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Was Mauern verschweigen und Erde nicht begraben kann Ausgezeichnet mit dem Deutschen Krimipreis 2024 Eine Sturmflut sucht das kleine Dorf Unterlingen heim, Wassermassen drängen die Anwohner aus ihren Häusern – nur eine bleibt, so wie sie es schon immer getan hat: Gudelia. Sie blieb 1984, als ihr Sohn ermordet wurde, 1998, als sie sich von ihrem Mann trennte, und auch jetzt, als ihr Haus in den Fluten einzustürzen droht. Nicht einmal die beiden gefesselten Leichen, die an ihrem Fenster vorbeitreiben, können sie umstimmen. Denn Gudelias Gedanken gelten nur ihrem Haus, in dem sich ihr dunkelstes Geheimnis verbirgt. Ein fesselnder Kriminalroman über Liebe und Verlust. Über Stärke und Schuld. Über Jahrzente hinweg. »Auf drei Erzählebenen und in den Jahren 1984, 1998 und 2024 setzt dieser souverän konstruierte Roman ein Familiendrama zusammen, das grundsätzliche Fragen stellt. Wie soll man nach dem Verlust des eigenen Kindes weiterleben? Darf man den Tod dieses Kindes rächen, am Ende gar mit einem Mord? Das Haus, in dem Gudelia stirbt ist düster, ungewöhnlich und fesselnd.« Thomas Andre | Hamburger Abendblatt
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Seitenzahl: 300
Veröffentlichungsjahr: 2024
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THOMAS KNÜWER
PENDRAGON
Cover
Halftitle
Title
Prolog
Die alte Frau liegt im Dreck und lächelt. Es ist gerecht, denkt sie. Schuld schwimmt oben. Die Beine kann sie nicht bewegen. Erst hat er das linke, dann das rechte mit dem Spaten zertrümmert. Jesus Maria, hat sie geschrien.
Wo ist er? Es ist zu still. Überall tote Schweine. Viele Grabsteine sind fort. Neben ihr blühen die Begonien. Selbst in der Nacht glüht das Rot. Selbst nach der Flut. Begonien sind Arme-Leute-Rosen, hat ihre Mutter gesagt. Jahrzehnte ist das her. Mehr als ein halbes Jahrhundert. Wenn ihre Mutter gewusst hätte, dass ihr Grab einmal voll davon sein würde.
Die alte Frau dreht den Kopf. Das Grab ist nur einen Steinwurf entfernt. Zumindest für Menschen, die noch werfen können. Sie legt die Hände flach auf die Erde. 1967 ist ihre Mutter gestorben. Krebs. Es war gerecht, dass der Herr sie rasch zu sich geholt hat.
Am Himmel sind keine Sterne, nur Wolken. Die Eichen am Rand des Friedhofs sind kaum zu erkennen. Nur das Rascheln der Blätter verrät ihre Anwesenheit. Sie sind die einzigen Trauergäste. Gut, denkt die alte Frau, wohin sollten sie auch gehen?
Unter ihr ruhen die, denen sie bald folgen wird. Viele hat sie gekannt. Teils seit der Kindheit. Ihr Mann liegt hier. Wie lang ist das her? Weggezogen ist sie nie. Ein Leben an einer Stelle. Wie eine Eiche. Wohin hätte sie auch gehen sollen? In den letzten Jahren war sie regelmäßig auf dem Friedhof spazieren. Oft mehrmals pro Woche. Nicht nur wegen der Verstorbenen, die sie verlassen haben, auch wegen der Ruhe, die sie sonst nirgendwo fand. In Ermatingen, fünfzehn Kilometer südlich, gleich hinter dem katholischen Gymnasium, gibt es seit drei Jahren einen Friedwald für Baumbestattungen. Blumenbepflanzungen und Grabsteine sind nicht erlaubt, um die Natürlichkeit des Waldes zu erhalten. Die Verstorbenen werden in kompostierbaren Urnen beigesetzt. Über ihnen nichts als blanke Erde. Irgendwann werfen wir die Toten direkt in die Biotonne, denkt die alte Frau. Doch das wird sie nicht mehr erleben.
Es brummt, knirscht. Er kommt zurück. Womit? Die alte Frau versucht, den Kopf zu heben, die Schmerzen lassen es nicht zu. Der Lärm nähert sich wie ein Gewitter. Ein Minibagger rollt über den Weg. Es ist gerecht, denkt sie. Begraben über dem eigenen Sohn.
Die Schaufel des Minibaggers frisst sich direkt neben ihr in die Erde. Sie schließt die Augen.
Hoffentlich holt Gott mich rasch zu sich.
»Es brodelt, stürmt und donnert in Deutschland. Der Deutsche Wetterdienst warnt weiter vor unruhigen Stunden. Die schwerste Unwetterfront des bisherigen Jahres zieht auf einer Linie vom südwestlichen Saarbrücken bis ins nördliche Schwerin quer durch Deutschland. In den Abendstunden kam es in Nordrhein-Westfalen und Teilen Niedersachsens zu schweren Gewittern und Überflutungen. Am Flughafen Düsseldorf wurde der Flugbetrieb eingestellt. Die Zugbindung werde in den betroffenen Bundesländern aufgehoben, teilte die Bahn mit. Im Sauerland sicherte das THW schon am Morgen öffentliche Gebäude mit Sandsäcken. Anwohner in Kassel, Nordhessen, berichten von faustgroßen Hagelkörnern. Zahlreiche Dächer wurden von orkanartigen Böen abgedeckt. Ein Aufklaren der Wetterlage ist dabei weiter nicht in Sicht, im Gegenteil, der Höhepunkt der Regenfront wird für etwa 23 Uhr erwartet. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe fürchtet teils heftige Sturzfluten und rät dringend dazu, lokale Medien und Behördenmitteilungen zu verfolgen.«
Tagesschau, 4. Juni 2024
Elf Teelichter und zwei Grabkerzen von Schlecker trennen mich von der Dunkelheit. Wer als Erstes gestorben ist, weiß ich nicht. Schlecker oder Heinz. Heinz oder Schlecker. Die Grabkerzen sprechen dafür, dass es Heinz war. Vor siebzehn Jahren. Bei der Beerdigung hat die Sonne geschienen, der Bienenstich war zu trocken, der Kaffee annehmbar. Ich bekreuzige mich. Nach der Schlecker-Pleite ist keine neue Drogerie nach Unterlingen gekommen. Zu klein, zu abgelegen, zu überaltert. Wer kann es ihnen verdenken. Spätestens heute Nacht wäre die Drogerie ohnehin abgesoffen. So wie der Supermarkt, das Rathaus und der Friedhof.
Der Strom ist als Erstes ausgefallen. Noch vor Sonnenuntergang. Ich hatte gerade Tee aufgesetzt. Das Wasser ist rasend schnell gekommen, braun wie die Lederhandtasche vom Gardasee, die ich nie getragen habe. Sommerurlaub ’79, der Händler hat versichert, sie sei handgemacht. Mailand, Hauptstadt des Nordens. Heinz hatte Sonnenbrand, Nico Pubertät. Ich habe die Tasche gekauft, ohne zu verhandeln.
Eine der Grabkerzen stelle ich ins Bad neben das Waschbecken, zünde sie an. Wenn ich später zur Toilette muss, will ich nicht stolpern und stürzen. Knochen brechen leicht in meinem Alter und kein Krankenwagen wird mich heute Nacht erreichen. Die andere Grabkerze spare ich mir auf. Wer weiß, wie lang ich hierbleiben muss. Die Uhr in der Küche zeigt kurz nach Mitternacht. Mit geschlossenen Augen klingt es wie ein regnerischer Tag am Meer. Rauschende Brandung, das Hämmern des Regens auf den Dachfenstern. Ich hoffe, dass ich irgendwann einschlafen kann. Schlafende brauchen kein Licht, denken nicht nach. Angst habe ich keine. Nicht um mich, nur ums Haus. Das Erdgeschoss ist vollgelaufen. Ich kann das Wasser durch die geschlossene Wohnungstür riechen. Modrig und faul, als wäre unter mir ein Klärwerk. Durch den Türspion sehe ich das Gluckern weiter unten im Treppenhaus. Seit einer Stunde ist der Pegel nicht gestiegen, trotz des unablässigen Regens. Ich habe die Ziegelsteine der Außenwand aus dem Fenster heraus gezählt. Drei Reihen über dem Erdgeschosssims hat das Wasser bis elf Uhr verschluckt. Dreizehn trockene Reihen darüber trennen die braune Brühe von mir. Die Vorhänge sind gebügelt. Eine Schande wäre das.
Unter mir wohnen die Schröers. Nett, streiten sich oft. Der Rasen, die Hecke, die Rechnungen, nie hilfst du mit. Ich kann alles hören, wenn unsere Fenster auf Kipp stehen. Ob sie das wissen? Ob sie wollen, dass ich alles höre? Schröers Bernhard hat zeit seines Lebens im Kesselbau gearbeitet. Schweißer. Seine Frau, Christa, ist für den Sohn zu Hause geblieben. Später hat sie in der Bäckerei am Brunnenweg ausgeholfen, um die Rente aufzustocken. Der Sohn, Michael oder Mike oder beides, ist längst weggezogen. Hat in Marburg Jura studiert und kommt nur selten nach Unterlingen. Kinder hat er keine, sonst hätte ich ihr Lachen durch unsere Fenster-auf-Kipp-Verbindung gehört. Die Schröers sind heute Morgen kurz nach dem Frühstück gefahren. Mit zwei schweren Koffern, als wollten sie verreisen. Dabei kommt das Wasser doch zu ihnen. Sie haben sich nicht umgedreht. Ich stand oben am Fenster, habe zugesehen, wie Bernhard die Koffer in den alten Opel Vectra gehievt hat. Er war verschwitzt, hat viel geflucht. Die Knie. Kesselbau fordert seinen Preis. Ich hätte sie fragen können, ob sie mich mitnehmen. Die Rückbank war frei. Wahrscheinlich hätten sie es sogar gemacht. Doch ich muss bleiben. Ich wohne hier. Die Vorhänge sind frisch gebügelt.
Zweimal am Nachmittag hat es geklingelt. Irgendjemand schien an mich zu denken. Vielleicht Nachbarn, vielleicht das THW. Ich habe nicht geöffnet, mich von den Fenstern ferngehalten. Auf Diskussionen kann ich verzichten. Sie würden es nicht verstehen. Im schlimmsten Fall hätten sie mich evakuiert. Keine Ahnung, ob sie das gegen meinen Willen dürfen. Ich wollte es nicht darauf anlegen. Vielleicht irgendein Notfallgesetz, wer weiß. Zu Ihrer eigenen Sicherheit, wirre alte Frau.
Beim Abendessen war draußen kein Mensch mehr. Die Straßen hatten Autos durch Wasser ersetzt. Ich habe mir ein Spiegelei gebraten und auf eine Scheibe Graubrot mit Butter und Schinken gelegt. Strammer Max. Habe ich Heinz und Nico oft gemacht. Schnell, einfach, sättigend. Für Nico mit Ketchup, für Heinz mit Bier.
Kurz nach meinem kleinen Abendessen ist der Strom ausgefallen. Der Tee wurde nicht mehr warm. Wenigstens hat Gott mir ein letztes Spiegelei geschenkt.
Ich stelle zwei Teelichter auf den Wohnzimmertisch, eines auf die Arbeitsplatte in der Küche. Der Kühlschrank ist dunkel. Die wenigen Sachen darin werden bald verderben. Schinken, Gouda, Milch, Eier, Kirschmarmelade, Gewürzgurken. Ich brauche nicht viel zum Leben. Die Fanta in der Kühlschranktür wird nicht schlecht, nur schrecklich schmecken, wenn sie warm ist. Ich gieße ein Glas halb voll. Sonst muss ich nachts raus. Ich schlurfe ins Wohnzimmer, ziehe meinen Sessel ans Fenster. Das Glas stelle ich auf die Fensterbank neben eine Baumarkt-Orchidee. Gedanklich schreibe ich Orchideendünger auf meine Einkaufsliste, ehe ich sie wieder streiche. Draußen ist es dunkel. Keine Lichter, keine Autos, keine Laternen. Früher habe ich mir ein Haus am See gewünscht, jetzt habe ich eine Wohnung in den Fluten. Ich könnte das Fenster aufmachen und direkt ins Wasser springen. Was sich für Mallorca traumhaft anhört, ist in Unterlingen eine Katastrophe. Auf Mallorca war ich nie. Zu teuer, zu heiß. Während ich auf die schwarzen Wassermassen starre, denke ich an das Fundament meines Hauses, das, wenn’s schlimm kommt, unterspült wird, und bekomme Angst. Sie werden es abreißen, sobald die Brühe weg ist. Einsturzgefahr! Schimmel! Alles weg, alles neu. Ich trinke einen großen Schluck. Nicht mit mir! Die Angst schmeckt nach zuckriger Orange.
Der Mond versteckt sich hinter dem Regen, das Wasser bildet Schaum. Äste schwimmen an mir vorbei. Vielleicht ganze Bäume, schwer zu sehen. Überall tost das Wasser, dreht sich, bäumt sich auf. Schnell und unberechenbar. Wegen der mitgeschwemmten Dinge, die Strömungen, Sog und Strudel verursachen. Eine Mülltonne treibt vorbei. Ich stehe auf. Der Sicherungskasten meiner Wohnung befindet sich in einem Schrank neben der Garderobe. Im Fach darunter stehen ein Feuerlöscher und eine große schwarze Taschenlampe. Sie funktioniert noch. Die Batterien sind nicht von Schlecker. Blinzelnd gehe ich zurück ins Wohnzimmer, öffne das Fenster. Der Wind weht vom Haus weg. Nur wenige Tropfen finden in meine Wohnung. Die Taschenlampe klemme ich zwischen Orchideentopf und Fensterrahmen. Der Lichtstrahl erhellt die braunen Fluten vor dem Haus wie der Suchscheinwerfer eines Helikopters. Unser Vorgarten ist verschwunden. Rasen, Steinplatten, die Rosen der Schröers. Einzig unser Straßenschild ragt aus den reißenden Wassermassen. Eine tote Kuh treibt vorbei, prallt gegen einen Laternenmast, ändert die Richtung. Ich verfolge das tote Tier wie ein auslaufendes Kreuzfahrtschiff. Niemand winkt. Ich nippe an der Fanta.
Das Haus gehört mir. Die Schröers bezahlen eine überschaubare Miete, die ich längst hätte erhöhen sollen. Aber was soll ich mit dem Geld? Ich habe alles, was ich brauche. Essen und ein Dach über dem Kopf. Das Risiko, dass die Schröers ausziehen würden, weil sie eine höhere Miete nicht bezahlen könnten, ist zu groß. Sie halten die Ruhezeiten ein, pflegen den Garten, waren noch nie im Verzug. Manchmal, wenn die Fenster geschlossen sind, vergesse ich, dass sie unter mir wohnen. Früher, als Heinz und Nico noch da waren, bewohnten wir das ganze Haus. Jetzt, allein, reichen mir die Zimmer im Dachgeschoss. Seit meine Hüfte Ärger macht, wünschte ich, die Erdgeschosswohnung genommen zu haben. Zu spät.
Ein Auto treibt vorbei. Bloß das Dach ragt aus den Fluten. Roter Lack. Der Fiesta von Birgit aus dem Kirchenweg. Schade, das wird sie ärgern. Ich bete, dass sie gut versichert ist. Der Fiesta verschwindet in der Nacht. Ich stehe auf, gehe in die Küche, nehme einen großen Topf aus dem Schrank. Seit Jahren habe ich ihn nicht mehr benutzt. Wofür auch. Ich stelle ihn auf den Küchentisch, werfe altes Zeitungspapier hinein, das ich locker zerknülle, marschiere zurück ins Wohnzimmer. Der Regen hat sich bis zum Teppich vorgekämpft. Morgen muss ich gut lüften. Ich stelle den Topf voller Papier auf den Sessel, nehme das Feuerzeug aus meiner Schürzentasche, halte es an ein Papierende. Der Rest des Politikteils. Gut, dass ich nicht Nein gesagt habe, als der Bürgermeister mir letzten Sommer vor dem Rathaus das rote CDU-Feuerzeug überreicht hat. »Oberstolz auf Unterlingen« steht auf der Rückseite. Die Kinder bekamen Luftballons statt Feuerzeuge. Ein unangenehmes Lächeln bekamen alle.
Das Feuer füllt schnell den Topf. Ich beeile mich, hieve ihn über die Fensterbank, lasse ihn ins Wasser fallen. Die Flammen überleben den Fall. Der Wasserspiegel tobt kaum einen Meter unter meinem Fenster. Die Geschwindigkeit, mit der mein Leuchttopf davongetrieben wird, überrascht mich. Es dauert nur Sekunden, ehe das Feuer den Lichtkegel der Taschenlampe verlässt. Es rast davon, wird zu einem winzigen Punkt, ehe es ganz verschwindet. Hinter dem Haus der Kruses, schätze ich. Bettina, Benedikt und ihre zwei Töchter. Sie sind am Nachmittag gefahren. »Oberstolz auf Unterlingen« liegt hinter ihnen.
Zwei tote Schweine treiben vorbei, eines bleibt am Straßenschild hängen, löst sich, taucht unter. Beckers haben über fünfhundert. Mehr Industrie als Hof. Eine Schande, dass die Tiere jämmerlich ersaufen müssen. Aber gut, Schweine können keine Koffer packen und im Vectra davonfahren. Beckers haben lieber sich selbst als die Tiere gerettet. Ich frage mich, wie es Rüthers Pferden geht. Sicher hat Andre sie in Sicherheit bringen können. Weggekarrt mit großen Hängern. Die Pferde sind alles, was er noch hat. Hanna ist nicht mehr dieselbe seit damals.
Die Schweinekadaver treiben weiter, wahrscheinlich auch zum Haus der Kruses, denke ich.
Ich werde mich querstellen, sollten sie das Haus abreißen wollen. Einfach aussitzen. Wie die Klimagegner in den Naturschutzgebieten, die von der Polizei mit Seilen aus den Bäumen geholt werden, ehe Bagger tiefe Wunden in die Erde reißen. Ich kann auch in einer Ruine leben. Solange die wichtigsten Wände stehen bleiben.
Wieder treibt etwas vorbei. Müll und Unrat. Was ist das? Ungewöhnlich hell und klein. Ragt kaum aus dem Wasser. Feingliedrig und dünn. Ich stutze. Sind das … Finger? Ich stehe auf, das Glas kippt um. Jesus Maria, das sind Hände! Fahle Haut im Taschenlampenlicht. Direkt dahinter noch zwei! Ich packe die Taschenlampe, lenke den Schein übers Wasser. Vier Hände hinter zwei Rücken. Zwei Körper. Der vordere ist blau gekleidet, könnte ein Hemd sein, denke ich, der andere Rücken ist weiß. Vollgesogen, aufgerissen, schmutzig. Unter dem Stoff erkenne ich BH-Träger. Die Arme wirken unnatürlich verrenkt, die Hände liegen eng zusammen wie im Gebet. Schwarze Streifen schneiden in die Haut. Ich kneife die Augen zusammen, stütze mich auf die nasse Fensterbank. Kabelbinder! Jetzt erkenne ich es. Dünne schwarze Linien an den Handgelenken. Sie wurden gefesselt! Beide! Ich bekreuzige mich. Der weiß gekleidete Körper prallt gegen das Straßenschild, dreht sich. Das erstarrte Gesicht einer Frau. Blonde Strähnen. Die Augen weit aufgerissen. Aus dem Mund fließt braunes Wasser. Ich schüttle den Kopf. Der zweite Körper prallt auf die Frau, drückt sie zur Seite, beide drehen sich. Ein Mann. Glatze. Tote Augen. Ich mache einen Schritt zurück, stolpere fast. Das Telefon. Ich wanke zum Sekretär, wähle den Notruf. Rauschen. Immer wieder drücke ich auf die Tasten. Nichts. Schließe die Augen. Der Strom war als Erstes ausgefallen.
Mit dem nutzlosen Telefon gehe ich zurück zum Fenster. Langsam, die Beine zittern. Die braunen Fluten rauschen lauter. Oder das Blut in meinem Kopf. Ein Ast treibt vorbei. Die Körper sind fort. Bei den Kruses, denke ich. So wie die Schweine.
Ich denke, ein Brauereipferd legt sich zu mir, als Heinz ins Bett fällt. Er merkt nicht mal, dass ich aufwache. Das Schlafzimmer stinkt nach Bier und Rauch.
Nico!
Ich schaue auf den Wecker neben dem Bett. Himmel Herrgott. Zwei Stunden über der vereinbarten Zeit! Ich muss beim Lesen eingeschlafen sein. Heinz schnarcht bereits. Ich streife die alten Hausschuhe über, schlurfe ans Fenster. Niemand auf der Straße, alles dunkel.
Wenn sie Babys sind, ist alles einfacher. Klar, der Schlafmangel. Die Windeln. Trotzphasen. Überall Fettfinger an den Scheiben. Dafür wusste ich immer, wo Nico war. Wenn nicht im selben Raum, dann zumindest im selben Haus. Zusammen mit mir im Garten oder im Supermarkt. In den Kindergarten habe ich ihn erst mit fünf Jahren gegeben. Ich war schließlich zuhause. Und bin es noch immer.
Heinz ist viel unterwegs, Montage. Mal hier, mal dort. Oft ist er nur am Wochenende da. Und selbst dann nicht so wirklich. Heute Abend war er Kartenspielen. Bei Beckers Reinhard, dessen Hobby es ist, Frauen mit dem Daumen über den Rücken zu streichen, um herauszufinden, ob sie einen Büstenhalter tragen.
Ich hasse Beckers Reinhard.
Im Flur liegen Heinz’ Schuhe. Ich kicke sie zur Seite, gehe rüber in Nicos Zimmer. Das Bett ist leer. Die glattgesichtigen Bengel von Depeche Mode in ihren glänzenden Lederjacken starren mich vom Poster neben dem Fenster an. Auf dem Schreibtisch liegt eine »Bravo« mit Nena und Duran Duran auf dem Titel. Nenas Ohrringe gefallen mir. Groß und rund. Ich drehe mich um, rufe die Treppe runter: »Nico? Nico bist du zuhause?«
Keine Antwort. Im Schlafzimmer ziehe ich Pullover und Jeans über. Heinz schnarcht. Nachts wird es noch immer kühl, obwohl die Margeriten längst blühen. Unten im Wohnzimmer ist niemand. Ich hatte leise gehofft, Nico schlafend auf dem Sofa vorzufinden. Dumm von mir. Er trinkt nicht, selbst wenn alle anderen sich volllaufen lassen. Auch deswegen geht er nur selten raus. Nüchtern sind Landjugendfeste kaum zu ertragen. Das weiß ich ebenso gut wie er. Aber er braucht Anschluss. Freunde. Eine Freundin. Ich werde nicht müde, ihn daran zu erinnern. Menschen, die nicht rausgehen, werden seltsam. So wie Meyers Stefan. Hat den Moment verpasst, eine abzubekommen. Jetzt ist er fast vierzig und redet mit den Enten am Weiher.
Ich öffne die Haustür. Frische Sommerluft. Als Kind haben wir manchmal unter freiem Himmel geschlafen. In den Ferien, auf Luftmatratzen, die nach Seewasser rochen. Heute würden die Nachbarn reden. Mein Fahrrad steht am Zaun, ich steige auf. Das Landjugendfest findet auf der anderen Seite von Unterlingen statt. Westlich vom Gartenmarkt. Ich nehme den Weg, den Nico zu Fuß einschlagen würde. Unterlingen hat nur ein Taxi-Unternehmen. Teils muss man Stunden warten, sich dann noch einen Wagen mit anderen teilen. Das macht selbst den längsten Fußweg attraktiv.
Weder in den Fenstern noch auf den Straßen sehe ich Lichter. Unterlingen schläft. Heinz schnarcht irgendwo hinter mir. Ich hoffe, dass er mit Kopfschmerzen aufwacht. Auf der Wiese am Plattweg steht ein Reh und starrt mich an. Ich fahre weiter, schaue nach links und rechts, ob ich ihn sehe. Es ist zu warm, um zu erfrieren. Gott sei Dank. Wahrscheinlich ist er noch auf dem Fest und hat die Zeit vergessen. Ich hoffe es. Wer die Zeit vergisst, hat gute Gesellschaft. Der Supermarktparkplatz ist verlassen, nicht ein einziges Auto. Mir fällt ein, dass die Milch leer ist und ich notiere zwei Liter Vollmilch auf meinem inneren Einkaufszettel. Schwarzer Kaffee schmeckt mir nicht.
Ich passiere die Kirche. Als Kommunionhelferin unterstütze ich Pastor Ayolo oft bei der Eucharistiefeier. Der Dienst macht mir keine Freude, aber es hilft der Gemeinde. Ich bin die einzige Frau, die bei der heiligen Kommunion eingesetzt wird. Ich mag die hölzernen Gesichter der Alten, wenn sie die Hostie aus meinen Händen empfangen. Der Leib Christi.
Die Neubausiedlung am Esch liegt hinter mir. Ich radle weiter. Ein Auto kommt mir entgegen, viel zu schnell. Der Fahrer blendet nicht ab. Wahrscheinlich hat er mich nicht bemerkt, oder es ist ihm egal. Ich presse die Lippen aufeinander, um die Worte zu ersticken.
Der Mais steht hüfthoch, bis zum Festplatz ist es nicht weit. Kaum zwei Kilometer. Nach der scharfen Kurve bei Brockmöllers Hof erspähe ich etwas im Graben neben der Straße. Zwei helle Punkte. Ich radle schneller. Weiße Turnschuhsohlen. Mein Herz schlägt gegen den Pullover. Bitte nicht. Ich bremse, steige ab. Werfe das Rad auf den Grünstreifen. Renne, stolpere, stehe auf. Seine Hose. Ich habe sie heute Mittag selbst gebügelt. Beige. Damit er etwas hermacht. Bitte nicht! Die Beine sind oben, der Kopf unten. Die Sohlen seiner Schuhe zeigen zum Nachthimmel. Heinz hat sie ihm geschenkt. Ich rutsche den Graben runter, lande mit Hausschuhen im Brackwasser. Ich merke es kaum, bücke mich, zerre am Körper. »Nico! Nico!«
Ich schnaufe, packe seine Arme. Der Kopf ist unter Wasser. Ich nehme all meine Kraft zusammen, schaffe es, ihn hochzuziehen. Der Mund steht offen, braunes Wasser rinnt heraus. Die leeren Augen starren mich an. »Nico!« Meine Unterlippe bebt. Ich schiebe mich unter ihn. Lege seinen Kopf, seinen wunderschönen, kleinen Kopf, auf meine Oberschenkel. Streiche über seine Wangen, seine blonden Haare. Dann, eine Ohrfeige. »Nico. Wach auf!« Noch eine. »Nico!« Noch eine. »Nico!« Meine Hände zittern. Ich höre nur meinen eigenen Atem. Allein. Ich schiebe meine Hände unter seine Arme, drücke mich hoch. Wir fallen. Ich schmecke Erde. Meine Hausschuhe sind weg. Im Wasser. Egal. Ich weine, glaube ich. »Nico«, sage oder denke ich. Immer wieder. Glaube ich. Die Sterne sind fort. Feuchtes Gras auf meinen Armen. Ich kämpfe. Falle, stehe auf. Irgendwann sind wir oben. Ich drehe Nico auf den Rücken. Lege mein Ohr dicht an seinen Mund, die Nase. Nichts. Ich suche seinen Puls am Hals, am Handgelenk, auf der Brust. Nichts. Ich schaue mich um. Niemand. Dunkelheit. Ich war über meinem Buch eingeschlafen. Heinz schnarcht. Meine Hände halten Nicos Kopf. Er ist noch warm. Kaum spürbar. Blut. Fast unsichtbar im Schwarz der Nacht. Die Hände glänzen feucht. Ich rieche Eisen. Dann, ein Stern. Auf der Straße. Zwei. Scheinwerfer. Ich stelle die Füße auf, zwinge mich auf die Beine. Das Auto nähert sich. Ich wanke zur Straße, rudere mit den Armen. Es ist egal, ob es mich erfasst, solang es hält. Ich brülle. Vielleicht »Hilfe!«, vielleicht »Nico!«. Die Lichter werden langsamer, dann stehen sie. Ich sacke auf die Knie, presse die Finger auf den Asphalt. Wage es nicht, zu dem Körper zu sehen, der mein war. Ich war eingeschlafen. Nenas Ohrringe. Depeche Mode. Ich weine auf die Straße.
Nico.
Ich weiß, dass Heinz voll ist. Er versucht es zu verstecken wie ein Kind ein heimlich stibitztes Bonbon. Sein linkes Auge zwinkert später als das rechte, beide sehen mich nicht an. Er fokussiert die Erbsen, als redeten sie mit ihm. Jämmerlich sieht er aus. Hat wieder abgenommen. Mittlerweile kontrolliere ich jeden Sonntagmorgen sein Gewicht. Vor dem Hochamt. Ich kann die Blicke sehen, wenn wir durch den Mittelgang zu unseren Plätzen schreiten. Ich gehe voran, damit ich seinen Anblick nicht ertragen muss. Sieht man sofort, dass er säuft. Ich möchte mich in der Kirche nicht schämen. Nicht vor den Nachbarn. Nicht für meine Familie.
»Du hast dein Essen noch nicht angerührt«, sage ich.
»Hab keinen Hunger.« Heinz sieht nicht hoch.
»Hast du auf der Arbeit gegessen?«
Er schüttelt den Kopf, dann nickt er. Betrunkenes Lügen ist niedlich. Wie ein dreibeiniger Hund. Irgendwie süß, vor allem aber traurig.
Es gibt Kartoffelpüree mit Erbsen und Nackensteak. Nichts Aufregendes, schließlich ist Dienstag, doch immerhin ist das Püree selbst gemacht. Kartoffeln schmecken anders, wenn man sie eigenhändig verarbeitet. Mit guter Butter. Das Zeug aus der Tüte schmeckt mir nicht. Essen für faule Menschen, die keine Kontrolle über ihr Leben haben. Ein gottloses Produkt.
»Soll ich dir etwas anderes machen? Brot?«
»Ich bin satt.«
»Du hast abgenommen.«
»Mir gehts gut.«
»Hast du getrunken?«
Er nimmt das Wasserglas, nippt daran. »Jetzt schon.«
Ich schließe meine Hände fester um Messer und Gabel. In den Nachrichten haben sie von einem schrecklichen ICE-Unglück berichtet. Eschede heißt der Ort. Über hundert Menschen sind gestorben. Ich habe Susan Stahnke, der hübschen Nachrichtensprecherin mit den goldenen Haaren, zugehört und gedacht, siehste, auch anderen geht es schlecht. Dann bin ich in den Flur gegangen, um eine Kerze für die Verstorbenen anzuzünden, weil ich etwas derart Schlechtes gedacht habe. Im nächsten Hochamt, nehme ich mir vor, spende ich besonders viel für Tansania.
Mein Teller ist leer. Ich stehe auf, um abzuräumen. Heinz bleibt sitzen und starrt auf seine Erbsen. Vielleicht reden sie wirklich mit ihm. Im Haushalt geholfen hat er nie, mittlerweile verhält er sich wie ein Geist. Vieles an ihm, an uns, ist in den letzten Jahren gestorben. Ich räume meinen Teller und das Besteck in die Spülmaschine. Pfanne und Töpfe habe ich von Hand gespült. Das schont die Beschichtung. Zurück im Esszimmer frage ich mich, ob die Zeit eingefroren ist. Weder Heinz noch die Erbsen haben sich bewegt. Ich gehe um den Tisch, lege meine Hand auf seine Schulter. Er zuckt zusammen.
»Du musst etwas essen.«
»Hab keinen Hunger.«
»Du hast den ganzen Tag gearbeitet.«
»Ich brauch nichts.«
Ich weiß nicht, ob er das Essen meint. »Das Püree ist selbst gemacht.«
»Danke.«
»Bedank dich, wenn du’s probiert hast.«
»Ich setz mich vor den Fernseher.« Heinz schiebt die Hände langsam auf den Tisch, stemmt sich hoch. Ich drücke ihn zurück auf den Stuhl. »Iss.«
»Ich mag nicht.«
»Iss.«
Er schüttelt den Kopf. Ich nehme seine Gabel, fahre durchs Püree, halte es vor seinen Mund. »Iss.«
Er presst die Lippen zusammen.
»Wie alt bist du? Zwölf?« Meine Finger bohren sich in seine Schulter. »Iss!«
»Du kannst mich nicht zwingen.«
»Ich will, dass es dir gut geht.«
Er lacht. Ich presse die Gabel zwischen seine Lippen. Er windet sich, prustet, schlägt die Gabel aus meiner Hand. Püree fliegt auf den Boden, die Gabel schlittert über den Tisch. Er steht auf, sieht mich nicht an, verschwindet durch die Tür. Aus dem Wohnzimmer höre ich den Fernseher. Ein Mann brüllt, Autolärm, Musik, Schüsse. Einer dieser schrecklichen Filme. Ich folge Heinz nicht. Seinen Teller lasse ich stehen, vielleicht hat er später noch Appetit. Das Püree ist selbst gemacht. Ich gehe in den Flur, stelle mich ganz dicht an die Wand und schließe die Augen.
Den Menschen in Eschede geht es schlechter als uns.
Meine Zunge fühlt sich fremd an, zu dick. Ich möchte ausspucken, doch meine Kehle ist trocken. Irgendwann muss ich eingeschlafen sein. In der Nacht gab es nur noch mich und das Wasser, das unaufhörliche Tosen. Die Gefesselten sind den Schweinen gefolgt. Meine Gedanken auch.
Ich stehe auf, sehe mich um. Das Bett steht im Wohnzimmer. Ich habe es an die rückliegende Wand geschoben, vor vielen Jahren schon. Was mir zunächst seltsam vorkam, wurde schon in der ersten Nacht mit einem ruhigen Schlaf belohnt.
Ich halte inne, spreche ein Morgengebet.
»Die Nacht ist vergangen, ein neuer Tag ist herbeigekommen. Lasst uns wachen und ablegen, was uns träge macht. Dass wir leben in deinem Licht und dich preisen, unsern Gott. Vom ersten Morgenlob an, bis zur Ruhe der Nacht. Amen.«
Braunes Wasser in einem offenen Mund. Mir wird schwindelig, ich muss mich aufs Bett setzen. Meine Füße kribbeln. Ich strecke die Hand nach hinten aus, streiche über die kalte Wand. Die Raufaser hat Heinz selbst geklebt, besser als jeder Malermeister. Handwerklich begabt war er. Nicos Tapete war unter all den Postern kaum noch zu sehen. Ich zerre meine Gedanken zurück ins Heute.
Ich vermisse ihn.
Draußen zwitschern Vögel. Ich stehe auf, gehe zum Fenster. Unsicher. Insgeheim befürchte ich, dass zwei gefesselte Leichen im Vorgarten liegen – angeschwemmt wie verirrte Wale an einem breiten Sandstrand. Doch draußen ist nichts. Keine Leichen, keine Strömung. Die Wiese auf der anderen Straßenseite ist von breiten Pfützen überzogen. Die Straße ist aufgeplatzt wie eine Wunde. Es stinkt. Ich schaue nach unten. In unserem Vorgarten ist ein Transporter von KFZ Frering gestrandet. Er liegt auf dem Dach wie ein totes Insekt, die Reifen zum Himmel gereckt. Die Hecktüren stehen offen. Felgen und Werkzeuge liegen auf dem Rasen verstreut, zwischen Müll und Ästen auf dem schlammigen Rasen. Wahrscheinlich wurde der Wagen von Frerings Hof mitgerissen, geparkt, ohne Menschen. Hoffe ich zumindest – nette Leute, die Frerings. Früher, als wir noch ein Auto besaßen, war der alte Frering immer fair. Oft gab er uns Rabatt beim Reifenwechsel.
Überall stapelt sich Abfall und Sperrmüll. Auf dem Bürgersteig steht eine Kommode. Eine Schublade fehlt. Gegenüber liegt ein Bauzaun, in dessen Gitter die Fahne des Supermarkts hängt. In Berlin wäre das eine moderne Ausstellung, denke ich. In Unterlingen ist es Schrott. Mehrere Häuser in meiner Straße stehen nicht mehr, oder nur noch teilweise. Bei Ottes fehlt der Carport. Bei Birols hängt das Dach durch wie ein nasses Tuch. Schade. Viele Jahre habe ich dort geputzt, immer dienstags, nun sind die Dachfenster geborsten, viele Ziegel verschwunden. Bei Stegemanns und Haakes stehen nur noch die Grundmauern. Der Rest ist weg. Über allem, Häusern, Wegen, Straßen, Gärten, liegt der braune Dreckston der verschwundenen Fluten wie der Sepia-Ton der 8-mm-Filme meiner Jugend. Ich drehe mich um, gehe zum Bad.
Noch in der Tür wende ich mich ab. Himmelherrgott! Das Abwasser ist hochgekommen. Durch die Toilette und das Waschbecken, in dem die stinkende Brühe noch immer steht. Irgendwann in der Nacht muss es hochgeschossen sein. Ich habe es nicht mitbekommen. Zu viel Lärm. Ich halte die Luft an. Es stinkt bestialisch. An den Wänden und auf dem Boden kleben Fäkalien. Ich schließe die Tür. Ein anderes Bad habe ich nicht. Ich könnte in das der Schröers im Erdgeschoss gehen, der Schlüssel hängt am Schlüsselbrett. Doch ich kann mir vorstellen, wie es erst da unten aussehen muss. Die Nacht hat die Zivilisation gekostet. Kein Strom, kein Wasser, kein Abort. Ich gehe in die Abstellkammer, nehme die gewaschenen Trockentücher aus dem Putzeimer. Mit beiden Händen an der Wand abgestützt, gehe ich in die Hocke und pinkle in den Eimer. Immerhin ist er sauber. Ich presse die Lippen zusammen. Was für ein Bild ich abgebe. Eine einundachtzigjährige Frau, die in einen Putzeimer pinkelt. Besser als sich einzunässen, denke ich. Würdevoll altern war der Plan, Urin im Putzeimer die Realität. Ich ziehe die Hose hoch, bekreuzige mich. Warum, weiß ich nicht. Von draußen höre ich Stimmen.
Ich eile ins Wohnzimmer, direkt zum Fenster. Ein junger Mann in blauer Uniform nähert sich über die Straße, etwas weiter hinter ihm geht ein weiterer. Technisches Hilfswerk, THW.
»Hallo, Sie da!« Ich winke, er hebt den Kopf. Sichtlich überrascht, mich zu sehen. Irgendjemanden zu sehen.
»Was … machen Sie hier?«
»Ich wohne hier.«
»Ich dachte, alle wären evakuiert.«
»Ich habe zwei Tote gesehen!«
Er verlagert sein Gewicht. »Wo?«
Ich zeige zu den Kruses. »Sind in der Nacht hier vorbeigetrieben. Die Straße entlang zu den Kruses. Es war Mord!«
»Es war … was?«
»Mord!«
Sein Blick verändert sich. Die zusammengezogenen Augenbrauen, ich erkenne es sofort. Er glaubt mir nicht. »Gestern war viel los«, sagt er, als berichte er von irgendeiner Party. »Das Hochwasser kam sehr schnell und …«
»Ich rede nicht vom Hochwasser! Hören Sie zu. Es war Mord! Ihre Hände waren gefesselt!«
»Das haben Sie gesehen? Mitten in der Nacht? Im dreckigen Wasser? In all dem Chaos?«
Ich nehme die Taschenlampe vom Fensterbrett, schwinge sie wie eine Drohung. »Ich hab’s genau gesehen.«
»Gehts Ihnen gut?«
Sein Blick gefällt mir nicht. Ich denke an den Putzeimer. »Sie glauben mir nicht?«
»Katastrophennächte sind schwer zu verarbeiten.« Er zeigt um sich. »Hier liegen überall tote Tiere. Vielleicht war es ein Schwein, das sich in einem Strick verfangen hat.«
»Wollen Sie mir unterstellen, dass ich einen Menschen nicht von einem Schwein unterscheiden kann?«
»Alles, was ich sage, ist …« Er sieht hilfesuchend zu seinem Kollegen.
»Sie müssen da rauskommen«, ruft der.
»Sie müssen mir zuhören!«
»Ihr Haus könnte einstürzen. Gut möglich, dass das Wasser alles unterschwemmt hat. Die Statik …«
»Finden Sie die Leichen!«
Der zweite THWler sieht zum ersten. »Wovon redet die?«
»Von Mord!«, rufe ich dazwischen.
»Sie glaubt, dass in der Nacht zwei gefesselte Menschen im Wasser vorbeigetrieben sind.«
»Ich glaub es nicht, ich weiß es, Herrgott!« Ich widerstehe dem Drang, mich zu bekreuzigen.
»Geht es Ihnen gut?«, fragt der Zweite.
»Das hat Ihr Freund schon gefragt.«
Motorengeräusche nähern sich. Langsam rollt ein blauer THW-Gerätewagen über die aufgerissene Straße. Die beiden Männer drehen sich um, dann sehen sie zu mir.
»Hören Sie, wir bringen Sie in Sicherheit und dann überprüfen wir die Gegend. Okay?«
»Ich bin in Sicherheit.«
»Ihr Haus könnte einstürzen.«
Der Mann, der später dazugekommen ist, sagt etwas zu dem Jüngeren, dann geht er zum Wagen, öffnet die Tür.
»Wie heißen Sie?«, fragt der Jüngere.
»Wie heißen Sie?«, erwidere ich. Ein Blick aufs Klingelschild würde ihm die Antwort geben, leichter muss ich es ihm nicht machen.
»Mesut Geykin. Ich bin ehrenamtlich beim Technischen Hilfswerk.«
»Das ehrt Sie, Mesut. Und jetzt finden Sie die Leichen.«
»Ich komm zu Ihnen nach oben und bringe Sie zu unserem Wagen. Wir können Sie nicht hierlassen.«
»Versuchen Sie’s. Meine Tür bleibt verschlossen.«
»Die Polizei kann Sie zwangsevakuieren. Und ich weiß nicht, ob die so nett sind wie ich.«
»Soll die Polizei doch kommen, dann kann sie gleich nach den Leichen suchen.«
Seufzend dreht Mesut sich zum Gerätewagen. Es tut mir leid, ihn so zu behandeln. Ihn trifft keine Schuld. Ich würde eine Kerze für ihn anzünden, wenn ich nicht sparsam mit ihnen umgehen müsste.
Er nickt. »Okay. Ich kann Sie nicht zwingen, aber ich werde der Polizei Bescheid geben, dass Sie hier sind. Wir müssen weiter, uns ein Bild der Lage machen.«
»Sie wissen, wonach Sie suchen müssen, Mesut!«
»Ich hoffe, Sie werden nicht unter den Trümmern Ihres Hauses begraben.«
»Finden Sie die Leichen!« Ich wende mich vom Fenster ab. Nach kurzer Zeit höre ich Wagentüren, Reifen auf schlammigem Grund. Ich schließe die Augen.
»Halte zu mir, guter Gott, heut den ganzen Tag. Halt die Hände über mich, was auch kommen mag.«
Ich gehe in die Küche, nehme Butter und Marmelade aus dem warmen Kühlschrank und schmiere mir ein Brot.
Der Polizist sitzt in dem Sessel, den wir selbst nie benutzen, damit er für Gäste wie neu wirkt. Er wagt kaum, mir in die Augen zu sehen. Heinz und ich nehmen auf dem Sofa Platz. Ich weiß nicht, wie ich sitzen soll. Alles fühlt sich falsch an. Also hocke ich starr am vorderen Rand, jederzeit bereit aufzuspringen, sollte Nico zurückkommen. Heinz hat den Kopf im Nacken, starrt an die Decke. Er knetet seine Hände, der Rest seines Körpers ist auf dem Sofa erschlafft wie ein altes Schlauchboot. Ich weiß, dass er noch immer betrunken ist. Vor kaum drei Stunden ist er vom Kartenspielen zurückgekehrt und sternhagelvoll ins Bett gefallen. Er hat nicht mitbekommen, wie ich aufgestanden bin, um Nico zu suchen. Wohl aber, wie ich mit der Polizei zurückgekommen bin. Heinz versucht, seinen Rausch vor dem Polizisten zu verbergen, doch der bittere Geruch, den jede Pore seines Körpers ausschwitzt, verrät das Bier in seinen Adern deutlicher als ein leuchtendes Schild. Ich blicke zum Fenster. Es ist noch immer dunkel. Ich glaube nicht, dass die Sonne jemals wieder aufgehen wird.
»Trinkt Ihr Sohn, Frau Krol?«
Die Frage macht mich wütend. Worauf will er hinaus? Dass Nico selbst schuld ist, weil er volltrunken zu Fuß nach Hause wollte? »Nein. Selten.«
»Was von beidem?«
»Selten«, knurre ich.
»Wollte er heute trinken?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Wie war Ihr Verhältnis zu Ihrem Sohn?«
War. Nico ist Vergangenheit. Meine Augen füllen sich mit Tränen. Ich schaffe es nicht zu antworten.
»Warum machen Sie das?«, fragt Heinz. »Wir trauern, sehen Sie das nicht?«
»Wir müssen die Umstände untersuchen, Herr Krol. Bei einem solchen Vorfall muss geklärt werden, ob es Eigen- oder Fremdverschulden war.«
Nico ist nicht nur Vergangenheit, er ist ein Vorfall. Ich spreche ein stilles Gebet, um dem Polizisten nicht an den Hals zu springen. Er hat sich vorgestellt, Kommissar Soundso. Ich konnte seinen Namen nicht aufnehmen, mein Kopf war zu voll. Er war es, der mich von der Unfallstelle nach Hause gefahren hat. Hinten auf der Rückbank, wie eine Verbrecherin. Während Nico im Leichenwagen abtransportiert wurde. Wohin, weiß ich nicht. Zum ersten Mal in meinem Leben weiß ich nicht, wo mein Sohn hinfährt. Mir wird schlecht.
»In diesem Kaff gibt’s zu wenig Taxis und zu viele Menschen, die besoffen Autofahren. Das ist passiert«, raunt Heinz. Er reibt sich die Augen.
»Jemand einen Kaffee?« Ich springe auf, Heinz zieht mich zurück aufs Sofa.
»Wollen Sie andeuten, dass es Fahrerflucht war?«, fragt Kommissar Soundso.
»Was denn sonst!«, brüllt Heinz, ich lege meine Hand auf sein Bein, er schlägt die Hände vors Gesicht.
»Wir werden den Unfallort und die Leiche Ihres Sohnes genau untersuchen, um das herauszufinden.«
Die Leiche Ihres Sohnes. Beim Abendessen gab es die noch nicht. Ich nehme meine Hand von Heinz’ Bein, ohne zu wissen, was ich sonst damit machen soll. Ich schiebe sie unter meinen Oberschenkel.
»Geht Nico oft zu Fuß nach Hause?«
»Er geht nicht oft raus.« Meine Stimme klingt dünn wie Papier.
»Warum nicht?«
»Er ist lieber hier. Liest, hört Musik.«
Kommissar Soundso notiert etwas auf seinem Block.
»Ist er zusammen mit Freunden zum Fest gegangen?«
»Ein paar Jungs aus seiner Klasse haben sich vorher getroffen, um etwas zu essen und zu trinken. Ich weiß nicht, wie sie von dort zum Landjugendfest gekommen sind.«
»Wo haben die Jungs sich getroffen? Und wer war dabei?«
»Ich kenne nicht alle, die dort waren. Einige sind in seiner Klasse. Sie haben sich bei Rüthers in der Scheune getroffen. Tim Rüther ist so alt wie Nico.«
Der Kommissar nickt, schreibt, schaut nicht hoch. »Rüther? Der Reiterhof?«
»Können Sie bitte gehen?« Heinz rutscht auf dem Sofa hin und her.
»Wir sind sofort fertig, Herr Krol. Mir ist klar, wie schrecklich dieser Moment für Sie sein muss.«