Das Haus in Limone - Akos Doma - E-Book
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Das Haus in Limone E-Book

Akos Doma

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Beschreibung

Gabriel Berger fährt für ein Wochenende nach Italien, um sein Ferienhaus am Gardasee zu verkaufen, das er seit anderthalb Jahren nicht mehr betreten hat. Er ist Anfang fünfzig und will Abschied nehmen, wie er sagt, begegnet dabei aber der Studentin Nella, die ihn an seine einstige Liebe Ana erinnert. Die beiden verbringen den Tag gemeinsam am See, und Gabriel sieht sich in seine Vergangenheit zurückversetzt, während Nella sich von dem aus der Zeit gefallenen Mann angezogen fühlt. Am nächsten Morgen entdeckt er nach dem Erwachen eine unbekannte Frau in seinem Hotelzimmer. Sie ist aufgewühlt und in Sorge, weil ihr Mann seit Tagen verschwunden ist. Fasziniert von der rätselhaften Frau begibt sich Gabriel mit ihr auf die Suche. Die Spur führt zu einem schrecklichen Ereignis, das sich anderthalb Jahre zuvor ereignet hat – und zu Gabriels Haus am See. Das Haus in Limone ist ein literarisches Vexierspiel um Mann und Frau, in dem nichts ist, wie es zu sein scheint, eine labyrinthische Reise ins Herz eines Mannes – und ein Abgesang auf das Erbe von '68. 

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DAS HAUS IN LIMONE

© 2024 Jung und Jung, Salzburg

Alle Rechte, einschließlich der Vervielfältigung, Veröffentlichung,Bearbeitung und Übersetzung, bleiben vorbehalten

Umschlagbild: Sevilla 2014 © Gloria Rodríguez

Umschlaggestaltung: BoutiqueBrutal.com

ISBN 978-3-99027-300-5

AKOS DOMA

Das Haus in Limone

Roman

Inhalt

Sonntag Morgen

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Samstag Morgen

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Sonntag Nachmittag

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Samstag Nachmittag

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Sonntag Nachmittag

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Samstag Abend

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Sonntag Abend

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Sonntag Nacht

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Montag

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Dienstag

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Das Negative zu tun, ist uns noch auferlegt, das Positive ist uns schon gegeben.

Franz Kafka

Mann und Frau … wie sollten sie einander auch je verstehen, wollen sie doch beide etwas anderes. Der Mann: die Frau, die Frau: den Mann.

Frigyes Karinthy

Der Mensch ist derart schlecht für das Leben ausgerüstet, dass man fast einen Übermenschen aus ihm machen würde, wenn man in ihm einen Schuldigen – statt ein Opfer – sähe.

Georges Simenon

Weil er nicht lieben kann.

Federico Fellini, 8½

Am Morgen des 1. April 2018 fuhr Sebastian F., wie er später in den Zeitungen genannt wurde, mit der Seilbahn von Malcesine auf den Gipfel des Monte Baldo.

Der Himmel war klar, es versprach ein sommerlich warmer Ostersonntag zu werden. Am Kartenschalter wechselte Sebastian F. ein paar Worte mit der Kassiererin, sagte etwas über die hervorragende Thermik, sie wünschte ihm einen guten Flug, er wünschte ihr einen schönen Tag. Die Gondel zog an, Sebastian F. blieb am hinteren Fenster stehen und stellte seinen Rucksack ab. Er war in den Anblick des immer kleiner und doch immer größer werdenden Sees so versunken, dass ihn der Mann an der Zwischenstation mehrmals zum Aussteigen auffordern musste, bevor er auf ihn aufmerksam wurde.

Auch in der zweiten Gondel, die über den Steilhang des Monte Baldo nach oben schwebte, blieb er hinten stehen. Zwei Frauen erinnerten sich, dass er sehr ruhig, fast abwesend gewirkt habe. Oben angekommen habe er sich nicht wie die anderen Gleitschirmflieger am Hang neben der Bergstation zum Absprung bereit gemacht, sondern sei vor ihnen zum Aussichtspunkt Richtung Riva und Nordufer gewandert.

Andere Augenzeugen berichteten, sie hätten ihn am Rande der Abflugstelle lange reglos im Gras sitzen gesehen. Es muss gegen zehn Uhr gewesen sein, als er seinen Schirm am Boden auszubreiten begann. Im Minutentakt hoben die Piloten ab, der Himmel war voller bunt leuchtender Gleitschirme, die summend in weiten Schleifen über die Köpfe der Schaulustigen hinwegschossen oder am Hang entlang talwärts flogen.

Sebastian F. ordnete die Schnüre seines vom Wind geblähten, knapp über dem Boden flatternden Gleitschirms, lief mit kräftigen Schritten auf den Abgrund zu und stieß sich ab. Laut Zeugenaussagen war es ein ganz gewöhnlicher Abflug, merkwürdig daran war nur, dass sich der Pilot nicht erst durch den Auftrieb am Berg nach oben tragen ließ, sondern kerzengerade über den See hinausflog. Der feuerrote Schirm zog keine Kreise auf dem wolkenlosen Himmel, machte keine Schlenker, flog in leichtem Sinkflug, kleiner und kleiner werdend, auf das jenseitige Ufer zu.

Dann, als ihn längst alle aus den Augen verloren hatten, kam von irgendwo ein Schrei.

Spaziergänger blieben stehen, Finger deuteten in die Ferne, man konnte sehen, dass der rote Schirm um sein Gleichgewicht rang. Er klappte an den Enden ein, drehte sich ruckartig, spannte sich wieder auf, schien sich einen Moment zu erholen, doch schon im nächsten sackte er ein und begann, ein flatternder Fetzen, in freiem Fall in die Tiefe zu stürzen.

Als er in den See einschlug, war vom Berg aus nur eine winzige Trübung auf dem glänzenden Wasserspiegel zu erkennen. Obwohl die ersten Rettungsboote die Absturzstelle schon wenige Minuten später erreichten, konnte Sebastian F. nur noch tot aus dem Wasser geborgen werden.

Der Ablauf der Ereignisse wurde rekonstruiert, die Unglücksursache blieb ungeklärt. Den ganzen Sonntag hatten über dem See ideale Flugbedingungen geherrscht, atmosphärische Störungen wurden nicht registriert, die Untersuchung des Gleitschirms brachte keine Materialschäden zutage. Als Unfallursache wurde menschliches Versagen angenommen, irgendein schwerwiegender Flugfehler, der zu einem abrupten Strömungsabriss geführt und den Absturz eingeleitet haben muss.

Die Zeitungen vom Dienstag berichteten darüber im Zusammenhang mit zwei weiteren Gleitschirmunfällen, die sich an jenem Osterwochenende in Annecy sowie auf Lanzarote ereignet und insgesamt drei Menschenleben gefordert hatten.

Sonntag Morgen

1.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich begriff, dass ich nicht allein war. An dem kleinen Tisch am Fußende meines Bettes saß jemand.

Ich schloss die Augen, öffnete sie wieder.

Die Silhouette war noch da, eine Frau.

Ich war benommen, sonst wäre ich aufgeschreckt wie nach einem Albtraum. Als wäre ich nicht ganz bei mir, als träumte ich noch, obwohl ich wusste, dass ich wach war, dass ich mich in meinem Hotelzimmer in Malcesine befand, dass keine fünf Meter von mir entfernt eine fremde Frau saß und nur das fahle, körnige Licht des Morgens, das nicht mehr Nacht, aber auch noch keine Tageshelle war, alles unwirklich erscheinen ließ.

Ich stützte mich auf und holte Luft, mir war schwindelig.

»Verzeihung …«

Ich sprach sie, ohne zu überlegen, auf Deutsch an, in einem Hotelzimmer am Gardasee war das ziemlich naheliegend, aber sie schien mich nicht zu hören.

»Entschuldigen Sie«, sagte ich lauter, »ich glaube, Sie haben sich in der Tür geirrt.«

Sie rührte sich nicht, starrte nur aus dem Fenster, in den prasselnden Regen. Hatte sie die falsche Tür erwischt und wusste in ihrer Verwirrung nicht, wo sie sich befand? Aber warum saß sie dann so seelenruhig da?

Ich blickte auf meinen Wecker am Nachtkästchen. 5:50. SO 29. SEPT 2019. Die frühe Stunde hätte eine gewisse Müdigkeit, nicht jedoch meinen betäubten Zustand erklärt, die seltsame Mattheit in meinem Körper und meinem Kopf. Die Frau saß noch immer an dem Tisch, in aufrechter Haltung, wie Olimpia oder eine Wachsfigur. Mein Blick wanderte zu meiner Hand auf der Bettdecke, aber sie hatte gar nichts Insektenhaftes an sich. Ich wunderte mich nur, dass ich offenbar vollkommen angezogen ins Bett gegangen war.

»Kann ich Ihnen behilflich sein?«

Die Frau drehte mir das Gesicht zu, als würde sie mich soeben erst bemerken.

»Ich suche meinen Mann, er ist verschwunden.«

Sie sprach langsam und derart emotionslos, dass ich im ersten Moment nicht wusste, ob ich lachen oder in Bestürzung verfallen sollte, ob es ernst gemeint oder doch nur ein subtiler Scherz war. Ein paar Antworten lagen mir auf der Zunge, dass so etwas in den besten Familien vorkäme, ob wir darauf anstoßen wollten und wie sie mich denn finde, aber ich sagte nur: »Kein Wunder, Sie suchen ihn im falschen Zimmer.«

»Im falschen Zimmer?«

Sie warf einen Blick auf etwas in ihrer Hand.

»Zimmer 12. Wenn, dann sind Sie im falschen Zimmer!«

»Ich?«

Sie hielt ihren Schlüssel in die Höhe. Ich konnte die Zahl auf dem Anhänger nicht erkennen, aber die Frau klang kein bisschen betrunken, eher erschreckend nüchtern. War ich womöglich selbst betrunken? Meine Erinnerungen an den Abend zuvor waren wie ausgelöscht. Ich wusste nicht, wie ich nach Hause gekommen war oder mit wem, sofern ich überhaupt eine Begleitung gehabt hatte. Unter solchen Umständen könnte es meinerseits vielleicht doch zu einer Verwechslung gekommen sein.

Ein einziger Blick in den Raum beruhigte mich. An der Tür hing mein leichter Übergangsmantel, auf der Ablage neben dem Schrank stand mein brauner Lederkoffer, der Wecker am Nachtkästchen gehörte genauso mir wie das Buch daneben, das wie alle Bücher, die ich gerade las, zum Schutz in weißes Papier eingeschlagen war. Eigentlich hätte die Frau längst bemerkt haben müssen, dass sie sich in einem fremden Zimmer befand.

Vielleicht schlief ihr Mann friedlich in einem der Zimmer nebenan. Oder hatte sie ihn nur erfunden? Steckte etwas anderes dahinter? Hatte sie sich unbemerkt ins Hotel eingeschlichen? Suchte sie einen Unterschlupf, hatte sie kein Geld? Wie eine Bedürftige sah sie allerdings nicht aus, eher wie eine, die in einer Herberge dieser Preisklasse gar nicht erst absteigen würde. Oder gehörte sie zu den Frauen, die sich berufsmäßig auf die Zimmer allein reisender Männer verirrten? Wenn dem so war, hatte sie eine reichlich ungewöhnliche Art, an die Arbeit zu gehen.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, aber sie schien an einer Fortsetzung unseres Gesprächs ohnehin nicht interessiert zu sein. Sie hatte sich wieder dem Fenster zugewandt, als wäre das Thema für sie erledigt, als wartete sie nur noch, bis ich endlich verschwand.

Ich rutschte vom Bett, froh, angezogen zu sein.

»Seien Sie mir nicht böse, aber …«

»Das bin ich nicht!«

Die Wucht, mit der sie den Satz ausstieß, ließ mich verstummen.

»Wie heißen Sie?«, fragte sie, ohne mich anzusehen.

»Berger … Gabriel. Aber ich fürchte, das wird Ihnen auch nicht weiterhelfen.«

»Nein.«

Jetzt erst bemerkte ich die Flasche auf dem Tisch vor der Frau, und mit einem Mal begann sich das trübe Milchglas meiner Erinnerungen aufzuhellen. Ich hatte am Abend zuvor, bevor ich zu der Party in der Villa aufgebrochen war, ein paar Gläschen Wodka getrunken, hatte dort weiter getrunken und getanzt, zu viel getrunken und vielleicht auch zu viel getanzt, mir war schlecht geworden. Mir fiel auf einmal Nella ein, der Heimweg am nächtlichen Seeufer, die Lichtspiegelungen auf dem Wasser, die Heimfahrt im strömenden Regen, das Hotel …

Und dann?

Nichts. Dunkelheit. Und jetzt, an diesem Ende des Dunkels, in der Ecke meines Zimmers diese Frau. Wäre es Nella gewesen, hätte ich alles verstanden, aber sie war es nicht. Sie hätte Nellas Mutter sein können.

Ich bückte mich nach meinen Schuhen. Ich wollte wenigstens nicht so unhöflich sein, meinen ungebetenen Gast barfuß hinauszukomplimentieren.

Ein erster Dämmerschein erhellte den Boden, die Schuhe lagen am Fußende des Bettes, der eine hier, der andere dort. Ich kniete mich nieder, um nach ihnen zu greifen, da fiel mein Blick auf die übereinandergeschlagenen Beine der Frau unter dem Tisch. Er wanderte von den schwarzen Strümpfen über ihr kurzes schwarzes Kleid bis zu der grazilen Biegung ihres Nackens und ihren elegant hochgesteckten Haaren. Ihr Gesicht im Profil hatte etwas Feines, Filigranes. Hatte es an der Dunkelheit oder an meiner Blindheit gelegen, dass mir die Schönheit dieser Frau bis dahin nicht aufgefallen war?

»Und Sie?«

Ich verstummte. Mir war plötzlich, als sähe ich die feuchte Spur einer Träne auf ihrer Wange, und ich schluckte. Wenn mir etwas Angst einjagen konnte, so war es der Anblick einer weinenden Frau. Aber diese Frau hatte nichts Erschreckendes an sich, sie tat mir nur leid.

»Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann …«

Ich konnte, natürlich konnte ich.

Ich stemmte mich hoch, wartete ein paar Sekunden, bis mein Schwindelgefühl nachgelassen hatte, nahm ein frisches Glas vom Tisch und schenkte ihr aus der Flasche zwei fingerbreit Wodka ein.

»Trinken Sie das, es wird Ihnen guttun.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Möchten Sie lieber einen Kaffee? Ich bringe Ihnen einen Kaffee, ja?«

Sie schwieg.

Das war immerhin kein Nein.

»Bleiben Sie sitzen, ich bin gleich zurück.«

In der Tür blickte ich mich noch einmal um. Die Frau hatte den Kopf auf ihre gekreuzten Arme gelegt, und plötzlich hatte es den Anschein, als würde die ganze dunkle Masse des Monte Baldo, der das Fenster hinter ihr ausfüllte und verschattete, auf ihren Schultern lasten.

Ich zog die Tür zu, schloss sie nicht.

Die Tür trug die Nummer 12.

Was sonst.

Es war das Zimmer, das ich gestern, Samstag früh, bei meiner Ankunft in Malcesine bezogen hatte. Zimmer 12. Den Schlüssel hielt ich in meiner Hand. Woher sie ihren Schlüssel hatte, konnte ich mir beim besten Willen nicht erklären.

2.

Die Rezeption war nicht besetzt, auf dem Pult stand nur ein Namensschild, Angelo. Durch die gläserne Eingangstür sah ich die Straße, den kleinen Park gegenüber. Alles war nass, still und monoton fiel der Regen.

Das Geklapper von Besteck brachte mich zur Besinnung. Ich drehte mich um und folgte dem Geräusch. Im Frühstückszimmer brannten bereits die Lichter, am fernen Ende deckte ein älterer Kellner im schwarzen Anzug die Tische, Signor Angelo vermutlich. Er ging in leicht gebückter Haltung umher, blieb hier und da stehen. Seine kurzen, steifen Schritte erinnerten an eine Aufziehpuppe. Das ganze Bild hatte etwas Skurriles, als würde er einen Saal voll unsichtbarer Gäste bedienen.

Als ich eintrat, hob er den Kopf, strich eine Haarsträhne, die ihm in die Stirn gerutscht war, über seinen fast kahlen Schädel.

»Einen Kaffee, Signor Ohm?«, rief er mir entgegen.

»Grazie!«, erwiderte ich. »Sie sind ein Hellseher!«

»Es ist das Einzige, was ich Ihnen so früh anbieten kann«, sagte er mit einer Geste der Verlegenheit.

Er verschwand hinter den großen Kirschblüten eines japanisch anmutenden Wandschirms. Die Fenster waren geöffnet, ich atmete die frische Regenluft. Ich war froh, dass ich etwas bekommen konnte, obwohl es noch nicht Frühstückszeit war. Mir fiel ein, dass ich den Kaffee mit aufs Zimmer nehmen wollte, doch noch bevor ich ein Wort gesagt hätte, trat er hinter dem Schirm hervor, ein Tablett in den Händen.

»Auf die Zimmerrechnung, Signor Ohm?«

Ich nickte verblüfft.

»Zimmer 12«, murmelte er.

»Ja, richtig … Ich bringe es selbst hinauf.«

Er verneigte sich kaum merklich. Seine großen, hängenden Augenlider erinnerten mich an den traurigen Blick eines Bassets.

»Ich freue mich, dass es Ihnen wieder besser geht.«

Ich nickte automatisch. Dass es mir wieder besser ging? Was meinte er damit? Wir waren uns noch nie begegnet, und doch kannte er meinen Namen und meine Zimmernummer und wusste, dass mir leicht unwohl war. Wusste sogar, dass ich jetzt nicht allein war, denn von zwei Kaffees hatte ich bestimmt nichts gesagt. Und doch war das Tablett für zwei gedeckt: zwei Tassen Kaffee, zwei Gläschen Wasser, zwei Amarettini.

Er war wohl davon ausgegangen, dass ich, wie die meisten Gäste, in Begleitung da war. Ein guter Riecher machte einen guten Kellner eben aus. Wobei er in meinem Fall falschlag. Und doch wieder richtig. Richtigzuliegen, obwohl man falschlag, im Ziel anzukommen, obwohl man in die entgegengesetzte Richtung lief, das war freilich die hohe Kunst.

Ich stieg die Treppen hinauf, der Läufer schluckte meine Schritte. Vor Zimmer 12 blieb ich stehen und stieß mit der Fußspitze die Tür auf.

Der Tisch am Fenster war verlassen.

Die Tür öffnete sich weiter. Ich trat vor und erblickte auf der unbenutzten Seite des Doppelbettes zwei Beine in schwarzen Strümpfen, ein kurzes schwarzes Kleid … Also doch eine Prostituierte. Vermutlich steckte sie mit dem Kellner sogar unter einer Decke. Darum hatte er für zwei serviert, das war das ganze Geheimnis. Doch kaum hatte ich das Tablett auf den Tisch gestellt und einen genaueren Blick auf die Frau geworfen, wusste ich, dass ich wieder falschlag.

Sie schlief. Stellte sich nicht schlafend, schlief. Nichts Laszives, nichts Gewolltes verriet ihre Haltung, es war die eines schlichten, bewusstlosen Körpers.

Das Glas auf dem Tisch, eben noch halb voll, war leer.

Ich musterte sie eine Weile. Keine Ahnung, was seit meinem Erwachen mit mir vorging, was diese wildfremde Person in meinem Bett suchte, woher sie kam und was sie wollte. Dass sie gerade in mein Zimmer getappt war, war wohl einer jener rätselhaften Zufälle, die den porösen Bodensatz des Lebens bildeten, auf dem die Prachtbauten der menschlichen Logik immer wieder zu nichts zerrannen.

Ich warf meine Schuhe ab, legte mich vorsichtig aufs Bett. Eine Armlänge von mir ruhte das Gesicht der Frau, ich hörte ihre gleichmäßigen Atemzüge. Wie müde musste sie gewesen sein, um so schnell einzuschlafen. Ich streckte die Hand aus. Nur mit Mühe konnte ich mich zurückhalten, mit den Fingerspitzen ihren hohen Wangenknochen zu berühren, über ihre hübschen Falten, ihre schwarzen Haare zu fahren. Etwas Fremdes, Östliches lag in ihren Zügen. Sie mochte etwa in meinem Alter sein, um die fünfzig. Sie wirkte auch nicht jünger als sie war, nur schöner und trauriger.

Genauso wehrlos muss auch die ohnmächtige Marquise vor ihrem Offizier gelegen haben, dachte ich, während ich mich weiter in die Mitte des Bettes schob, näher an den schlafenden Körper heran. Und wie ich so dalag und sie betrachtete, bis sich der unterbrochene Schlaf wieder meiner zu bemächtigen begann, beschlich mich allmählich ein Gefühl von Vertrautheit. Als hätte ich sie schon einmal gesehen.

3.

Ich schlug die Augen auf.

Der Wecker vor mir zeigte 11:02.

Ich hob den Kopf, lauschte dem Geräusch.

Im Badezimmer lief die Lüftung.

Ich stieg aus dem Bett, drehte mich verwirrt um die Achse. Auf der anderen Betthälfte lagen sorgfältig gefaltet Hosen, Röcke, Blusen, ein Halstuch, daneben ein Geldbeutel, Ohrringe, eine Perlenkette und ein Buch, aus dem ein Dickicht von Merkzetteln ragte. Es war das I Ging, auf dem Deckel prangte ein chinesisches Schriftzeichen. Auf dem Tisch am Fenster standen ein Tablett mit zwei Tassen, eine Wodkaflasche und zwei Gläser. Ich war am Morgen also wirklich erwacht, die Frau war wirklich da, ich hatte ihr wirklich Kaffee gebracht, sie hatte sich wirklich aufs Bett gelegt und war eingeschlafen, ich hatte mich wirklich neben sie gelegt …

Und dann?

Dann war auch ich eingeschlafen. Nichts war passiert, nichts, woran ich mich erinnern konnte.

Aber die Frau schien auf ihrem Irrtum beharren und mein Zimmer in Beschlag nehmen zu wollen.

Ich bückte mich, um meine Schuhe anzuziehen. Durch das Schlüsselloch der Badezimmertür drang Licht, ich erstarrte. Die Musik schwoll an, grünliches Licht machte sich im Zimmer breit, die Tür öffnete sich, und schwebenden Schrittes kam Madeleine auf mich zu …

Die Tür klickte.

Ich hob den Blick. Schwarze Strümpfe, kurzer dunkelroter Rock, schwarzer Pullover, die dunklen Haare hochgesteckt. Die Frau von heute Morgen. Sie ging an mir vorbei, als sähe sie mich nicht.

»Schließen Sie bitte ab, wenn Sie gehen«, sagte sie, während sie ihren Geldbeutel in ihre Handtasche steckte.

»Ich … ich habe Ihnen einen Kaffee gebracht«, antwortete ich, als wäre das nicht schon vor fünf Stunden gewesen.

»Danke. Ich habe ihn getrunken, beide Tassen. Seien Sie mir nicht böse.«

»Das bin ich nicht.«

Sie blieb stehen.

»Es tut mir leid, dass ich Sie heute früh geweckt habe.«

»Mir tut es leid, dass ich Ihnen nicht helfen konnte.«

»Ich habe nicht damit gerechnet.«

Sie schloss ihre Handtasche.

»Aber vielleicht können Sie es doch«, sagte sie zögerlich. »Würden Sie mir einen Gefallen tun?«

»Auch zwei.«

Sie trat an den Tisch und reichte mir eine der Tassen.

»Können Sie hier etwas erkennen, irgendetwas?«

»Ich soll Kaffeesatz lesen?«

»Haben Sie Angst?«

Ich hielt die Tasse zum Fenster, drehte sie, versuchte in den angetrockneten Kaffeeresten am Boden irgendeine sinnvolle Form auszumachen.

»Es tut mir leid«, sagte ich kopfschüttelnd, »ich bin wirklich nicht der Richtige für so etwas.«

»Nehmen Sie sich Zeit.«

Es läge nicht an der Zeit, wollte ich erwidern, sondern daran, dass ich für so etwas keine Geduld hatte, an den Quatsch nicht glaubte, mir jegliche Phantasie für übersinnliche Kräfte fehlte.

»Ich kann beim besten Willen nur Kaffeereste erkennen, nichts anderes. Aber einen Gefallen haben Sie noch frei.«

Sie schob mir die andere Tasse hin.

»Dann diese hier.«

Ich seufzte.

»Darf ich wenigstens wissen, wie Sie heißen, wenn ich Ihnen schon die Zukunft lesen soll?«

»Liliána Fahm.«

»Lili…«

»…ána.«

»Gabriel.«

»Ja, das sagten Sie schon.«

»Liliána, das klingt ein wenig …«

»Nach Handleserin? Meine Mutter war Ungarin, das ist so was Ähnliches.«

Ich stellte die Tasse vorsichtig auf den Tisch zurück.

»Haben Sie Ihren Mann schon erreicht?«

»Er ist nicht zu erreichen, wenn er hier am See ist. Außer über E-Mails.«

»Ist er denn überhaupt hier?«

»Das fragen Sie mich?«

Sie fuhr mit den Fingern über ihre Stirn.

»Woher soll ich das wissen … ich weiß gar nichts! Schon seit Jahren kommt er her, verbringt hier seine ganze freie Zeit, und wochenlang weiß ich nichts von ihm …«

»Sie wissen nicht, wo er hier wohnt?«

»Wenn er hier ist, will er für sich sein, Zeit für seine Arbeit haben, der See sei sein letztes Refugium. Als wäre er ein Eremit. Alles, was ich habe, ist das hier … Die Adresse, unter der wir früher immer Urlaub gemacht haben. Aber das ist schon eine Ewigkeit her, zwanzig Jahre …«

Sie reichte mir einen zerknitterten Zettel. Ich schüttelte den Kopf, die Adresse sagte mir nichts.

»Irgendwo dort am Hang«, sagte sie und zeigte aus dem Fenster. »Eine Ferienwohnung. Ich weiß gar nicht, ob es sie überhaupt noch gibt. Eine kleine Kapelle befand sich direkt daneben.«

»Sant’Isidor?«

»Vielleicht … ja, so hieß sie.«

»Die kenne ich, ist nicht weit von hier. Ich kenne sogar einen Schleichweg dorthin, man kann sie gar nicht verfehlen.«

»Sie müssen mir nicht helfen.«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Ich habe Zeit.«

Sie schnaubte und schüttelte den Kopf.

»Ein Mann, der Zeit hat … nicht zu glauben.«

4.

»Die meisten Männer leben nur für ihre alberne Arbeit«, erklärte sie draußen. »Als hinge das Wohl und Weh der Welt davon ab … Und wohin jetzt?«

»Hier lang.«

Wir überquerten den kleinen Park zwischen Rathaus und Kirche. Es regnete nicht mehr, aber hinter dem Monte Baldo zogen wieder Wolken herauf. Es ging alles so schnell, dass ich mich gar nicht besinnen konnte, was eigentlich gerade geschah. Liliána eilte voraus, ich folgte ihr, hing an ihr wie ein Hund. Welch verrückter Zufall auch immer mich mit dieser Frau zusammengeführt hatte, es musste darin irgendein verborgener Sinn liegen.

»Wollen Sie nicht schnell noch etwas essen? Oben werden wir nichts finden.«

»Essen Sie ruhig etwas. Wenn Sie mir die Richtung zeigen, komme ich allein zurecht.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Ich hole nur schnell etwas zu trinken«, sagte ich. »Dauert bloß fünf Minuten, gehen Sie nicht weg!«

Ich lief in den Supermarkt gegenüber, legte zwei Flaschen Mineralwasser in meinen Einkaufskorb, stellte mich an einer Kasse an, kehrte um, besorgte noch zwei Flaschen Rotwein und ein paar Kleinigkeiten für ein Picknick. Ich hatte seit gestern Abend nichts mehr gegessen und wurde allmählich hungrig, und auch Liliána würde nach dem Aufstieg etwas brauchen und dankbar und überrascht sein, wenn ich den Proviant auspackte. Es würde ihre Stimmung heben. Nicht eine Sekunde ging ich davon aus, dass wir auf diese vage Vermutung hin ihren Mann finden würden.

Ich bezahlte. Vor dem Supermarkt sah ich mich um.

Liliána war verschwunden.

Hatte ich sie zu lange warten lassen? Oder hatte sie die ganze Zeit nur auf eine Gelegenheit gewartet, um mich loszuwerden? Ich lief ein Stück die Via Scoisse hinauf, fluchte, weil die Einkaufstüte gegen mein Bein schlug.

Von Liliána fehlte jede Spur.

Als ich linker Hand die Abzweigung des Fußwegs nach Sant’Isidor erreichte, sah ich sie. Wie ein verletzter Vogel hockte sie auf einem Stein am Wegesrand, den Kopf auf die Arme, die Arme auf die Beine gestützt, ein Häufchen Elend.

»So wie Sie dasitzen, wird Sie der erstbeste Mann aufgabeln«, sagte ich, ich hätte alles gegeben, um sie aufzuheitern.

»Er wäre reichlich dumm«, murmelte sie.

»Sagen Sie das nicht.«

»Gehen wir?«

Der Weg war ein schmaler, steiniger, auf beiden Seiten von Maschendrahtzaun gesäumter Pfad. Ich hatte ihn vor vielen Jahren entdeckt, als ich mich beim Abstieg vom Monte Baldo einmal verirrt hatte. Wir gingen Seite an Seite, mal ich einen Schritt voraus, mal Liliána, je nachdem wie sich der Pfad wand. Erst jetzt bemerkte ich ihre eleganten Halbschuhe. Bis wir oben waren, würde sie wunde Füße haben.

Die Geräusche der Stadt verhallten allmählich, es wurde immer stiller und abgeschiedener. Die Schwüle war drückend, der Himmel verdunkelte sich langsam. Unter gewöhnlichen Umständen wäre ich umgekehrt, jetzt dachte ich nicht im Traum daran.

»Was ist denn mit Ihrem Mann?«, fragte ich nach einer Weile, wie beiläufig.

»Was soll mit ihm sein?«

»Verschwindet er öfter?«

»Er ist überstürzt abgereist.«

»Sie haben sich gestritten?«

Sie blieb stehen, wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn.

»Wie kommen Sie darauf?«

Ich zuckte mit den Achseln.

»Sprechen Sie aus eigener Erfahrung?«, fragte sie.

»Ich bin nicht verheiratet.«

»Dann waren Sie es eben einmal.«

Sie stellte es mit einer Selbstverständlichkeit fest, als hätte sie nur gesagt, dass heute Sonntag war. Aber meine Bemerkung schien sie doch provoziert zu haben, denn mit einem Mal begann sie von ihrem Mann zu erzählen, Alexander, einem Professor in München, mit dem sie seit sechsundzwanzig Jahren verheiratet war. Ihre große Liebe sei er gewesen, ihr Mann eben. Sie sprach eher vor sich hin als zu mir, aber ich lauschte neugierig, erstaunt über so viel Auskunftsfreude. Ich versuchte mir den Mann vorzustellen, konnte aber nur eine instinktive Abneigung für ihn empfinden. Selbstzufriedener Professor oder quirliger Intellektueller, beide Typen waren mir gleichermaßen zuwider.

Der Weg stieß auf ein paar Treppenstufen, führte um eine alte Mauer, dann unter einem Torbogen durch, und wir standen vor der Kapelle Sant’Isidor.

Liliána wandte sich sofort nach links. Unter den Bäumen, fast schon im Dickicht stand ein verwahrlost wirkendes Haus. Sie griff sich an den Mund.

»Mein Gott, nicht wiederzuerkennen!«

Sie trat an die Tür und drückte, ohne zu zögern, die Klingel.

Es schrillte. Wir warteten. Nervös schielte ich zum Himmel über uns, ich hoffte inständig, dass uns jemand aufmachte. Liliána läutete ein zweites Mal, machte einen Schritt zurück.

»Hallo! … Buon giorno! … C’è qualcuno?«

An den Fenstern hingen Vorhänge, sonst deutete nichts darauf hin, dass das Haus bewohnt war. Der Verputz bröckelte großflächig ab, der Boden ringsum war von Laub bedeckt. Ich hielt mein Gesicht ans Fenster und beschattete meine Augen, konnte im Dunkel des Zimmers aber nichts erkennen. Liliána zerriss den Zettel mit der Adresse und warf die Schnipsel weg.

»Und jetzt?«

Trotzig stieß sie gegen das von Dickicht halb überwachsene Zauntor, öffnete es einen Spalt und schlüpfte hindurch.

Ich folgte ihr.

Vor uns lag ein verwilderter Garten, aus dem kniehohen Gestrüpp ragten ein paar Sträucher, in der Mitte stand ein Walnussbaum. Liliána versank in den Anblick.

»Sehen Sie!«, sagte sie und legte die Hand auf meinen Arm. »Dort oben haben wir jahrelang unsere Ferien verbracht, Alexander und ich.«

Ein hölzerner Anbau klebte an der Rückseite des Hauses, Balkone auf beiden Stockwerken, links führte eine Außentreppe in den ersten Stock. Liliána zeigte hinauf.

»Auf dem Balkon haben wir immer gefrühstückt«, sagte sie, »von dort konnte man auch den See sehen, einen Zipfel davon. Unten wohnten die Vermieter, ein älteres Ehepaar, aber wir nahmen sie gar nicht wahr, wir waren jung, verstehen Sie … Im Herbst 1993 waren wir zum ersten Mal hier …«

Ein plötzlicher Windstoß fegte über den Garten, ich zuckte zusammen. Alles begann zu rascheln, und ohne jede Vorwarnung ergoss sich ein Regenschauer über uns. Liliána lief zur Hausmauer, ging in die Hocke und begann mit beiden Händen die brüchige Hausmauer abzutasten.

»Damals war hier irgendwo …«

»… ein Schlüssel versteckt?«, ergänzte ich im Scherz.

»Ja.«

»Kein Witz?«

»Irgendwo hier … oder hier …«

Sie fuhr mit den Fingern über die Mörtelfugen, zog an den Ziegeln. Ich machte es ihr nach. Schon beim ersten Griff in die Mauer kippte ich nach hinten um, einen halben Ziegel in der Hand.

Liliána blieb der Mund offen. Sie griff in das Loch und zog einen Schlüssel heraus. Er war voller Staub.

»Nach fünfzehn Jahren!«

»Heimat ist, wenn sich nichts ändert.«

Schon lief sie die Treppen hinauf, ich hinter ihr, heilfroh, bald im Trockenen zu sein.

Sie klopfte an die Tür.

»Wenn Sie Glück haben, ist auch Ihr Mann noch da drin!«

Sie lachte nicht. Der Schlüssel knarrte.

»Brechen Sie ihn bloß nicht ab.«

Die Tür ging auf.

»Ist das nicht Hausfriedensbruch?«

»Wir sind in Italien«, flüsterte sie.

»Auch die werden ein Wort dafür haben.«

Sie drehte sich zu mir um.

»Na, dann … Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe!«

Verdutzt sah ich sie an.

»Was haben Sie, wollten Sie etwa auch hinein?«

Ich blickte mich um. Es goss in Strömen.

»Na ja … es regnet doch!«

Ich versuchte auf die letzte Treppenstufe zu steigen, aber sie verstellte mir den Weg.

»Sie sind ganz schön anhänglich.«

Das fand ich gar nicht. Schließlich hatte nicht ich mich in ihrem Zimmer breitgemacht, sondern sie sich in meinem.

»Wir kennen uns kaum«, sagte sie.

»Heute kennt sich keiner mehr, das ist der Preis der Freiheit. Sehe ich etwa wie ein Triebtäter aus?«

»Das tun die nie.«

Wir standen uns Auge in Auge gegenüber. Sie fixierte mich, als wollte sie alle meine unerwiderten Blicke seit dem Morgen mit einem einzigen langen, vorwurfsvollen Blick abgelten.

»Immerhin … habe ich den Schlüssel gefunden«, murmelte ich, »ohne mich …«

»Und wenn Sie mich absichtlich hierhergelockt haben … Das würde auch erklären, warum Sie den Schlüssel so schnell gefunden haben.«

»Na, hören Sie mal!«

Es war jetzt ausgesprochen ungemütlich, das Wasser sickerte mir schon durch Hemd und Hose, ich wollte nur noch ins Haus.

»Erst das Losungswort«, sagte sie.

Auch an Losungsworte glaubte ich nicht, genauso wenig wie an Kaffeesatz. Kein einziges Wort glaubte ich und am allerwenigsten die Mutter aller Lügenworte, dass am Anfang das Wort gewesen sei, und nicht etwa das Fleisch. Ich hätte es ihr gern erklärt, aber ich schwieg nur, stand mit gesenktem Haupt vor ihr, wie ein Angeklagter vor seinem Richter in Erwartung des Urteilsspruchs. Sogar für Alexander empfand ich plötzlich etwas wie Sympathie, bis sie endlich einen Schritt zurücktrat und mich durchließ und die Tür hinter uns zufiel.

Samstag Morgen

5.

Es würde meine letzte Fahrt an den See sein. Sobald das Haus verkauft war, würde ich nie mehr zurückkehren. Die Hausbesichtigung war für Sonntag fünfzehn Uhr anberaumt. Der Interessent, ein gewisser Herr Pozzi aus Verona, wollte pünktlich kommen. Ich machte mich kurz entschlossen schon Freitag Nacht auf den Weg.

Wann immer möglich reiste ich nachts. Die Welt war ein zauberhafter Ort, solange die Menschen schliefen und der Betrieb ruhte. Ich hatte für die vier, fünf Stunden von München sieben gebraucht, hatte am Brenner zwischen zwei Sattelschleppern Rast gemacht, auf dem zurückgeklappten Beifahrersitz dem Pfeifen des Windes und dem Flattern der sinnlosen Tankstellenfahnen gelauscht. Ich war innerlich aufgewühlt und konnte nicht schlafen, dann döste ich doch ein.

Kurz nach sechs erblickte ich bei Nago-Torbole den See; mein Herz schlug hart, es war das erste Mal seit anderthalb Jahren. Im Zentrum Malcesines nahm ich ein Zimmer im ersten Stock eines kleinen Hotels, warf mich aufs Bett und wartete auf den Schlaf.

Das Zimmer blickte nicht auf den See, sondern hinten hinaus, auf den schattigen Hang des Monte Baldo. Es war mir egal, dass der Berg die Aussicht verstellte. Die Aussicht worauf? Lag hinter dem Berg nicht ein anderer Berg und dahinter wieder ein anderer, und lagen nicht auch auf der anderen Seite des Sees nur Berge, Ketten schroffen, rauen Gesteins, einer hinter dem anderen? War die Vorstellung dieses schönen, strahlenden, wassergefüllten Felsspalts in ihrer Mitte nicht nur ein Tagtraum romantischer Seelen?

Nach einer Weile raffte ich mich wieder auf. Ich hatte nicht ernsthaft erwartet, einschlafen zu können, Nächte, in denen ich durchschlief, waren selten geworden. Ich kämmte mich, wusch mir das Gesicht und begab mich nach unten. Vor der Glastür zum Frühstücksraum blieb ich stehen. Die ersten Gäste saßen bereits an ihren Tischen, die meisten hatten Zeitungen vor sich, und der plötzliche Anblick dieses verdauungsseligen Zeitungsglücks ließ mich wortlos kehrtmachen. Ich ertrug den Umgang mit Menschen nicht, die nicht wussten, dass jeder Tag, an dem man sich die Finger an einer Zeitung beschmutzte, ein verlorener war.

Ich trat hinaus, schlenderte ziellos durch die noch halb leeren Gassen. Es war Samstag Morgen, der übliche lange Nachsommer am See, nichts ließ erahnen, dass bald Oktober war. Ringsum erwachten die Läden, Metallgitter wurden nach oben gerollt, Postkartenständer hinausgeschoben, vor einem Café wischte eine Kellnerin die Tische ab, wie nah, wie vertraut mir das alles noch immer vorkam.

Ich kehrte zum Auto zurück, das ich im kleinen Hof des Hotels geparkt hatte, stieg ein und bog in südliche Richtung auf die Gardesana ein. Ein Ziel hatte ich nicht, schon lange nicht mehr, ich fuhr, um zu fahren, um der Erinnerung an andere Fahrten willen, die längst gefahren waren, in einem anderen Leben, das längst gelebt war.

Ich klappte den Sonnenschutz herunter, folgte der stillen, verschlafenen Küstenstraße, und ja, auch das kam mir unendlich vertraut vor. Als wäre nie etwas gewesen. Oder erst gestern und nie etwas dazwischen. Auf der Fußmatte vor dem Beifahrersitz lag eine dicke CD-Tasche, wie sie damals dort gelegen hatte. Ich sah noch heute, wie Ana sie aufhob und darin blätterte, eine Diskette herauszog und in den CD-Spieler schob. Es waren Lieder, die ich damals aus dem Internet herunterzuladen begann, leichte, elegante Musik aus einer anderen Zeit, Bossa Nova und Filmmelodien, Ray Conniff und Herb Alpert und Burt Bacharach. Auch Ana liebte den Klang, sie verstand mich blind. Wenn ich aus der Zeit gefallen war, so war sie nie drin gewesen. Die Brise im Gesicht, die Sonne auf der Haut, schwebten wir auf einer Woge des Glücks dahin, damals, am ersten Morgen unserer Flucht. Vor zwei Jahren und drei Monaten war das gewesen, an einem magischen Morgen im Juni kurz vor dem längsten Tag, unserem ersten gemeinsamen Tag am See, dem Anfang von zehn Monaten Paradies und anderthalb Jahren Hölle.

Am Parkplatz oberhalb der Punta San Vigilio bog ich ab, rollte die alte Zypressenallee entlang und hielt unter den Olivenbäumen. Der Weg zum See führte zwischen efeubewachsenen Steinmauern hinunter und mündete in einen schattigen Innenhof, von dem ein einziger lichtdurchfluteter Torbogen zum See durchstieß. Ich trat hindurch, ins gleißende Licht; so hatte ich mir immer die Himmelspforte vorgestellt. Auch dort, auf der anderen Seite, war alles unverändert, in der Mitte der winzige Bootshafen, rechts eingefasst von der pastellbraunen Mauer der alten Befestigungsanlage, die jetzt ein Nobelhotel war, links von der Mauer der Taverne. Auf einer halbkreisförmigen Mole standen Tische und Stühle, noch war niemand da.

Am Morgen, wenn das Licht von Osten kam und die Bucht noch frisch und verlassen war, war sie für mich der schönste Fleck am ganzen See. Später, wenn die jungen Snobs mit ihren Motorbooten über den See glitten, wie Wohlstandsmüll, der ans Ufer gespült wurde, und sich von dem verschrumpelten Alten in seinem Boot auf die Mole übersetzen ließen, um sich dort in ihren Lederjacken und künstlich zerrissenen Jeans an den Tischen breitzumachen, hörte der Ort für mich auf zu existieren.

Ich schob mich an der Tavernenwand vorbei und setzte mich an den letzten Tisch auf der Mole. Das Wasser vor meinen Füßen war seicht und durchsichtig, ich konnte die Kieselsteine auf seinem Grund sehen. Die Sonnenstrahlen brachen im schütteren Uferschilf, schaukelten zitternd und blinkend auf den Wellen, dahinter verlor sich der See im morgendlichen Dunst. Und auch die kleine Landzunge war da, die links in einiger Entfernung in den See ragte und mich mit ihren schwarzen Zypressen immer an Böcklins Toteninsel erinnerte. Ein unbeschreiblicher Zauber wohnte dem Anblick inne, so still und blau und unendlich friedlich musste die Welt am ersten Tag gewesen sein, vor dem ersten Gewitter, das alles durcheinanderwirbeln, die Schönheit in Chaos verwandeln sollte.

Die Stimme des Kellners riss mich aus meinen Gedanken, ich bestellte einen Cappuccino, um ihn loszuwerden und weil ich sonst nicht hätte sitzen bleiben dürfen. So war es immer, kaum war man in Gedanken, in Erinnerungen versunken, in einer anderen Welt, einer anderen Zeit, kam jemand und holte einen wieder auf die Ebene des Essens und Trinkens und Zahlens herunter, in das ewig banale Hier und Jetzt zurück. Früher hatte ich immer einen einfachen Kaffee bestellt, neuerdings zog ich Cappuccino vor, weil man am Ende mit dem Schaum spielen konnte, ein süßer Nachgeschmack blieb.

Früher war alles anders gewesen.

Auch das war nur so dahingesagt, eine dumme Phrase.