Das Haus der vergessenen Bücher - Christopher Morley - E-Book

Das Haus der vergessenen Bücher E-Book

Christopher Morley

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Beschreibung

New York, 1919. Roger Mifflin hat seine größte Leidenschaft, das Lesen, zum Beruf gemacht. In seinem Antiquariat in Brooklyn findet man ihn dort, wo der Tabakrauch am dichtesten ist. Unterstützt wird er von seiner ebenso patenten wie resoluten Ehefrau und seinem Hund Bock - Bock wie Boccaccio. Bücher sind Mifflins Leben. Von Werbemaßnahmen für sein Geschäft will er allerdings nichts wissen, und so lässt er den jungen Aubrey Gilbert, angestellt bei der Grey Matter Agency, ziemlich abblitzen, als der ihm seine Dienste anbietet. Dennoch freunden sich die beiden an, und bald kommt Gilbert täglich ins Geschäft. Was auch an Mifflins neuer Hilfskraft liegen mag - der schönen Titania Chapman, deren Leben in Gefahr zu sein scheint. Und das gilt nicht nur für ihr Leben ...

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Christopher Morley

Das Haus der vergessenen Bücher

Roman

Roman

Aus dem Amerikanischen von Renate Orth-Guttmann

Atlantik

An die Buchhändler

Den höchst Ehrenwerten sei kund und zu wissen, dass Ihnen dieses kleine Buch in achtungsvoller Gewogenheit zugeeignet ist.

Christopher Morley Philadelphia, 28. April 1919

Kapitel 1Die Buchhandlung, in der es spukt

Wenn es Sie einmal nach Brooklyn verschlägt, einen Ort, der prachtvolle Sonnenuntergänge und den erhebenden Anblick von Kinderwagen bietet, die von Ehemännern geschoben werden, hoffe ich um Ihretwillen, dass der Zufall Sie auch in jene ruhige Nebenstraße führt, in der sich eine höchst bemerkenswerte Buchhandlung befindet.

Diese Buchhandlung, die ihre Geschäfte unter dem ungewöhnlichen Namen ›Parnassus‹ betreibt, ist in einem der gemütlichen alten Stadthäuser untergebracht, die seit Generationen die Wonne aller Klempner und Kakerlaken sind. Der Besitzer hat sich sehr bemüht, das Haus so umzubauen, dass es für sein Geschäft, den Handel mit gebrauchten Büchern, den geeigneten Rahmen bietet. Es gibt auf der Welt kein Antiquariat, das größeren Respekt verdient hätte.

An einem kalten Novemberabend, der Regenschauer über den Gehsteig jagte, schritt gegen sechs ein junger Mann ein wenig unsicher die Gissing Street entlang. Hin und wieder hielt er inne und sah in ein Schaufenster, als wüsste er nicht recht, wohin. Vor der einladenden, blitzblanken Fassade einer französischen Rotisserie blieb er stehen, um die in den Querbalken eingebrannte Zahl mit einem Notizzettel zu vergleichen, den er in der Hand hatte. Dann setzte er seinen Weg noch ein paar Minuten fort, bis er die gesuchte Adresse gefunden hatte. Über dem Eingang fiel sein Blick auf das Schild:

PARNASSUS

R. UND H. MIFFLIN

BÜCHERFREUNDE WILLKOMMEN!

IN DIESEM GESCHÄFT SPUKT ES

Er stolperte die drei Stufen zum Hort der Musen hinab, lockerte den Mantelkragen und sah sich um.

Die Buchhandlung unterschied sich grundlegend von den Geschäften, die er gewöhnlich besuchte. Man hatte zwei Geschosse des alten Hauses zusammengelegt, der untere Raum war in Alkoven unterteilt, darüber zog sich über die ganze Breite eine Galerie, auf der sich Bücher bis zur Decke türmten. Ein angenehmer Duft nach altem Papier und Leder wurde überlagert von einem kräftigen Tabakgeruch. Der junge Mann stand jetzt vor einem großen gerahmten Plakat:

Hier spuken die Geister der großen Literatur.

Wir verkaufen keine Fälschungen und keinen Schund.

Bücherfreunde sind willkommen.

Kein Verkäufer wird Sie belästigen.

Bitte rauchen Sie, aber verstreuen Sie keine Asche.

Stöbern Sie nach Lust und Laune.

Die Preise sind in den Büchern vermerkt.

Falls Sie Fragen haben, finden Sie den Besitzer

Dort, wo der Tabakrauch am dichtesten ist.

Bücherankauf bezahlen wir bar.

Wir haben, was Sie wollen.

Auch wenn Sie nicht wissen, was Sie wollen.

Geistige Unterernährung ist ein ernstes Leiden.

Wir haben die richtige Medizin für Sie.

R. & H. Mifflin, Bes.

Der Laden war in ein warmes, behagliches Dunkel gehüllt, eine Art schummrige Dämmerung, aus der hie und da unter grünen Schirmen gelbe Lichtkegel leuchteten. Überall trieb Tabakrauch durch den Raum, der unter den gläsernen Lampenschirmen dampfte und verwirbelte. Der Besucher, der durch einen schmalen Gang zwischen den Alkoven weiter ins Innere des Raumes ging, stellte fest, dass einige dieser Abteile in völliger Dunkelheit lagen, in anderen waren die Lampen eingeschaltet, er erkannte einen Tisch und Stühle. In einer Ecke, unter dem Schild ›Essays‹ saß ein älterer Herr und las, sichtlich gefesselt. Das grelle elektrische Licht ließ seine verzückten Züge scharf hervortreten. Da aber über ihm kein Rauch waberte, folgerte der junge Mann, dass es sich nicht um den Besitzer handeln konnte.

Je weiter er in das Geschäft hineinging, desto phantastischer erschien ihm die Umgebung. Weit oben hörte er den Regen auf ein Dachfenster trommeln, sonst regte sich nichts bis auf die wirbelnden Tabakschwaden und das erleuchtete Profil des Essay-Liebhabers. Der Raum schien wie ein geheimes Gotteshaus, ein Schrein eigentümlicher Riten, und dem jungen Mann wurde teils vor Aufregung, teils wegen des Tabaks die Kehle eng. Über ihm ragten Regale über Regale mit Büchern in die Dunkelheit. Auf einem Tisch lagen eine Rolle Packpapier und eine Schnur, offenbar wurden dort die Einkäufe eingewickelt, aber von einem Verkäufer war nichts zu sehen.

»Vielleicht spukt hier wirklich jemand herum, womöglich die Seele von Sir Walter Raleigh, der ja Schutzpatron des kostbaren Krauts ist, aber wohl kaum der Besitzer.«

Als er versuchte, sich in dem bläulichen Dunst zurechtzufinden, blieb sein Blick an etwas Hellem hängen, von dem ein eigenartiger eierschalenfarbener Glanz ausging. Unter einer Lampe bildete dieses Etwas eine Insel in einer Gischt aus Tabakrauch. Der Besucher ging näher heran und sah, dass es ein kahler Kopf war.

Der Kopf gehörte zu einem kleinen Mann mit scharf geschnittenen Zügen, der sich in einer Ecke – offenbar die Schaltzentrale des Geschäfts – bequem in einem Drehstuhl zurückgelehnt hatte. Auf dem großen, mit vielen Fächern ausgestatteten Schreibtisch vor ihm türmten sich Bücher aller Art, daneben lagen Tabakdosen, Zeitungsausschnitte und Briefe. Eine antiquierte Schreibmaschine, die einem Cembalo nicht unähnlich war, war halb unter Manuskriptblättern vergraben. Der kleine Kahlkopf rauchte eine Maiskolbenpfeife und las in einem Kochbuch.

»Entschuldigen Sie bitte«, sagte der Besucher höflich, »sind Sie der Besitzer?«

Mr. Roger Mifflin, Besitzer der Buchhandlung ›Parnassus‹, sah auf, und der junge Mann registrierte, dass er durchdringende blaue Augen, einen kurzen roten Bart und die Ausstrahlung eines echten Originals hatte.

»Das bin ich«, sagte Mr. Mifflin. »Was kann ich für Sie tun?«

»Mein Name ist Aubrey Gilbert. Ich vertrete die Grey Matter Advertising Agency – Reklame mit Grips, wie der Name schon sagt – und möchte Ihnen zu bedenken geben, ob Sie Ihre Werbung nicht in unsere Hände legen, uns mit der Abfassung schmissiger Werbesprüche für Sie betrauen und uns deren Platzierung in auflagenstarken Medien übertragen wollen. Jetzt, wo der Krieg zu Ende ist, sollten Sie an eine effektive Kampagne zur Erzielung größerer Umsätze denken.«

Der Buchhändler legte lächelnd sein Kochbuch aus der Hand, stieß eine größere Rauchwolke aus und sah hoch.

»Ich betreibe keine Werbung, mein Freund«, sagte er.

»Unmöglich«, rief der andere, fassungslos wie über eine gänzlich deplatzierte Ferkelei.

»Nicht in dem Sinne, wie Sie es meinen. Ich bediene mich bereits der besten Werbetexter der Branche.«

»Damit meinen Sie wohl Whitewash and Gilt?«, fragte Mr. Gilbert mit einigem Bedauern.

»Keineswegs. Um meine Werbung kümmern sich Stevenson, Browning, Conrad & Co.«

»Was Sie nicht sagen«, staunte der Vertreter der Agentur Grey. »Diese Firma kenne ich überhaupt nicht. Aber dass deren Texte mehr Pfiff haben als unsere, wage ich zu bezweifeln.«

»Sie haben mich offenbar noch nicht verstanden. Ich lasse die Bücher, die ich verkaufe, für mich werben. Wenn ich einem Kunden ein Buch von Stevenson oder Conrad verkaufe, ein Buch, das ihn begeistert oder in Angst und Schrecken versetzt, werden jener Kunde und jenes Buch meine lebendige Werbung.«

»Aber diese Art der Mundpropaganda hat sich doch völlig überlebt«, sagte Gilbert. »Damit schaffen Sie keinen Umsatz mehr. Sie müssen das Bewusstsein für Ihr Markenzeichen in der Öffentlichkeit schärfen.«

»Bei den Gebeinen von Tauchnitz!«, ereiferte sich Mifflin. »Würden Sie etwa einen Arzt, einen Spezialisten auffordern, in Zeitungen und Zeitschriften zu werben? Für einen Arzt sind die Leiber, die er heilt, die beste Werbung, für mein Geschäft sind es die Anregungen, die ich den Menschen gebe. Das Geschäft mit Büchern unterscheidet sich nämlich von allen anderen Branchen. Die Menschen wissen nicht, dass sie Bücher haben wollen. Ich brauche Sie nur anzusehen, um zu erkennen, dass Ihre Seele krank ist, weil sie der Lektüre entbehrt, aber zum Glück sind Sie sich dessen nicht bewusst. Die Menschen gehen erst dann zu einem Buchhändler, wenn sie nach einem schweren Unfall ihrer Seele oder durch Krankheit die Gefahr erkennen. Dann kommen sie hierher. Würde ich Werbung machen, wäre das etwa so sinnvoll, als würde man kerngesunde Menschen zum Arzt schicken.

Wissen Sie, warum heute mehr Bücher gelesen werden als je zuvor? Weil den Menschen durch die schreckliche Katastrophe des Krieges bewusst geworden ist, dass ihre Seelen krank sind. Die Welt litt an geistigen Fieberzuständen und Schmerzen und Störungen aller Art, ohne sich dessen bewusst zu sein. Nun aber sind unsere seelischen Qualen allzu offensichtlich. Und so lesen wir alle, lesen gierig und gehetzt, jetzt, da wir wissen, was unseren Seelen fehlte.«

Der kleine Buchhändler war aufgestanden, und sein Besucher musterte ihn mit einer Mischung aus Belustigung und Besorgnis.

»Ich finde es aufschlussreich«, fuhr Mifflin fort, »dass Sie sich die Mühe gemacht haben, hierherzukommen. Es bestärkt mich in meiner Überzeugung, dass der Buchhandel eine große Zukunft vor sich hat. Aber ich sage Ihnen, dass seine Zukunft nicht nur auf den gewerblichen Aspekten gründet. Es geht darum, den Buchhandel als Berufsstand zu würdigen. Es hat wenig Sinn, das Volk zu verspotten, weil es nach wertlosen oder verlogenen Büchern lechzt. Arzt, heile dich selbst. Man lehre den Buchhändler, gute Bücher zu erkennen und zu ehren, er wird sein Wissen an den Kunden weitergeben. Der Hunger nach guten Büchern ist weiter verbreitet und hartnäckiger, als Sie glauben, aber in gewisser Weise trotzdem vielfach unbewusst. Die Menschen brauchen Bücher, wissen es aber nicht. Meist wissen sie gar nicht, dass es die Bücher, die sie brauchen, überhaupt gibt.«

»Aber könnte ihnen die Werbung nicht dabei helfen, sie zu erkennen?«, folgerte der junge Mann messerscharf.

»Ich kenne den Wert der Werbung durchaus, mein Lieber. In meinem Fall aber wäre sie nutzlos. Ich vertreibe keine Ware, sondern habe mich darauf spezialisiert, das Buch dem Bedürfnis meines Gegenübers anzupassen. Unter uns gesagt: Das sogenannte ›gute Buch‹ gibt es nicht. Ein Buch ist nur dann ›gut‹, wenn es menschlichen Hunger stillt oder einen menschlichen Irrtum widerlegt. Ein Buch, das aus meiner Sicht gut ist, ist für Sie vielleicht ohne jeden Wert. Ich mache mir die Freude, meinen Patienten Bücher zu verschreiben, jenen Kunden also, die bereit sind, mir ihre Symptome zu nennen. Manche Leute haben ihre Lesefähigkeit verkümmern lassen, sodass mir nur noch die Autopsie bleibt. Die meisten aber sind noch heilbar. Niemand ist so dankbar wie der Mensch, dem man genau das Buch gegeben hat, das seine Seele brauchte, obgleich er es nicht wusste. Keine Werbung der Welt ist so wirksam wie ein dankbarer Kunde.

Ich kann Ihnen noch einen Grund nennen, warum ich keine Werbung betreibe«, fuhr er fort. »Heutzutage, da jedermann sein Markenzeichen im Bewusstsein der Öffentlichkeit schärft, ist die Weigerung zu werben das Originellste und Irritierendste, was man tun kann, um Aufmerksamkeit zu erreichen. Sie sind hergekommen, eben weil ich nicht werbe. Und so glaubt jeder Kunde, meine Buchhandlung selbst entdeckt zu haben. Er geht hin und erzählt seinen Freunden von dem Bücherasyl, das ein Spinner betreibt, und die wiederum kommen her, um sich das anzusehen.«

»Auch ich hätte große Lust, wiederzukommen und bei Ihnen zu stöbern«, sagte Gilbert. »Es wäre schön, wenn Sie mir ein Rezept schreiben könnten.«

»Am wichtigsten ist es, Mitgefühl zu entwickeln. Seit vierhundertfünfzig Jahren druckt die Welt Bücher, und immer noch ist das Schießpulver weiter verbreitet als die Druckerschwärze. Sei’s drum! Druckerschwärze ist der stärkere Sprengstoff – sie wird den Sieg davontragen.

Ja, ich habe so einige gute Bücher hier. Auf der ganzen Welt gibt es nur etwa dreißigtausend wirklich wichtige. Etwa fünftausend sind auf Englisch geschrieben, weitere fünftausend sind Übersetzungen.«

»Haben Sie auch abends auf?«

»Bis zehn. Viele unserer besten Kunden arbeiten den ganzen Tag und können nur abends herkommen. Die wahren Bücherfreunde sind gewöhnlich Menschen, die aus einfachen Verhältnissen stammen. Jemand, der sich für Bücher begeistert, hat weder die Zeit noch die Geduld, Reichtümer zu erwerben und ständig darüber nachzusinnen, wie er seine Mitmenschen übers Ohr hauen kann.«

Der kahle Schädel des kleinen Buchhändlers glänzte im Licht der Lampe, die über dem Packtisch hing. Seine Augen strahlten, der kurze rote Bart war borstig wie Draht. An seiner abgeschabten Norfolkjacke fehlten zwei Knöpfe.

Ein Besessener, dachte der Kunde, aber einer von der unterhaltsamen Sorte. »Ich bin Ihnen sehr dankbar«, sagte er, »und komme bestimmt wieder. Gute Nacht.« Damit wandte er sich zum Gehen.

Als er sich dem vorderen Teil des Ladens näherte, schaltete Mr. Mifflin mehrere hoch oben angebrachte Lampen an, und der junge Mann erblickte ein großes Schwarzes Brett voller Zeitungsausschnitte, Mitteilungen, Rundschreiben und Kärtchen, die mit einer kleinen sauberen Schrift bedeckt waren. Er las:

Rp

Wenn Ihre Seele Phosphor braucht, versuchen Sie es mit Trivia von Logan Pearsall Smith.

Wenn Ihre Seele nach einem Hauch kräftiger reinigender Luft von verschneiten Berggipfeln und aus blumigen Tälern verlangt, greifen Sie zu Die Geschichte meines Herzens von Richard Jefferies.

Wenn Ihre Seele nach einem Stärkungsmittel aus Eisen und Wein und einer tüchtigen Rauferei begehrt, versuchen Sie es mit Samuel Butlers Notebooks oder Der Mann, der Donnerstag war von Chesterton.

Wenn Ihnen der Sinn nach etwas Irischem und einem Rückfall in bedenkenlose Grillenhaftigkeit steht, versuchen Sie es mit Die Halbgötter von James Stephens. Dieses Buch ist besser, als wir es verdient haben oder erwarten durften.

Es ist gut, hin und wieder die Seele zu wenden wie ein Stundenglas, damit die Teilchen eine andere Richtung einschlagen können.

Wer die englische Sprache liebt, wird großen Spaß an einem lateinischen Wörterbuch haben.

Roger Mifflin

Der Mensch schenkt dem, was ihm erzählt wird, wenig Beachtung, es sei denn, er wusste schon vorher etwas darüber. Dem jungen Mann waren diese von Bibliotherapeuten verschriebenen Bücher völlig unbekannt, und er wollte gerade zur Tür hinaus, als Mifflin zu ihm trat.

»Das war wirklich ein sehr interessantes Gespräch, mein Freund«, sagte er ein wenig befangen. »Ich bin heute Abend allein, meine Frau macht einen kurzen Urlaub. Wollen Sie mit mir zu Abend essen? Ich war gerade dabei, ein paar Rezepte nachzulesen, als Sie kamen.«

Den jungen Mann freute diese ungewöhnliche Einladung ebenso, wie sie ihn überraschte.

»Sehr freundlich von Ihnen. Und ich störe auch wirklich nicht?«

»Nicht im geringsten«, versicherte der Buchhändler. »Ich esse so ungern allein und habe schon die ganze Zeit gehofft, dass jemand hereinkommt. Wenn meine Frau nicht da ist, versuche ich immer, einen Gast zu kapern. Schließlich muss ich zu Hause bleiben, um das Geschäft zu hüten. Wir haben keine Hausangestellte, und ich koche selbst, was mir viel Freude bereitet. Zünden Sie sich Ihre Pfeife an, und machen Sie es sich ein paar Minuten bequem, während ich alles vorbereite. Am besten kommen Sie wieder mit in mein Büro.«

Auf einen Büchertisch im vorderen Teil des Ladens legte Mifflin eine Pappe mit der Aufschrift

BESITZER BEIM ABENDESSEN

WENN SIE ETWAS BENÖTIGEN,

BITTE LÄUTEN

Daneben platzierte er eine große altmodische Essensglocke. Dann ging er seinem Besucher voraus in die rückwärtigen Räume.

Hinter dem kleinen Kontor, in dem dieser ungewöhnliche Geschäftsmann sich in sein Kochbuch vertieft hatte, gingen rechts und links schmale Treppen zur Galerie, dahinter führten ein paar Stufen in die Privaträume. Der Besucher wurde in ein kleines Zimmer zur Linken gebeten, wo unter einem schmuddeligen Kaminsims aus gelblichem Marmor ein Kohlenfeuer glimmte. Auf dem Sims lagen zahlreiche geschwärzte Maiskolbenpfeifen und eine Blechdose mit Tabak. Darüber hing ein bemerkenswertes Gemälde in ausdrucksstarken Farben, auf dem ein großer blauer von einem kräftigen weißen Tier – augenscheinlich einem Pferd – gezogener Karren abgebildet war. Ein Hintergrund aus üppigem Grün betonte noch die kraftvolle Maltechnik. An den Wänden drängte sich ein Buch ans andere. Vor dem eisernen Kamingitter standen zwei abgeschabte, aber bequeme Sessel, und ein senffarbener Terrier lag so nah an der Glut, dass man versengtes Fell zu riechen meinte.

»Das«, sagte der Gastgeber, »ist mein Refugium, mein Kirchenersatz. Legen Sie den Mantel ab, und nehmen Sie Platz.«

»Also ich weiß nicht …«, setzte Gilbert an.

»Zieren Sie sich nicht, machen Sie es sich bequem, und befehlen Sie Ihre Seele der Vorsehung und den Annehmlichkeiten der Kochkunst. Ich kümmere mich um das Essen.« Gilbert holte seine Pfeife heraus und schickte sich an, einen ungewöhnlichen Abend zu genießen. Er war ein junger Mann von angenehmem Äußeren, liebenswürdig und einfühlsam. Seine Defizite im literarischen Diskurs waren ihm bewusst, denn er hatte ein vorzügliches College besucht, wo Chorsingen und Laientheater ihm wenig Zeit zum Lesen gelassen hatten. Dennoch liebte er gute Bücher, wenngleich er sie hauptsächlich vom Hörensagen kannte. Er war fünfundzwanzig Jahre alt und bei der Werbeagentur Grey Matter für die Reklametexte zuständig.

Der kleine Raum, in dem er nun saß, offenbar das Allerheiligste des Buchhändlers, enthielt Mifflins private Bibliothek. Gilbert durchstöberte neugierig die Regale. Die meisten Bände waren abgegriffen und lädiert, offenbar hatte Mifflin sie aus den minderen Beständen anderer Antiquare herausgeklaubt. Alle zeugten von fleißigem, meditativem Gebrauch.

Mr. Gilbert besaß jenen ernsthaften Hang zur Selbstvervollkommnung, der schon das Leben vieler junger Männer zerstört hat, denen man jedoch zugute halten muss, dass sie eine College-Ausbildung und funkelnde Verbindungsabzeichen als eher hinderlich empfinden. Plötzlich kam ihm der Gedanke, dass es keine schlechte Idee wäre, sich ein paar Titel aus Mifflins Sammlung als Anregung für die eigene Lektüre aufzuschreiben. Er holte ein Notizbuch heraus und begann, die Bücher einzutragen, die sein Interesse geweckt hatten.

Die Werke von Francis Thompson (3 Bände)

Die Sozialgeschichte des Rauchens, Apperson

Der Weg nach Rom, Hilaire Belloc

Das Buch vom Tee, Kakuzo

Happy Thoughts, F. C. Burnand

Dr. Johnsons Gebete und Meditationen

Margaret Ogilvy, J. M. Barrie

Confessions of a Thug, Taylor

Gesamtkatalog der Oxford University Press

The Morning’s War, C. E. Montague

The Spirit of Man, herausgegeben von Robert Bridges

The Romany Rye, Borrow

Gedichte, Emily Dickinson

Gedichte, George Herbert

The House of Cobwebs, George Gissing

So weit war er gekommen und sagte sich, dass er im Interesse der Werbung (die eine eifersüchtige Herrin ist) jetzt wohl Schluss machen sollte, als sein Gastgeber strahlend und mit blitzenden blauen Augen das Zimmer betrat.

»Kommen Sie, Mr. Gilbert, das Essen ist bereit. Wollen Sie sich die Hände waschen? Dann beeilen Sie sich bitte. Die Eier sind heiß und warten nur auf uns.«

Das Esszimmer, in das der Gast nun geführt wurde, hatte eine feminine Note, die den rauchgeschwängerten Räumen des Ladens und des kleinen Wohnzimmers fehlten. An den Fenstern hingen farbenfrohe Chintzvorhänge, davor standen Töpfe mit rosa Geranien. Der Tisch unter der Hängelampe aus roter Seide war mit Silber und blauem Porzellan gedeckt. In einer Kristallkaraffe funkelte ein kräftiger Rotwein. Gilbert, das willige Werkzeug der Werbung, spürte deutlich, wie seine Lebensgeister sich hoben.

»Bitte setzen Sie sich«, sagte Mifflin und nahm den Deckel von einer Schale »Das sind Eier à la Samuel Butler, meine eigene Erfindung und die Apotheose der Eierzubereitung.«

Die Erfindung fand Gilberts ungeteilten Beifall. Ein Ei à la Samuel Butler stellt sich dar – so viel sei für das Notizbuch der Hausfrau gesagt – als eine Pyramide auf Toast, deren Hauptbestandteile Speckstreifen, ein pochiertes Ei, ein Kranz aus Pilzen und eine Kappe aus roten Paprikaschoten sind. Darüber wird eine warme pinkfarbene Soße geträufelt, deren Zusammensetzung Geheimnis des Erfinders bleibt. Aus einer anderen Schüssel gab der Buchhändler Röstkartoffeln hinzu und versorgte seinen Gast mit Wein.

»Kalifornischer Catawba«, erläuterte Mifflin, »in dem die Traube mit der Sonne eine überaus erfreuliche (und preiswerte) Verbindung eingegangen ist. Ich trinke auf Ihr Wohl und die schwarze Kunst der Werbung.«

Kunst und Geheimnis der Werbung beruhen auf Takt und dem Wahrnehmen jener Töne und Schwingungen, die der Stimmung des Hörers besonders schmeicheln. Mr. Gilbert wusste das und begriff, dass sein Gastgeber sich womöglich mehr auf seine schrullige Nebentätigkeit in der Küche zugutehielt als auf seine geheiligte Berufung zum Büchermenschen.

»Wie ist es nur möglich«, begann er luzide wie ein Jünger Samuel Johnsons, »dass Sie ein so köstliches Entrée in wenigen Minuten zubereiten? Foppen Sie mich auch nicht? Gibt es vielleicht einen Geheimgang zwischen der Gissing Street und den Garküchen des Ritz?«

»Sie sollten mal Mrs. Mifflins Kochkünste kennenlernen«, erwiderte der Buchhändler. »Ich dilettiere nur. Sie ist gerade auf Besuch bei ihrer Cousine in Boston. Verständlicherweise wird ihr der Tabakrauch im Haus manchmal zu viel, und ein- oder zweimal im Jahr atmet sie deshalb die reine Luft von Beacon Hill. In ihrer Abwesenheit ist es mir ein Vergnügen, mich der Haushaltsführung zu widmen. Bei den ständigen Aufregungen im Geschäft empfinde ich das als sehr wohltuend.«

»Ich habe mir das Leben in einer Buchhandlung eigentlich immer sehr beschaulich vorgestellt.«

»Weit gefehlt. Das Leben in einer Buchhandlung ist wie das Leben in einem Munitionslager. Diese Regale sind angefüllt mit dem gefährlichsten Sprengstoff der Welt – dem menschlichen Geist. Wenn ich einen regnerischen Nachmittag mit Lesen verbringe, steigere ich mich so sehr in die Leidenschaften und Sorgen der Menschheit hinein, dass ich schier den Mut verliere. Es ist furchtbar aufwühlend. Man umgebe einen Menschen mit Carlyle, Emerson, Thoreau, Chesterton, Shaw, Nietzsche und George Ade – ist es da ein Wunder, wenn er in Erregung gerät? Wie würde es einer Katze ergehen, wenn sie in einem Zimmer leben müsste, das mit Katzenminze tapeziert ist? Sie würde verrückt werden.«

»Also ehrlich, aus diesem Blickwinkel habe ich den Buchhandel nie gesehen«, sagte der junge Mann. »Wie kommt es aber, dass in Bibliotheken stets eine so erhabene Ruhe herrscht? Wenn Bücher so aufreizend wirken, wie Sie andeuten, müsste man erwarten, dass alle Bibliothekare die schrillen Schreie eines Hierophanten ausstoßen und in ihren stillen Nischen ekstatisch Kastagnetten schlagen.«

»Sie vergessen die Karteien, lieber Junge. Bibliothekare haben diese besänftigende Einrichtung erfunden, um das Fieber ihrer Seelen zu senken, so wie ich auf die Riten der Küche zurückgreife. Bibliothekare, zumindest jene, die konzentrierten Nachdenkens fähig sind, würden den Verstand verlieren, wenn ihnen nicht als Medikament die kühlende und heilende Kartei zur Verfügung stünde. Noch etwas von dem Ei?«

»Besten Dank«, sagte Gilbert. »Wer war noch gleich der Butler, dem dieses Gericht seinen Namen verdankt?«

»Was? Sie haben noch nie von Samuel Butler gehört, dem Autor von Der Weg allen Fleisches? Mein lieber junger Mann, wer bereit ist zu sterben, ehe er dieses Buch – und übrigens auch Erewhon – gelesen hat, vergibt wissentlich alle Chancen auf das Paradies. Denn das Paradies im Jenseits ist zwar ungewiss, fest steht aber, dass es einen Himmel auf Erden gibt, einen Himmel, den wir bewohnen, wenn wir ein gutes Buch lesen. Schenken Sie sich noch ein Glas Wein ein, und erlauben Sie mir …«

(Hier folgte ein begeisterter Abriss der verqueren Philosophie des Samuel Butler, den ich mit Rücksicht auf meine Leser auslasse. Mr. Gilbert notierte sich die Ausführungen des Buchhändlers in Stichworten, und ich freue mich, sagen zu können, dass er sich den begangenen Frevel zu Herzen genommen hatte, denn wenige Tage später wurde er in einer öffentlichen Bibliothek gesehen, als er nach Der Weg allen Fleisches fragte. Nachdem er in vier Büchereien erfahren hatte, dass sämtliche Exemplare ausgeliehen waren, sah er sich genötigt, den Band käuflich zu erwerben. Er hat es nie bereut.)

»Aber ich vernachlässige meine Gastgeberpflichten«, sagte Mifflin. »Unser Dessert besteht aus Apfelkompott, Pfefferkuchen und Kaffee.« Rasch räumte er das Geschirr ab und brachte den nächsten Gang.

»Ich habe die Ermahnung über dem Buffet gelesen«, sagte Gilbert. »Sie lassen mich heute Abend hoffentlich helfen?« Er deutete auf ein Kärtchen über der Küchentür, auf dem Folgendes stand:

GESCHIRR UNMITTELBAR

NACH DEM ESSEN ABWASCHEN,

DAS SPART ARBEIT!

»Leider muss ich gestehen, dass ich dieses Gebot nicht immer befolge«, sagte der Buchhändler, während er den Kaffee einschenkte. »Mrs. Mifflin hängt das Kärtchen als Erinnerung auf, wenn sie verreist. Wer im Kleinen dumm ist, wie unser Freund Samuel Butler sagt, ist auch im Großen dumm. Ich habe eine andere Theorie, was das Geschirrspülen betrifft, und leiste mir den Luxus dieser abweichenden Meinung.

Früher war das Abwaschen nur eine lästige, ja verhasste Pflicht, die man mit gerunzelter Stirn und eherner Seelenstärke zu erfüllen hatte. Als meine Frau zum ersten Mal verreist war, installierte ich einen Leseständer mit elektrischer Beleuchtung über der Spüle. Während meine Hände automatisch mit der Reinigung des Geschirrs befasst waren, las ich. Ich machte die großen Geister der Literatur zu Teilhabern meines Kummers und lernte so große Teile von Das verlorene Paradies und Walt Mason auswendig. Dabei pflegte ich mich mit zwei Zeilen von Keats zu trösten:

… die Wasser in die priesterliche Pflicht zu nehmen gleich einer Waschung unserer Welt …

Dann aber gelangte ich zu einer neuen Sicht der Dinge. Kein menschliches Wesen kann es auf Dauer ertragen, eine Arbeit als Buße, unter Zwang auszuführen. Wie die Aufgabe auch aussehen mag – man muss sie irgendwie vergeistigen, das alte Konzept zertrümmern und von Grund auf nach den eigenen Wünschen wieder aufbauen. Wie aber sollte das mit dem Geschirrspülen gehen?

Etliche Teller mussten dran glauben, während ich das Problem bedachte, bis mir aufging, dass sich genau hier die Entspannung bot, deren ich so dringend bedurfte. Dass ich den ganzen Tag von lärmenden Büchern umgeben war, die mir ihre widersprüchlichen Ansichten über die Freuden und Qualen des Lebens entgegenschrien, war eine seelische Belastung, die mir seit jeher Sorgen machte. Warum also nicht das Geschirrspülen als Balsam für meine leidende Seele hernehmen?

Wenn man eine vermeintlich feststehende Tatsache aus einem neuen Blickwinkel betrachtet, kann man nur staunen, wie ihre Konturen plötzlich die Form ändern! Sogleich war meine Spülschüssel wie von einem philosophischen Glorienschein umgeben. Das warme Seifenwasser erwies sich als ein unübertreffliches Mittel, das Blut aus dem Kopf abzuziehen, die schlichte Tätigkeit des Abwaschens und Trocknens von Tassen und Untertassen wurde zum Symbol für Ordnung und Reinlichkeit, die der Mensch der ungebärdigen Welt um sich her auferlegt. Ich trennte mich von Lesepult und Leselampe über der Spüle.

Lachen Sie nicht, Mr. Gilbert, wenn ich Ihnen sage, dass ich mir eine umfassende Küchenphilosophie erarbeitet habe. In der Küche sehe ich den Schrein unserer Kultur, die Essenz all dessen, was wohlgestalt ist im Leben. Der rötliche Schein des Herdes ist so schön wie nur ein Sonnenuntergang. Ein auf Hochglanz polierter Krug oder Löffel ist vollkommen wie das größte Sonett. Das Spültuch, gründlich ausgewaschen und ausgewrungen und im Hinterhof zum Trocknen aufgehängt, ist eine ganze Predigt. Die Sterne scheinen nie heller als von der Küchentür aus gesehen, wenn die Abtropfschale geleert und alles blitzblank ist.«

»Wirklich eine reizvolle Philosophie«, sagte Gilbert. »Und nachdem wir jetzt unsere Mahlzeit beendet haben, bestehe ich darauf, Ihnen beim Abwaschen zur Hand zu gehen. Ich muss doch Ihren Pantheismus des Geschirrspülens überprüfen.«

»Das wäre eine schlechte Philosophie, mein Lieber«, sagte Mifflin, seinen ungestümen Gast sanft zurückhaltend, »die es nicht ertrüge, zuweilen verleugnet zu werden. Nein, nein, ich habe Sie nicht gebeten, den Abend mit mir zu verbringen, um Geschirr abzuwaschen.« Damit ging er seinem Gast voraus ins Wohnzimmer. »Als ich Sie hereinkommen sah«, fuhr Mifflin fort, »fürchtete ich, Sie könnten ein Journalist sein, der mich interviewen wollte. Einmal besuchte uns ein junger Zeitungsmensch mit sehr bedauerlichen Folgen. Er schmeichelte sich bei Mrs. Mifflin ein und schrieb danach ein Buch über uns, das mich auf eine harte Probe stellte. In diesem Machwerk legt er mir eine Anzahl seichter und süßlicher Betrachtungen über den Buchhandel in den Mund. Erfreulicherweise hat er nur wenige Exemplare davon unter die Leute bringen können.«

»Ich habe nie davon gehört«, erklärte Gilbert.

»Wenn Sie sich wirklich für den Buchhandel interessieren, sollten Sie einmal abends zu einer Sitzung des Maiskolbenklubs kommen. Einmal im Monat treffen sich hier einige Buchhändler, um bei Maiskolben und Cider Probleme unserer Zunft zu diskutieren. Es sind Buchhändler aller Art darunter; einer ist ein fanatischer Gegner von Bibliotheken, er findet, dass alle öffentlichen Bibliotheken in die Luft gesprengt gehörten. Ein anderer glaubt, dass Lichtspiele den Buchhandel ruinieren werden. So ein Unfug! Alles, was das Interesse der Menschen weckt, sie wach und neugierig macht, verstärkt ihren Hunger nach Büchern.

Das Leben eines Buchhändlers wirkt sehr demoralisierend auf den Intellekt«, fuhr er nach einer Pause fort. »Er ist umgeben von unzähligen Büchern, die er unmöglich alle lesen kann. Er schnuppert in das eine hinein und pickt sich Bruchstücke aus einem anderen heraus. Sein Kopf füllt sich allmählich mit allem möglichen Ballast, mit oberflächlichen Meinungen, jeder Menge Halbwissen. Fast unbewusst beginnt er die Literatur nach dem zu bewerten, was die Leute verlangen. Er überlegt, ob Ralph Waldo Trine nicht doch größer ist als Ralph Waldo Emerson, ob J. M. Chapple kleiner ist als J. M. Barrie. Das ist der sicherste Weg in den intellektuellen Selbstmord.

Eins allerdings muss man dem guten Buchhändler zugestehen. Er ist tolerant. Er hat Geduld mit allen Ideen und Theorien. Umgeben von den Fluten menschlicher Worte, die ihn zu verschlingen drohen, ist er bereit, sich alle anzuhören. Selbst dem Verlagsvertreter leiht er nachsichtig sein Ohr. Er ist bereit, sich zum Wohle der Menschheit hereinlegen zu lassen. Unablässig hofft er auf die Geburt guter Bücher.

Mein Geschäft unterscheidet sich von den meisten anderen. Ich handele nur mit gebrauchten Büchern, kaufe nur solche, von denen ich glaube, dass sie eine wirkliche Daseinsberechtigung haben. So weit menschliche Urteilskraft das entscheiden kann, versuche ich Schund von meinen Regalen fernzuhalten. Ein Arzt handelt nicht mit den Tinkturen eines Quacksalbers. Ich handele nicht mit Büchern, die vorgeben, mehr zu sein, als sie sind.

Neulich ist etwas Komisches passiert. Ein wohlhabender Mann, ein gewisser Mr. Chapman, der Stammkunde bei mir ist …«

»Ob das wohl der Mr. Chapman von der Daintybits Company sein könnte?«, fragte Gilbert, der sich endlich auf vertrautem Boden wiederfand.

»Eben der, soviel ich weiß«, sagte Mifflin. »Kennen Sie ihn?«

»Dieser Mann«, erklärte sein Gast ehrfürchtig, »kann Ihnen den Wert der Werbung bestätigen. Dass er seinem Interesse für Literatur nachgehen kann, verdankt er der Werbung. Wir machen alle Werbetexte für ihn, viele habe ich selbst geschrieben. Wir haben die Chapman-Kurpflaumen zu einem unverzichtbaren Bestandteil unserer Kultur gemacht. Der Slogan ›Die Kurpflaume – unser ganzer Stolz‹, den Sie in allen großen Zeitschriften lesen können, stammt von mir. Die Chapman-Kurpflaumen sind weltweit bekannt. Der Mikado nimmt sie einmal in der Woche zu sich. Der Papst isst sie. Und gerade haben wir erfahren, dass dreizehn Kisten an Bord der George Washington gebracht werden sollen, mit der unser Präsident zur Friedenskonferenz reisen wird. Die tschechoslowakische Armee hat sich hauptsächlich von Kurpflaumen ernährt. Wir in der Agentur sind der Meinung, dass unsere Kampagne für die Chapman-Pflaumen in großem Maße dazu beigetragen hat, den Krieg zu gewinnen.«

»Neulich habe ich in einer Anzeige gelesen – vielleicht haben Sie die ja auch verfasst«, sagte der Buchhändler, »dass die Elgin-Uhr den Krieg gewonnen hat. Wie auch immer – Mr. Chapman ist seit langem einer meiner besten Kunden. Er hatte vom Maiskolbenklub gehört und bat, obgleich er natürlich kein Buchhändler ist, an unseren Sitzungen teilnehmen zu dürfen. Wir waren gern damit einverstanden, und er beteiligt sich mit großem Eifer an unseren Diskussionen. Wir verdanken ihm so manchen scharfsinnigen Beitrag. Inzwischen begeistert er sich so sehr für alles Buchhändlerische, dass er sich neulich in einem Brief an mich über seine Tochter ausließ (er ist Witwer). Sie besucht eine neumodische Mädchenschule, auf der ihr, wie er schreibt, der Kopf mit skurrilen, nutzlosen und versnobten Ideen vollgestopft wird. Vom Nutzen und der Schönheit des Lebens habe sie nicht mehr Ahnung als ein Zwergspitz. Statt sie aufs College zu schicken, hat er angefragt, ob Mrs. Mifflin und ich bereit wären, sie bei uns aufzunehmen und ihr beizubringen, wie man Bücher verkauft. Sie soll glauben, dass sie sich bei uns ihren Unterhalt verdient, und er will mich heimlich dafür bezahlen, dass sie bei uns wohnen kann. Wenn sie ständig von Büchern umgeben ist, meint er, wird sie vielleicht vernünftiger. Ich weiß noch nicht so recht, was ich von dem Experiment halten soll, betrachte den Vorschlag aber als Kompliment für meine Arbeit.«

»Himmel, was wäre das für eine Reklame!«, stieß Gilbert hervor.

In diesem Moment läutete im Geschäft die Glocke, und Mifflin sprang auf. »Abends um diese Zeit ist oft viel Betrieb«, sagte er. »Tut mir leid, aber ich muss nach unten. Manche meiner Stammkunden erwarten, dass ich anwesend bin, um mit ihnen über Bücher zu plaudern.«

»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie wohl ich mich bei Ihnen gefühlt habe«, sagte Gilbert. »Ich komme bestimmt einmal wieder, um in Ihren Regalen zu stöbern.«

»Behalten Sie das mit der jungen Dame für sich«, sagte der Buchhändler. »Ich möchte nicht, dass lauter junge Burschen vorbeikommen und ihr Flausen in den Kopf setzen. Wenn sie sich in meinem Geschäft verliebt, dann nur in Joseph Conrad oder John Keats.«

Im Hinausgehen sah Gilbert, wie Roger Mifflin mit einem bärtigen Mann diskutierte, der wie ein Collegeprofessor aussah. »Carlyles Oliver Cromwell?«, sagte er gerade. »Aber ja, genau hier drüben. Nanu, das ist ja merkwürdig. Hier hat er gestanden.«

Kapitel 2Der Maiskolbenklub[1]

Mr. Mifflins Buchhandlung war ein sehr anheimelnder Ort, zumal abends, wenn in den dunklen Nischen Lampen die Bücherreihen erhellten. So mancher Passant kam aus schierer Neugier die Stufen von der Straße hinuntergestolpert; die Stammkunden betraten sie so ungezwungen wie ihren Klub. Roger saß gewöhnlich hinten am Schreibtisch, paffte seine Pfeife und las. Wenn aber ein Kunde ein Gespräch anfing, ließ der kleine Mann sich gern darauf ein. Der Löwe der Redegewalt schlief nur in ihm; es fiel nicht schwer, ihn zu wecken.

Hier sei darauf hingewiesen, dass alle Buchhandlungen, die abends geöffnet sind, in den Stunden nach dem Abendessen besonders gut frequentiert sind. Liegt es daran, dass wahre Bücherfreunde nachtliebende Wesen sind, die sich nur aus dem Haus wagen, wenn Dunkelheit und Stille und der sanfte Glanz abgeschirmten Lichts sie unwiderstehlich zu den Büchern locken? Fest steht, dass die Nacht eine mystische Affinität zur Literatur hat, und es ist verwunderlich, dass die Eskimos keine großen Bücher geschaffen haben. Für die meisten von uns wäre eine arktische Nacht unerträglich ohne O. Henry und Stevenson. Oder wie Roger Mifflin während seiner vorübergehenden Liebesaffäre mit Ambrose Bierce bemerkte: Die wahren noctes ambrosianae sind recht eigentlich die noctes ambrose bierceanae.

Pünktlich um zehn aber schloss Roger den Parnassus. Dann machten er und Bock (der senffarbene Terrier, benannt nach Boccaccio) ihre Runde im Geschäft und überzeugten sich, dass alles in Ordnung war. Roger leerte die für die Kunden bereitgestellten Aschenbecher, schloss die vordere Tür ab und löschte das Licht. Danach zogen Herr und Hund sich ins Wohnzimmer zurück, wo gewöhnlich Mrs. Mifflin saß und mit Strickzeug oder einem Buch beschäftigt war. Sie kochte eine Kanne Kakao, und das Ehepaar las oder redete noch eine halbe Stunde, ehe es zu Bett ging. Manchmal schlenderte Roger vorher noch einmal über die Gissing Street. Ein in Gesellschaft von Büchern verbrachter Tag zehrt an den Nerven, und so genoss er den frischen Wind, der durch die dunklen Straßen von Brooklyn wehte, und ging dem einen oder anderen Gedanken nach, der sich aus seiner Lektüre ergeben hatte, während Bock schnobernd neben ihm hertrottete.