehen, den sie hasste, denn sie war nicht eine seiner Patientinnen. Dann hatte er gesagt: »Es ist gut, dass du das ansprichst. Ich habe in der letzten Zeit viel über uns nachgedacht.«

»Wie meinst du das?« Sie hatte noch leise in sich hineingelächelt, weil sie dachte, er wollte wieder etwas ausprobieren, das er später als Aufgabe in einer Paartherapie einsetzen könnte.

»Ich weiß, seit dem Bandscheibenvorfall war es nicht immer leicht für dich«, war er also fortgefahren. »Aber mein Eindruck ist, dass du jetzt an einem Punkt bist, an dem sich wieder Perspektiven öffnen. Es war eine gute Entscheidung, den Auftrag für dieses Ausbildungshandbuch für den Physiotherapeutenverband anzunehmen.«

»Na ja, es war deine Idee, dass ich das machen soll. Aber ich verstehe nicht ganz, was das damit zu tun hat, ob wir ans Meer fahren oder nicht.«

»Es hat damit zu tun, dass ich das, was ich dir sagen möchte, niemals gesagt hätte, solange es dir so schlechtging. Aber jetzt empfinde ich es als unfair, weiter zu schweigen.«

An der Stelle war ihr seltsam kalt geworden, als zöge eine Wolke vor die Sonne. Doch die strahlte unvermindert weiter. Ihr war nichts eingefallen, was sie hätte sagen sollen, also hatte sie nur gewartet, was kam. Und dann kam es.

»Vielleicht erinnerst du dich an den Psychotherapeutenkongress in Amsterdam, auf dem ich den Workshop über Paradoxe Intervention abgehalten habe, als du in der Reha warst?«

»Ja, sicher erinnere ich mich.«

»Auf diesem Kongress habe ich jemanden kennengelernt.«

»Jemanden?«, hatte sie gefragt. Eine lächerlich hilflose Frage, da nur zu klar war, was er meinte. Aber etwas in ihr wollte nicht glauben, dass ihr das wirklich passierte.

»Eine Kollegin aus Lübeck. Ich habe sie seitdem ein paarmal getroffen. Ich …«

»Was heißt ein paarmal?«

»Ein paarmal. Ich habe es mir nicht aufgeschrieben.«

»Wann hast du sie getroffen? Wo?«

»Sie hat bis vor kurzem eine Weiterbildung gemacht, zu der sie jeden Donnerstag hier in Hamburg war. Nach Amsterdam sind wir an einem Abend zusammen essen gegangen. Es ist eine Geschichte, die sich langsam entwickelt hat.«

»Wo war ich da?«

»Was?«

»Wo war ich? Ich erinnere mich nicht, was du mir erzählt hast, warum du abends so spät kommst.«

»Als es anfing, warst du noch in der Reha.« Er hatte das tatsächlich gesagt, nicht mal einen Versuch gemacht, sich rauszureden.

»Und später hast du dich mit ihr in der Praxis …« In der Sekunde hatte sie begriffen, warum Georg seit einiger Zeit seine Praxiszeiten donnerstags bis zehn Uhr abends verlängert hatte. Für berufstätige Patienten, so seine Begründung. Sie hatte an die Liege denken müssen, die sie gemeinsam gekauft hatten, weil er den Patienten zusätzlich ein Entspannungstraining anbieten wollte. Bei der Erinnerung musste sie wieder würgen.

Er hatte mit den Schultern gezuckt, als wollte er sagen, der Ort des Treffens sei ja nun wohl wirklich gleichgültig. »Birgit …«

»Wie alt ist sie?«

»Dreißig. Aber bitte, hör mir zu …«

»Sag jetzt nicht, dass die Sache mit uns doch gar nichts zu tun hat.«

»Sie hat etwas mit mir zu tun, aber ich verstehe noch nicht genau, was.«

»Vielleicht solltest du einen Psychotherapeuten fragen.«

»Ich habe bereits lange mit Thomas gesprochen. Er unterstützt mich in meiner Einschätzung, dass ich mich dem stellen muss, was in meinem Leben gerade schiefläuft.«

»Na fein. Wenn dein alter Kumpel Thomas dich da unterstützt, dann ist ja alles in bester Ordnung. Du tauschst deine Frau gegen eine zwanzig Jahre jüngere Frau aus. Das ist doch ganz normal, machen viele andere auch. Was soll da schieflaufen?«

»Bitte sprich nicht so. Das bist du nicht. Du hast jedes Recht, deinen Schmerz ernst zu …«

»Hör auf, mich zu therapieren. Hör auf!« Sie hatte es fast geschrien. Dann war sie aufgesprungen und hatte angefangen, den Tisch abzuräumen. Sie musste irgendetwas tun, um nicht verrückt zu werden. Nach einer Weile schaffte sie es, ihn wieder anzusehen. »Wie soll es jetzt weitergehen?«

»Ich brauche Abstand, von allem, um den Kopf freizukriegen. Ich werde meine Praxis für ein paar Wochen schließen. Thomas übernimmt einen Teil meiner Patienten. Er und seine Frau haben doch dieses kleine Apartment in der Neustadt. Es ist im Moment gerade frei. Ich habe es auf unbestimmte Zeit gemietet.«

»Du meinst also Trennung.«

»Ich meine erst mal eine Pause. Ich brauche eine Beziehungspause, um herauszufinden, was mit mir los ist.«

 

Birgit drehte den Wasserhahn ab und ließ sich auf den Rand der Badewanne sinken. Ihr Körper fühlte sich an wie eine leere Hülle. Er bewegte sich zwar, stand morgens auf, machte zweimal am Tag die Übungen für den Rücken, beschäftigte sich dazwischen mit irgendwelchen sinnlosen Dingen und legte sich abends ins Bett, aber das, was einmal sie gewesen war, war daraus verschwunden. Es hatte sich an diesem Sonntagmorgen aufgelöst, als Georg nach dem Gespräch ein paar Sachen zusammenpackte und dabei sagte, dass es ihm leidtue, dass er es selbst nicht verstehe, dass es vielleicht für sie beide eine Chance sei, dass er die Miete für die Wohnung selbstverständlich weiterzahle. Ihr Körper war einfach am Frühstückstisch sitzen geblieben, bis die Sonne längst ins Wohnzimmer hinübergewandert war. Es gab seitdem immer wieder diese Momente, in denen sie dasaß und die Dinge um sich herum wie von fern registrierte, so als lägen sie hinter einer Panzerglasscheibe. Die dicke Schicht Baustaub unter dem Waschbecken. Das Klingeln ihres Handys irgendwo in einer anderen Dimension.

Das Klingeln des Handys! Kathrin hatte um zehn anrufen wollen. Sie sprang auf und lief zum Esstisch. Dieses Mal sah sie aufs Display, bevor sie sich meldete.

»Hallo, Kathrin.«

»Hallo, Bigs. Tut mir leid, dass es doch so spät geworden ist. Du musst todmüde sein. Es ging nicht eher.«

Birgit sah auf die Uhr. Tatsächlich, es war inzwischen elf Uhr. Hatte sie wirklich so lange auf der Badewanne gesessen? »Ist kein Problem. Ich kann eh noch nicht schlafen.«

»Ich habe heute Nachmittag ein paarmal versucht, bei Stölzer Exklusiv jemanden zu erreichen. Immer war die Sekretärin dran, die behauptete, beide Stölzers seien den ganzen Tag auf Terminen.«

Birgit dachte an Nägeles Bemerkung und lachte kurz auf. »Da bist du offenbar nicht die Einzige, der das so geht.«

Kathrin stöhnte. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie sauer ich bin. Dreimal habe ich letzte Woche mit Stölzer telefoniert, weil der Schlüssel immer noch nicht in der Post war. Meinst du, der hätte ein Wort davon gesagt, dass das Haus noch eine Baustelle ist? Es tut mir so leid, dass ich dich in diese bescheuerte Situation gebracht habe.«

»Mach dir darüber keine Gedanken. Heute Abend ist es wunderbar ruhig.« Birgit fröstelte, weil sie sich wieder des leeren Hauses bewusst wurde. »Die Wohnung ist sehr gemütlich«, fuhr sie schnell fort. »Die Möbelpacker haben den Esstisch in den Erker gestellt, wie du es wolltest. Ich habe ihnen gesagt, sie sollen den Kronleuchter darüber aufhängen, hoffentlich gefällt es dir. Und wenn dann mal die Rollos installiert sind …«

»Die sind auch noch nicht dran?«, rief Kathrin so entsetzt, dass Birgit die Erwähnung dieses Umstands sofort bereute.

»Das ist doch im Moment nicht wichtig«, sagte sie. »Kannst du denn jetzt in Ruhe sprechen?« Sie hörte ein geplagtes »Ja«. »Dann erzähl mal, wie bei dir die Lage ist.«

»Irgendwann heute Nachmittag habe ich wirklich gedacht, ich dreh durch.«

»Warum? Was ist denn los?«, fragte Birgit besorgt. Kathrin war keine Frau, die schnell den Kopf verlor.

Einen Moment war es still im Hörer. »Das klingt jetzt wahrscheinlich sehr krass«, begann Kathrin zögernd. »Ich habe bei meiner Ankunft gleich gemerkt, dass es im Bad meiner Eltern komisch müffelt. Heute Morgen habe ich dann gesehen, dass mein Vater offenbar … Na ja, es war eine Pfütze neben der Toilette. Ich hab’s weggemacht und nichts gesagt. Und heute Nachmittag dann … Also, ich war so geschockt …«

»Ach du liebe Güte«, entfuhr es Birgit, als sie begriff, was Kathrin meinte. »Er weiß nicht mehr …«

»Genau. Er weiß noch, dass man ins Bad geht, aber offenbar nicht mehr, wie man sich da verhält. Mir ist gestern schon aufgefallen, dass er verwirrt ist. Er stellt einen leeren Topf auf den Herd und dreht die Gasflamme voll auf. Und ständig sucht er irgendwas. Ich dachte erst, Mamas Unfall habe ihn so durcheinandergebracht. Doch nach der Geschichte heute Nachmittag …«

»Alzheimer?«, fragte Birgit leise.

»Ich fürchte, es ist irgendetwas in der Richtung, ja.«

»Aber entwickelt sich das denn so schnell?«

»Na ja, ich war ja nicht so oft hier, und wenn, dann nur kurz, zuletzt bei Mutters achtzigstem Geburtstag im November. Da ist mir nur aufgefallen, dass er noch unerträglicher und rechthaberischer war als sonst. Es muss sich seitdem verschlechtert haben.«

»Hat deine Mutter denn nichts davon gesagt, wenn du mit ihr telefoniert hast?«

Kathrin seufzte. »Kein Wort. Vielleicht … Na ja, vielleicht wollte sie mich nicht damit behelligen. Sie wusste ja, wie ich zu ihm stehe. Aber ich glaube eher, dass sie einfach nicht wahrhaben wollte, wie er abbaut. Die Nachbarin hat mir heute erzählt, sie sei bei der leisesten Andeutung, dass etwas mit Vater nicht stimmt, sofort wütend geworden.«

»Wie geht es denn deiner Mutter inzwischen? Du sagtest ja heute Morgen, es sei noch nicht so gut.«

»Sie ist irgendwie total lethargisch und kaum ansprechbar. Die Ärzte sagen, das sei bei alten Leuten manchmal so nach einer Narkose, das würde sich wieder geben.« Nach einer Pause fuhr Kathrin fort: »Aber selbst wenn Mama wieder richtig fit wird, kommt sie nicht mehr allein zurecht mit diesem Mann.«

Diesem Mann! Kathrin stieß es mit einer Wut und Verbitterung hervor, die Birgit erschreckte. Sie musste wirklich mit den Nerven am Ende sein. »Es tut mir so leid. Kann ich dir irgendwie helfen?«, fragte sie.

»Du hilfst mir schon so viel mehr, als du musst. Ach, Süße, wie gern wäre ich jetzt da bei dir und würde mit dir auf die Wohnung anstoßen.«

»Ja, das wäre wirklich schön«, sagte Birgit aus vollem Herzen.

»Das muss leider noch eine Weile warten. Ich kann hier nicht weg, ohne eine Lösung für die Situation gefunden zu haben.«

»Du wirst eine Lösung finden«, sagte Birgit so zuversichtlich wie möglich.

»Zuerst brauche ich mal eine Diagnose, was genau mit Vater los ist. Aber dazu muss ich ihn erst mal überreden, mit mir zum Arzt zu gehen. Ich habe ihm das heute Abend schon mal angedeutet. Er hat mich dermaßen beschimpft, also, so was von bösartig …« Kathrins Stimme brach für einen Augenblick. »Ganz ehrlich, in dem Moment hätte ich am liebsten gesagt, du kannst mich mal, und ihn einfach da in seinem Dreck sitzen lassen. Muss ich mir das von jemandem anhören, der für mich jahrelang alles andere als ein liebender Vater war?«