Das heilende Potenzial der Achtsamkeit - Jon Kabat-Zinn - E-Book

Das heilende Potenzial der Achtsamkeit E-Book

Jon Kabat-Zinn

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  • Herausgeber: Arbor
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Achtsamkeit kann auch zu Ihrer Heilung beitragen. Seit vielen Jahren lehrt Jon Kabat-Zinn, wie heilsam es sein kann, mitfühlendes Gewahrsein im alltäglichen Leben zu kultivieren. In Das heilende Potenzial der Achtsamkeit führt er anschaulich aus, wie Achtsamkeit die Beziehung zum eigenen Körper und Geist neu gestaltet: Er erklärt, was wir inzwischen über Neuroplastizität und das Gehirn wissen, wie Meditation sich auf unsere Biologie und unsere Gesundheit auswirkt und wie wir durch Achtsamkeit lernen können, mit den Herausforderungen im Leben umzugehen, einschließlich unserer eigenen Sterblichkeit. Wir lernen, die Augenblicke, die uns gegeben sind, wirklich anzunehmen und Leid zu verringern, indem wir Frieden schließen mit dem, was ist. Falls Sie genauer wissen wollen, wie heilsam Achtsamkeit als Seinsweise wirken kann, dann sei Ihnen dieses sehr persönliche Buch ans Herz gelegt, verfasst vom weltweit anerkannten Pionier der Achtsamkeitsbewegung.

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Jon Kabat-ZinnDas heilende Potenzial der Achtsamkeit

Jon Kabat-Zinn

Das heilende Potenzial der Achtsamkeit

Eine neue Art, zu sein

Aus dem amerikanischen Englisch von Stephan Schuhmacher und Lisa Baumann

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel:

The Healing Power of Mindfulness

A New Way of Being

bei Hachette Books, New York, USA.

Dieses Buch wurde erstmal 2006 als Teil des Buchs

»Zur Besinnung kommen« im Arbor Verlag 2005 veröffentlicht.

1. Auflage 2020

© 2020 der deutschen Ausgabe: Arbor Verlag GmbH, Freiburg Copyright der Originalausgabe © 2018 by Jon Kabat-Zinn, Ph.D. This edition published by arrangement with Hachette Books, New York, New York, USA. All rights reserved.

Lektorat: Georg Grässlin

Titelfoto: ©2020 shutterstock.com/Olga Lyubkin

Hergestellt von mediengenossen.de

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

Alle Rechte vorbehalten

E-Book 2020

www.arbor-verlag.de

ISBN E-Book 978-3-86781-303-7

für Myla

für Stella, Asa und Toby

für Will und Teresa

für Naushon

für Serena

in Erinnerung an Sally und Elvin

sowie Howie und Roz

und für all jene, denen das am Herzen liegt,

was möglich ist

was ist, wie es ist

die sich bemühen um

Weisheit

Klarheit

Güte

und Liebe

Inhalt

Vorwort

Erster Teil Möglichkeiten der Heilung

Empfindungsvermögen

Das ist nicht persönlich gemeint, aber, verzeihen Sie… Sind wir wirklich, wer wir zu sein glauben?

Selbst unsere Moleküle berühren sich

Keine Fragmentierung

Keine Trennung

Orientierung in Zeit und Raum – Im Gedenken an meinen Vater

Orthogonale Wirklichkeit – Quantensprünge des Bewusstseins

Orthogonale Institutionen

Heilung und Bewusstsein

Glück erforschen: Meditation, das Gehirn und das Immunsystem

Homunkulus

Propriozeption – Die gefühlte Empfindung des Körpers

Neuroplastizität und die unbekannten Grenzen des Möglichen

Zweiter Teil An der eigenen Tür ankommen

»Ich kann meine eigenen Gedanken nicht hören!«

Ich bin nicht einen Moment zum Durchatmen gekommen

Der Selbstbetrug der Geschäftigkeit

Sich selber unterbrechen

All unsere Augenblicke anfüllen

Vor Ort ankommen

Von hier aus kommen Sie dort nicht hin

Überwältigt

Dialog und Diskussion

Auf der Bank sitzen

Sie verrückt!

Übergänge

Sie machen, Sie haben

Jede Idealvorstellung einer Praxis ist auch nur eine Fabrikation

Meinst du das ernst?

Wer hat den Super Bowl gewonnen?

Arroganz und Anspruchsdenken

Tod

Stirb, bevor du stirbst

Stirb, bevor du stirbst (Teil II)

Der Weiß-nicht-Geist

An der eigenen Tür ankommen

Danksagung

Literatur

Über den Autor

Vorwort

Achtsamkeit ist eine weise und potenziell heilsame Art, mit dem, was uns im Leben widerfährt, in Beziehung zu sein. Und, so unwahrscheinlich es auch klingen mag, das beinhaltet alles und jedes, was Ihnen und einer jeden von uns geschehen kann. Selbst angesichts extrem herausfordernden Lebensumständen wohnt der Kultivierung von Achtsamkeit ein tiefreichendes Versprechen inne. Vielleicht überrascht es Sie, wie breitgefächert die möglichen Auswirkungen sind – beziehungsweise sein können, wenn Sie dafür offen sind, zumindest einmal die Zehen in das Wasser der formalen und informellen Meditationspraxis zu strecken und zu sehen, was sich daraus entwickelt.

Die meisten Menschen, die an einem MBSR-Kurs teilnehmen oder auf irgendeinem anderen Wege zur Achtsamkeit finden, entdecken schon bald, dass das Curriculum in nichts Geringerem als dem Leben selbst besteht: Es geht darum, dem Leben, so wie es ist, ins Auge zu blicken und es anzunehmen, mitsamt allem, womit auch immer man es gerade zu tun hat. Und Sie können »womit auch immer« ruhig unterstreichen. Die Herausforderung bei der Praxis und der Seinsweise der Achtsamkeit besteht immer darin: Wie können wir mit diesem Augenblick, so wie er ist, weise in Beziehung sein, mitsamt all den ärgerlichen, ungewollten oder erschreckenden Elementen, die er vielleicht enthält und denen wir uns stellen müssen? Ist es möglich, einen radikal neuen Umgang mit dem Leben und all den Augenblicken, aus denen es besteht, zu finden und daran zu wachsen?

Meiner Ansicht nach lässt sich der Begriff heilsam am besten damit umschreiben, mit den Dingen Frieden zu schließen, so wie sie sind. Das bedeutet nicht, etwas zu reparieren oder wiederherzustellen, etwa einen vormaligen Zustand, oder das, was problematisch ist, einfach zum Verschwinden zu bringen.

Der Prozess und die Praxis, mit den Dingen Frieden zu schließen, so wie sie sind, bedeutet hingegen, für sich selbst zu untersuchen, ob man überhaupt weiß, wie die Dinge sind, oder man lediglich glaubt, es zu wissen – und somit möglicherweise bereits schon in der Art und Weise, wie man über die Situation denkt, die tatsächlichen Gegebenheiten mit der eigenen Geschichte darüber verwechselt. Mit den Dingen Frieden zu schließen, so wie sie nun einmal sind, beinhaltet, damit zu experimentieren, wie wir unsere Beziehung zu den Gegebenheiten neu definieren und damit transformieren könnten, eingedenk der Tatsache, dass wir ganz offensichtlich nicht wissen, wie sich die Dinge bereits im nächsten Moment entfalten werden. Diese innere Haltung eröffnet uns nahezu unbegrenzte Möglichkeiten, von denen wir vielleicht gar nichts geahnt haben. Warum? Weil eben unsere Denkmuster an sich so begrenzend sind, beladen mit unseren erstaunlicherweise meist unhinterfragten mentalen Gewohnheiten. In diesem Buch werden wir diese Gewohnheiten aufbrechen, immer wieder und buchstäblich Moment für Moment, und auf diese Weise die Öffnungen und Gelegenheiten erfassen, die dabei entstehen, wenn wir, mit den Worten von Derek Walcott, uns selbst »an unserer eigenen Tür begrüßen«.

Auf meinen Reisen begegne ich häufig Menschen, die mir berichten, dass Achtsamkeit ihnen ihr Leben zurückgegeben hat. Oft erzählen sie mir Geschichten von unfassbar schrecklichen Lebensumständen, Ereignissen oder Diagnosen, die man wirklich niemandem wünscht. Meistens drücken sie es in etwa so aus: »Achtsamkeit (oder auch «die Praxis») hat mir mein Leben zurückgegeben« oder »hat mir das Leben gerettet«, oft gefolgt von einem Ausdruck tiefer Dankbarkeit. Jedes Mal, wenn mir jemand eine solche Erfahrung schildert, sei es im Gespräch oder per Brief oder E-Mail, klingt es so authentisch und persönlich, dass ich mir ganz sicher bin, dass es sich nicht um eine Übertreibung handelt.

Interessanterweise gehen alle Menschen, die sich einigermaßen systematisch der Achtsamkeitspraxis widmen, mit der Zeit ihren eigenen Weg, während sie zugleich immer wieder auf die stets gleichbleibenden formalen Meditationspraktiken zurückgreifen, die wir auch im MBSR üben (den Body-Scan, die Sitzmeditation, achtsames Yoga und achtsames Gehen) und die im zweiten Buch »Wach werden und unser Leben wirklich leben« dieser Serie beschrieben werden, und natürlich auch, während sie in ihren alltäglichen Begegnungen mit dem Leben Achtsamkeit üben.

Ich möchte an dieser Stelle einen Ausdruck der Dankbarkeit wiedergeben, den mir mein Verleger in Großbritannien kürzlich weiterleitete:

Lieber Professor Kabat-Zinn,

ich habe all Ihre Bücher gelesen (einige sogar mehrmals) und etwas überlebt, das man mir als Speiseröhrenkrebs im Endstadium beschrieben hat. Nun schreibe ich, um Ihnen zu sagen, welch wichtige Rolle Ihre Bücher in meinem Genesungsprozess gespielt haben. Es ist jetzt fünf Jahre her, seit man mir an einem Tag im Juli (ziemlich emotionslos) mitteilte: »Sie schaffen es wahrscheinlich noch bis Weihnachten. Manche halten auch länger durch. Falls Sie etwas brauchen, rufen Sie einfach das Hospiz an.«

Der Weg durch meine Krankheit ist gesäumt von zahlreichen Irrtümern, unter anderem wurde bei der Planung einer radikalen Chemo- und Strahlentherapie meine Patientenakte verwechselt. Infolge der überdosierten Strahlentherapie waren zwei meiner Wirbel gebrochen, aber nun, am 19. Oktober 2017 bin ich immer noch da – und seit sechs Wochen in den Studiengang Achtsamkeit an der Universität von Aberdeen eingeschrieben. Mein Traum ist es, die nötige Qualifikation zu erlangen, um schwer erkrankten Menschen mit den Techniken zu helfen, die ich von Ihren CDs, Videos und Büchern gelernt habe, und zwar in den Unterstützungszentren für Krebspatienten hier vor Ort. Dort dürfen nur ausgebildete Ehrenamtliche mit den Patienten arbeiten.

In meiner schwersten Zeit haben Ihre Bücher Gesund durch Meditation und Stark aus eigener Kraft mich inspiriert, sie sind zu meinen Bibeln geworden. Im Moment plane ich meine erste größere Hausarbeit im Rahmen meines Studiums, und man hat mir gesagt, dass mein Thema (»Meditation ist heilsam«) für eine akademische Seminararbeit nicht gut geeignet ist. Das erstaunt mich, und ich frage mich, ob Sie mir wohl einen Rat geben könnten, wo ich Inspiration dazu finden kann…

Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass die Lektüre Ihres Werks mir das Leben gerettet hat, und ich versuche, das Beste aus jedem Atemzug zu machen, von dem man mir gesagt hat, dass ich ihn nicht nehmen würde. Ich wäre sehr dankbar, wenn Sie mir einen Hinweis geben könnten, sodass ich meinen Traum verwirklichen kann, kranken Menschen wirkungsvoll dabei zu helfen, ihre eigene Kraft zur Selbstheilung zu entdecken. Wie lässt sich daraus am besten eine akademische Studie machen?

Mit Dankbarkeit und herzlichen Grüßen aus AberdeenMARGARET DONALD

PS: Ich werde nächstes Jahr 80, insofern zählt für mich jede Minute!

Natürlich schrieb ich zurück. Unter anderem versicherte ich Margaret, dass sie ganz im Einklang mit den neuesten Strömungen der akademischen Medizin sei, offenkundig sehr viel mehr als diejenigen, die ihr von ihrem Vorhaben abgeraten hatten. Ich schickte ihr Liste mit Literaturangaben zu wissenschaftlichen Forschungsarbeiten, in denen ihr Thema, der Zusammenhang zwischen »Meditation« und »Heilung«, untersucht wurden.

*

In verschiedenen Studien hat sich gezeigt, dass bei Versuchspersonen, die man anwies, während einer Untersuchung im Computertomographen einfach nur da zu liegen und nichts zu tun, ein wichtiges Netzwerk in einer diffusen Region des zerebralen Kortex, die sich unterhalb der Mittellinie der Stirn nach hinten erstreckt, in hohem Maße aktiv wird. Dieses Netzwerk, das aus einer Reihe verschiedener spezialisierter Strukturen besteht, ist inzwischen als »Ruhezustandsnetzwerk« (Default Mode Network – DMN) bekannt. Dieser Name stammt daher, dass wir automatisch in ein gedankliches Umherschweifen verfallen, wenn man uns auffordert, »nichts zu tun« und »einfach da zu liegen«. Und raten Sie mal, wohin uns das meist führt? Richtig: Wir fangen an, über unser liebstes Thema zu sinnieren – uns selbst, natürlich! Wir verfallen in Geschichten über die Vergangenheit (meine Vergangenheit), die Zukunft (meine Zukunft), Gefühle (meine Sorgen, mein Ärger, meine Depression), verschiedenste Lebensumstände (mein Stress, mein Druck, meine Erfolge, mein Scheitern), oder auch das, was mit dem Land, der Welt, den anderen nicht stimmt … Sie wissen sicher, was ich meine.

Interessanterweise konnte in einer Studie, die an der Universität von Toronto1 durchgeführt wurde, bei den Teilnehmerinnen eines MBSR-Kurses nach acht Wochen eine verringerte Aktivität des DMN und zugleich eine gesteigerte Aktivität in einem lateralen (seitlich gelegenen) neuronalen Netzwerk festgestellt werden. Dieses zweite Netzwerk nennt man das Experiental Network. Nach ihrem Erleben im Computertomographen befragt, berichteten diejenigen Studienteilnehmerinnen, die an dem achtwöchigen MBSR-Kurs teilgenommen hatten, einfach da gewesen zu sein, einfach atmend, sich ihres Körpers, ihrer Gedanken, ihrer Gefühle und der Geräusche bewusst, während sie da lagen.

Vielleicht ist es also so (obwohl noch viele weitere Forschungsarbeiten nötig sein werden, um das mit Sicherheit sagen zu können), dass die Achtsamkeitspraxis zu einer Verschiebung des Default Mode von unbewusster (man könnte auch sagen achtloser) Selbstversunkenheit, gedanklichem Umherschweifen, Geschichtenerzählen, Tagträumen und Gedankenverlorenheit hin zu mehr Präsenz, mehr Achtsamkeit und mehr Bewusstheit führt, auch wenn Gedanken und Gefühle natürlich weiterhin auftauchen.

In dieser Studie zeigte sich, dass sich die beiden Netzwerke (das geschichtenerzählende und das erfahrungsbasierte Netzwerk) nach einem achtwöchigen MBSR-Kurs entkoppeln. Selbstverständlich funktionieren beide Netzwerke weiterhin. Schließlich ist es für Kreativität und Vorstellungskraft wichtig, gelegentlich Tagträumen nachzuhängen.2 Es ist ebenfalls sehr wichtig, die eigene Vergangenheit von der Gegenwart und der imaginierten Zukunft unterscheiden zu können, wie in der Geschichte über meinen Vater im Kapitel »Orientierung in Zeit und Raum« deutlich werden wird. Doch nach acht Wochen Achtsamkeitspraxis scheint es so zu sein, dass das erfahrungsbasierte, nicht an Zeit gebundene laterale Netzwerk im Kortex auf das zentral gelegene DMN einwirkt, sodass durch dieses Zusammenspiel mehr Weisheit und Entscheidungsfreiheit in einem jeden Moment möglich wird, statt bloßem automatischen Funktionieren und dem gewohnheitsmäßigen Glauben an implizite Geschichten über ein Selbst, das viel zu klein ist, um auch nur dem nahezukommen, wer und was wir eigentlich sind, in all unserer Fülle, genau hier und jetzt.

In den zwölf Jahren, seit mein Buch Zur Besinnung kommen erstmals erschien, ist die Zahl an wissenschaftlichen Forschungsarbeiten zu Achtsamkeit und an Belegen bezüglich ihrer klinischen Effektivität geradezu explodiert. Zu den Befunden zählen Veränderungen in der Größe und dem Durchmesser verschiedener Gehirnstrukturen bei Menschen, die Achtsamkeit praktizieren, sowie eine gesteigerte funktionale Verbundenheit zwischen verschiedenen Gehirnregionen. In einigen Studien zeigen sich Veränderungen in der Genexpression auf der Ebene der Chromosomen – auch genannt »epigenetische Effekte« – in anderen wurden Auswirkungen auf die Länge der Telomere nachgewiesen: ein biologisches Maß für die Auswirkung von Stress auf unser Leben, insbesondere von intensivem Stress. Der Tenor der Beweislage in diesen Studien sowie in Hunderten weiteren, die Jahr für Jahr veröffentlicht werden, ist, dass an der Praxis der Achtsamkeit etwas dran sein muss, das einen großen Einfluss auf unsere Biologie, unsere Psychologie und sogar auf unsere Interaktionen miteinander, also unsere Sozialpsychologie, haben kann. Zwar steckt die wissenschaftliche Forschung zu Meditation noch immer in den Kinderschuhen, doch inzwischen ist sie deutlich ausgereifter als vor zwölf Jahren. Wenn Sie sich für einige der beständigsten Befunde interessieren, die einerseits aus zahlreichen Studien an Mönchen und Nonnen stammen, die auf Zehntausende Stunden Meditationspraxis zurückblicken, und andererseits aus Studien an Menschen, die an MBSR- und MBCT-Kursen teilgenommen haben, empfehle ich Ihnen, einen Blick in das Buch Altered Traits von meinen Kollegen Richard Davidson und Daniel Goleman zu werfen, das im Oktober 2017 erschienen ist. Darin sind viele der besten Studien und deren Befunde zusammengefasst. Da das Feld inzwischen so weit geworden ist und weiterhin rapide wächst, habe ich in diesem Buch darauf verzichtet, jüngere Studien im Detail zu schildern, obgleich ich einige davon erwähne. Falls Sie die neuesten Entwicklungen genauer nachvollziehen möchten: Eine Reihe von ausgezeichneten Büchern zum Thema, hauptsächlich von Wissenschaftlerinnen für eine Laienleserschaft verfasst, sind in den Literaturverweisen am Ende dieses Buches aufgelistet, daneben auch einige, die sich eher an ein wissenschaftlich und medizinisch versiertes Publikum richten.

*

Wenn wir die formale Meditationspraxis in unser alltägliches Leben hinein ausweiten, dann wird das Leben selbst zu unserem Achtsamkeitslehrer. Es bietet uns zudem das beste Curriculum für unsere Heilung, nämlich genau da ansetzend, wo wir uns sowieso gerade befinden. Die Prognose ist sehr gut: Auch Sie können von dieser neuen Seinsweise profitieren, wenn Sie sich mit ganzem Herzen der Praxis widmen und einen der zahlreichen Zugangswege nutzen, die Ihnen durch Ihr Menschsein an sich und in Ihren aktuellen Umständen offen stehen. Jeder Umstand, egal wie ungewollt oder schmerzhaft, ist eine potenzielle Tür in die Heilung. In der Welt der Achtsamkeit als Praxis und als Seinsweise gibt es viele, viele Türen. Sie alle führen in den gleichen Raum, den Raum des Gewahrseins an sich, den Raum des eigenen Herzens, den Raum Ihrer eigenen innewohnenden Ganzheit und Schönheit. Ganzheit und Schönheit sind bereits da, in Ihnen, wie auch Ihre intrinsische Fähigkeit zu Wachheit, selbst unter den aufreibendsten Umständen.

Eine regelmäßige Achtsamkeitspraxis zu etablieren, bedeutet eine große Veränderung des eigenen Lebensstils, wie MBSR-Teilnehmerinnen meist schnell selbst herausfinden, auch wenn sie das stets gesagt bekommen, bevor sie sich anmelden. Aber wenn wir die Disziplin einer täglichen formalen Achtsamkeitspraxis als Experiment durchführen und uns, so gut es uns gelingt, mit ganzem Herzen jeden Tag aufs Neue darauf einlassen, entdecken wir bald, dass wir einige Freiheitsgrade in unserer Entscheidung haben, wie wir uns auf das Unerwünschte oder das Beängstigende in unserem Leben beziehen, – ohne dabei zu leugnen, wie unerwünscht oder beängstigend manche Dinge sein können. In genau dieser Kultivierung von Achtsamkeit, als formale Meditationspraxis und als Seinsweise, entdecken wir, dass wir kraftvolle innere Ressourcen haben, aus denen wir schöpfen können, wenn wir dem Unerwünschten, Stressigen, Schmerzhaften oder Erschreckenden ins Auge blicken. Wir erleben, dass wir zahllose Gelegenheiten haben, uns dem, was auftaucht, zuzuwenden und uns damit anzufreunden, anstatt davor davonzulaufen oder uns einzumauern – ihm sozusagen den roten Teppich auszurollen. Warum? Aus dem einfachen Grund, dass es ohnehin bereits da ist. Und das Gleiche gilt für das Erwünschte, das Angenehme, das Verführerische, für Verstrickungen aller Art. Auch diese Erfahrungen können zu Objekten unserer Aufmerksamkeit werden, sodass wir uns vielleicht weniger darin verfangen oder sogar süchtig danach werden auf Weisen, die uns und anderen schaden oder uns von unseren eigentlichen Absichten ablenken.

Und genau an dieser Stelle kommt die Achtsamkeit ins Spiel. Es ist tatsächlich eine neue Seinsweise… eine neue Weise, in Beziehung zu den Dingen zu sein, so wie sie in diesem Moment sind, ob wir die Umstände, in denen wir uns befinden, nun mögen oder nicht, und unabhängig von unseren Gedanken darüber, was diese Umstände für die Zukunft bedeuten mögen. In der Praxis können wir Nicht-Wissen erkunden; wir können lernen, darin zu verweilen, und zumindest für diesen einen Augenblick mit dem Nicht-Wissen in Frieden zu sein. Es ist eine eigene Form von tiefer und heilsamer Intelligenz, sich damit vertraut zu machen und sogar damit einverstanden zu sein, zu wissen, dass wir nicht wissen. Zum einen befreit uns das von extrem eingrenzenden oder größtenteils nicht zutreffenden Geschichten, die oft auf Angst basieren und die wir nie müde werden, uns selbst zu erzählen, aber so gut wie nie wirklich darauf hin untersuchen, ob sie tatsächlich wahr sind, oder zumindest wahr genug in Anbetracht der Umstände, in denen wir uns befinden. Die meisten Gedanken, die das Wort sollte beinhalten, fallen wahrscheinlich in diese Kategorie. Wir denken, dass die Dinge auf eine bestimmte Weise sein sollten, aber stimmt das denn überhaupt?

Diese neue Seinsweise lädt zu etwas ein, das zunächst so wirken mag, als würden Sie sich selbst und die Welt ein klein wenig anders betrachten. Wie klein dieser Wandel auch sein mag, er ist zugleich auch riesig, tiefgreifend und vielleicht sogar befreiend, so wie er es für Margaret Donald war, die Verfasserin des obenstehenden Briefes. Wenn Menschen, oft sehr emotional, davon sprechen, dass die Praxis ihnen ihr Leben zurückgegeben oder es gerettet habe, nehme ich an, dass sie sich auf diesen kleinen Wandel, der gar nicht so klein ist, hin zu einer neuen Seinsweise beziehen.

Durch stete Hinwendung, Zugewandtheit und Sanftheit – und genau darum geht es bei den formalen und informellen Achtsamkeitsübungen, die in Teil 2 detailliert beschrieben werden – sind wir nun in der Lage, Achtsamkeit als Seinsweise zu leben. Wenn Achtsamkeit ein Diamant mit vielen Facetten wäre, dann könnte man sich jedes Kapitel in diesem Buch als eine von potenziell unendlich vielen einzigartigen Facetten vorstellen, von denen eine jede eine Eintrittspforte in die kristalline Struktur Ihrer eigenen Ganzheit und inneren Schönheit darstellt.

Man könnte aber auch eine andere Metapher verwenden und sagen, dass Achtsamkeit uns eine Reihe von fein geschliffenen Linsen anbietet, durch die wir einen Blick darauf werfen können, wie wir das, was in unserem Leben auftaucht, sei es erwünscht oder unerwünscht, in jedem Moment aufs Neue willkommen heißen und in der Tiefe betrachten können. Im zweiten Teil dieses Bandes stelle ich eine ganze Reihe solcher Perspektiven dar; viele davon stammen aus meiner eigenen Erfahrung. Doch es gibt unzählige weitere, die sich aus Ihrem eigenen Leben und Ihrer eigenen Kultivierung von Achtsamkeit ergeben werden, wenn Sie sich mit ganzem Herzen darauf einlassen, und sei es nur als Experiment für eine gewisse Zeit, damit Sie selbst sehen können, was sich daraus entfaltet.

Diese neuen Perspektiven werden Ihnen letztlich vielleicht helfen, Ihre jeweiligen eigenen Lebensumstände und Herausforderungen dazu zu nutzen, sich selbst an Ihrer eigenen Tür willkommen zu heißen, wie im letzten Kapitel dieses Buches vorgeschlagen, und mithin Ihre eigene ursprüngliche Fülle und Schönheit zu erkennen, wiederzuentdecken und zu verkörpern. Dies kann sich nur von Moment zu Moment entfalten, insbesondere, wenn Sie sich dazu entschließen, Ihr Leben so zu leben, als käme es wirklich darauf an, und zwar in dem einzigen Moment, den Sie, genau wie wir alle, je haben werden.

»So lange Sie atmen, ist mehr mit Ihnen in Ordnung, als mit Ihnen nicht stimmt, ganz egal, was das Problem ist«, sagen wir oft zu den Menschen, die für einen MBSR-Kurs in die Stress Reduction Clinic kommen. Achtsamkeit zu kultivieren ist ein Weg, Energie in Form von Aufmerksamkeit, Bewusstheit und Akzeptanz in das fließen zu lassen, was bereits mit Ihnen stimmt, was bereits heil ist, in Ergänzung zu und nicht als Ersatz für die Hilfe, die Unterstützung und die Behandlungen, die Sie gegebenenfalls bekommen oder benötigen – und zu sehen, was dann passiert.

Für dieses lebenslange Abenteuer wünsche ich Ihnen das Allerbeste.

Jon Kabat-Zinn

Northampton, MA

16. Mai 2018

1 Farb, Norman et al., Attending to the present: Mindfulness meditation reveals distinct neural modes of self-reference. In: Social Cognitive and Affective Neuroscience, 2 (4), 2007, S. 313–322. Auf: www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/18985137 (Stand: 22. 11. 2019) (doi: 10.1093/scan/nsm030)

2 Gedankenabschweifung und Tagträumerei werden unterschiedlich definiert. Das Abschweifen von Gedanken tritt bei spezifischen Tätigkeiten auf, wie Lesen oder Meditieren, wenn Sie versuchen, konzentriert zu bleiben. Tagträumen geschieht nach Definition, wenn Sie nicht versuchen, konzentriert zu bleiben, um etwas zu erledigen. Vgl. Amishi Jha auf www.youtube.com oder www.ted.com

Teil 1

Möglichkeiten der Heilung

Das Reich von Geist und Körper

[Die Menschen] sollten wissen, dass aus dem Gehirn und nur aus dem Gehirn unsere Vergnügungen, Freuden, unser Lachen und unsere Scherze entspringen, ebenso wie unsere Sorgen, Schmerzen, unser Kummer und unsere Tränen. Insbesondere denken wir durch es, wir sehen, hören und unterscheiden das Hässliche vom Schönen, das Schlechte vom Guten, das Angenehme vom Unangenehmen … Es ist dasselbe Ding, das uns irre werden lässt, das uns Angst und Furcht einjagt, ob bei Tag oder bei Nacht, das uns Schlaflosigkeit bringt, unpassende Fehler, unbegründete Befürchtungen, Geistesabwesenheit und sittenwidriges Verhalten. Diese Dinge, die wir erleiden, kommen alle aus dem Gehirn, wenn es nicht gesund ist, sondern abnorm heiß, kalt, feucht oder trocken oder irgendeinen anderen unnatürlichen Affekt erleidet, an den es nicht gewöhnt ist. Wahnsinn entsteht aus seiner Feuchtigkeit. Wenn das Gehirn abnorm feucht ist, dann muss es sich bewegen, und wenn es sich bewegt, dannhalten weder Sehen noch Hören still, sondern wir sehen oder hören bald das eine, bald das andere, und die Zunge redet in Übereinstimmung mit den bei jeder Gelegenheit gesehenen und gehörten Dingen. Doch wann immer das Gehirn still ist, kann ein Mensch angemessen denken.

HIPPOKRATESzugeschrieben(Quelle: Eric Kandel und James Schwartz,Principles of Neural Science,2nd ed., 1985)

Empfindungsvermögen

Empfindung, Psychologie: die als Folge einer Reizeinwirkung durch nervliche Erregungsleitung vermittelte Sinneswahrnehmung. Entsprechend den verschiedenen Sinnesfunktionen. Empfindung, Philosophie: die meist durch sinnliche Wahrnehmung ausgelöste Wirkung im menschlichen Erkenntnisapparat.

BROCKHAUS ENZYKLOPÄDIE

Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass alles an Ihnen, was vollkommen das ist, was es ist, in diesem Sinne vollkommen ist? Denken Sie nur einmal: Wie alle anderen Menschen wurden auch Sie geboren, haben sich entwickelt, sind aufgewachsen, leben Ihr Leben, treffen Entscheidungen. Die Dinge, die Ihnen widerfahren sind, sind Ihnen widerfahren, ob Sie es so wollten oder nicht. Falls Ihr Leben nicht unerwartet verfrüht endet, aber selbst falls das geschieht, haben Sie es im Rahmen Ihrer Möglichkeiten gelebt. Sie haben Ihre Arbeit getan, haben auf die eine oder andere Weise einen Beitrag geleistet, haben Ihr Erbe hinterlassen. Sie haben Beziehungen zu anderen Menschen und zur Welt geführt, und vielleicht haben Sie die Liebe geschmeckt oder wurden sogar darin gebadet und haben Ihre Liebe mit der Welt geteilt. Unausweichlich werden Sie immer älter – das heißt, wenn Sie Glück haben – und teilen Ihr Dasein weiterhin auf vielfältige Weise, sei sie nun befriedigend oder unbefriedigend, mit der Welt. Und schließlich sterben Sie.

So ist es jedem Menschen ergangen, der jemals auf diesem Planeten gelebt hat. Und so wird es auch Ihnen ergehen. Genauso wie mir. So ist das menschliche Leben.

Aber das ist noch nicht alles.

Die Kurzfassung aus der Vogelperspektive, die ich eben skizziert habe, ist natürlich kläglich unvollständig, auch wenn sie nicht als Karikatur gemeint ist. Denn es gibt noch ein weiteres, unsichtbares Element, das sich durch unser ganzes Leben zieht und wesentlich für seine Entfaltung ist. Allerdings ist es dermaßen in das Gefüge all unserer Momente eingewoben, dass es fast zu offensichtlich ist, um es in Betracht ziehen. Dennoch ist es diese Essenz, die uns nicht nur zu dem macht, was wir sind, sondern uns Fähigkeiten von einem Ausmaß verleiht, das wir nur selten spüren, geschweige denn würdigen und voll verwirklichen. Ich spreche natürlich vom Gewahrsein, von dem, was wir Bewusstsein, Empfindungs- oder Erkenntnisfähigkeit nennen, von unserem subjektiven Erleben.

Schließlich haben wir unsere eigene Spezies Homo sapiens sapiens genannt – mit einer doppelten Dosis des Partizip Präsenz von sapere, was »schmecken, wahrnehmen, erkennen, weise sein« bedeutet. Was das impliziert, ist klar. Das, was uns unserer Ansicht nach von den anderen Spezies unterscheidet, ist unsere Fähigkeit, in unserer Wahrnehmung weise zu sein, zu erkennen und unserer Erkenntnis gewahr zu sein. Doch diese Eigenschaften halten wir in unserem gewöhnlichen Alltagsleben für dermaßen selbstverständlich, dass wir sie praktisch übersehen, gar nicht erkennen oder sie höchstens vage anerkennen. Wir machen nicht den besten Gebrauch von unserem Bewusstsein, obwohl es uns doch faktisch in jedem Moment unseres wachen und träumenden Lebens ausmacht.

Es ist das Bewusstsein, das uns Leben einhaucht. Es ist das letztendliche Mysterium, das, was uns zu mehr macht als einem Mechanismus, der denkt und fühlt. Ja, wir sind Wahrnehmende wie alle Lebewesen, aber wir sind fähig zu einer erkennenden und unterscheidenden Weisheit, die über die reine Wahrnehmung hinausgeht. Das ist eine Gabe, die auf dieser kleinen Erde womöglich einzig und allein uns zuteil wurde. Unser Bewusstsein macht unsere Möglichkeiten aus, es setzt aber keineswegs die Grenzen des uns Möglichen. Wir sind die Spezies, die in ihre eigene Größe hineinwächst. Wir sind Kreaturen, die stets dazulernen und in der Konsequenz sich und die Welt verändern. Und als eine sich entwickelnde Spezies sind wir in bemerkenswert kurzer Zeit recht weit gekommen.

Heute weiß die Gehirnforschung eine ganze Menge über das Gehirn und den Geist, und dieses Wissen mehrt sich jeden Tag. Aber sie hat nicht die geringste Ahnung, was das Bewusstsein ist und wie es zustande kommt. Es ist ein großes Rätsel, ein scheinbar unergründliches Mysterium. Offenbar kann Materie, wenn sie nur komplex genug arrangiert ist, die Welt geistig erfassen und sie erkennen. Der Geist taucht auf. Bewusstsein entsteht. Doch wir haben keine Ahnung, wie. In der Kognitionswissenschaft nennt man dies das »harte Problem« des Bewusstseins.

Es ist eine Sache, dass wir auf unserer Netzhaut auf dem Kopf stehende zweidimensionale Bilder haben. Eine ganz andere ist es, zu sehen: die lebhafte Erfahrung einer Welt, die »da draußen« in drei Dimensionen existiert, jenseits unseres eigenen Körpers, eine Welt, die real zu sein scheint, die wir mit den Sinnen wahrnehmen, in der wir uns bewegen, derer wir uns bewusst sein können und die wir uns sogar mit geschlossenen Augen in vielen Einzelheiten vorstellen können. Und in dieser Vorstellung wird irgendwie auch die Empfindung eines persönlichen Selbst erzeugt, das Gefühl eines Sehenden, der das Sehen leistet und wahrnimmt, was es zu sehen gibt; ein Erkennender der erkennt, was es zu erkennen gibt, zumindest zu einem gewissen Grad. Und doch ist das alles eine Vorstellung, ein Konstrukt des Geistes, buchstäblich ein Machwerk – die Synthese einer Welt aus sensorischem Input, die zumindest teilweise darauf beruht, dass wir Unmengen an sensorischen Informationen durch komplexe Netzwerke im Gehirn, ja durch das gesamte Nervensystem und letztlich den gesamten Körper verarbeiten. Das ist eine wirklich phänomenale Leistung. Es ist ein riesiges Geheimnis und ein ganz außerordentliches Erbe, auch wenn wir alle es gewöhnlich für völlig selbstverständlich halten.

Der Neurobiologe und Entdecker der Doppelhelixstruktur der DNS, Francis Crick, sagte: »Trotz all dieser Arbeit [in der Psychologie, Physiologie und molekularen sowie zellularen Biologie des Sehvermögens] haben wir tatsächlich keine klare Vorstellung davon, wie wir überhaupt etwas sehen.« Selbst die Farbe blau (oder jede andere Farbe) existiert weder in den Photonen, aus denen das Licht dieser bestimmten Wellenlänge besteht, noch irgendwo im Auge oder im Gehirn. Wir sehen an einem wolkenlosen, sonnigen Tag zum Himmel auf und wissen einfach, dass er blau ist. Und wenn wir schon keine klare Vorstellung davon haben, wie wir etwas sehen, dann trifft das erst recht auf unser physiologisches Verständnis über die Art und Weise zu, wie wir etwas erkennen.

In seinem Buch Wie das Denken im Kopf entsteht beschreibt der Linguist und Neuropsychologe Steven Pinker die Empfindungsfähigkeit als eine Kategorie für sich:

In der Wissenschaft vom Geist jedoch schwebt die Empfindungsfähigkeit auf einer eigenen Ebene weit über den Kausalketten der Physiologie und Neurobiologie. (…) Und wir können die Empfindungsfähigkeit auch nicht aus unserem Diskurs verbannen oder auf den Zugang zu Information reduzieren, denn von ihr hängt die ethische Argumentation ab. Das Konzept der Empfindungsfähigkeit ist die Grundlage unserer Überzeugung, dass Folter etwas Schlechtes ist und dass die Zerstörung eines Roboters nur Sachbeschädigung, die Zerstörung eines Menschen aber Mord ist. Sie ist der Grund, dass der Tod eines geliebten Menschen in uns nicht nur Mitleid mit uns selbst wegen des Verlustes auslöst, sondern auch den verständnislosen Schmerz darüber, dass die Gedanken und Freuden dieses Menschen für immer verschwunden sind.

Dennoch behauptet Crick, dass Empfindungsfähigkeit, was immer es sein möge – sowie der Eindruck einer wirkenden Kraft, die wir mit den Pronomen »ich« und »mich« verbinden, ebenso wie alle anderen Eigenschaften, Phänomene und Erfahrungen, die wir mit dem Geist assoziieren – letztlich durch die Aktivität von Neuronen erzeugt werde, dass es also ein emergentes Phänomen der Gehirnstruktur ist, und eine Aktivität, hinter der keine wirkende Kraft steht, sondern nur neuroelektrische und neurochemische Impulse:

Das geistige Bild, das die meisten von uns haben, ist das eines kleinen Mannes (oder einer kleinen Frau) irgendwo innerhalb unseres Gehirns, der oder die das, was vor sich geht, verfolgt (oder zumindest sich sehr anstrengt, ihm zu folgen). Ich werde das den »Irrtum des Homunculus« (homunculus ist lateinisch »kleiner Mann«) nennen. Viele Menschen sehen das in der Tat so – und diese Tatsache wird an geeigneter Stelle einer eigenen Erklärung bedürfen – aber unsere »Erstaunliche Hypothese« behauptet, dass dies nicht der Fall ist. Flapsig formuliert, besagt sie: »Das machen alles die Neuronen.« Es muss Strukturen oder Abläufe im Gehirn geben, die sich auf irgendeine geheimnisvolle Weise so verhalten, als entsprächen sie dem geistigen Bild des Homunculus.

Der Philosoph John Searle antwortet darauf: »Wie kann es möglich sein, dass das physische, objektive, quantitativ beschreibbare Feuern von Neuronen qualitative, persönliche, subjektive Erfahrungen verursacht?« Dies ist eine große Herausforderung für das Feld der Roboterforschung, in dem die Wissenschaftler versuchen, Maschinen zu bauen, die so etwas tun können wie den Rasen mähen, wenn er gemäht werden muss, oder Geschirr wegzuräumen, wenn es sauber ist – Dinge, die wir tun können, ohne darüber nachdenken zu müssen (so sagen wir wenigstens), die aber für Roboter unglaublich schwer zu lösende Probleme darstellen. Darüber hinaus gibt es in dem explodierenden Feld der künstlichen Intelligenz inzwischen von Menschen entworfene Maschinen, die die nächste Generation von Maschinen entwerfen und bauen (oder zumindest dazu beitragen). Mit jeder Iteration nimmt die Komplexität und Lernfähigkeit der Maschinen zu. Ab einem bestimmten Punkt sieht es dann so aus, als hätten die Maschinen selbst Gefühle und könnten tatsächlich denken – mit integrierten Schaltkreisen anstelle von Neuronen, aber dennoch so, dass sie zumindest das »nachahmen«, was wir Agens, Intelligenz und Gefühl nennen. Und natürlich könnte es sein, dass auch wir selbst in Wirklichkeit hochentwickelte »Empfänger« sind, die sich mittels ihrer Neuronen auf ein nichtlokales »Bewusstsein« einer viel höheren Ordnung einstimmen, ein Bewusstsein, das eine Eigenschaft des Universums ist. Zumindest sind einige Menschen der Ansicht, dass sich diese Möglichkeit nicht gänzlich ausschließen lässt.

Allerdings möchte ich nicht zu weit in das Feld der verschiedenen Erklärungsversuche für das Bewusstsein sowie der kontroversen Meinungen darüber abschweifen, so faszinierend diese Fragen und die wissenschaftlichen und philosophischen Disziplinen, die sich damit befassen, auch sein mögen, etwa die Kognitionswissenschaft, die Phänomenologie, die künstliche Intelligenz und die sogenannte Neurophänomenologie. Mir geht es hier vielmehr um etwas ganz Naheliegendes, nämlich darum, dass wir unser Bewusstsein als etwas Grundlegendes erkennen und uns überlegen, ob es uns individuell und kollektiv dienlich sein könnte, diese außerordentliche Erkenntnisfähigkeit weiterzuentwickeln; – eine Fähigkeit, die, was bemerkenswert und wichtig ist, natürlich auch unzählige Male darin besteht, zu wissen, dass wir nicht wissen. Zu wissen, dass wir nicht wissen, ist ebenso wichtig wie alles andere, was wir wissen können – wenn nicht sogar noch wichtiger. Hier betreten wir das Reich des Unterscheidungsvermögens und der Weisheit – gewissermaßen die Quintessenz des Menschseins.

Am Ende eines Retreats für Psychologen in einer MBCT-Ausbildung (Mindfulness Based Cognitive Therapie, deutsch: Achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie) bemerkte ein Therapeut, der ja immerhin den ganzen Tag lang mit Menschen und deren Gefühlen und Gedanken arbeitet: »Ich schotte mich von den Menschen ab. Das ist etwas, von dem ich nicht wusste, dass ich es nicht wusste.«

Allzu oft leben wir unser Leben eingeschränkt von Gewohnheiten und Konditionierungen, derer wir uns nicht im geringsten bewusst sind, die aber unsere Augenblicke und unsere Entscheidungen, unsere Erfahrungen und unsere emotionalen Reaktionen prägen, selbst wenn wir glauben, wir wüssten es besser – oder sollten es besser wissen. Diese Tatsache allein weist schon auf einige der praktischen Grenzen des Denkens hin.

Doch wunderbarerweise haben wir immer Zugang zum Gewahrsein, dem ganzen Reich des Bewusstseins und verschiedener Intelligenzen, und können so gegen diese Konditionierung angehen und unser Gespür erweitern, sodass wir besser in Kontakt damit sind, sowie auch mit unserem Vermögen, tatsächlich das zu verstehen, was der Kognitionswissenschaftler Antonio Damasio das »Gespür für das, was geschieht« nennt.

Empfindungsfähigkeit ist uns näher als nah. Gewahrsein ist unsere Natur, und es liegt in unserer Natur. Es ist in unserem Körper, in unserer Spezies. Die Tibeter sagen, dass Erkennen, also die nichtbegriffliche erkennende Qualität, die Essenz dessen ist, was wir Geist nennen – zusammen mit Leere und Grenzenlosigkeit, welche der tibetische Buddhismus als komplementäre Aspekte derselben Essenz betrachtet.

Die Fähigkeit zum Gewahrsein ist uns offenbar angeboren. Wir können gar nicht anders, als gewahr sein. Das ist das Charakteristikum, das unsere Spezies ausmacht. Es liegt in unserer Biologie begründet, geht jedoch weit über das rein Biologische hinaus. Es ist das, was und wer wir in Wirklichkeit sind. Doch wenn diese Empfindungsfähigkeit nicht kultiviert und verfeinert und in mancher Hinsicht auch geschützt wird, besteht die Gefahr, dass es von Schlingpflanzen und Unterholz überwuchert wird und schwach und unterentwickelt bleibt, nicht viel mehr als ein schlummerndes Potenzial. Wir können relativ empfindungslos werden, unsensibel und mehr schlafend als wach, wenn es um unser Vermögen geht, über die Grenzen egoistischen Denkens hinaus etwas zu erkennen. Zu diesem Vermögen gehört auch die Erkenntnis, dass bestimmte Gedanken egoistisch sind, und damit schon in dem Moment, in dem sie entstehen, zu erkennen, dass sie beschränkt und eventuell unklug sind. Wird die Empfindungsfähigkeit kultiviert und gestärkt, dann erleuchtet sie unser Leben und die Welt und schenkt uns ein Maß an Freiheit, das wir uns kaum haben vorstellen können, obwohl unsere Vorstellungskraft selbst aus eben dieser stammt.

Dieses Empfindungsfähigkeit verleiht uns auch eine Weisheit, die uns aus unserer Neigung herausführen kann, bewusst oder unbewusst Schaden anzurichten und stattdessen Wunden zu heilen und die Souveränität und Würde all unserer Mitgeschöpfe anzuerkennen.

Das ist nicht persönlich gemeint, aber, verzeihen Sie… Sind wir wirklich, wer wir zu sein glauben?

Der wahre Wert eines menschlichen Wesens

wird vor allem von dem Ausmaß bestimmt,

in dem es Freiheit von sich selbst erlangt hat.

ALBERT EINSTEIN ZUGESCHRIEBEN

Als ich Biologie studierte, wurde uns eingehämmert, dass das Leben den Gesetzen der Physik und der Chemie gehorcht und dass biologische Phänomene genau denselben Naturgesetzen unterliegen (und einhämmern ist tatsächlich eine Metapher, die in höheren Bildungsinstitutionen nicht unüblich ist). Auch wenn das Leben sehr komplex ist und die Moleküle des Lebens weitaus komplizierter sind als die einfacheren atomaren und molekularen Strukturen der unbelebten Natur, so sagte man uns, bestehe kein Grund zu der Annahme, dass es eine besondere belebende Kraft oder »Lebensenergie« gäbe, welche die »Ursache« für die Lebendigkeit eines Systems sei. Da wäre also nichts außer einer einigermaßen prekären Konstellation von Umständen, die es den Komponenten und Strukturen von lebenden Systemen erlauben, so zusammenzuwirken, dass die Eigenschaften des Ganzen, also zum Beispiel einer lebenden, wachsenden und sich teilenden Zelle, emergieren. Dasselbe Prinzip gälte, weitergedacht, den Stammbaum der Evolution hinauf auch für die zunehmend komplexeren Lebensformen, die sich immer weiter in das Pflanzen- und Tierreich hinein entfalten und natürlich auch in unsere Säugetierlinie, in der sich nach und nach immer komplexere Nervensysteme entwickelten, bis dann irgendwann wir selbst auf den Plan traten.

Aus dieser Sicht gibt es keinen inhärenten Grund dafür, anzunehmen, dass wir nicht eines Tages Leben erzeugen können, auch wenn wir bis heute nicht einmal auf der Ebene einer einzelnen Zelle, nicht einmal auf der Ebene eines ganz »einfachen« einzelligen Organismus wie eines Bakteriums das verstehen, was wir »Leben« nennen, und tatsächlich wurde im Jahr 2010 das erste vollständig synthetische Bakterium hergestellt. In einem ähnlichen Durchbruch gelang es Forschern, das Polio-Virus im Labor aus einfachen Chemikalien anhand der im Internet gefundenen Informationen über die genetische Sequenz des Virus zusammenzusetzen. Nachdem sie es erzeugt hatten, konnten sie zeigen, dass es infektiös war und sich in einer lebenden Zelle replizieren und neue Viren erzeugen konnte – womit bewiesen war, dass keine »zusätzliche« Lebensenergie notwendig war.

Diese Perspektive, dass lebende Systeme nicht durch ein »zusätzliches« nichtmaterielles Elements belebt werden, ist in der Biologie ein Bollwerk gegen das, was früher »Vitalismus« genannt wurde, nämlich die Überzeugung, dass es einer besonderen Energie bedarf, die jenseits der von Physik, Chemie und Biologie erklärbaren Kräfte besteht, und nicht allein dadurch zustande kommt, dass das Leben über sehr lange Zeiträume seine einzigartigen Eigenschaften entwickelt, zu denen auch das Bewusstsein gehört. Der Vitalismus wurde als mystisch, irrational, antiwissenschaftlich und schlichtweg falsch angesehen. Und nach der bisherigen historischen Bilanz war und ist er es auch. Das heißt jedoch nicht, dass eine reduktionistische und rein materialistische Sichtweise richtig sein muss. Es gibt verschiedenste Methoden, das Mysterium des Lebens wissenschaftlich zu erforschen und zu verstehen, Methoden, die höhere Ordnungen von Phänomenen und deren emergente Eigenschaften in Betracht ziehen und anerkennen.

Vom Standpunkt der Biologie aus gibt es an der Basis lebender Systeme, einschließlich des Menschen, nichts anderes als unpersönliche Mechanismen. Sie sieht die Emergenz des Lebens selbst als eine Folge einer umfassenderen Emergenz, nämlich der Evolution des Universum und all der geordneten Strukturen und Prozesse, die sich darin entfalten. An einem bestimmten Punkt dieser Evolution, vielleicht vor etwa drei Milliarden Jahren, als die Bedingungen günstig waren auf dem noch jungen Planeten Erde – der sich aus dem interstellaren Staub gebildet hatte, welcher den in Entstehung befindlichen Stern umgab, den wir heute unsere Sonne nennen, einem Staub, der selbst wiederum das Ergebnis eines kolossalen Zerfalls früherer Sterne auf dem Weg über einen Gravitationskollaps war, in dem außer Wasserstoff eben die Atome entstanden, aus denen unser Körper und alles andere auf diesem Planeten gemacht ist –, konnte es gar nicht anders kommen als zur Synthese von Biomolekülen durch natürlich auftretende anorganische Prozesse in warmen Tümpeln und Ozeanen in Millionen und Abermillionen Jahren, vielleicht ausgelöst von Blitzen, von Tonerden und anderen unbelebten Mikroumgebungen, die auf verschiedene Weise zu solchen Prozessen beitragen können. In genügend langen Zeiträumen fanden diese verschiedenen Biomoleküle Möglichkeiten, entsprechend den Gesetzen der Chemie zu interagieren, was zur Entstehung rudimentärer Polymerketten von Nukleotiden (dem Stoff, aus dem die DNS und die RNS gemacht sind) und von Aminosäuren mit ganz bestimmten Eigenschaften führte.

Ihrer Natur nach besitzen Polynukleotidketten die Fähigkeit, mittels der Sequenz der vier Basen, aus denen sie bestehen, große Mengen an Informationen zu speichern; außerdem können sie sich selbst durch Replikation mit hoher Präzision verdoppeln und dabei diese Informationen bewahren, oder es kann unter bestimmten Bedingungen zu kleinen Veränderungen kommen, wodurch als Mutationen bezeichnete Varianten erzeugt werden, die in seltenen Fällen einen selektiven Vorteil im Wettstreit um natürliche Ressourcen haben können. Diese Informationen in den Polynukleotidketten werden in die lineare Sequenz von Aminosäuren übersetzt, die jene Polynukleotidketten bilden, die, wenn sie eingefaltet sind, Proteine genannt werden, sozusagen die Arbeitspferde der Zelle, die all ihre Tausende von chemischen Reaktionen ausführen, in welchem Fall sie Enzyme genannt werden; und die eine Myriade struktureller Schlüsselbausteine zur Verfügung stellen, aus denen die Zellen erzeugt werden, in welchem Fall sie strukturelle Proteine genannt werden.

Was genau geschehen ist, dass überhaupt eine organisierte Zelle entstand, wenn auch eine äußerst primitive Zelle, lässt sich bis heute nicht erklären. Aber in der Biologie ist man der Meinung, dass es im Prinzip verstanden werden kann und eines Tages auch wird – und alles, was nötig sein wird, um es zu verstehen, wird ein tieferes Verständnis komplexer Systeme aus Molekülen sein, die selbst keine Lebenskraft besitzen außer dem Vermögen, unter günstigen Bedingungen und im Zusammenwirken mit vielen anderen solcher Moleküle unvorhersehbare neue Phänomene emergieren zu lassen, einschließlich, und das ist wichtig, der Stabilisierung, Speicherung und Wiederherstellung von Informationen und der Modulation des Informationsflusses. In diesem Sinne ist das Leben eine natürliche Erweiterung der Evolution des Universums, sobald einmal Sterne und Planeten entstanden sind, welche die notwendigen Bedingungen bereitstellen, unter denen auf chemischen Prozessen basierende lebende Systeme emergieren können. Und Bewusstsein, das dann in lebenden Systemen emergiert, welche denselben Gesetzen der Physik und Chemie gehorchen, wenn die Bedingungen günstig sind, es genügend Zeit dafür gibt und der Selektionsdruck groß genug ist, damit sich eine solche Ebene der Komplexität entwickeln kann, wird deshalb als eine natürliche, wenn auch höchst unwahrscheinliche Emergenz aus einem evolutionären biologischen Prozess betrachtet, der leer von einer treibenden Kraft, leer von Teleologie und ganz und gar nicht mystisch ist.

Wenn Bewusstsein, zumindest ein chemisch begründetes Bewusstsein, bereits als potenzielle Möglichkeit in ein sich entwickelndes Universum eingebaut ist, und es sich aus diesem Potenzial entwickelt, sofern geeignete Anfangsbedingungen gegeben sind und genügend Zeit vorhanden ist, dann könnte man sagen, dass das Bewusstsein in lebenden Organismen eine Weise des Universums ist, sich selbst zu erkennen, sich selbst zu sehen, ja sogar sich selbst zu verstehen. Wir könnten sagen, dass in der unermesslichen Weite allen Seins diese Gnade uns zuteil geworden ist, dem Homo sapiens sapiens, zumindest allem Anschein nach in stärkerem Maße als allen anderen Spezies auf diesem unendlich winzigen Staubkorn, das wir in der unvorstellbaren Weite des sich ausdehnenden Universums bewohnen, in diesem Universum, in dem unsere Art von Materie, aus der unser Körper ebenso besteht wie die Planeten und sämtliche Sterne, nur einen winzig kleinen prozentualen Anteil der Substanz und Energie des Universums auszumachen scheint.3 Dieser Ansicht zufolge ist unsere Fähigkeit zu Bewusstsein uns nicht aufgrund irgendeiner moralischen Tugend zugefallen, sondern durch reinen Zufall, durch die Wechselfälle des evolutionären Selektionsdrucks auf die Spezies der baumbewohnenden Primaten, von denen sich einige, als sie sich in die Savannen hinausbewegten, sich zum aufrechten Gehen hin entwickelten, wodurch ihre Arme und Hände zu anderem Gebrauch frei und ihr Gehirn vor die Aufgabe gestellt wurde, mit einem größeren Spektrum an Herausforderungen umzugehen. Hier ist natürlich von unseren direkten Vorfahren die Rede.

Wie wir unsere ererbte Empfindungsfähigkeit verstehen und was wir individuell und kollektiv als Spezies damit anfangen, ist ohne Zweifel eine der entscheidendsten Fragen der heutigen Zeit. Der biologischen Sicht auf lebende Systeme mit ihrer ganz unpersönlichen Natur zufolge wohnt der Entfaltung des Lebens keine mystische Dimension inne. Sie besagt, dass Bewusstsein den Prozess nicht etwa lenkt, sondern aus dem Prozess emergiert, wenn auch das Potenzial für seine Emergenz die ganze Zeit latent vorhanden war. Nichtsdestoweniger kann Bewusstsein, wenn es erst einmal hoch genug entwickelt ist, tiefgreifenden Einfluss auf alle Bereiche des Lebens haben, und zwar durch unsere Entscheidungen darüber, wie wir leben und worin wir unsere Energie investieren wollen, und dadurch, dass wir anerkennen, welchen Einfluss wir auf unsere Welt haben. Empfindungsfähigkeit konnte nur durch die passenden Ursachen und Bedingungen emergieren, und dass diese eintreten, war keineswegs zwangsläufig. Wären sie allerdings nicht vorhanden gewesen, dann wäre auch niemand von uns da, um ihre Abwesenheit überhaupt bemerken zu können.

Wenn wir selbst also ein Produkt unpersönlicher Ursachen und Bedingungen sein sollen, die den Gesetzen von Physik und Chemie unterliegen, wie komplex auch immer diese sein mögen, und wenn es keine »Lebenskraft« hinter all dem gibt, dann können wir sehen, warum der Antivitalismus der Naturwissenschaften, insbesondere der Biologie, zu der Behauptung führt, dass es so etwas wie die Seele als ein entscheidendes Zentrum in einem fühlenden Wesen, das anderen Gesetzen gehorcht als denen der Physik und Chemie, nicht gibt. Im 17. Jahrhundert behauptete René Descartes, die Zirbeldrüse tief im Inneren des Gehirns sei der Sitz der Seele. Moderne Neurobiologen würden sagen, dass die Zirbeldrüse zwar viele Dinge leistet, aber keine Seele hervorbringt, zumal es keinen Grund gibt, eine dauerhafte Entität oder Energie zu postulieren, die immateriell ist und dem Organismus innewohnt oder mit diesem irgendwie verbunden ist und dessen Weg durchs Leben lenkt. Das bedeutet allerdings nicht, dass das Leben und die Fähigkeit zu Empfindungen nicht ein großes Mysterium sind und damit heilig, so wie auch das gesamte Universum ein großes Mysterium ist. Es heißt auch nicht, dass wir nicht von der Seele sprechen können, wenn wir damit das meinen, was sich tief in der Psyche und im Herzen bewegt, und auch nicht von der Quelle der Erbauung und Wandlung, die wir »Geist« im spirituellen Sinne nennen. Es impliziert ebenfalls nicht, dass unsere persönlichen Gefühle und unser persönliches Wohlergehen unwichtig wären und dass es keine Basis für ethisches und moralisches Handeln oder für die Empfindung des Numinosen gäbe. Tatsächlich könnten wir sagen, dass es unsere Natur und Berufung als fühlende Wesen ist, unsere Situation mit Ehrfurcht und Staunen zu betrachten und uns tiefe Fragen über das Potenzial zur Erweiterung unserer Empfindungsfähigkeit zu stellen und diese einzusetzen für das Wohlergehen anderer und dessen, was in dieser lebendigen Welt das Schönste und das Heiligste ist – so heilig, dass wir uns weit effektiver davor hüten würden, der Welt so respektlos zu begegnen oder sie womöglich sogar durch unsere Unreife zu zerstören.