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Mailand um 1910: »In der Liebe gibt es keine Opfer.« Diese Worte prägen das Leben von Olga, der Frau von Luigi Zaini. Der sanftmütige Luigi verzaubert Olga mit seiner Güte und verfolgt zugleich einen ehrgeizigen Traum: Er will eine Schokoladenfabrik errichten. Wie die Familie wächst auch die Fabrik und wird zum Zuhause für die unermüdlichen Arbeiter, die ihr Herzblut in die Kreation der Zaini-Schokolade fließen lassen. Als Luigi 1938 eines frühen Todes stirbt, tritt Olga in seine Fußstapfen. Unerschrocken führt sie die Familie Zaini durch Italiens dunkelste Stunden. Dieser berührende, auf wahren Begebenheiten basierende Roman ist ein Fest der Liebe und der Familie und zugleich ein einzigartiges sinnliches Erlebnis.
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Seitenzahl: 496
Veröffentlichungsjahr: 2025
Giacinta Cavagna di Gualdana
Ein Schokoladenroman
Roman
»Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen. Man weiß nie, was man kriegt.«
Forrest Gump
Für Andrea, Amalia und Adelaide,
die das Schicksal in meine Schachtel gesteckt hat
und die mein Leben jeden Tag versüßen.
»Am Anfang ist der Block – zersplittert, gemahlen, temperiert; jeder Block Schokolade bringt ein neues Rezept mit sich, neue Inspiration.« Genau wie bei der Geschichte der Zaini.
Zartschmelzend fließen die Gedanken.
Kein Klümpchen bremst die Phantasie.
»Jeder Block bringt neue Inspiration«, wiederhole ich, während ich eine Vierhundert-Gramm-Tafel dunkle Schokolade in meinen Händen drehe und wende, kompakt und unwiderstehlich. Ich taste die Verpackung ab und zähle fünfzehn Quadrate reiner Lebenskraft. Ich kann nicht widerstehen und packe sie aus.
Der Duft ist betörend. Ein Splitter löst sich, und schon liegt er auf meiner Zunge. Während er schmilzt, gleiten die Finger auf die Tastatur meines Computers.
Die Erzählung nimmt ihren Anfang, die von Emilia, Olga, Ines, Noemi und von Clelia, Ernestina und den vielen jungen Frauen, auf Mailändisch »Tuse«, die im Takt von Kirschpralinen und anderen saisonalen Köstlichkeiten die Geschichte einer der ältesten Schokoladenfabriken Mailands geschrieben haben, in Betrieb seit 1913.
Werden Emilia vierhundert Gramm Schokolade reichen, um allen Widrigkeiten zu trotzen und immer neue Inspiration zu finden? Vielleicht nicht. Kein Problem – die Vorratskammer ist gut bestückt.
»Ich habe euch hier zusammengerufen, um mich von euch zu verabschieden. Für mich ist es an der Zeit, Bilanz zu ziehen. Und ich möchte mich bei euch bedanken, dass ihr in all den Jahren so viele Opfer gebracht und immer treu eure Arbeit geleistet habt.« Signor Zaini steht vor dem Fabrikeingang, das Gesicht ausgemergelt von der Krankheit, der Körper abgemagert, die Stimme schwach: »Ihr werdet weiterhin gewissenhaft eure Pflicht erfüllen, so als wäre ich noch hier. Ihr solltet nun sogar noch stärker das Bedürfnis verspüren, stets treu eure Arbeit zu verrichten. Denkt dabei an mich, der ich mit gutem Beispiel vorangegangen bin.«
Vor ihm hat sich die Belegschaft der Zaini versammelt. Viele von ihnen arbeiten schon jahrelang dort, seit der Eröffnung, als die Fabrik noch in der Via De Cristoforis zu Hause war. Luigi Zaini sieht Pietro Tosco, den Vorarbeiter, Giovanni Brioschi, den Buchhalter Franco, die vielen Arbeiterinnen. Die sind heute schöner denn je: Unter ihren frisch gebügelten weißen Schürzen sind elegante Pumps mit einigen Zentimetern Absatz zu sehen; ein Hauch Rouge rötet ihre Wangen; sie tragen Ohrringe, und manch eine hat sich eine Perlenkette um den Hals gelegt. In der ersten Reihe stehen die treue Seele Clelia und die junge Ines, die den Vertrieb leitet. »Ines, was ist? Zieh nicht so ein Gesicht. Schluck die Tränen runter. Ein bisschen Anstand«, tadelt Clelia sie im Mailänder Dialekt. »Schau dir die Signora Olga an: Die heult auch nicht rum.« Signora Zaini ist wie üblich tadellos gekleidet: Unter einem dunklen Mantel mit engem Gürtel blitzen eine Seidenbluse und ein Rock hervor, der bis kurz unter die Knie geht; an den Füßen trägt sie ihre hohen Absätze auch heute mit einer solchen Haltung und Natürlichkeit, dass den Angestellten der Mund offen stehen bleibt. Lippenstift, Lidschatten und Puder reichen allerdings nicht, um ihre Sorgen zu kaschieren. Olga weiß, dass das für Luigi ein Abschied ist. Vergeblich hatte sie ihn zu überzeugen versucht, er möge im Bett bleiben und die Abschiedsrede auf einen besseren Tag verschieben. Schließlich hatte sie jedoch zugestimmt, ihn zu begleiten, damit er seinen Angestellten Lebewohl sagen kann. Wenige Meter trennten den Hof von ihrer Wohnung, aber heute Morgen schienen es Kilometer.
›Du warst schon immer ein Sturkopf‹, denkt Olga, während sie ihren Ehemann stützt, der jeden Tag leichter und gebrechlicher wird.
Luigi beobachtet seine Arbeiterinnen und Arbeiter. Sein Blick wandert von einem zum nächsten, und zu jedem scheint er zu sagen: »Danke. Danke. Danke, dass du dich auf mein Abenteuer eingelassen hast, als wäre es deins. Danke, dass du jedes Ziel, jede Herausforderung mit Freude, Leidenschaft und Können angegangen bist.«
Die Stille ist surreal und wird schließlich von einem herzlichen und rauschenden Applaus gebrochen. »Signor Zaini lebe hoch!« »Viva!« »Lang lebe die Zaini!«
Olga weiß, wie anstrengend das alles für ihren Mann ist: »Lass uns gehen, mein Lieber, gehen wir wieder hoch.« Sichtlich gerührt macht sich Luigi auf den Weg. Kurz darauf kehren auch die Angestellten zu ihren Aufgaben zurück. Die Fabrik setzt sich wieder in Bewegung. Um diese Jahreszeit herrscht hektisches Treiben: Ostern steht vor der Tür, die Unmengen bestellter Ostereier müssen bis Ende des Monats fertig sein.
»Geht es dir gut, mein Schatz?«, fragt Olga ihren Mann, der sich, in den eigenen vier Wänden angekommen, sofort auf einen Sessel hat sinken lassen. Sie stellt ihm ein Glas Wasser hin. »Wenn du lesen magst: Hier auf dem Tischchen liegt der Corriere. Die Kinder sind im Haus, aber Emilia ist bei ihnen; und Noemi kocht dir gerade eine Brühe.« Dann fügt sie hinzu: »Ich muss kurz noch mal runter, um etwas mit Ines zu klären.«
Luigi schaut besorgt zu Olga auf. »Nichts Schlimmes«, kommt ihm seine Frau zuvor, »wir müssen uns nur zu den Verkäufen an die Warenhäuser besprechen.« Lächelnd schließt er die Augen und verschiebt die Bitte um seine Pfeife auf später, sein einzig verbliebenes Laster.
»Verzeihung, Emilia, ich muss noch mal runter in die Firma. Luigi ruht sich aus«, sagt Olga zu dem Kindermädchen, während sie Piero, Rosetta, Luisa und Vittorio ermahnt: »Und ihr versucht bitte, so wenig Krach zu machen wie möglich.« Ihre Kinder haben gerade den Metallbaukasten rausgeholt, und wenn alle vier zusammen sind, können sie sehr laut werden. »Zur Not bringst du sie zum Spielen in den Hof. Ich bin zum Mittagessen zurück.« Das Kindermädchen nickt. Bevor sie antworten kann, ist Olga schon aus der Tür.
Es sind intensive Tage. Seit sie zur Generalprokuristin ernannt wurde, ist sie formell für jede Entscheidung verantwortlich: von Einstellungen und Kündigungen über Kontoführung bis zum Abholen von Paketen bei der Post, vom Einkauf der Zutaten bis zur Organisation des Versands – alles geht über ihren Tisch. So hat es Luigi gewollt. Als seine Krankheit diagnostiziert wurde und er den Ernst der Lage erkannte, war ihm klar, dass er handeln musste. Das gebot seine Verantwortung für die Firma. »Olga Torri, du brauchst die Titel, um die Firma überwachen und leiten zu können. Du siehst ja, was um uns herum geschieht – das ist keine Zeit für Leichtfertigkeiten. Morgen gehen wir zum Notar und unterschreiben die Vollmacht«, hatte er eines Abends verkündet und keine Widerrede geduldet.
Wenn er fit genug war, wies Luigi sie seitdem ein, zeigte ihr Konten, Abrechnungen und Listen. Olga hörte zu, machte Notizen und merkte sich alles. Tief in ihrem Inneren spürte sie Angst, aber sie achtete immer darauf, Sorgen und Schwermut hinter einem Lächeln zu verbergen und zu scherzen: »Luigi, ich hasse Rechnen und den Umgang mit Geld!« Selbstironisch fügte sie hinzu: »Nur Geldausgeben mag ich, zum Beispiel in der Schneiderei Agnelli, für Garavaglias Mode, im Hutladen Mutinelli oder bei der Korsettschneiderin in der Via Manzoni.«
Luigi umarmte sie herzlich und antwortete: »Du weißt, dass ich keine Kosten gescheut habe, damit du elegant und gut gekleidet bist. Das wirst du bestimmt weiterhin so handhaben. Du musst es mir sogar versprechen, mein Schatz: Hör nie auf, Absätze zu tragen, auch wenn du zu Hause und in Pantoffeln bist!« Olga lächelte, doch ihre Augen verrieten die stille Traurigkeit in ihrem Herzen.
Nur wenige Tage später verschlechtert sich die Lage.
Luigi geht mit dem ihm eigenen Feingefühl vor. »Olga«, ruft er mit schwacher, müder Stimme. Sie hebt den Kopf von seiner Schulter und antwortet: »Brauchst du etwas? Ich bin hier.«
»Reichst du mir die Pfeife? Ich will sie in der Hand halten. Ich rauche nicht, aber ich will sie spüren.« Olga gibt sie ihm, und Luigi redet weiter: »Noch etwas, dann störe ich nicht mehr. Ich habe einen letzten Wunsch: Fährst du mit den Kindern auch ohne mich nach Florenz?«
Olga hält das jetzt eigentlich nicht für den Moment für solch oberflächliche Gedanken, antwortet aber: »Ja, ich fahre mit unseren Kindern hin, und wir werden uns köstlich amüsieren.«
Luigi lächelt, und kurz darauf hält sein Atem an.
Es ist Samstag, der 26. März 1938, als der Gründer der Zaini stirbt. »Mit 52 Jahren ist heute Luigi Zaini von uns gegangen und hat bei allen, die ihn in seiner unermüdlichen Geschäftigkeit kannten, tiefe Trauer und große Zuneigung hinterlassen«, gibt Olga auf den Seiten des Corriere della Sera bekannt.
Die Beerdigung findet am Montag darauf statt. Ein langer Trauerzug bricht vom Wohnhaus in der Via Abba zur Kirche des Stadtteils Dergano auf. Langsam schreitet Olga hinter der Bahre her, neben ihr Piero und Rosetta, auf der anderen Seite Luisa und Vittorio. Beim Anblick des Sargs ihres Vaters können sie die Tränen nicht zurückhalten. Hinter ihnen folgen Familienangehörige, Angestellte, Freunde und die jungen Mädchen aus dem Waisenhaus Stelline, die aus Tradition Trauerzüge bis zur Beerdigung begleiten. Nach der Messe wird der Sarg zum Zentralfriedhof Cimitero Monumentale gebracht.
Es ist ein langer Tag. Am Abend vertraut Olga ihre Kinder der treuen Emilia an und zieht sich vor dem Essen noch mal zurück. Sie schließt die Zimmertür, setzt sich aufs Bett und weint, gibt sich ihrer Trauer endlich hin. Sie ist stark und gefasst geblieben, wie es ihre Rolle verlangt hat, aber jetzt überkommt sie ein tiefes, unbändiges Schluchzen. »Luigi, wo bist du? Du fehlst mir schon jetzt.« Mit einem Taschentuch trocknet sie ihre Tränen. »Was mach ich nur ohne dich? Ich habe Angst. Ich will in meinem ganzen Leben keine Schokolade mehr sehen.«
Vom Nachttisch nimmt sie das Buch, das Luigi noch vor wenigen Tagen gelesen hat, und ein Brief fällt heraus: »Sehr geehrter Herr Zaini«. Olga erkennt ihre eigene Handschrift. Es ist der erste Brief, den sie damals an ihren zukünftigen Ehemann schrieb – der Brief, in dem sie seinen Heiratsantrag annahm. »Vor Gott erhalten Sie hier nun meine aufrichtige Antwort.« Und etwas weiter unten: »Dieser Moment ist für mich lebensverändernd, und ich spüre seine ganze Feierlichkeit. Doch ich fasse Mut, denn ich habe vollstes Vertrauen in Ihre Unterstützung und Ihre Zuneigung. Sie werden mich leiten und mir Halt geben.« Olga lächelt, als sie an die damalige Förmlichkeit denkt. »Möge ich Ihnen Freude bereiten.« Und ein paar Zeilen darunter: »In der Liebe gibt es keine Opfer!«
Ihr Blick fällt auf das Datum: 28. März 1924. Das ist ein Zeichen – vor genau vierzehn Jahren! »In der Liebe gibt es keine Opfer!«, liest sie noch einmal und begreift. Alles steht schon in diesem Brief: Die Zaini ist ihr Schicksal. Und sie ist bereit, es anzunehmen und zu leben.
1924–1938
Die Stadt erwacht unter einer dicken, weichen Schneedecke auf Dächern, Schornsteinen und Straßen, die alle Geräusche schluckt. Hier und da erkennt man den Abdruck frühmorgendlicher Schritte und dass eine Tram im Vorbeifahren die Gleise freigeräumt hat. Die Stille hat etwas Magisches. Noch im Morgenmantel, sieht Olga durchs Fenster auf den neoklassischen Bogen der Porta Garibaldi, die bis vor nicht allzu langer Zeit den nördlichen Eingang zur Stadt markierte. Sie sieht noch weißer aus als sonst. Der Schnee hat sich auf die Figuren gelegt, die über das Monument wachen. Er hat es sogar geschafft, in die Widmung aus der Zeit des Risorgimento einzudringen und einige Buchstaben zu verdecken. Olgas Blick wandert hinunter auf die Straße: Unter den Fußspuren sind auch die ihres Mannes, der im Morgengrauen zur Firma aufgebrochen ist, um Bestellungen und Versand zu überprüfen.
»Liebster, es ist Sonntag! Und noch dazu Sant’Ambrogio«, hatte Olga versucht, ihn davon abzubringen, und sich im Bett gewälzt. Mailand ist in Feststimmung: Die engen Altstadtgässchen rund um die Basilika des Stadtpatrons verwandeln sich zu dieser Gelegenheit in ein Schlaraffenland, in dem Groß und Klein den Kopf verlieren – kein Mailänder will sich den Oh bej Oh bej-Weihnachtsmarkt entgehen lassen.
Auch für Olga steht er schon seit ihrer Kindheit fest auf dem Programm. Früher ging sie immer mit ihrer älteren Schwester Annetta und ihren Eltern hin, oder, wenn Mama und Papa in der Drogerie zu beschäftigt waren, mit den Großeltern. Da gab es Spielzeug, Kleider, allerlei Gerätschaften, Gemälde, Röstkastanien und köstlich duftende Süßigkeiten.
Mit einer langen Kastanienkette, einer sogenannten firùn, nach Hause zu kommen, war Pflichtprogramm. Nach traditionellem Rezept wurden die Kastanien im Ofen geröstet, dann in Wein getaucht und eine nach der anderen aufgefädelt. Im Hause Torri waren alle ganz versessen darauf.
»Ach, Liebste, leider kennt meine Arbeit weder Sonn- noch Feiertage, vor allem vor Weihnachten. Dieses Jahr haben wir zum Glück so viele Bestellungen, dass ich mir Sorgen mache, ob wir alle Fristen einhalten können. Ich gehe jetzt und beeile mich, damit ich früh genug zurück bin und wir mit den Kindern noch zum Weihnachtsmarkt gehen können. Versprochen.«
Ein Kuss, und schon war er auf der Treppe.
Luigi war schon immer ein sehr verantwortungsbewusster Mensch, und die Zaini ist sicherlich seine größte Herausforderung. Am 23. Juni 1913 wurde die Fabrik für Kakao, Schokolade und Ähnliches formell als Gesellschaft »Mongini Zaini & Co. Fabbrica di cacao cioccolato e affini« gegründet. Davor hatte Luigi mit Chemikalien gehandelt, bis er im Alter von 28 Jahren beschloss, seine Ersparnisse in ein neues Projekt zu stecken, überzeugt, dass Schokolade eine gute Investition sei. Luigi Mongini, ein mit Brot und Schokolade großgezogener Turiner, hatte ihn mit ins Boot geholt. »Luigi, Schokolade ist eine sichere Bank. Und nicht nur in Turin, würde ich sagen: Schau mal, was in Perugia passiert«, erzählte der seinem Gesprächspartner, der ihm entzückt zuhörte. »Du wirst von der Perugina gehört haben«, Luigi nickte, »die hat sich schon durchgesetzt, und stell dir vor: alles das Verdienst einer Frau, Luisa Spagnoli.« Luigi blickte überrascht auf, während Mongini fortfuhr: »Es sieht sogar so aus, als überlegten sie, ihre Werkstatt im Stadtzentrum aufzugeben, um eine Fabrik näher an der Eisenbahn zu bauen.«
Ein Notar hatte den Vertrag besiegelt. Als Erstes musste nun ein Firmensitz gefunden werden. Ihnen war zu Ohren gekommen, dass die Räumlichkeiten der Branca-Brennerei auf dem Markt wären. Die Brancas waren gerade in ein neues, modernes und riesiges Werk vor den Toren Mailands umgezogen, nach Dergano. Dank seiner heilenden Wirkung wurde ihr Wermut nämlich als Mittel gegen Cholera in Apotheken verkauft und – mit Erfolg – auch bei den Kranken im Fatebenefratelli-Krankenhaus erprobt. Nun eroberte der Fernet Branca die Welt. In keinem Haushalt durfte er fehlen.
Mochten die Räume für die Branca mittlerweile nicht mehr geeignet sein, so waren sie doch perfekt für die neue Schokoladen-, Konfekt- und Bonbon-Fabrik. »Die Via De Cristoforis liegt strategisch gut«, meinte Mongini, »außerhalb der städtischen Zollstellen und nicht weit vom Bahnhof.« In seiner Stimme lag Begeisterung.
»Das klingt aussichtsreich«, stimmte Luigi mit ein. »Der Standort wird auch uns Glück bringen. Wenn die Brancas umziehen mussten, um einer immer größeren Nachfrage gerecht zu werden, brauchen hoffentlich auch wir eines Tages ein neues Fabrikgebäude.« Luigi hatte große Träume: »Schließlich hat Schokolade ebenfalls heilende Wirkung und sollte in keinem Haushalt fehlen. Genau wie der Fernet.«
»Und wie die Pfeife in deiner Jackentasche«, fügte Mongini hinzu und schaute zu, wie sein Geschäftspartner mit dem Tabak hantierte.
Als der Sitz für die Fabrik gefunden war, mussten sie Maschinen kaufen, die Einrichtung der Räume planen und Arbeitskräfte suchen. »Es ist wichtig, jede Abteilung gemäß ihren Aufgaben auszustatten. Hier soll die Schokolade raffiniert werden«, Luigi zeigte auf einen Bereich der großen Halle. »Hier dagegen wird der Kakao gemahlen.« Seine Begeisterung war mitreißend: »Hier werden die Mühlen für den Zucker Platz finden und hier die Maschinen, die die Kakaobutter extrahieren.«
»Und die Verpackerinnen?«, warf sein Partner ein.
»Die Verpackerinnen habe ich natürlich nicht vergessen! Die Tische zum Verpacken werden in diesem Bereich hier stehen, wo nie die Sonne hinscheint«, erklärte er und lief zu dem verbleibenden Teil der Halle.
»Und es müssen unbedingt Frauen sein?«, fragte Mongini.
»Auf jeden Fall! Dafür stellen wir ausschließlich Frauen ein«, ihm entwischte ein Lächeln. »Mit ihren immer kalten Händen werden sie die Pralinen schnell und präzise einpacken können, ohne dass die Schokolade schmilzt.«
»Was die Präzision der Frauen angeht, bestehen tatsächlich keine Zweifel«, warf sein Partner ein. »Was die Schnelligkeit angeht, vielleicht schon«, scherzte er.
Die ersten Jahre waren alles andere als leicht: Neben ständigen Ausgaben musste Mongini nach kurzer Zeit aus familiären Gründen nach Turin zurückkehren und beschloss, aus der Gesellschaft auszusteigen. Luigi jedoch verlor trotz Schulden und negativer Bilanzen nicht den Mut.
Die Zeit würde ihm recht geben: Und jetzt, mehr als zehn Jahre später, ist der Markt für Schokolade deutlich gewachsen, die Gewinne werden allmählich interessant und die Branche immer lebendiger.
›Sieh mal an, was man sich so alles ausdenken kann‹, denkt er, als er ein Bacio probiert, das neuste Produkt, das die Perugina auf den Markt gebracht und so verführerisch ›Kuss‹ genannt hat. Er setzt die Brille auf, um die kleine Schrift auf dem Zettel zu lesen, der mit eingepackt war: Besser ein Kuss auf dem Mund als eine Taube auf dem Dach. Gezeichnet: Seneca. »Geniale Idee! Dieser moderne Seneca ist ein Reklamegenie. Hut ab vor der Perugina, die ihn angeheuert hat«, meint er bewundernd.
Während sie darauf wartet, dass ihr Mann aus der Fabrik zurückkommt, beschließt Olga, sich der Hausarbeit zu widmen. Sie will gerade ein paar Hemden zusammenlegen, als ein verzweifeltes Schluchzen ihre Aufmerksamkeit einfordert. Sie steht auf und läuft zur Wiege, um ein kleines Mädchen mit dunklen Locken auf den Arm zu nehmen. Es ist etwas über ein Jahr alt: »Rosettalein, Rosetta mein, schlaf, fein Kindelein, schlaf in Mailand, Papas Herzelein, denn zur Heiligen Nacht wird Panettone gemacht.« Während sie das Mädchen liebkost und wiegt, baut ein zweijähriger Junge auf dem Teppich so konzentriert mit seinen Bauklötzen, dass er das Weinen seines Schwesterchens kaum hört. »Bravo, Piero! Baust du ein Schloss? Bau doch einen Turm davor, wie beim Castello Sforzesco, das wir kürzlich besucht haben.« Olga liebt sie wahnsinnig. Als wären es ihre eigenen. Piero und Rosetta sind die Kinder von Luigi und seiner ersten Frau, Luisa. »Möge sie in Frieden ruhen«, wiederholt sie jedes Mal, wenn sie an das unglückliche Schicksal der Armen denkt, die bei der Geburt ihres zweiten Kindes gestorben ist.
Olga hat Luigi über ihren Vater kennengelernt, der eine Drogerie am Corso Vercelli 27 betreibt. Signor Zaini belieferte den Laden seit Jahren mit Schokolade, Bonbons und Keksen. Über geschäftliche Belange hinaus trafen sich die beiden im Sommer in Cunardo, oberhalb von Varese, wo beide Familien Urlaub machten. Sie teilten ihre Leidenschaft für die Berge und machten häufig Wanderungen, zu denen auch Olga und ihre Schwester Annetta mitkamen. Olga hörte ihren Gesprächen zu und war bezaubert von diesem Herrn mit seinem gepflegten Schnauzbart und dem immer so höflichen und freundlichen Gebaren.
Manchmal war sie auch seiner Frau Luisa über den Weg gelaufen. Sie war klein und zierlich, schon nach wenigen Metern blieb sie stehen und überließ das Weiterwandern bis zum Ziel der sportlicheren Truppe.
Eines Tages Ende Oktober war Luigi in die Drogerie gekommen: mit erloschenem Blick, abgemagertem Körper, ungepflegtem Bart. Nachdem sie von dem tragischen Schicksalsschlag gehört hatte, war es für Olga ganz selbstverständlich, ihm Hilfe anzubieten. »Wir würden uns glücklich schätzen, wenn wir Ihnen in irgendeiner Weise behilflich sein könnten«, ergriff sie schüchtern das Wort, mit zustimmungheischendem Blick zu ihrer Mutter, die sofort einstimmte: »Ich kann mir vorstellen, dass es nicht leicht ist mit zwei Säuglingen.«
Luigi, der sich seiner begrenzten Fähigkeiten im Umgang mit den Kleinen bewusst war, konnte es gar nicht fassen und antwortete: »Ich möchte Ihre Hilfsbereitschaft keinesfalls missbrauchen, aber über eine helfende Hand würde ich mich wirklich sehr freuen.« Und so waren Wiegenlieder, Brei und Kinderwagen in Olgas Leben getreten. Lange Gespräche begleiteten ihre Spaziergänge. Die Tage wurden kürzer, und die Vertrautheit wuchs. Luigi gab nicht nur seine Kinder in Olgas Obhut, sondern auch sich selbst. Tag für Tag wirkten nicht nur Rosetta und Piero heiterer, sondern auch seine Stimmung wurde entspannter und hellte sich auf. »Sie sind ein Engel, der vom Himmel herabgefallen ist«, wiederholte er oft, wenn er beobachtete, mit welcher Natürlichkeit sie die Kinder beruhigen konnte.
Eines Freitagabends hatte Olga an die Tür geklopft, um frisch gekochte Gemüsesuppe vorbeizubringen, die er sich am Wochenende aufwärmen konnte. Luigi empfing sie mit den Worten: »Was würde ich nur ohne Sie machen? Und wie könnte ich meine Kinder ohne Mutter aufwachsen lassen? Möchten Sie Teil unserer Familie werden?« Der Vorschlag war einfach so aus ihm herausgeplatzt. Olga begriff seinen Antrag nicht sofort, lächelte aber. Sie blieb ihm die Antwort vorerst schuldig und lief die Treppen hinunter, während Luigi mit dem Topf in der Hand in der Tür stehen blieb. Am nächsten Tag jedoch wurde im Hause Zaini ein Brief abgegeben: »Aus freien Stücken und mit Begeisterung für Ihre lieben Kleinen will ich ihnen mein Herz, meine Kraft und mein Leben widmen und wünsche nur, dass ich die verlorene Mutter würdig ersetzen kann«, hatte Olga geschrieben. »Möge ich Ihnen Freude bereiten zum Ausgleich für so viel erlittenen Schmerz.«
Dann ging alles so schnell, dass sie fast den Überblick verloren hatte: im März die Verlobung, im Herbst die Hochzeit und zwei Kinder anstelle der Flitterwochen. ›Wer weiß, ob nicht bald noch ein Kind dazukommt, so es Gott gefällt, eins ganz von uns!‹, denkt Olga, während sie die kleine Rosetta in den Schlaf singt.
Da kommt Luigi nach Hause, mit einer großen Platte voller Kekse: Löffelbiskuit, Amarettoni, gerippte Vanillekekse, Hufeisen, Rosetten, Margeritenplätzchen, Waffeln. Für jeden Geschmack ist etwas dabei. »Hier bin ich wieder, und damit du mir vergibst, habe ich dir auch deine Lieblingssorten mitgebracht: Schiffchen und Veilchenlakritz. Die kommen bald auf den Markt!«
Olga kann ein Lächeln nicht zurückhalten: »Lass uns was essen und dann endlich auf den Weihnachtsmarkt!«
Kaffee, Olivenöl, Senf, Pasta, Reis und Spirituosen, Kekse und Seife, Salz und Putzmittel, Kabeljau und Zucker, Bonbons und Schokolade: »In Opas Drogerie findest du alles, was du brauchst. Bis auf frische Sachen, die schnell schlecht werden. Für Milch gehst du zu Angelo, hier im Corso Vercelli in der Nummer 11, für Fleisch zu Signor Poma, für Brot zum Bäcker hier nebenan. Du willst Schinken? Dann geh zur Metzgerei von Signora Aguzzi. Du willst Gebäck? Dafür auf jeden Fall zu Alberto! Unser Viertel ist ein Mikrokosmos: Zusammen haben wir alles und sind eine eigene Stadt.« Nonno Vittorio hat sofort in seine neue Rolle gefunden und Spaß daran, dem kleinen Piero sein Reich aus kleinen Vitrinen, Gewichten, Waagen, Schachteln, Gefäßen und Bonbons zu zeigen. In der Luft ein berauschender Duft nach Kaffee, vermischt mit Lakritz und Schokolade.
»Papa, ich bitte dich: Piero ist doch noch keine drei Jahre alt«, unterbricht Olga ihn, die gerade eine Kundin abkassiert.
Olga hat ihren Eltern immer in der Drogerie geholfen: als Kind hinten im Laden, wo sie Säcke leerte und Gefäße füllte, dann an der Kasse, nach ihrem Buchhaltungsabschluss am Regio Istituto Commerciale. Jetzt bringt sie auch die Kinder hierher: Rosetta wird Nonna Diamante anvertraut, während Piero unermüdlich seinem Nonno hinterherhüpft.
»Komm, Piero! Hörst du dieses Tock, tock, tock?«, fragt Vittorio und sieht dabei durchs Schaufenster. »Der Gamba de Legn kommt zurück, das Geräusch ist unverwechselbar. Komm, wir schauen ihn uns aus der Nähe an«, schlägt er vor, zieht sich seinen schwarzen Kittel aus, seine Jacke an und öffnet die Ladentür. »Wir gehen kurz raus, bis gleich. Wenn ihr was braucht, ruft einfach.«
Die Dampflok der Società anonima Tramway verbindet Mailand mit Monza, und ihre Endstation liegt nur wenige Häuser von der Drogerie entfernt, in der Nummer 33, einem ehemaligen Eisenbahndepot. Die Mailänder nennen den Zug Gamba de Legn, Holzbein, weil beim Fahren sein Tock, tock, tock klingt wie ein Hinkender mit Holzbein.
Rosetta ist eingeschlafen, und Diamante nutzt die Zeit, um frisch eingetroffene Marmeladengläser im Schaufenster anzurichten. Kurz darauf schaut ein Kunde zur Tür herein: »Macht es euch bequem, Leute, die Presseschau ist heute spektakulär!«, verkündet er beim Eintreten pompös.
»Buongiorno, Signor Aurelio, was bringen Sie uns denn für Neuigkeiten?«, fragt Olga in Vorfreude auf seine erheiternde Darbietung. Wenn Aurelio kommt, ist Gelächter garantiert. Seine Erzählungen über die Stadt sind immer so lustig, dass er im Viertel zum Zuständigen für die Tagesnachrichten ernannt wurde.
Er ist ein treuer Kunde. Schon lange Witwer und kinderlos, verbringt er seine Tage mit Lesen und Spaziergängen. Ob Ausstellung, Veranstaltung, Fest oder feierliche Messe – seine Erzählungen verwandeln jedes Ereignis in kluge und äußerst kurzweilige Unterhaltung.
»Ach, meine Damen, vorgestern hätten Sie auf der Piazza del Duomo sein sollen: Ich habe einem unglaublichen Schauspiel beigewohnt! Wie Sie vielleicht gelesen haben, hat der Stadtrat schon vor längerer Zeit beschlossen, die Verkehrslage zu verbessern, wo doch kaum eine Stadt auf der Welt so heftige Staus hat wie wir hier im Zentrum. So weit alles bestens. Nur wie gedenken sie nun das Problem zu lösen?«
Olga und Diamante schauen sich ratlos an. »Mit Ampeln!«, antwortet Signor Aurelio, der immer eindringlicher fortfährt: »Die erste wurde vor zwei Tagen eingeweiht, an der Kreuzung Piazza del Duomo, Via Orefici, Via Carlo Alberto und Via Torino. Sie soll den Verkehr regeln. Ich betone: soll.«
»Wie funktioniert so was denn?«, fragt Diamante, die es sich nicht vorstellen kann.
»Also, Signora Diamante, ich werde versuchen, es Ihnen zu erklären. Die Ampeln sehen aus wie eine Laterna magica, mit vier Rohren, in alle Himmelsrichtungen. Jedes Rohr hat vorne ein Auge, ein leuchtendes Auge, das je nach Signal in einer anderen Farbe aufleuchtet: Rot bedeutet ›Fahrzeuge halt‹, Grün bedeutet ›Fahrzeuge los‹, Weiß und Rot ›Fußgänger los‹ und Gelb ›nur Trams los‹. Klingt einfach? Sie hätten gestern dort sein sollen, ein uriges Schauspiel. Eine Katastrophe: aufgeschmissene Verkehrspolizisten, festsitzende Fußgänger, ewig lange Schlangen aus Autos und Trams. Niemand wusste, ob er sich bewegen durfte oder anhalten sollte.«
Olga und Diamante lachen los, während Signor Aurelio weitererzählt: »Jemand in der Menge hat sogar gefragt, ob das ein Aprilscherz wäre!«
Da kommen Opa und Enkel von ihrer Expedition zurück.
»Buongiorno, Signor Aurelio. Ich habe heute wohl eine wichtige Presseschau verpasst«, sagt Vittorio mit Blick auf die beiden aus vollem Halse lachenden Frauen.
»Ja, das stimmt. Piero, nächste Woche muss der Opa mit dir zum Platz am Dom gehen, damit ihr euch die erste Ampel anschauen könnt«, schlägt Nonna Diamante vor.
Nachdem er bedient wurde, verlässt Signor Aurelio den Laden und gewährt dabei zwei weiteren Kundinnen den Vortritt. Auch sie sind Stammkunden und werden namentlich begrüßt: »Buongiorno, Signorina Mariuccia. Buongiorno, Signorina Isabella.« Es sind die Wittgens-Schwestern, die in der nahen Via Verga wohnen. Ihre Familie ist so groß, dass in der Vorratskammer immer etwas fehlt.
»Buongiorno, Olga, heute bräuchten wir vierhundert Gramm Löffelbiskuit und eine Dose Kaffee. Die Mama hat sich in den Kopf gesetzt, ein Tiramisù zu machen, weil heute Fernandas Geburtstag ist«, erklärt Mariuccia, die Zweitgeborene, die etwa in Olgas Alter ist. »Hoffen wir das Beste. Mamas Desserts sind meist eine Katastrophe«, fällt ihre Schwester ein.
»Wie schön! Herzliche Glückwünsche an Fernanda, gebt ihr das hier von uns«, meldet sich Diamante zu Wort und reicht ihnen eine Tüte Lakritz. »Signora Margherita hat mir erzählt, dass sie sehr fleißig lernt und bald ihren Abschluss macht. Es freut mich, dass nach Giulios schmerzhaftem Verlust nun gute Nachrichten im Anmarsch sind.« Die Gesichter der Schwestern trüben sich kurz, aber nur für einen Moment. Dann strecken sie einen Schein hin, nehmen den Rest und gehen eilig wieder nach Hause.
Es ist Mittagessenszeit. Die Drogerie macht zu, und die Familie geht zum Essen hoch in die Wohnung im ersten Stock. Piero ist noch ganz aufgeregt vom Gamba de Legn und stimmt ständig dessen charakteristisches Tock, tock, tock an; Rosetta dagegen schläft immer noch. »In der Drogerie muss etwas sehr Einschläferndes in der Luft liegen«, meint Olga, »wir sollten hier ins Schaufenster ziehen. Zu Hause macht sie immer eine Szene.« Ihr Lächeln lässt eine tiefe Müdigkeit durchscheinen.
Ihre Eltern erwidern das Lächeln etwas angespannt. Sie sehen, dass ihre Tochter glücklich ist, lassen aber auch ein wenig Sorge durchblicken. Plötzlich Mutter zu sein, ohne selbst geboren zu haben, ist gar nicht so einfach.
»Bist du müde, Olga?«, fragt ihr Vater fürsorglich. »Bist du unglücklich? Schläfst du nicht genug?« Vittorio war immer ein aufmerksamer Vater, vielleicht etwas ängstlich, für seine Töchter wäre er jedenfalls zu allem fähig.
»Doch, doch, Papa, mach dir keine Sorgen, alles gut, ich bin zwar müde, aber es geht mir gut«, versucht sie ihn zu beruhigen. »Jetzt mache ich erst mal einen Spaziergang und gebe unterwegs dieses Paket ab, das schon seit ein paar Tagen hier liegt. Es ist nicht weit, und ich möchte die Signora Conti nicht länger warten lassen.«
Olga ist schon immer gern spazieren gegangen. Durch die Stadt zu laufen, sich alles ganz genau anzuschauen und die Besonderheiten jedes Gebäudes zu erfassen, entspannt sie.
In der Schule hat sie Rechnen gelernt, aber Lesen hat ihr die Augen geöffnet, den Blick auf die Welt geweitet: Wenn sie die Zeitschriften und Zeitungen Emporium, L’Ambrosiano und La Domenica del Corriere las, reiste sie in die Kunst- und Architekturgeschichte, zwischen Vergangenheit und Gegenwart; sie lernte, Renaissance, Barock und Neoklassizismus zu unterscheiden, begeisterte sich für die moderneren Strömungen und machte sich mit innovativeren, avantgardistischen Formen vertraut.
Die Gegend um den Corso Vercelli, innerhalb weniger Jahre mit der Inbetriebnahme des nördlichen Eisenbahnnetzes der Ferrovie Nord entstanden, ist so homogen, dass sie wie ein Katalog für Jugendstil-Architektur wirkt.
Schnellen Schrittes spaziert Olga Richtung Innenstadt und freut sich an den zierenden Details der Gebäude. »Ach, wie putzig, diese Engel und riesigen Masken«, meint sie vor einer Hausfassade; inzwischen erkennt sie auch die Blumen, mit denen die bis unter die Dächer reichenden Kacheln verziert sind: Sonnenblumen, Gardenien, Granatäpfel.
Plötzlich geht ihr die Puste aus, und das Paket kommt ihr sehr schwer vor. Sie bleibt vor der Santa-Teresa-Apotheke an der Ecke Piazzale Baracca und Corso Magenta stehen.
Seit einiger Zeit fühlt sie sich noch erschöpfter als sonst. »Kopf hoch, Olga, die Kinder wachsen schnell, bald kannst du wieder durchschlafen«, redet sie sich gut zu. In ihrer Tasche findet sie eine Praline. ›Genau das, was ich jetzt brauche‹, denkt sie, packt sie aus und steckt sie sich in den Mund. ›Ich mag parteiisch sein, aber die hier mit den Haselnüssen ist wirklich köstlich. Ich bin stolz auf meinen Luigi‹, meint sie, klemmt das Paket wieder unter den Arm und spaziert weiter.
Nach wenigen Schritten überlässt die Moderne der Renaissance den Vortritt: Immer wenn sie hochschaut und die Basilika Santa Maria delle Grazie sieht, ein kostbarer Schrein, der viele Stile und faszinierende Geschichten vereint, wird sie ganz gerührt und bleibt voll Bewunderung für die perfekten Proportionen stehen.
Sie überquert die Straße, um die Nummer 65 zu betreten.
Hier steht die Casa Atellani, die seit Kurzem dem Senator Ettore Conti gehört. Der Architekt seines Vertrauens, Piero Portaluppi, hat das, was Contis Ehefrau als »Mauseloch« bezeichnet hatte, in dem sie nie und nimmer wohnen wolle, in eine herrschaftliche, elegante Residenz verwandelt, wie die ursprüngliche, die im sechzehnten Jahrhundert von Künstlern, Literaten und Musikern wie Leonardo da Vinci und Matteo Bandello frequentiert wurde.
Olga betritt den Innenhof. Während sie zu den Kapitellen und Ornamenten aufschaut, nähert sich ein Mann und heißt sie willkommen. Noch bevor sie antworten kann, sinkt sie bewusstlos zu Boden.
Als sie die Augen wieder aufschlägt, sieht sie alles blau: Im Hintergrund macht sie einige Karren aus, menschliche Gestalten und Wolken. »Wo bin ich denn hier gelandet?«, fragt sie sich und dreht den Kopf zur Seite, wo eine riesige Landkarte direkt auf die Wand gemalt ist.
Da hört sie Schritte und versucht aufzustehen: »Geht es Ihnen gut? Warten Sie, ich helfe Ihnen. Das über Ihnen sind Tierkreiszeichen und die Allegorien der Planeten und Jahreszeiten. Sie befinden sich in der Sala dello Zodiaco.«
Noch verwirrter reibt Olga sich die Augen. Vor ihr steht ein sehr eleganter Mann in Jackett und Krawatte. Auf dem Kopf trägt er einen Zylinder und an den Füßen feine englische Schuhe.
»Mir ist noch nie jemand so zu Füßen gefallen. Sie sind die Erste«, fährt er lächelnd fort. »Entschuldigen Sie. Darf ich mich vorstellen?«, sagt er, als er den verdutzten Blick der jungen Frau am Boden sieht. »Ich bin Ettore Conti, und Sie sind eben in Ohnmacht gefallen.«
Da beruhigt sich Olga und lächelt ihrerseits. »Wie konnte das nur passieren?«, fragt sie, streicht ihren Rock glatt, setzt sich auf und lehnt den Rücken gegen die Wand.
»Sie sind nicht etwa in anderen Umständen?«, fragt sie der Senator etwas befangen. »Ich habe keine Kinder und bin daher wenig vertraut mit solchen Dingen«, fügt er entschuldigend hinzu.
Beschämt springt Olga auf, ein Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht. ›Kann das sein?‹, denkt sie. ›Ich Dummerchen! Darum bin ich dauernd so müde!‹ Sie geht ein paar Schritte, ohne zu wissen, was sie antworten soll, wenn nicht ein verlegenes: »Entschuldigen Sie die Umstände, Herr Senator.«
»Ich habe in der Drogerie anrufen lassen. Ein Auto kommt Sie abholen«, sagt Ettore, der sie zum Tor begleitet und sich verabschiedet: »Machen Sie es gut, und halten Sie mich auf dem Laufenden.« Als er wieder ins Haus geht, dreht er sich noch einmal um und wirft ihr einen verschwörerischen Blick zu, den Olga sanft erwidert.
Luigi ist im Büro, als Clelia ihm den Anruf seines Schwiegervaters durchstellt: »Luigi, ich bin’s, Vittorio. Gerade hat mich Signor Conti angerufen, der vom Wasserkraftwerk«, Luigi nickt, ohne seinen Schwiegervater zu unterbrechen, »er sagte, dass Olga in Ohnmacht gefallen sei. Es geht ihr gut, aber ich hole sie gleich mit dem Auto ab.« Sein Tonfall lässt die Nervosität nicht durchscheinen, die ihn in Wirklichkeit aufwühlt, und ruhig fährt er fort: »Ich bringe sie nach Hause, es besteht also kein Grund zur Eile, ich wollte Ihnen aber wenigstens Bescheid geben.«
Luigi Zaini steht vom Stuhl auf. »Vittorio, sind Sie sicher, dass es nichts Schlimmes ist?«, fragt er angespannt.
»Keine Sorge: Ich rufe Sie an, sobald wir zu Hause sind.«
»Danke.« Luigi legt den Hörer auf, zündet seine Pfeife an und widmet sich wieder seinen Papieren, entschlossen, sie so schnell wie möglich durchzugehen, um nicht zu spät nach Hause zu kommen.
Als er aufbricht, bittet er Clelia, die letzten Dokumente zu prüfen und einige Kataloge zu verschicken. »Bitte stellen Sie sicher, dass niemand mehr im Gebäude ist, bevor Sie abschließen«, sagt er zu seiner vertrauenswürdigen Sekretärin. Normalerweise verlässt er als Letzter das Büro und dreht die Kontrollrunde, aber heute hat er es eilig, zu Olga zurückzukommen.
»Selbstverständlich, Signor Zaini, gehen Sie ruhig nach Hause, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.«
Am Ende des Tages dreht Clelia die Runde durch die Maschinenräume und Werkstätten. Da sieht sie hinter einer Glastür einen Schatten, der nervös zwischen zwei Tischen hin- und herläuft. Im Takt der Bewegung klirren Glasgefäße. Clelia geht hin und öffnet die Tür.
»Adalgisa, was machst du denn noch hier?«, fragt sie und beobachtet die Tusa, die sich mit Aromafläschchen und Konfekt herumschlägt.
»Ich experimentiere gerade, was sich mit Minze kombinieren lässt«, antwortet sie, ohne aufzuschauen.
Adalgisa wurde erst vor Kurzem zur Abteilungsleiterin für Pastillen und Konfekt befördert. Sie ist eine große Frau mit dichten blonden Locken, die sie beim Betreten der Fabrik mühsam zu einem Dutt bindet, damit sie unter die Haube passen. Eine auffällige Brille betont ihren tiefgründigen und entschlossenen Blick. »Irgendetwas überzeugt mich aber noch nicht«, fährt sie fort. »Willst du mal kosten und mir sagen, was du von dieser Kombination hältst: Minze und Erdbeere?«
Clelia, eine echte Naschkatze, scheut sich nicht und streckt die Hand aus: »Immer her damit.« Sie steckt das Konfekt in den Mund und verzieht angewidert das Gesicht: »Nein, Adalgisa, auf keinen Fall«, urteilt sie. »Das funktioniert nicht.« Und dann meint sie: »Belass es für heute dabei, schlaf eine Nacht drüber und denk morgen mit frischem Kopf weiter.«
»Du hast recht«, antwortet Adalgisa und verstaut die Fläschchen im Schrank. Sie nimmt die Schürze ab und hängt sie hinter der Tür auf, befreit ihre Haare von der Haube und folgt Clelia. »Gehen wir ein Stück zusammen?«, schlägt sie ihrer Kollegin vor und streicht sich eine Strähne hinters Ohr.
Die beiden Frauen treten aus dem Fabriktor und machen sich auf den Weg Richtung Corso Como.
»Wohnst du weit weg?«, fragt Adalgisa ihre Kollegin.
»Zum Glück nicht, ich wohne in Isola, hinter der Eisenbahnbrücke Ponte della Sorgente. Und du?«
»Wir auch nicht: Wir wohnen in der Via Giusti, am Borgo degli Ortolani«, antwortet sie.
Clelia fällt auf, dass sie im Plural spricht, und fragt ihre Kollegin, ob sie Familie habe. »Ja, ich bin verheiratet. Mein Mann arbeitet bei der Bank, und wir haben einen achtjährigen Sohn, einen Lausbub, der uns in den Wahnsinn treibt.« Ihre Augen werden sanfter. »Heute Abend will er bestimmt zum Spielen in den Hof, aber ob er mit den Hausaufgaben schon fertig ist?«, denkt Adalgisa laut und fragt dann: »Und du, Clelia, hast du Kinder?«
»Gott behüte, nein! Ich habe keine Geduld, weder für Kinder noch für Ehemänner!«, antwortet sie mit fröhlicher Stimme. »Mir geht es gut allein. Ich habe aber einen Hund: Er heißt Ruggero und ist ein ausgezeichneter Gefährte!«
»Ich verstehe, was du meinst«, lacht Adalgisa.
»So, hier muss ich abbiegen«, sagt die eine. »Tausend Dank und bis morgen.«
»Bis morgen«, antwortet die andere und macht sich auf den Heimweg.
Als Luigi die Haustür öffnet, eilt ihm Olga hopsend entgegen. »Und ich dachte, du wärst halb tot!«, ruft ihr Mann aus und streckt ihr einen Strauß rote und gelbe Tulpen hin.
Die Kinder sind schon im Schlafanzug und spielen auf dem Teppich.
Die Augen seiner Frau sprühen vor Freude. Luigi betrachtet sie verwirrt und amüsiert: »Was war denn los mit dir? Dein Vater hat mich angerufen und gesagt, er würde dich beim Senator Conti abholen, du hättest dich nicht gut gefühlt. Jetzt wirkst du putzmunter. Du siehst auch nicht krank aus«, sagt er erleichtert, streichelt ihr Gesicht und schaut ihr tief in die Augen.
»Nein«, antwortet sie, »krank bin ich nicht.«
»Was war denn dann los?«
»Es war los, dass …«, Olga weiß nicht, wie sie es sagen soll, sie sucht nach den richtigen Worten, und ihre Stimme bleibt in der Luft hängen.
»Es war los, dass?«, drängt Luigi, von Sorgen gepackt.
»Dass ich höchstwahrscheinlich ein Kind erwarte«, ihre Stimme erhebt sich zu einem Freudenschrei.
Im Sommer ist Valganna, wenige Kilometer nördlich von Varese, wie verwandelt: In die zwischen Ghirla, Cunardo und Cabiaglio verstreuten Landhäuser kehrt wieder Leben ein. Die Familien kommen für die Ferien, umgeben von grünenden Wäldern, alten Mühlen und kühlen Schluchten, und bringen ihre Gewohnheiten und ein Stück mondänes Flair mit. Für die Ortsansässigen heißen sie ›die Mailänder‹, darunter auch die Familie Torri. Ihr Haus ist am Eingang des Dorfs, direkt hinter der alten, bei den Menschen in Cunardo sehr beliebten Kirche Beata Vergine del Rosario; ihr Türmchen, die Blumenornamente unter dem Dach und der große Park ringsum mit den jahrhundertealten Pflanzen bleiben von niemandem unbemerkt. Es ist das Haus des fondeghee, wie der Drogist Signor Vittorio im Dialekt genannt wird. Ein aus seinem gut ausgestatteten Laden mitgebrachter Likör hat ausgereicht, auch die verschlossensten und störrischsten Nachbarn zu erobern. Wenn sie als Kinder herkamen, dauerte es nur wenige Tage, schon bekamen Olga und Annetta wieder Farbe: Bergwanderungen, Rennen durch die Wälder, Bäder in den Gebirgsbächen und Spielen mit Gleichaltrigen auf dem Kirchplatz bestimmten ihre Tage, während ihre Eltern die Zeit mit Plaudern, Schachspielen, Lesen im Schatten der Bäume und ein paar Ausflügen in die Umgebung verbrachten. So ist es seit Jahrzehnten. Die Rhythmen sind gemächlich, und die Routine garantiert Erholung.
Cunardo wirkt, als wäre die Zeit hier stehen geblieben, fernab der großen Geschichte und der letzten Ereignisse, die das Land bewegen.
Zum ersten Mal sind Olga und Luigi als Familie hierher zurückgekehrt. Den Sommer über haben sie geliebte Orte und Menschen wiedergesehen, die ihren Urlaub auch diesmal fröhlich und erfrischend gemacht haben.
Die Zeit ist rasch vergangen. »Wir sind mit den Kindern noch gar nicht mit der weißen Bimmelbahn gefahren«, stellt Luigi eines Sonntagmorgens Ende August fest. »Ich kann den Urlaub doch nicht ohne den angesagtesten Touristenausflug der Valganna beenden«, fügt er scherzend hinzu. »Traust du dir das zu, mein Schatz?«, fragt er seine Frau mit Blick auf ihre immer sichtbarer werdende Schwangerschaft.
»Klar«, antwortet sie begeistert. »Ich rufe nur schnell im Eden an und reserviere einen Tisch.« Ihre einzige Sorge ist, dass sie und die Kinder sich irgendwo den Bauch vollschlagen können. Seit sie schwanger ist, hat sie ständig Appetit.
Luigi lächelt und bemüht sich um die Aufmerksamkeit von Piero und Rosetta, die gerade frühstücken. »Kinder! Heute nehmen wir die Tram!«, kündigt er feierlich an.
»Die Tram?«, fragt Piero verdutzt und begeistert und denkt an die Straßenbahnen in der Stadt, die ihn so faszinieren.
»Ja, es ist eine sehr eindrucksvolle Tram. Sie ist elektrisch und verbindet Varese und Luino und fährt dabei durch wunderschöne Landschaften«, erklärt Luigi.
Die Kinder starren ihn weiter an. Wirklich verstanden haben sie die Worte ihres Papas nicht, freuen sich aber. »Juhuu!«, ruft Piero in Vorfreude auf den besonderen Tag.
Die Kinder drücken ihre Nasen an den Fensterscheiben platt, während Olga und Luigi abwechselnd erklären, was zu sehen ist. »Jetzt fahren wir hinter einer Brauerei vorbei«, sagt Luigi.
»Die Brauerei Poretti, die dein Papa so mag«, ergänzt Olga und streicht sich über den Bauch.
»Ist das der Lago di Ghirla, Mami?«, fragt Piero und steht auf, um zu schauen, ob auf dem Wasser Schiffe sind.
»Genau«, antwortet Olga. »Wenn ich nicht zu müde bin, gehe ich morgen mit euch hin«, verspricht sie. Die Kinder sind begeistert.
Dann fährt die Tram am Ufer des Lago di Ganna entlang und durch spektakuläre, in den Fels gegrabene Tunnel. »Das hier sind die Valganna-Höhlen«, ergreift Luigi wieder das Wort.
»Pass auf, Papa, ein Wasserfall!«, ruft Piero und zeigt auf ein Rinnsal in einem Tunnel, genau über ihren Köpfen. Nach einer Stunde wird der Zug langsamer. »Hör mal, wie laut, Mami: Wir halten in einem Bahnhof!«, ruft Piero, während Olga Rosetta den Schaffner zeigt, der gerade Anweisungen vom Lokführer erhält.
Als sie nach Hause zurückkommen, sind die Kinder überwältigt: Piero schläft in Opas Armen auf dem Sofa ein, während er ihm jeden Augenblick des Tages bis ins kleinste Detail schildert. Auch Olga ist müde und geht hoch ins Schlafzimmer, um sich aufs Bett zu legen und ihre Beine auszuruhen. Luigi bringt ihr einen Kräutertee. Seit er weiß, dass seine Frau ein Kind erwartet, ist er überaus aufmerksam. Er will seine Besorgtheit nicht zeigen, aber der Gedanke an Luisa, die kurz nach der Geburt gestorben ist, spukt durch seinen Kopf, und wenn er Olgas blasses Gesicht und die Augenringe sieht, macht die Sorge einer unbändigen Angst Platz. Nur seinem Schwiegervater hat er sich anvertraut, der versprochen hat, in Luigis Abwesenheit über seine Tochter zu wachen, wie nur ein Vater es kann. Luigi pendelt während seiner sogenannten Ferien nämlich zwischen Mailand und Cunardo hin und her.
Auch an diesem Abend muss er wieder nach Mailand fahren. »In ein paar Tagen bin ich zurück, mein Schatz. Morgen früh kommt eine Kakaolieferung, die geprüft und sorgfältig gelagert werden muss. Da darf ich leider nicht fehlen«, sagt er, während er seiner Frau die Tasse Tee reicht. »Strapaziere dich nicht! Dafür hast du die Erlaubnis, deinen Vater zu strapazieren!«, mahnt er lächelnd und gibt ihr einen Kuss auf die Stirn.
In dem Moment kommt sein Schwiegervater herein und nickt scherzhaft. Zu ihm sagt Luigi: »Wir verschieben die Schach-Revanche um ein paar Tage.«
Luigi verabschiedet sich und reist nach Mailand ab. Die politische und wirtschaftliche Lage Italiens lässt ihm keine Ruhe, und ihm ist nicht danach, seiner Fabrik zu lange fernzubleiben.
Mussolinis Machtübernahme geschah so plötzlich, dass sie fast etwas Unglaubliches hat: Seit dem Marsch auf Rom im Oktober 1922 ist es dem Partito Nazionale Fascista in wenigen Jahren gelungen, die volle Kontrolle über die Regierung zu erlangen. Sie konnten sogar die Verantwortung für die Ermordung Matteottis zugeben, ohne dass es Auswirkungen für sie gehabt hätte. Die Worte des Duce, mit offenem Visier vor der ganzen Regierung, hallen in Luigis Kopf wider: »Nun, ich erkläre hier vor dieser Versammlung und vor dem gesamten italienischen Volk, dass ich, nur ich, die politische, moralische und historische Verantwortung für alles, was passiert ist, übernehme.« So hatte das Jahr 1925 begonnen.
Von da an bewahrheitete sich nach und nach alles, was unmöglich erschienen war: Schnell verschwanden Parteien und die Opposition; ein Gesetz hatte die Arbeitszeit auf neun Stunden verlängert, ein anderes das Streikrecht aufgehoben; Presse und Verbände wurden mit militärischer Strenge kontrolliert; jegliche Art Veranstaltungen wurden überwacht, beschränkt, zuweilen untersagt, und nur die faschistische Freizeitorganisation für Arbeiter Opera Nazionale del Dopolavoro durfte Aufführungen, Meisterschaften und Paraden organisieren. Freiwillige Milizen hatten die Aufgabe, für Ordnung zu sorgen.
Luigi fühlt sich angesichts der Veränderungen unwohl, ohne zu wissen, was er denken soll oder welche Haltung er gegenüber einer immer autoritäreren Regierung einnehmen soll. Sein Hauptaugenmerk gilt der Zaini: Er hat zu viel investiert, zu viele Opfer gebracht, als dass er in Erwägung ziehen könnte, sein Unternehmen und das Leben seiner Arbeiter in Gefahr zu bringen. Bei jeder Entscheidung respektiert er die Regeln und versucht, weder Neid noch Rivalitäten auf sich zu ziehen.
Der Wagen biegt in den Corso Sempione ein. Luigi wirft einen Blick auf den Arco della Pace in der Ferne, bevor er Richtung Cimitero Monumentale fährt und ihr Haus erreicht. Die spätsommerlichen Temperaturen machen die Heimkehr weniger hart. Luigi steigt aus dem Wagen und läuft zum Tor, schon von seinem Bett träumend und in der Hoffnung, schnell einzuschlafen.
Am nächsten Tag streicht sich Olga über den Bauch, während sie Piero und Rosetta beaufsichtigt, die am Ufer des Lago di Ghirla mit dem Wasser spielen. Sie darf sie nicht aus den Augen lassen, man weiß, wie tückisch dieser See ist, eiskalt und ganz plötzlich zu tief. Heute sieht der Tagesablauf nur ein kleines Picknick vor. »Nach der gestrigen Völlerei brauche ich heute was Leichtes, sonst schwillt dieser Bauch stärker an als vorgesehen«, sagt sie zu Annetta, die heute beschlossen hat, neben der Sonne auch Nichte und Neffe zu genießen.
»Erinnerst du dich, wie wir als Kinder mit Tante Chiara hier zum Spielen herkamen?«, fragt Annetta ihre Schwester in einem Anflug von Nostalgie. »Wir konnten unbezwingbare Schlösser bauen und Dämme, bei denen der am Lago di Pusiano vor Neid erblasste, obwohl der doch der älteste in ganz Italien ist! Wir haben sogar einen Preis gewonnen«, lächelt sie und schaut ihre Schwester an.
»Stimmt, eine Schachtel Pralinen! Ein Wink des Schicksals«, antwortet Olga.
»Es waren aber keine Zaini-Pralinen!«, lacht Annetta.
Während Tante Annetta zu den Kindern geht, versucht Olga sich vorzustellen, wer wohl das Kind in ihrem Bauch wird. ›Wie seltsam, ich kann es mir nicht anders als Piero und Rosetta vorstellen‹, denkt sie.
Der Tag fließt schnell dahin, und als die Sonne hinter den Bergen verschwindet, ruft Olga die Kinder zum Aufbruch. »Piero, Rosetta! Kommt ihr bitte? Wir gehen zurück zu Nonno und Nonna und zu Eugenia. Sie werden sich schon wundern, wo wir bleiben!«
Piero schaut sich noch einmal zufrieden sein Schloss an. »Kommen wir bald wieder her, Mami?«, fragt er, weil er sich nicht losreißen kann.
»Aber sicher, mein Schatz«, beruhigt Olga ihn. Annetta hilft derweil Rosetta und nimmt sie auf den Arm. Im Gänsemarsch machen sie sich auf den Heimweg.
Sie sind noch nicht einmal durchs Gartentor, da rennt Eugenia, die Hausangestellte, schon wie der Blitz in den Garten und ruft: »Olga, Olga! Es kam ein Anruf aus der Fabrik. Signor Luigi ist im Krankenhaus.«
Eugenia ist schon ewig im Haus des fondeghee in Cunardo angestellt und immer etwas melodramatisch und schroff.
»Im Krankenhaus?«, antwortet Olga fassungslos.
»Man hat auf ihn geschossen!«
Olga erbleicht. Annetta, die Angst hat, sie könnte wieder in Ohnmacht fallen, tritt näher, um sie zu stützen. »Was redest du denn da, Eugenia? Du wirst dich irren«, versucht Annetta den Schock zu mildern. »Du übertreibst mal wieder. Außerdem: Hast du nicht gemerkt, dass Olga guter Hoffnung ist? Da sollte man bestimmte Nachrichten nicht überbringen, und schon gar nicht so«, fügt sie leiser hinzu.
Annetta ist verstimmt, aber Eugenia noch mehr. »Ich war selbst am Telefon und mache mir schon seit Stunden Sorgen«, klagt sie. »Ich setze dann also mal Wasser auf, für einen Tee«, sagt sie gekränkt und geht weg. Nie im Leben würde sie ihre Olga aufwühlen wollen, die sie doch lieb hat wie eine Tochter.
Olga fehlen die Worte. Das Telefon klingelt: Es ist Signor Pietro, der Vorarbeiter. Seine Stimme am anderen Ende der Leitung zittert, aber man merkt, dass er versucht, einen ruhigen Tonfall zu bewahren: »Signora Zaini, ich habe zum Glück gute Nachrichten. Signor Luigi wurde gerade aus der Notaufnahme entlassen, und ein Auto bringt ihn zu Ihnen.«
»Er fährt nicht selbst«, fügt er nach einer Pause hinzu.
Pietro wurde vor weniger als einem Jahr angestellt. Er hat die Pirelli und ihre Reifen hinter sich gelassen und ist mit Fachwissen und nützlichen Fähigkeiten im Gepäck zur Zaini gekommen. Luigi hatte keine Zweifel, als er ihm die Leitung der Fertigungshalle anvertraute, sein mächtiger Körperbau und sein sanfter, offenherziger und entschlossener Ausdruck hatten ihn überzeugt. »Sich beschweren ist nicht schwer«, sagt er oft zu seinen Arbeitern, wenn er sich über ihre Klagen aufregt.
In Olgas Gesicht kehrt schlagartig die Farbe zurück, und nun findet sie auch ihre Stimme wieder, um Erklärungen zu verlangen: »Entschuldigung, Pietro, aber was zum Teufel ist eigentlich passiert?«
»Sie wissen noch gar nichts? Dann erzähle ich Ihnen zumindest das, was ich weiß.« Pietro holt Luft und legt los: »Heute Morgen hat Signor Zaini am Eingang der Fabrik gerade mit Dottor Cerutti geredet, dem Rat der Stadtteil-Gesellschaft von Porta Nuova. Ich war noch im Pförtnerhaus und habe gerade die Post sortiert. Plötzlich höre ich einen Schuss und renne raus: Signor Zaini liegt am Boden, und Signor Cerutti beugt sich über ihn und kommt ihm zu Hilfe. Ich sehe einen Revolver auf dem Gehsteig und den Übeltäter auf der Flucht. Ich renne los, und genauso Giovanni, einer unserer Arbeiter, zusammen kriegen wir ihn gepackt und übergeben ihn den Wachen des Polizeireviers. Als wir in die Via De Cristoforis zurückkommen, erfahren wir, dass Signor Zaini zur Behandlung ins Fatebenefratelli-Krankenhaus gebracht wurde.« Er hält kurz inne und fährt dann fort: »Nach einer Weile haben wir einen beruhigenden Anruf von Cerutti bekommen: Signor Zaini gehe es gut, er sei mit einem Verband davongekommen.« Olga hört mit angehaltenem Atem zu.
»Danke, Pietro, für alles, was Sie getan haben. Dafür werden wir Ihnen ewig dankbar sein.« Olga legt den Hörer auf. Sie ist sichtlich erleichtert, aber dennoch besorgt. »Wie kann jemand Luigi gegenüber denn so feindselig eingestellt sein, dass er ihn töten will? Was ist da passiert? Warum?«, fragt sie ihre Mutter. Olgas Kopf schwirrt voll unbeantworteter Fragen. Während sie ihrer Familie erzählt, was sie gerade erfahren hat, spielen Piero und Rosetta, die nichts von der Anspannung ahnen, im Wohnzimmer und werfen sich ihrer Mutter in den Schoß.
Hinter ihnen kommt Eugenia. Die will sie überreden, ein Bad zu nehmen und den Schlafanzug anzuziehen. »Los, Kinder, seid schön brav. Heute Abend gibt es keine Diskussion. Frühes Abendessen, eine Geschichte und ab in die Heia.«
Olga ist gedankenverloren und kann ihre Sorgen nicht verbergen.
»Mach dir keine Sorgen, mein Schatz«, sagt ihre Mutter aufmunternd. »Jetzt wird er gleich da sein, es ist sicher nur noch eine Frage von Minuten.«
»Ich bin erst beruhigt, wenn ich Luigi mit eigenen Augen sehe«, antwortet Olga mit Blick auf das Gartentor.
Endlich bricht Motorengeräusch die Stille. Olga eilt in den Garten. Mit Hilfe des Chauffeurs steigt Luigi aus dem Auto. »Ach, du Ärmster!« Olga umarmt ihn und versenkt ihre Nase in seiner Jacke. Es reicht eine Umarmung, schon lässt die Anspannung nach. Eng umschlungen steigen die beiden die Stufen hoch und gehen ins Haus. »Komm, setz dich auf den Sessel«, seine Frau streichelt ihm fürsorglich über den Arm, während der Rest der Familie ins Wohnzimmer stürmt. »Erzähl«, drängt Diamante.
»Mama, lass ihn doch erst mal verschnaufen!«, entfährt es dem Mund der Tochter.
Luigi lächelt. Er hat Angst gehabt, aber jetzt freut er sich so, die Gesichter seiner Lieben zu sehen, dass er seine Kräfte sofort wiederfindet und zum zigsten Mal an diesem Tag erzählt, was geschehen ist: »Ich habe gerade mit Cerutti geredet, als mich plötzlich jemand rief. Ich habe mich umgedreht und hatte den Revolver noch gar nicht gesehen, da hat dieser Verrückte schon auf mich geschossen. Zum Glück war Cerutti so geistesgegenwärtig, dass er ihm blitzschnell mit einem Stock die Waffe aus der Hand geschlagen hat, während Tosco und Pozzi dem Angreifer hinterhergerannt sind. Es ist noch glimpflich für mich ausgegangen: Zum Glück habe ich nur einen Streifschuss abbekommen, die Wunde ist klein und oberflächlich. Und mir wurde gleich geholfen. Ein Krankenwagen hat mich ins Krankenhaus gebracht, wo ich sofort behandelt wurde. Und dann hat mich die Polizei befragt.«
»Weiß man denn, wer dieser Verrückte ist? Wurde er geschnappt?«, drängt Olga.
»Ja, ja. Es ist ein Arbeiter, um die dreißig. Bis vor Kurzem war er bei uns angestellt. Er hat selbst gekündigt, weil er nach eigener Aussage eine Stelle bei der Breda gefunden hatte. Seitdem hat er uns Briefe geschrieben: manchmal voll übertriebener Zuneigung, manchmal mit verhüllten Drohungen. Vielleicht war es falsch, dass ich das der Polizei nicht gemeldet habe, aber bei allem, worum ich mich kümmern muss, hatte ich keine Zeit, mir darum Sorgen zu machen. Vor ein paar Wochen ist er noch mal aufgetaucht: Er wollte wieder eingestellt werden. Ich habe ihm erklärt, dass wir aktuell nur Gesellen suchen, keine Arbeiter seines Alters. Ich habe versucht, ihn zu beruhigen, und versprochen, dass wir uns melden, sollten wir wieder Bedarf haben. Im Weggehen hat er, wirklich geistesgestört, gerufen: ›Wenn ihr mich nehmt, gut, wenn nicht, weiß ich, was zu tun ist.‹ Und das hat er getan. Es hätte allerdings deutlich schlimmer für mich ausgehen können«, schließt Luigi lächelnd seinen Bericht ab und beobachtet die immer aufgewühltere Olga.
»Liebster, davon hattest du mir ja gar nichts erzählt!«
»Mein Schatz, wenn ich dich über alle dummen Wortgefechte informiere, haust du noch mit einem deutlich unterhaltsameren jungen Mann ab!«
Olga lächelt. Der Ausdruck in ihren tiefen grünen Augen lässt erkennen, dass ihr kein besserer junger Mann einfiele als der, den sie im Arm hat.
»Jetzt brauchst du einen Erholungsschlaf«, mischt sich Vittorio ein. »Du wirst sehen, dass du dich morgen schon viel besser fühlst, und wenn der Verband es zulässt, hätten wir Zeit für die berühmte Revanche, die du mir gestern Abend versprochen hast!« Die Anspannung lässt bei allen nach, und die Lust zu scherzen ist ins Haus zurückgekehrt.
»Eine letzte Frage«, ergreift Annette jetzt das Wort: »Wo ist der Irre jetzt?«
»Eingesperrt, auf der Polizeiwache von Porta Nuova«, beruhigt Luigi sie. »Heute Nacht können wir ruhig schlafen.« So zieht sich die Familie zurück.
Luigi streichelt den Bauch seiner Frau, die sofort eingeschlafen ist, als sie ihren Kopf aufs Kissen gelegt hat. »Was erwartet dich da für eine Welt?«, flüstert er an ihren Schoß gewandt. »Hier draußen scheinen alle verrückt geworden zu sein. Richtet ein Mensch die Pistole auf dich, nur weil er einen Job will?« Luigis Stimme zittert, und er findet nur schwer in einen regelmäßigen Atemrhythmus. »Ich verrate dir ein Geheimnis, aber nur, weil ich weiß, dass du es da drinnen für dich behältst: Ich habe Angst, aber ich verspreche dir, dass deine Mama und deine Geschwister nur Tapferkeit sehen werden.«
Als Antwort spürt er einen Tritt unter seinen Händen: ein Zeichen des Einverständnisses. Luigi lächelt, und sein Streicheln wird nach und nach leichter, bis die Hände, vom Schlaf übermannt, ganz innehalten.
Tock. Der Klang ist hart, die Bruchkante glatt. »Perfekt«, urteilt Signor Zaini, als er die Tafel Schokolade durchbricht. »Auch die Farbe scheint mir bestens so: ein schönes Braun, warm und dunkel, ohne gräuliche Flecken.« Luigi beglückwünscht den Vorarbeiter. »Wir machen gute Arbeit, oder, Pietro? Zeig mir unsere neue Maschine. Ich bin neugierig«, sagt er und macht sich auf den Weg.
»Angesichts dessen, was sie uns gekostet hat, hoffe ich, dass sie wirklich einen Teil der Arbeit beschleunigt.«
Luigi spricht immer im Plural. Das hat Pietro gleich an seinem ersten Arbeitstag bemerkt und sofort zu schätzen gewusst. Er hat es nie bereut, die mächtige Pirelli für eine kleinere Firma verlassen zu haben. Hier fühlt er sich wirklich als Teil einer Familie. Und er ist nicht der Einzige: Annalisa aus der Modellierabteilung, Adalgisa aus dem Versuchslabor und Clelia aus der Verwaltung haben denselben Eindruck: Sie sind Teil von etwas, das jeden Tag wächst, jeden Tag neue Herausforderungen angeht und kleine, aber relevante Meilensteine feiert.
»Sicher, Signor Zaini, das wird zweifellos eine gute Investition sein: Wie man weiß, ist das Rösten der wichtigste Schritt bei der Schokoladenherstellung, Mängel, die durch falsches Rösten der Kakaobohnen entstehen, finden sich in den folgenden Phasen wieder und lassen sich nicht mehr ausgleichen.«
Da ist sie: Vor ihnen prangt ein großer Quader. Es ist das neuste Modell der Röstmaschine Battaggion, hergestellt in Bergamo. Pietro spricht in feierlichem Ton, als er sie den Arbeitern vorstellt, die neugierig näher gekommen sind: »In diesem großen Ofen lösen sich die Schalen ab und werden beseitigt, sodass sich das charakteristische Kakao-Aroma entwickeln kann.«
Pietro stellt die Maschine an, während ein Arbeiter einen Sack Kakaobohnen in den Trichter schüttet. »Es darf nicht zu lange dauern, und die Temperatur muss konstant bleiben«, ergänzt der Arbeiter, »sonst verliert die Schokolade ihren Duft und wird weniger löslich und schlechter verdaulich.«
»Das haben wir am eigenen Leib erfahren, als wir ein paar Versuche gemacht haben«, fährt der Arbeiter fort. »Wenn man zu lange röstet, wird der Kakao unangenehm bitter.« Er verzieht das Gesicht.
»Der Mann weiß, was Sache ist«, meint der Vorarbeiter mit stolzem und zufriedenem Blick auf seinen Mitarbeiter, der zeigt, dass er die neue Maschine schon voll im Griff hat.
Der Arbeiter spricht lauter, über das Dröhnen der Maschine hinweg. »Die Farbe zeigt den genauen Röstgrad an: Kakao guter Qualität muss hell sein.«
»Je stärker er geröstet ist, desto dunkler wird er«, ergänzt Pietro, fasziniert von dem Vorgang.
»Und jetzt ist er bereit für die Kopfzerbrechanlage«, sagt Signor Zaini zum Abschluss und lächelt bei dem Gedanken an seinen Piero, der, als er sie zum ersten Mal gesehen hat, sich ihren Namen nicht merken konnte. Jedes Mal, wenn er diese Maschine benennt, kann er nun nicht widerstehen, aus Spaß den Namen zu verhunzen: Es ist die Kakaobrechanlage mit ihrem großen, kühlenden Gebläse, das zum Bewahren der Aromastoffe beiträgt.
Luigi setzt seine Runde zwischen den Kakaomühlen, Mischmaschinen, Kesseln und Modelliermaschinen fort bis zu seinem Büro, am Ende der Halle. Die Wände sind aus dickem Glas: Der Hintergrundlärm der Maschinen, die Rufe – zuweilen auch Schreie – der Arbeiter und der durch die Luft wabernde Schokoladenduft sind für ihn normal und das Geheimnis konzentrierten Arbeitens. Hier an seinem Holzschreibtisch, der ihn schon begleitet, seit er seine erste Firma in der Via Carroccio als Chemikalienhändler aufgemacht hat, fühlt er sich behütet und wachsam, bereit, mit klarem Kopf Probleme zu beheben und Lösungen abzuwägen.
Er hat sich noch nicht gesetzt, da betritt schon der Buchhalter Franco mit beherztem Schritt sein Büro und bringt ihm ein neues Handbuch über die Schokoladenherstellung, das er in der Innenstadt besorgt hat. Es ist frisch aus dem Druck, geschrieben von Luisa Spagnolis Sohn.
»Wer weiß, ob auch mein Piero eines Tages irgendetwas über die Zaini schreiben wird«, denkt Luigi beim Durchblättern laut.
»Danke, Signor Franco«, sagt Luigi, schon in die Lektüre vertieft. Sein Blick ist auf die Widmung gefallen: »Meiner Mutter, Initiatorin und unermüdliche, sichere und fachkundige Lenkerin unseres Gewerbes«. Mario hat recht: Seine Mutter ist eine wahre Unternehmerin.
Luigi beobachtet seine Fabrik durch die Glaswand: Sie ist nicht vergleichbar mit der Perugina, die ihren Turiner Konkurrenten das Leben schwer macht und ständig erfolgreiche Produkte auf den Markt bringt, aber er ist zufrieden mit dem bisher beschrittenen Weg. Vielleicht braucht auch die Zaini in Kürze eine größere Fabrikhalle, in der Peripherie. Die Idee gefällt ihm.
Während er in Berechnungen und Gedanken versunken ist, hört er es an der Tür klopfen: »Signor Zaini, Entschuldigung, wenn ich Sie störe, aber ich müsste kurz mit Ihnen sprechen.«