Das Haus der verschwundenen Kinder - Claire Legrand - E-Book

Das Haus der verschwundenen Kinder E-Book

Claire Legrand

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Beschreibung

Alle Erwachsenen können dir gefährlich werden – und Mrs. Cavendish besonders!

Das Leben in der beschaulichen Kleinstadt Belleville ist genau so, wie die zwölfjährige Victoria es gern hat: übersichtlich, vorhersehbar und aufgeräumt. Und Victoria mit ihrem strengen Zopf, den ordentlichen Kleidern und den hervorragenden Noten passt perfekt nach Belleville. Eine einzige Unregelmäßigkeit erlaubt sie sich: den verträumten und vergesslichen Lawrence, der so ganz das Gegenteil von ihr ist. Lawrence ist ihr bester Freund. Als er plötzlich spurlos verschwindet, ist es allerdings vorbei mit Victorias geordnetem Alltag. Sie würde es nie zugeben, aber sie vermisst ihn furchtbar. Daher stellt sie auf eigene Faust Nachforschungen an. Was Victoria entdeckt, gefällt ihr gar nicht: Unter der glatten Oberfläche von Belleville verbirgt sich ein dunkles Geheimnis. Eines, das offenbar in der Erziehungsanstalt von Mrs. Cavendish seinen Ausgang nimmt. Die rebellischen Kinder, die dorthin geschickt werden, kommen ungewöhnlich still und brav zurück – oder gar nicht mehr. Steckt Mrs. Cavendish hinter Lawrences Verschwinden?

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Seitenzahl: 348

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Das Buch:

Das Leben in der beschaulichen Kleinstadt Belleville ist genau so, wie die zwölfjährige Victoria es gern hat: übersichtlich, vorhersehbar und aufgeräumt. Und Victoria, mit ihren glänzenden Haaren, den ordentlichen Kleidern und den hervorragenden Noten, passt perfekt nach Belleville. Eine einzige Unregelmäßigkeit erlaubt sie sich: den verträumten und vergesslichen Lawrence, der so ganz das Gegenteil von ihr ist. Lawrence ist ihr bester Freund. Als er plötzlich spurlos verschwindet, ist es allerdings vorbei mit Victorias geordnetem Alltag. Sie würde es nie zugeben, aber sie vermisst ihn furchtbar. Daher stellt sie auf eigene Faust Nachforschungen an. Was Victoria entdeckt, gefällt ihr gar nicht: Unter der glatten Oberfläche von Belleville verbirgt sich ein dunkles Geheimnis. Eines, das offenbar in der Erziehungsanstalt von Mrs. Cavendish seinen Ausgang nimmt. Die störrischen Kinder, die dorthin geschickt werden, kommen tatsächlich ungewöhnlich still und brav zurück – oder gar nicht mehr. Steckt Mrs. Cavendish hinter Lawrences Verschwinden? Victoria bleibt nur wenig Zeit, der Wahrheit auf die Spur zu kommen …

Die Autorin:

Claire Legrand war Musikerin, bevor sie entdeckte, dass ihr das Schreiben noch mehr Spaß macht. DAS HAUS DER VERSCHWUNDENEN KINDER ist ihr Debütroman, der mit dem Preis der New York Public Library als bestes Jugendbuch 2012 ausgezeichnet wurde. Die Autorin lebt und arbeitet in New Jersey.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Die Originalausgabe erscheint unter dem Titel

The Cavendish Home for Boys and Girls

bei Simon & Schuster Books for Young Readers, New York

Copyright © 2012 by Claire Legrand

Copyright © 2014 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Redaktion: Babette Mock

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,

unter Verwendung einer Illustration von © Sarah Watts

Innenillustrationen by © Sarah Watts

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-12275-1V002

www.heyne-fliegt.de

Als Victoria Wright zwölf Jahre alt war, hatte sie exakt einen Freund. Genau genommen war er der einzige Freund, den sie überhaupt je gehabt hatte. Er hieß Lawrence Prewitt, und am Dienstag, dem 11. Oktober des Jahres, in dem Victoria und Lawrence zwölf Jahre alt waren, verschwand Lawrence.

Victoria und Lawrence hatten sich angefreundet, kurz nachdem Lawrences erste graue Haare auftauchten. Damals waren sie beide neun Jahre alt und in der vierten Klasse. Dick und glänzend sprossen Lawrences graue Haare zwischen seinen schwarzen, normalen hervor und gaben ihm das Aussehen eines Skunks. Deshalb machten sich alle über ihn lustig, und ehrlich gesagt konnte Victoria ihnen das nicht verübeln. Sie kam zu dem Schluss, dass diese Haare eine kosmische Strafe für Lawrences Unfähigkeit waren, sein Hemd anständig in die Hose zu stecken, einen Kamm zu benutzen, in der Schule aufzupassen (er kritzelte lieber vor sich hin statt mitzuschreiben) und irgendetwas anderes zu tun, als auf seinem blöden Klavier zu spielen. Nicht, dass Lawrence schlecht Klavier spielte, nein, er war sogar sehr gut. Aber Victoria hatte das schon immer für eine unglaubliche Zeitverschwendung gehalten.

Nachdem sie ein paar Wochen lang beobachtet hatte, wie Lawrences graue Haare dicker und dicker wurden, und das Gekicher der anderen mit angehört hatte, schob Victoria ihre allgemeine Abneigung gegen den Umgang mit, na ja, also eigentlich jedem beiseite und beschloss, Lawrence zu ihrem persönlichen Projekt zu machen. Es war offensichtlich, dass der Junge Hilfe brauchte, und Victoria hielt sich etwas darauf zugute, anderen zu sagen, was sie mit sich anzufangen hatten. Ihre wertvolle Zeit zu opfern, um Lawrence zurechtzubiegen, wäre ein Geschenk an die Einwohner von Belleville. »Wie großmütig von dir, Victoria«, würden die Leute sagen und sie anstrahlen und sich wünschen, ihre eigenen Kinder wären wie sie.

Also marschierte Victoria eines Tages in der Mittagspause von ihrem einsamen Tisch zu Lawrences einsamem Tisch und sagte: »Hallo, Lawrence. Ich bin Victoria. Wir sind ab jetzt Freunde.«

Beinahe hätte Victoria Lawrence die Hand geschüttelt, überlegte es sich dann allerdings anders, weil sie befürchtete, er könnte von Läusen oder dergleichen befallen sein. Also setzte sie sich nur und öffnete ihre Milchpackung, und als Lawrence sie durch seine skunkischen Haare hindurch ansah und sagte: »Ich möchte eigentlich gar nicht dein Freund sein«, erwiderte Victoria: »Tja, Pech für dich.«

Im Laufe der Jahre drängte Victoria sich in Lawrences Leben und wurde hinausgedrängt, wenn er der Ansicht war, dass es jetzt mal reichte, und drängte sich dann wieder zurück hinein, und am Ende waren sie wirklich echte Freunde, auf eine merkwürdige Art und Weise.

Jeden Morgen unter der Woche ging Victoria von Silldie Place (Victorias Straße) zu Bourdon’s Landing (Lawrences Straße) und holte Lawrence bei sich zu Hause ab, und dann liefen sie zusammen zur Schule. An den meisten Tagen verlief ihr Gespräch ungefähr so:

»Also ehrlich, Lawrence«, sagte Victoria und schritt zügig auf dem Kopfsteinpflaster voran, denn Victoria ging nie anders als extrem zielstrebig irgendwohin. »Kannst du dir nicht mal das Hemd in die Hose stecken?«

Manchmal lautete es auch: »Kannst du dir nicht die Haare kämmen?« Oder: »Hast du den Aufsatz über das Byzantinische Reich, den du als Fleißaufgabe machen solltest, fertig oder hast du das ganze Wochenende nur auf deinem dummen Klavier gespielt?«

Und Lawrence verdrehte daraufhin die Augen oder stupste sie gegen die Schulter und gab zurück: »Dir auch einen guten Morgen, Vicky«, was Victoria hasste. Sie verabscheute Spitznamen, besonders diesen. Sie verabscheute auch, dass Lawrence immer an etwas kaute, an einem Zahnstocher oder einem Stift oder was auch immer er Ekliges aus den Hosentaschen zog.

»Also ehrlich, Lawrence«, sagte Victoria. »Kannst du dir nicht mal das Hemd in die Hose stecken?«

Niemand mochte Lawrence, weil er sich nie richtig Mühe gab, Freunde zu finden. Er lebte in einer Traumwelt aus Elfenbeintasten und zerknitterten Hemden, ohne sich um die Menschen um sich herum zu kümmern. Seine grauen Haare machten die Sache auch nicht besser. Doch ihm schien egal zu sein, was die anderen von ihm dachten. Ihm schien fast alles egal zu sein, außer seinem Klavier – und Victoria. Zu Victorias zwölftem Geburtstag hatte Lawrence ihr einen langen Brief geschrieben und ihn ihr laut vorgelesen. Er war witzig und voller lustiger Geschichten, über die Victoria nicht zu laut zu lachen versuchte, und das war alles schön und gut, bis das Ende kam.

»… und was ich deshalb eigentlich meine, ist«, schloss Lawrence mit ziemlich rotem Gesicht, »manchmal fragen mich die Lehrer oder Professoren oder Mama und Papa: ›Stört es dich nicht, dass du nicht viele Freunde hast?‹ Und ich antworte: ›Nein. Denn ich habe ja Vicky.‹«

Dann hatte Lawrence den Brief zusammengefaltet und in die Hosentasche gesteckt. »Also … du weißt schon. Ich bin echt froh, dass wir Freunde sind, wollte ich nur sagen. Alles Gute zum Geburtstag.«

Victoria war das so peinlich gewesen, dass sie gesagt hatte: »Tja … du … ich … das ist sehr nett«, und ihn dann die restliche Woche ignoriert hatte. Sie gestattete sich nie, darüber nachzudenken, warum es ihr so peinlich gewesen war. Solche Gedanken waren Durcheinander. Freunde waren Durcheinander, weshalb Victoria sie auch um jeden Preis mied (außer Lawrence, aber er war nur eine gute Tat, ein Projekt und sicherlich – sicherlich – nicht mehr als das). Victoria hasste Durcheinander. Sie hasste Ablenkungen. Freunde waren die schlimmste Ablenkung überhaupt.

Victoria begann jeden Tag mit einem Plan, und Freunde kamen darin einfach nicht vor.

An dem Montag vor Lawrences Verschwinden wachte Victoria um halb sieben auf, genau wie an jedem anderen Schultag – nicht eine Minute früher und ganz bestimmt nicht eine Minute später. Unpünktlichkeit war etwas Anstößiges. Victoria duschte und zog sich ihre Akademie-Uniform an, weiße Bluse und steif und glatt gebügelter grauer Faltenrock. Sie setzte sich an die Frisierkommode, die ihre Eltern in Italien hatten anfertigen lassen, und bürstete sich die blonden Locken, bis sie glänzten. Alles an Victoria glänzte.

Auf dem Weg aus dem Zimmer blieb sie in der Tür stehen, wie sie es gern tat, und begutachtete alles: Kommode und Schreibtisch; funkelnden Kronleuchter, weißes Himmelbett; eine Spiegelwand und eine Ballettstange für ihre Übungen; gegenüber dem Bett eine Regalwand, vom Fußboden bis zur Decke, mit hübschen, beschrifteten Schachteln, in denen Victoria all ihre Lesezeichen und Bücher und Cremes und Hefte und Stifte und Postkarten und Haarbänder aufbewahrte, weil sie auf diese Weise nie auch nur das winzigste bisschen Durcheinander sehen musste. Ihr Stolz und ihre Freude waren die blitzsauberen weißen Wände und der weiße Teppich, weder von Bildern noch von Flecken verunziert.

An den meisten Tagen empfand Victoria bei diesem Anblick ein heißes Aufwallen von Genugtuung in der Brust. Doch an dem Montag vor Lawrences Verschwinden nicht. Alles sah aus, wie es sollte, es glänzte vor Vollkommenheit. Der Morgen tauchte das Zimmer in sauberes, weißes Licht. Über dem Schreibtisch hing Victorias Stundenplan, auf dem ihre Aufgaben und Unterrichtsstunden für die kommende Woche übersichtlich aufgeführt waren. Klavierstunden, Ballettstunden, Malstunden und Französischstunden in ordentlichen Farbkästchen füllten die Abende.

Doch unter diesem Stundenplan lag ihr Zwischenzeugnis, und als Victoria sich zwang, es anzusehen, wurde ihr übel. Auf dem glatten braunen Papier standen, in schwarzen Buchstaben, so makellos wie Victorias eigene Handschrift, die drei Einser in Literatur, Weltgeschichte, Französisch für Fortgeschrittene – und die eine groteske, untragbare Zwei. Sie hatte eine Zwei in Musik bekommen, ausgerechnet.

In ihrem ganzen Leben hatte sie noch keine Zwei bekommen. Sie wusste, dass einige ihrer Klassenkameraden sich sehnlichst Zweier wünschten. Sie freuten sich über Zweier. Sie jubelten über Zweier. Aber für Victoria war eine Zwei noch schlimmer als Dreck auf ihrem Teppich oder ein Knoten in ihren perfekten blonden Locken.

Mit bebendem Atem lief sie zum Schreibtisch, steckte das Zeugnis in den Umschlag, drückte das goldene Akademie-Siegel wieder fest und räumte es in die allerunterste Schublade. Diese Schublade hatte ein Schlüsselloch, dessen Nutzen Victoria bisher nicht eingesehen hatte, denn sie hatte noch nie ein Geheimnis gehabt, das wert war, versteckt zu werden. In der Schachtel Vermischtes fand sie zwischen den anderen Dingen, für die sie wenig Verwendung hatte, den passenden Schlüssel, schloss die Schublade ab und legte den Schlüssel zurück an seinen Platz.

Sie drehte sich um und betrachtete die verschlossene Schublade. Am folgenden Montag müsste sie das Zeugnis von ihren Eltern unterschrieben zurückbringen, aber die Vorstellung, diese Katastrophe einzugestehen, war entsetzlich.

»Immer schön atmen, Victoria«, sagte sie und legte sich eine Hand aufs Herz.

Sie sah die Uhrzeit auf dem silbernen Wecker neben ihrem Bett. 7:04. Sie hatte getrödelt.

Eilig lief sie die Treppe hinunter, vorbei an der Kunstsammlung ihres Vaters auf der einen Seite und dem Rosengarten ihrer Mutter auf der anderen. Etwas aufgelöst kam sie in der Küche an. Ihr Vater blickte von seiner Zeitung auf und ihre Mutter von ihrer Zeitschrift, denn Victoria war selten aufgelöst.

»Guten Morgen, Mutter, Vater«, sagte Victoria. Sie konnte ihre Eltern nicht ansehen. Sonst würden sie ihr vielleicht die Zwei vom Gesicht ablesen. Sie wären enttäuscht von ihr, was noch nie passiert war. Victoria wusste nicht, wie es sich anfühlte, wenn irgendjemand von ihr enttäuscht wäre, aber sie konnte es sich nach dem, was sie von anderen gehört hatte, ungefähr vorstellen. Mr. und Mrs. Wright würden seufzen und die Köpfe schütteln, und wenn sie ins Restaurant gingen, würden sie nicht am Nachbartisch mit ihrer perfekten Tochter prahlen. Sie würden überhaupt nicht ins Restaurant gehen, denn sie würden sich zu sehr schämen.

Victoria schluckte heftig. Als sie sagte: »Guten Morgen, Beatrice«, klang es etwas komisch.

Die alte Haushälterin Beatrice zog eine schlanke weiße Augenbraue hoch und reichte Victoria ein Schälchen Obst und eine Scheibe Marmeladentoast.

»Guten Morgen, Victoria«, sagte ihre Mutter.

Miranda Wright arbeitete nicht im herkömmlichen Sinn, aber sie beaufsichtigte Beatrice und den Gärtner, der die Rosen pflegte, und war eine Einkaufsexpertin. Ihre Zeitschriften bewahrte sie in hübschen, beschrifteten Schachteln in ihrem Wandschrank auf. In der Küche trug sie schicke Schürzen, obwohl sie nicht kochte, denn sie sah in Schürzen sehr hübsch aus, und schließlich trug man so etwas ja nun mal in der Küche. Miranda Wright war schön und stilvoll und hatte kupferfarbenes Haar. Sie aß mit wichtigen Belleviller Damen zu Mittag und kannte jeden in der Stadt, sogar jene, über die sie Victoria ins Ohr flüsterte, sie hätten einen »fragwürdigen Geschmack«. Ihre hohen Absätze klapperten genau, wie es sich gehörte. Als Mitglied des Verbands der örtlichen Hausbesitzer liebte sie es, ihre Umwelt auch genau so zu gestalten, wie es sich gehörte. Ihre Mutter anzusehen, machte Victoria beinahe so stolz wie eine weitere Auszeichnung in ihre Auszeichnungen-Schachtel zu legen, in der ihre sämtlichen Medaillen und Urkunden und Anstecknadeln lagen.

Aber an diesem Tag konnte sie ihre Mutter nicht ansehen.

»Guten Morgen, Victoria«, sagte ihr Vater.

Ernest Wright war ein erfolgreicher Anwalt mittleren Alters, und er sah genauso aus, wie ein erfolgreicher Anwalt mittleren Alters aussehen sollte. Er trank milden Minztee, gab Tausende von Dollars für Zahnbehandlung aus, damit sein Gebiss makellos und weiß blieb, und teilte die Faszination seiner Frau für die neuesten Ernährungstrends. Die triumphalste Errungenschaft seines Lebens war der schicke, moderne Swimmingpool, den er in ihren Garten hatte einbauen lassen, obwohl niemand ihn je benutzte. Momentan spielte er mit dem Gedanken, ihn herauszureißen und einen neuen zu kaufen, weil der Pool der Nesbitts noch schicker und moderner als seiner war. Mr. Wright kannte ebenfalls jeden in der Stadt, und manche Leute hatten sogar Angst vor ihm, weil er so reich war und so perfekte Zähne hatte. Nur Weniges konnte ihn beeindrucken, aber Victoria war es immer gelungen.

Und nun hatte sie ihn enttäuscht. Sie hatte sie beide enttäuscht. Bei dieser Erkenntnis bekam sie einen eiskalten Bauch.

Sie dürfen es nie erfahren, dachte Victoria.

Da die Begrüßung vorüber war, blätterte Mrs. Wright in ihrer Zeitschrift eine Seite weiter, und Mr. Wright wandte sich wieder der Zeitung zu. Für sie war alles, wie es im Hause Wright sein sollte. Vor Scham errötend kehrte Victoria in Gedanken zu ihrer Zwei in Musik zurück. Sie beschäftigte sich so intensiv damit, dass sie ihr Frühstück nicht aufessen konnte und sich trotz Beatrices Protest entschuldigte und vom Tisch aufstand. Sie holte ihre Schultasche aus dem Garderobenschrank und verließ hastig das Haus.

Wie jede andere Straße in Belleville hatte Silldie Place Kopfsteinpflaster, große Bäume, hohe Hecken, Laternenpfähle und Eisentore vorzuweisen. Die Häuser hatten spitze Dächer und hübsche weiße Giebel und eindrucksvolle Ziegelschornsteine mit eingearbeiteten Steinvögeln darin. Die Gärten waren edel und gepflegt und tadellos. Wenn jemandes Garten zu welken begann, erfuhr er das sofort. Denn Mrs. Wright hinterließ dann einen knappen, roten Warnbrief in seinem Briefkasten.

Das größte Anwesen in der ganzen Stadt lag am Ende von Victorias Straße, in einem hügeligen Gelände mit Bäumen, die so alt waren, dass man sie noch zwei Straßen weiter knarren hörte, und einem Teich und einer langen, grauen Steinmauer. Das war Silldie Place Nummer neun, das Cavendish-Heim für Jungen und Mädchen. Victoria dachte nicht gern an das Heim. Sie ging nicht mal gern in die Nähe. Waisenhäuser hatten einen ausgesprochen unordentlichen Beigeschmack. Obwohl Victoria zugeben musste, dass sie noch nie Waisen so etwas tun – oder auch nur überhaupt irgendwelche Waisen in der Nähe des Heims – gesehen hatte, stellte sie sich unwillkürlich eine Schar von ihnen mit schmutzigen Fingernägeln und unangenehmem Geruch vor, die Amok lief und Victorias sämtliche beschrifteten Schachteln auf den Boden warf.

Nun schob Victoria dieses furchtbare Bild aus ihrem Kopf und marschierte weiter, mit jedem Schritt wurde sie wütender über ihre Zwei. Sicher hatte Lawrence keine Zwei bekommen. Sicher hatte Lawrence nicht nur eine weitere Eins in Musik mit nach Hause genommen, sondern auch noch eine weitere überschwängliche Abhandlung von Professor Carroll über Talent dies und Wunderkind das, mit denen er Mr. und Mrs. Prewitt drängte, Lawrence zur weiteren Förderung in die Stadt zu schicken.

Als Victoria schließlich vor dem Haus der Prewitts in Bourdon’s Landing Nummer zwei ankam, wünschte sie sich ziemlich boshaft, Lawrence würde eine Zeit lang woanders wohnen. Jedes Mal, wenn sie ihn jetzt sah, würde er sie an ihr Versagen erinnern.

Sie schepperte mit dem Türklopfer, bis die Tür aufging und Lawrence vor ihr stand, vornübergebeugt und stirnrunzelnd. Natürlich hing sein Hemdzipfel heraus. Natürlich war die Krawatte nicht gebunden.

»Du bist früh dran«, sagte Lawrence und schielte mit seinen grauen Augen über die Schulter in das dunkle Haus hinter sich.

Victoria machte ein böses Gesicht und stapfte an ihm vorbei ins Wohnzimmer, wo das uralte Klavier der Prewitts stand. Es war nicht gut genug für Lawrence. An ihren vernünftigen Tagen wusste Victoria das. An ihren vernünftigen Tagen überlegte Victoria, ob Lawrence nicht vielleicht seiner Musik zuliebe in die Stadt gehen sollte, obwohl die Prewitts ihm das niemals erlauben würden. Sie waren Zahnärzte und wollten, dass Lawrence in ihre Fußstapfen trat. Musik hatte ursprünglich nur seine Erziehung abrunden sollen. Alle Kinder von Belleville brauchten doch Kultur.

Doch als Lawrences Klavierstunden zu einer Manie wurden und er stundenlang Mozart-Sonaten und Chopin-Präludien und Gershwin-Soli übte, bis die Nachbarn sich beschwerten, begriffen die besonnenen Prewitts, dass sie ein ernstes Problem hatten. So hatten sie sich das nicht gedacht.

Dieser Tag allerdings war keiner von Victorias vernünftigen Tagen. Denn zu Hause lag ein Zeugnis mit einer Zwei darauf, Herrgott noch mal. Sie hatte keine Zeit, sich Lawrences Gejammere und Geseufze anzuhören, er wünschte, seine Eltern verstünden ihn und seine blöde Musik besser. Victoria knallte den Klavierdeckel hoch und wühlte in Lawrences unordentlichem Notenstapel.

»Wo ist der Fauré?«, fauchte sie. »Den spielen wir jetzt.«

Lawrence blinzelte. »Der Fauré?«

»Ja, das Duett. Nächste Woche werden wir doch dafür benotet, oder?«

Lawrence setzte sich neben Victoria auf die Bank und spähte unter seinen Haaren hervor. Das Haus war viel dunkler als sonst. Die Luft hing seltsam still und schwer um ihre Schultern.

»Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist«, sagte er.

»Das ist mir egal.« Victoria legte die Finger auf die Tasten und funkelte ihn an. »Komm schon, spiel.«

»Was ist überhaupt mit dir los?«

Victoria gab keine Antwort. Sie fing an, die tiefe Stimme des Duetts zu spielen. In ihrer Wut brachte sie die Töne nur abgehackt und hölzern hervor, doch sie machte mit brennenden Wangen weiter. Sie konnte immer nur an diese grässliche Zwei denken, die sie verhöhnte.

Nach ein paar Takten fiel Lawrence ein, und trotz des dunklen Hauses und Victorias Zorn schien alles besser, sobald er spielte. Gefühlvoll und sicher flogen seine Finger über die Tasten. Musik fiel ihm so leicht, wie Victoria Ordnung und Struktur. Lawrences Augen wurden glasig, und er bekam dieses zarte, hintergründige Lächeln, das er immer am Klavier bekam. Als sie mit vier hüpfenden Akkorden endeten, schwieg Victoria wütend. Sie starrte das Klavier an.

»Ich hab eine Zwei bekommen«, sagte sie.

»Dachte ich mir schon.«

»Ach, tu doch nicht, als würdest du mich so gut kennen.«

Lawrence grinste. »Ich kann nichts dafür. So ist das eben, wenn man nur eine Freundin hat.«

»Du kannst froh sein, überhaupt die eine zu haben.«

»Du spielst nicht schlecht, weißt du. Du musst dich nur ein bisschen locker machen.«

Victoria schnaubte. »Menschen, die sich locker machen, kriegen nie was geregelt.«

»Oh, stimmt ja. Eine Sekunde lang hatte ich vergessen, mit wem ich rede.«

»Mach dich ruhig lustig über mich, aber komm bloß nicht eines Tages heulend bei mir an, wenn du zerknittert und stinkend in irgendeinem Saftladen arbeitest und nichts als deine miese Musik hast, während ich in einem großen, schicken Büro arbeite und haufenweise Geld verdiene und … und …«

Victoria verstummte. Lawrence musterte sie, die silbernen Haarsträhnen leuchteten im Licht der Klavierlampe. Er wirkte kläglich und hoffnungslos. Victorias Magen zog sich zusammen, so beschämt war sie, doch sie spannte die Lippen fest an und weigerte sich, den Blick abzuwenden.

»Das denkst du also wirklich von mir, was?«, fragte Lawrence.

»Es ist nicht so, als hätte ich jemals ein Geheimnis daraus gemacht.« Innerlich krümmte sich Victoria schon im selben Moment. So etwas sollte eine Freundin nicht sagen. Aber sie konnte es sich nicht verkneifen, ihre Wut war zu groß. Himmel noch mal, ich habe eine Zwei, dachte sie. Und außerdem schadete Lawrence das ein oder andere strenge Wort nicht, um ihn aus seiner Klavierwelt in die echte zu holen.

Lawrence runzelte die Stirn und schloss den Klavierdeckel. »Gehen wir einfach zur Schule.«

Auf dem Weg zur Tür hob Lawrence seine zerschlissene Schultasche vom Boden auf. Er stolperte ständig, als er seine Schuhe anzog. Victoria beobachtete ihn mit gekräuselter Nase.

»Was ist denn mit dir los?«, fragte sie.

»Nichts«, sagte Lawrence, aber Victoria fiel jetzt erst auf, dass seine normalerweise schläfrigen grauen Augen ein bisschen komisch aussahen, wie Kaninchenaugen – ängstlich und dumm.

Oben ging jemand durch den Flur Richtung Treppe. Victoria erschrak bei dem plötzlichen Geräusch. Lawrence zuckte zusammen.

»Komm, wir hauen ab«, sagte er rasch.

Victoria sah ihn fragend an. »Sollten wir nicht warten, um uns von deinen Eltern zu verabschieden? Klingt, als kämen sie gleich runter.«

»Nein. Gehen wir.«

Als sie das Gartentor erreichten, schniefte Victoria. »Hör mal, das vorhin tut mir leid. Ich hab es nicht so gemeint. Deine Musik ist nicht mies.« Sie hasste es, sich zu entschuldigen, besonders wenn sie wusste, dass sie eigentlich recht hatte. Gut, dann war seine Musik eben nicht mies, jeder merkte das. Aber wenn Lawrence sich nicht langsam mehr Mühe im Unterricht gab, bekäme er eine Bewährungsfrist oder müsste die Akademie sogar ganz verlassen, und dann müsste er auf eine der öffentlichen Schulen außerhalb Bellevilles gehen, und das würde ihn auf immer ruinieren. Was würde ihm seine Musik dann noch helfen? Es war nicht zweckmäßig. Es war nicht gewinnbringend.

Victoria öffnete gerade den Mund, um Lawrence das alles zu erklären, in der Hoffnung, er würde ihr vielleicht tatsächlich zuhören, da packte Lawrence sie an der Hand und zerrte sie durch das Tor.

»Was machst du –«

»Schnell, Vicky.« Er sah sich wieder über die Schulter.

»Du benimmst dich ja, als hättest du Angst oder so was«, sagte Victoria und entwand ihre Hand.

Doch dann sah sie sich ebenfalls über die Schulter und entdeckte Mr. und Mrs. Prewitt, die sie schweigend von der Haustür aus beobachteten. Victoria war zu weit weg, um ihre Augen zu erkennen, und ihre Gesichter waren nur verschwommene, weiße Scheiben, aber aus unerfindlichen Gründen lief ihr bei ihrem Anblick ein eisiger Schauer über den Rücken.

»Schau sie nicht an«, sagte Lawrence. »Sie … fühlen sich nicht gut. In letzter Zeit benehmen sie sich so komisch.«

»Na und? Du bist albern.«

»Ich hab sie eines Abends nach dem Essen über mich reden hören. Sie wussten nicht, dass ich gelauscht habe, aber sie haben über meine Musik gesprochen und … ich weiß auch nicht. Vielleicht hab ich mich verhört. Aber sie klangen nicht wie sie selbst, verstehst du?«

»Nein.«

»Tja, es stimmt aber.«

Victoria seufzte. »Also, sie haben über deine Musik gesprochen, und was?« Doch Lawrence schüttelte sich die Haare ins Gesicht und sagte nur: »Vergiss es. Ich will nicht mehr darüber reden.«

Während sie weiter zur Schule liefen, zwischen akkuraten Hecken und hoch aufragenden schwarzen Toren hindurch, sah Victoria sich immer wieder um, bemerkte aber nichts Ungewöhnliches, außer einem dicken schwarzen Käfer auf dem Bürgersteig, der seine Fühler in die Luft reckte. Dennoch konnte sie das Gefühl nicht abschütteln, verfolgt zu werden.

Eine Ansammlung wütender roter Gebäude stand hoch auf einem Hügel am westlichen Rand von Belleville, mit Blick über die gesamte Stadt – »Impetus-Akademie: Wo Tradition auf Innovation trifft«.

Die vertrauten Kopfsteinstraßen, über die Victoria und Lawrence zur Akademie liefen, waren von eisengerahmten schwarzen Schildern gesäumt, auf denen Worte standen wie »Inspiration«. Beim Bau der Akademie hatten die Stadtplaner die Straßen der Umgebung nach angemessenen pädagogischen Begriffen umbenannt: Anständigkeit. Neugier. Motivation.

Beim Anblick dieser Schilder kribbelte es wohlig in Victorias Brust. Entdeckung. Wissen.

Sieg.

Das mochte Victoria am liebsten. Es war, als hätten ihre Eltern von Anfang an gewusst, dass sie einmal eine Gewinnerin würde, und ihr deshalb gleich den entsprechenden Namen gegeben: Victoria, das lateinische Wort für Sieg. Schon ihr Name verhieß Trophäen, Medaillen und Auszeichnungen. Sie dachte an ihre lächerliche Zwei und stellte sich vor, sie wäre dieser hässliche Käfer von vorhin. Dann malte sie sich aus, auf den Käfer draufzutreten, mit Fühlern und allem, sodass er knacken und zerplatzen, seine untragbar mittelmäßigen Eingeweide unter ihrem Schuh zermatscht würden.

Das Bild half. Allerdings erinnerte Victoria sich nun an Mr. und Mrs. Prewitt, die so merkwürdig in der Haustür gestanden hatten, und an das, was Lawrence über sie erzählt hatte, und verzog die Lippen zu einem dünnen Strich. Sie hätten sich über seine Musik unterhalten, hatte er gesagt. Das war ja an sich nicht so schrecklich – außer, die Prewitts hätten nun endgültig genug davon, dass Lawrence immer nur auf dem Klavier herumhämmerte. Falls das so war, konnte Victoria es ihnen nicht verübeln, denn Lawrence und seine Musik konnten jeden Menschen in den Wahnsinn treiben.

Victoria sah ihn finster von der Seite an. Andere Schüler stießen jetzt aus den umliegenden Stadtvierteln zu ihnen. »Steck dein Hemd in die Hose«, zischte sie. »Du meine Güte.«

Lawrence erschauerte, als sie unter einem Baum hindurchliefen. »Nein«, sagte er, und als Victoria den Mund aufmachte, schnitt er ihr das Wort ab. »Lass es, Vicky. Nicht heute.«

Daraufhin blieb Victoria erst mal stumm. Lawrence schob die Hände in die Hosentaschen, seine knochigen Schultern hingen so weit nach vorn, dass sie beinahe seine Ohren streiften. Andauernd sah er sich verstohlen um. Als ein anderer Schüler sie versehentlich anrempelte, zuckte Lawrence zurück, als hätte ihn jemand geschlagen.

Victoria musterte ihn eingehender und verengte die Augen zu diesem furchtbaren, durchdringenden Ausdruck, den Lawrence ihren Bösen Blick nannte, da er seine Opfer gleichzeitig verängstigte und lähmte. Lawrence hatte sich noch nie ehrlich davor gefürchtet, aber er tat ihr oft den Gefallen, rückwärts zu taumeln, zusammenzuklappen und um Gnade zu winseln. Insgeheim fand Victoria das unglaublich amüsant und befriedigend, aber das verriet sie ihm nie.

Doch dieses Mal tat Lawrence nichts dergleichen. Ja, er schien den Bösen Blick kaum zu bemerken. Er zog den Kopf noch tiefer zwischen die Schultern und quetschte sich die Schultasche so fest an die Brust, dass seine Fingerknöchel weiß wurden.

In der Gesamtwirkung ähnelte Lawrence dadurch relativ stark einem erschrockenen Skunk. So merkwürdig das aber auch war, Victoria war nicht in der Stimmung, ihn zu bemitleiden. Er und seine Musik und seine verständlicherweise frustrierten Eltern waren nicht ihr Problem. Ihre Zwei machte sich in ihrem Kopf breit, bis sie nichts anderes mehr sehen konnte.

»Du bist ein hoffnungsloser Fall, Lawrence Prewitt«, fauchte sie schließlich und stolzierte davon.

Auf der kreisförmigen Auffahrt vor dem Eingang der Akademie reihte sich ein silbernes Auto an das andere. Alle Türen öffneten sich auf einmal, und alle Satellitenradios wurden per Sprachsteuerung durch die Fahrer zum Schweigen gebracht. Alle Kinder stiegen aus den Wagen auf den Bordstein. Alle Eltern winkten zum Abschied und sagten: »Schönen Tag, Madison« oder Brooks, Avery, Harper und so weiter und so weiter.

Dann sausten die Autos in lautloser, geordneter Schlange davon, immer weiter, kreisten durch die Auffahrt der Akademie wie emsige Metallgeschöpfe, bis weitere ihren Platz einnahmen. Als Victoria an den offenen Wagentüren vorbeiging, hörte sie Eltern über edle Seifen und Biotomaten plaudern und plappern, über Soundso-Diäten und Gewichtsverlust, Salons und Massagen, die Haushälterin und das Kindermädchen. Unterdessen marschierten ihre Kinder zwischen mächtigen Säulen in die Akademie. Schließlich glitt in einem triumphalen Maschinenballett die nächste Gruppe glänzender Autos heran, bis um Viertel vor acht die Schulglocke klingelte.

Victoria stapfte geradewegs in Gebäude eins, Raum sieben, zum Runden Tisch. Jeden Tag vor der ersten Stunde versammelten sich alle für dreißig Minuten, um aktuelle Ereignisse und Akademie-Angelegenheiten zu besprechen. Was allerdings, zu Victorias Entrüstung, tatsächlich passierte, war, dass die Professoren, die jeweils für den Runden Tisch eingeteilt waren, über Joghurt plauderten und die Schüler albern Wahrheit oder Pflicht spielten, ihre Freunde und Freundinnen küssten oder sich in Raum acht zu den älteren Kindern schlichen. Hier und da schnappte Victoria Gesprächsfetzen auf, wer mit wem ging, welches Kleid sich Bailey Hightower für den Schulball gekauft hatte, und irgendetwas über Lipgloss.

Victoria rümpfte empört die Nase über das alles. Spricht denn niemand mal über was Wichtiges?, fragte sie sich.

»Oh, schaut mal. Der Skunk ist heute in Topform«, hörte Victoria jemanden flüstern. Sie drehte sich um und sah Lawrence hereinhasten. Er kam nicht zu ihr an den vordersten Tisch, wo sie normalerweise allein saßen – Victoria mit Block und gezücktem Stift, falls einer der Professoren unvermutet Ehrgeiz entwickelte, während Lawrence in sein Heft kritzelte oder sich mit etwas ähnlich Sinnlosem beschäftigte.

An diesem Tag also lief er schnell nach hinten in eine Ecke und setzte sich so dicht an die Wand wie möglich. Er hielt die Tasche an den Bauch gedrückt und starrte verbissen auf den Fußboden.

Victoria runzelte die Stirn. Zuerst, weil sie Lawrence eine runterhauen wollte, und dann, weil etwas Kaltes durch Raum sieben glitt wie eine träge Brise. Victoria verschränkte die Arme und fröstelte, aber um sie herum bemerkte offenbar niemand etwas.

Die dienstälteren Professoren im Zimmer verstummten und musterten Lawrence. Ihre Blicke huschten zu ihm in die Ecke, und ihre Haltung straffte sich. Bei manchen blitzten die Augen auf, und manche wirkten ängstlich, und manche zuckten im Gesicht und verzogen die Mundwinkel zu einem schwachen Lächeln. Das Lächeln und Zucken wanderte von einem zum anderen weiter.

Sie sahen aus wie Wölfe, die Lawrence als möglichen Snack beäugten.

Dann verschwand die Kälte. Vielleicht war es nur ein bisschen frische Luft von draußen, dachte Victoria.

Die Professoren nahmen ihr Gespräch wieder auf. Ihre Augen blitzten nicht mehr, und sie machten einen normalen Eindruck.

»Ich glaube, der Skunk dreht jetzt endgültig durch«, raunte jemand, und als Victoria sich umdrehte, beugte Jill Hennessey sich gerade zu den anderen an ihrem Tisch vor. Sie sah Victoria genau an und grinste hämisch.

»Was glaubst du, Vicky?«, fragte Jill jetzt lauter. Sie klimperte mit den Wimpern und entblößte ihre perfekten Zähne. Ein paar Mädchen um sie herum lachten. »Du musst es doch wissen, oder? Wo ihr zwei euch doch so … gut versteht.«

Victoria hasste vieles auf der Welt. Sie hasste es, wenn Beatrice die Falten in ihrem Rock nicht richtig bügelte. Sie hasste Mr. Tibbalt und seinen bösartigen roten Schoßhund, denen es beiden an jeglicher Körperpflege fehlte und die leider in Victorias Straße wohnten. Sie hasste Dinge, die unlogisch waren.

Sie hasste die Zwei auf ihrem Zeugnis.

Im Augenblick hasste sie sogar Lawrence ein wenig, weil er sich so seltsam benahm.

Aber nichts von alledem hasste sie so wie Jill Hennessey, ihre Erzfeindin, die Einzige aus ihrem gesamten Jahrgang, der die Schule genauso wichtig war wie Victoria. Jill, die sich mit Victoria darum balgte, als Erste Fragen zu beantworten, die längsten Aufsätze zu schreiben, die Klassenbeste zu sein.

Jill, die nie, niemals von Victorias Zwei erfahren durfte.

Victoria betrachtete Jill und ihr eingefrorenes Lächeln. Jill warf ihr glänzend rotes Haar zurück und ließ es mit einer affektierten Geste seitlich um den Hals nach vorn gleiten. Sofort machten ihre Freundinnen genau dasselbe.

»Ich weiß gar nicht, wovon du sprichst«, sagte Victoria. Sie fuhr sich durch ihre Locken, die die besten in ihrer Klasse waren, weil sie schon dafür sorgte. Das gehörte zum Plan – Perfektion, Leistung, die Spitze, das Beste. Victorias Gesicht brannte vor Stolz und verzog sich zu einem kämpferischen Bösen Blick.

Die anderen Mädchen blinzelten, aber nicht Jill. Sie hielt die Augen weiterhin auf Victoria gerichtet, so scharf wie die der Professoren, als sie Lawrence angesehen hatten, und Victoria tat es ein winziges bisschen leid, aber sie konnte sich einfach nicht beherrschen: »Der Skunk ist mir völlig egal.« Die Worte kamen ohne ihre Erlaubnis heraus, und ihr Brustkorb verkrampfte sich unangenehm, doch sie schob das Gefühl weg. Das war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um irgendjemanden zu bedauern.

Jill lachte. »Wie ist das so, Vicky? Mit einem Skunk zusammen zu sein, meine ich.«

Victoria versuchte, nicht zu erröten, aber es passierte trotzdem. Zusammen sein? Ihr Mund trocknete aus, und plötzlich hatte sie keine Ahnung, was sie mit ihren Händen anstellen sollte. Sie wollten einfach nicht aufhören zu zappeln. Lawrences lächelndes Gesicht tauchte in ihrem Kopf auf, und Victoria setzte eine finstere Miene auf. »Ich bin mit niemandem zusammen«, fauchte sie.

»Er schleicht immer so komisch durch die Gegend«, sagte Tate Gardiner. »Wie ein – wie ein Skunk.« Offenbar hielt Tate sich für ungeheuer clever.

Victoria bedachte sie mit einem vernichtenden Blick. »Genial. Darauf ist ja noch nie jemand gekommen.« Sie wandte sich ihrem Heft zu und begann, Verben auf –er für die Französischarbeit am Nachmittag abzuschreiben. Angestrengt bemühte sie sich, sämtliche Gedanken an Lawrence und Freundinnen und die blöde Jill Hennessey aus ihrem Kopf zu verbannen.

Manger. Essen.

Aber es half nichts. Victoria hörte die anderen immer noch tuscheln. Sie spürte Lawrence in der Ecke sitzen und hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie ihn Skunk genannt hatte, aber na ja, es gab ja schließlich auch so was wie Haartönung. Wieder sah sie sein Gesicht vor ihrem geistigen Auge, dieses Mal traurig und bemitleidenswert. Sie ignorierte es und schrieb weiter.

Je mange. Ich esse. Tu manges. Du isst. Il mange. Er isst.

Hinter Victoria räusperte sich Jill.

Victoria legte die Stirn in Falten und drückte den Bleistift fester auf.

Nous mangeons. Wir essen.

Die Buchstaben hinterließen Dellen im Papier. Die Bleistiftspitze brach ab.

»Ach, übrigens, Victoria«, sagte Jill mit lächelnder Stimme.

Victoria brauchte sich gar nicht umzudrehen. Sie wusste, was kam. Sie hörte es an Jills Tonfall. Die Galle stieg ihr in der Kehle hoch, ein schauriges Gefühl raste durch ihre Arme. Noch nie hatte ihr Herz so vor Wut und Angst gepocht.

»Ich habe gehört«, Jill lehnte sich vor, »du hast eine Zwei bekommen.«

Die anderen schnappten nach Luft. Manche lachten. Tate rief: »Ha!« Das Geräusch hallte wider, und Köpfe wurden gedreht.

Victoria drehte sich ebenfalls um. Ihre Miene blieb kalt, eine Augenbraue war hochgezogen.

»Du hast eine Zwei bekommen«, wiederholte Jill grinsend. »In Musik.«

»Ich weiß gar nicht, wovon du redest«, sagte Victoria.

»Oh doch. Im Zeugnis.«

Inzwischen beobachteten sie viele. Innerlich tobte Victoria, nach außen hin verdrehte sie die Augen.

»Aber sicher doch«, sagte sie.

»Und wie das sicher ist. Ich habe es in Professor Carrolls Notenbuch gesehen. Victoria Wright, Zwei. Ich habe eine Eins minus.« Jill riss die Augen weit auf und flüsterte: »Du weißt natürlich, was das bedeutet?«

Oh ja, das wusste Victoria, und es machte sie krank. Sie konnte ihre Beschämung nicht länger verheimlichen. Eine Röte kroch ihre Wangen hoch. Tate legte sich die Hand auf den Mund und kicherte.

»Es bedeutet«, sagte Jill langsam, sie genoss ihren Triumph, »dass ich jetzt die Jahrgangsbeste bin.«

Victorias Welt geriet ins Wanken. Ihr Kopf sträubte sich schon gegen die bloße Vorstellung. Jahrgangsbeste war sie und war es immer gewesen. Der Titel gehörte ihr. Sie hatte seit frühester Kindheit darum gekämpft. Er war ihr Blut, er war ihre Seele, und jeder wusste das. Victoria hatte nie ein Geheimnis aus ihrem Ehrgeiz gemacht. Das war ihre Identität: Victoria, die Beste.

Jill, die Zweitbeste.

Lawrence, der Skunk.

Jill sah aus, als würde sie gleich in Gelächter ausbrechen.

»Oooh, arme kleine Schneekönigin, wird ganz rosa«, sagte Tate kichernd.

Victoria griff nach der einzigen Waffe, die ihr in ihrer Wut einfiel. Dass Jill es wagte, ihre Schadenfreude so auszukosten und Victoria vor allen anderen dumm aussehen zu lassen, wo sie doch genau das Gegenteil von dumm war, erboste sie. Dass Professor Carroll es gewagt hatte, Victoria eine Zwei zu geben, erboste sie. Dass Lawrence es gewagt hatte, mit einem musikalischen Talent auf die Welt zu kommen, das ihm eine Eins einbrachte, während Victoria eine Zwei bekam, erboste sie.

Victoria wurde so vom Zorn gepackt, dass sie nichts anderes mehr sehen und fühlen und denken konnte. Sie funkelte Jill an und sagte durch zusammengebissene Zähne: »Wo ist denn deine Schwester Jacqueline heute, Jill?«

Jacqueline, die Irre.

Es war ein bisschen schwach, Jacqueline ins Spiel zu bringen, aber Victoria brauchte Zeit, um sich wieder zu sammeln. Normalerweise genoss sie es, mit Jill zu streiten, weil sie Jill gern bloßstellte. Doch jetzt, wo die anderen von der Zwei wussten, war Victoria nicht mehr geistreich. Also benutzte sie stattdessen Jacqueline als Ablenkung, Jills hässliche, seltsame, verhasste Zwillingsschwester, die Schande der Familie Hennessey. Jacqueline, die Selbstgespräche führte, im Unterricht auf ihren Armen herummalte, gruselige Zeichnungen in ihre Hefte krickelte. Jacqueline, die fleckige, unebene Haut hatte und mit krummem Rücken ging und sich hinter ihren verfilzten Haaren versteckte.

Jill lachte. »Jacqueline?« Ihre Freundinnen hinter ihr wirkten genauso verwirrt. Ihre Augen wirkten leicht unscharf. »Welche Jacqueline?«

»Was soll das heißen, welche Jacqueline?«, sagte Victoria. »Deine Zwillingsschwester, du Idiotin.«

Etwas Kaltes glitt an Victoria vorbei. Jills Augen verengten sich zu kleinen, harten Punkten, ihre Miene wurde scharf wie die der Professoren vorhin – wölfisch und wachsam. Von so nah war es sogar noch auffallender. Victoria blinzelte und sah die anderen an, ob sie es auch bemerkten, doch die hatten sich abgewandt und lachten und plauderten untereinander mit strahlenden Augen und strahlendem Lächeln.

»Jacqueline ist eine Weile krank«, sagte Jill, aber ihre Stimme klang nun anders, tiefer und leiser. Sie passte zu ihrem neuen, wölfischen Gesicht. Jill verzog den Mund zu einem knappen Lächeln. »Warum interessierst du dich für Jacqueline, Victoria?«

»Tu ich nicht.« Victoria wusste nicht, was sie von Jills eigenartigem Benehmen halten sollte, und befand, dass sie sich das alles nur einbildete. Es war Lawrences Schuld. Wäre er nicht vorhin so komisch gewesen, wäre Victoria jetzt nicht so durcheinander. Ärgerlich stand sie auf. »Wenn du mich fragst, seid ihr beide Idioten. Ich dachte nur, wenn du sie holen gehst, hättet ihr zwei zusammen vielleicht genug IQ für einen fairen Kampf.«

Es klingelte. Die erste Schulstunde begann in zehn Minuten. Victoria drehte sich um, knallte ihre Bücher auf einen Stapel und marschierte zur Tür.

Jemand drängelte sich grob vor sie.

»Sei vorsichtig, Victoria«, murmelte Jill mit dieser tiefen Stimme, die Haare wogendes Blut, die Handtasche glänzende Silbermünzen. Victoria sah ihr nach, als sie in der Schülermenge verschwand. An der Ecke entdeckte sie Jills Gesicht noch einmal, und es sah wieder normal aus.

Sie schüttelte den Kopf, ganz offenbar hatte sie zu viel Fantasie. Bestimmt, selbstverständlich hatte Jill sie absichtlich gerempelt und »sei vorsichtig« gesagt, weil sie eben eine gemeine Hexe war. Trotzdem wurde Victoria irgendwie das Gefühl nicht los, dass Jill damit etwas anderes gemeint hatte. Lawrences ängstlicher Blick und was er über seine Eltern erzählt hatte, die wölfischen Professoren, die wölfische Jill, der kalte Raum – das alles hinterließ einen unangenehmen Knoten in Victorias Bauch.

»Sei nicht albern«, sagte sie zu sich selbst. Sie konzentrierte sich auf das Klackern ihrer Schuhe und das Glänzen ihres Haarbands und ihrer Locken in den Hoffenstern. Mit hocherhobenem Kopf lächelte sie. »An die Arbeit.«

In Algebra, als alle noch ihre Hausaufgaben miteinander verglichen, bevor sie sie zur Benotung abgaben, kritzelte Victoria Henry Calvarys erbärmliche mathematische Versuche voll mit vernichtenden Korrekturen. Er wurde grün im Gesicht, als er es sah.

In Biologie, als ihrer Partnerin Catie Vassar schlecht wurde und sie zu weinen anfing, weil sie den armen toten Frosch einfach nicht aufschneiden konnte, schnappte Victoria sich das Skalpell, schlitzte das Tier auf, steckte die ganzen Organe mit Nadeln auf die passenden Etiketten und setzte sich verächtlich wieder hin, während Catie aufs Mädchenklo rannte und sich übergab.

In der letzten Stunde, Weltgeschichte in Gebäude vier, Raum neun, bei Professor Alban war Victoria wieder ganz in ihrem Element.

Sie setzte sich auf ihren Platz in der ersten Reihe, verschränkte die Hände und wartete auf den Beginn der Stunde. Professor Alban schätzte sie sehr. Die anderen Schüler beklagten sich über ihn, weil er neu war. »Er gibt zu viele Hausaufgaben auf, damit man nicht merkt, dass er keine Ahnung hat«, sagten sie.

Aber Victoria fand, dass Professor Alban sehr wohl Ahnung hatte. Er gab ihnen zu viel auf, das stimmte, aber es war eine Herausforderung, und nichts mochte Victoria lieber als Herausforderungen.

Nichts außer dem Klang ihres eigenen Namens, wenn er bei der Abschlussfeier genannt wurde. Jeden Sommer seit der ersten Klasse: Victoria Wright, Jahrgangsbeste.

Sieg.

Unvermittelt fiel Victoria wieder ein, dass sie dieses Jahr ihren Namen vielleicht nicht hören würde. Was, wenn sie diese Zwei nicht mehr wettmachen konnte? Was, wenn es stattdessen hieße, »Jill Hennessey, Jahrgangsbeste«?

Nicht hinnehmbar. So weit würde es nicht kommen. Das durfte es nicht. Sie würde einen Weg finden, doch noch zu gewinnen.

Die ganze Stunde lang schrieb Victoria so fieberhaft mit, dass ihre Finger zu einer Klaue erstarrten. Immer wieder schielte Professor Alban nach ihr, als befürchtete er, ihre Hand könnte abbrechen. Am Ende der Stunde teilte er einen kurzen Test aus. Victoria griff nach ihrem Blatt. Hinter ihr griff Jill Hennessey nach ihrem Blatt. Ihre Bleistifte schabten jetzt fester, und es tat ein bisschen weh, aber das war es wert.

Victoria war zuerst fertig, Jill kurz danach. Die Glocke läutete. Victoria rannte zu Professor Albans Pult und knallte ihren Test darauf. Jill folgte ihr und schubste sie aus dem Weg.

»Hoppala.« Jill lachte. »Pass lieber auf, Victoria. Sonst kommst du noch unter die Räder.« Dann verschwand sie durch die Tür.

Schäumend vor Wut sah Victoria ihr hinterher. Auch Professor Alban starrte Jill nach. Zum ersten Mal an diesem Tag fiel Victoria auf, dass er etwas kränklich aussah. Er war blass, und seine Stirn war ganz gefurcht, als dächte er über irgendetwas sehr stark nach.

Wieder kroch diese Kälte durch die Luft. Es war noch nie Victorias Art gewesen, sich Sachen einzubilden, aber die Kälte fühlte sich dünn und beißend an, wie die Schnur einer Peitsche oder eine Schlange auf der Pirsch.

Victoria schauderte.

Professor Alban schauderte.

Ihre Blicke trafen sich. Professor Alban nahm die Brille ab und putzte sie, setzte sie wieder auf und lächelte gezwungen. »Wie geht es Ihrer Hand, Miss Wright?«

»Sie tut weh«, erwiderte Victoria scharf und ging.