Das Herz der Nacht - Judith Lennox - E-Book
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Das Herz der Nacht E-Book

Judith Lennox

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Beschreibung

Eine neue Welt eröffnet sich der jungen Engländerin Kay Garland, als sie in den Dreißigerjahren Gesellschafterin der Millionärstochter Miranda wird. Der Luxus und das mondäne Leben faszinieren sie, doch lernt sie auch die Schattenseiten des Reichtums kennen. Als Kay von Mirandas Vater unvermittelt entlassen wird, muss sie nach England zurückkehren. Miranda hingegen erlebt als Ehefrau eines deutschen Grafen in Ostpreußen den Kriegsausbruch. Die dunklen Zeiten fordern von beiden Freundinnen mutige Entscheidungen …

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Alexis in Liebe gewidmet

Übersetzung aus dem Englischen von Mechtild Sandberg

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

5. Auflage 2011

ISBN 978-3-492-95337-5

© Judith Lennox 2009

Titel der englischen Originalausgabe:

»The Heart of the Night«, Headline Review, London 2009

© der deutschsprachigen Ausgabe:

Piper Verlag GmbH, München 2009

Umschlagkonzept: semper smile, München

Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, München

Umschlagmotiv: Garry Issacs / Trevillion Images

Teil I

Die Vertraute

April 1936 – August 1939

1

KAY GARLAND BEGEGNETE MIRANDA DENISOV zum ersten Mal in einem Haus in der Charles Street in Mayfair. Miranda war beeindruckend schön, mit breiter Stirn, hohen Wangenknochen und vollen Lippen. Das schwarze Haar fiel seitlich gescheitelt in schimmernden Wellen auf ihre Schultern herab, und die glänzenden dunklen Augen bildeten einen aufregenden Kontrast zur magnolienweißen Haut. Sie sah älter aus als sechzehn. Und obwohl Kay, die hauptsächlich Selbstgeschneidertes trug und nur wenige, von ihrer Mutter geerbte Schmuckstücke besaß, von solchen Dingen wenig Ahnung hatte, sah sie sofort, dass Mirandas Kleid bei aller Schlichtheit hochelegant und teuer war. Miranda war höflich und liebenswürdig, wenn auch etwas distanziert.

Es war Kays zweiter Besuch in dem Haus in der Charles Street. Sie hatte sich um die Stellung einer Gesellschafterin für Miss Denisov beworben, nachdem sie die Anzeige in der Times gelesen hatte. Ihr Freund Brian, der in einem Antiquariat in der Charing Cross Road arbeitete, hatte sie darauf aufmerksam gemacht. »Geschäftsmann sucht kultivierte und gebildete junge Frau, Engländerin, zwischen 18 und 20 Jahren als Gesellschafterin für seine Tochter. Muss bereit sein zu reisen.« Kay war nie weiter als bis zur Isle of Wight gekommen. Sie wollte reisen. Sie war ganz versessen darauf zu reisen.

Das erste Gespräch mit ihr hatte Mrs Ingram geführt, die Haushälterin der Familie Denisov, eine freundliche Frau aus Yorkshire. Das Verhör war gründlich und direkt. Miss Garland sei also achtzehn Jahre alt, richtig? Was für eine Erziehung sie genossen, welche Schulen sie besucht habe? Ob sie bei guter Gesundheit sei? Ob es in ihrer Familie Fälle von Tuberkulose gebe? Miss Denisovs Mutter, eine Engländerin, war, wie Mrs Ingram erklärte, an Tuberkulose gestorben.

Danach hatte Mrs Ingram Kay erläutert, welche Pflichten und Aufgaben sie erwarteten, sollte ihr der Posten als Miss Denisovs Gesellschafterin anvertraut werden. Sie werde Miss Denisov zu all ihren Unterrichtsstunden und Verabredungen sowie auf ihren Reisen begleiten. Bei Abendveranstaltungen, seien es Bälle oder Bankette, sei ihre Teilnahme nicht erforderlich, bei solchen Anlässen werde Miss Denisov von ihrer Tante, Madame Lambert, betreut. Mr Denisov lege aber großen Wert darauf, dass die neue Gesellschafterin seiner Tochter helfe, ihre englischen Sprachkenntnisse zu verbessern – ein, zwei Stunden Unterricht jeden Morgen sollten genügen.

Eine Woche später war Kay zu einem zweiten Besuch geladen worden, bei dem sie nun Miranda Denisov kennenlernen sollte. Drei Bewerberinnen waren in die engere Wahl gekommen, wie Mrs Ingram ihr mitteilte, als sie sie in den Salon führte.

Das Zimmer, in dem Miranda Denisov wartete, war prachtvoll ausgestattet. Die Sofas und Sessel hatten geschwungene Rücken- und Armlehnen, deren rotbraunes Holz zu einem warmen, weichen Glanz poliert war. Schwere Vorhänge aus blau-goldenem Damast umrahmten, seitlich gerafft, die hohen Flügelfenster. Ölgemälde schmückten die Wände, und den ganzen Boden bedeckte ein edler Orientteppich.

Auf einem der Sofas saß eine Frau mittleren Alters in lila Chiffon, die Kay als Madame Lambert vorgestellt wurde.

Nach dieser ersten Formalität wurden einige freundliche Floskeln ausgetauscht, bevor Madame Lambert Kay mit scharfem Blick musterte und sagte: »Sie sehen sehr jung aus, wenn ich das einmal sagen darf, Mademoiselle Garland.«

»Aber natürlich ist sie jung, Tante Sonya«, warf Miranda ein wenig ungeduldig ein. »Meinst du, ich will eine alte Scharteke als Gesellschafterin? Da hätte mir Papa ja gleich die nächste Hauslehrerin engagieren können.« Miranda wandte sich Kay zu und lächelte zum ersten Mal. »Erzählen Sie mir etwas von sich, Miss Garland. Wo wohnen Sie?«

»In Pimlico, bei meiner Tante.«

»Sie haben eine feste Anstellung, nicht wahr? Mrs Ingram hat es mir erzählt. Gefällt Ihnen die Arbeit nicht?«

Kay war zurzeit als Erzieherin bei einer Mrs Harrison angestellt, die vier Kinder hatte. Mrs Harrison hielt nichts von der allgemeinen Schulpflicht; ihrer Meinung nach sollten Kinder nur das lernen, was sie lernen wollten. Kays Bemühungen, bei Storme, Syrie, Lionel und Orlando den Wunsch zu wecken, etwas über die Rosenkriege oder komplexe Brüche in Erfahrung zu bringen, liefen meist völlig ins Leere.

»Nicht besonders«, bekannte sie. »Ich würde sehr gern etwas anderes machen.«

»Was tun Sie denn gern? Was macht Ihnen Spaß?«

»Liebste Miranda –«

Miranda beachtete den Einwurf ihrer Tante nicht. »Verraten Sie es mir, Miss Garland.«

»Also, ich spiele gern Tennis, und besonders gern fahre ich Rad.«

»Fahrradfahren! Oh, ich würde so gern einmal Fahrrad fahren. Aber Papa erlaubt es nicht – er sagt, das gehört sich nicht für eine junge Dame.«

Unmöglich, dachte Kay, sich Miranda Denisov mit ihrem makellos frisierten Haar und ihrem Plisseerock aus cremefarbenem Wollstoff auf einem Fahrrad vorzustellen, wie sie mit Karacho durch Pfützen sauste, was Kay selbst mit größtem Vergnügen tat.

»Außerdem«, fuhr Kay fort, »gehe ich wahnsinnig gern ins Kino und ins Theater – und ich lese mit Leidenschaft, ich kann stundenlang in antiquarischen Buchhandlungen herumstöbern, geht Ihnen das auch so? Ach, und am schönsten finde ich es, einfach zu reden – Sie wissen schon, was ich meine, diese endlosen Diskussionen, die sich bis in die Nacht hineinziehen. Etwas Interessanteres gibt es kaum, finden Sie nicht auch?«

Schweigen. Kay begann, leicht nervös zu werden. Beantworte ihre Fragen kurz und freundlich, hatte ihre Tante Dot geraten, als sie sich am vergangenen Abend über das bevorstehende Vorstellungsgespräch unterhalten hatten. Da war wohl wieder einmal ihr Mundwerk mit ihr durchgegangen.

Dann sagte Miranda: »Ich glaube, wir werden uns gut verstehen, Miss Garland, was meinen Sie?«

»Heißt das, dass ich die Stellung habe?«, fragte Kay freudig erregt.

»Richtig.«

Sonya Lambert runzelte die Stirn. »Aber Miranda, chérie, dein Vater …«

»Miss Garland wird Papa bestimmt gefallen, Tante Sonya.« Miranda tat die Bedenken ihrer Tante mit einem Fingerschnippen ab. »Und die anderen waren so fad.« Das Lächeln, mit dem sie Kay ansah, war beinahe verschwörerisch. »Ja, ich denke, wir werden uns glänzend verstehen.«

Es regnete immer noch, als Kay wenig später das Haus der Denisovs verließ und aufgeregt nach Hause fuhr, um ihrer Tante die frohe Botschaft zu überbringen.

Kays Tante Dot war die Briefkastentante einer Frauenzeitschrift, wo sie unter dem Pseudonym »Cousine Freda« die Leserzuschriften beantwortete. Viele der Frauen, die ihr schrieben, hatten den Verlobten oder den Ehemann im Großen Krieg verloren. Manche waren arm und einsam. Als Kay noch jünger war, las Dot ihr manchmal die Briefe vor, und Kay empfahl ohne Rücksicht auf das jeweilige brennende Problem unweigerlich die Anschaffung eines Hundes. Sie selbst wünschte sich seit Jahren einen Hund, konnte aber keinen haben, weil das arme Tier den ganzen Tag allein im Haus gewesen wäre. Meistens schrieb Dot den Ratsuchenden zurück, die Arbeit sei eine große Wohltat für eine gequälte Seele, Zuneigung und Gemeinschaft ließen sich in Freundschaft finden. War sie mit dem Schreiben fertig, nahm sie für gewöhnlich ihre Brille ab, putzte die Gläser und sagte seufzend: »Das arme Ding. Einsamkeit ist etwas Schreckliches, Kay.«

Dot war unverheiratet geblieben, aber sie hatte, dem Rat getreu, den sie anderen so gern gab, einen großen Freundeskreis. Die Abendessen in Pimlico, bei denen manchmal bis zu zwölf Personen um den kleinen Esstisch saßen, waren immer lebendig und anregend. Dots Freunde kamen aus allen Generationen und aller Herren Länder: Kollegen von der Zeitschrift und Leute aus verschiedenen Vereinen, deren Arbeit für den Pazifismus, Sozialismus und den Völkerbund sie unterstützte; Maler, Romanautoren und Lyriker, von denen viele in Armut lebten; es gab den österreichischen Therapeuten, den italienischen Restaurantbesitzer, die französische Familie aus Etaples, wo Dot im Krieg als Pflegerin im Lazarett gearbeitet hatte. Die Familie hatte sich Anfang der Zwanzigerjahre in London niedergelassen und eine kleine Privatschule eröffnet, an der die Schüler montags, mittwochs und freitags nur Französisch sprechen durften. Als Kay mit zwölf die Schule abschloss, sprach sie die Sprache fließend. Neben alten Freunden konnte gut auch eine Frau mit am Tisch sitzen, mit der Dot beim Einkaufen ins Gespräch gekommen war, oder ein junges Mädchen, das Kay im Bus kennengelernt hatte. Zu den Abendessen bei Dot fanden sich alle ein.

In den Tagen nach Kays Vorstellungsgespräch wurde fieberhaft gewaschen, genäht und gepackt. Miranda, hatte Mrs Ingram der aufgeregten Kay erklärt, werde mit ihrer Tante und dem gesamten Hauspersonal in der folgenden Woche nach Paris abreisen. Mr Denisov, der sich bereits dort aufhielt, erwartete die Ankunft seiner Tochter, sobald die Frage der Gesellschafterin für Miranda geklärt war. Es sei nicht damit zu rechnen, hatte Mrs Ingram hinzugefügt, dass man bald nach London zurückkehren werde.

Es war April, kalt und windig in London, aber in Frankreich war vielleicht schon Frühling. Kay packte Baumwollkleider, einen leichten Regenmantel, kurze Hosen, einen Schwimmanzug und eine Bademütze ein. Dot schneiderte ihr auf ihrer Nähmaschine ein Abendkleid. Ein eleganter Hut musste aufgetrieben werden für den Fall, dass die Denisovs Kay mit zur Kirche nehmen wollten, Strümpfe und Handschuhe mussten gestopft werden. Als Kay Mrs Harrison kündigte, kostete es sie Mühe, ein glückliches Lächeln zu unterdrücken, aber als sie sich einige Tage später von ihrer Tante verabschiedete, um ihren Posten bei den Denisovs anzutreten, wurde ihr doch ein wenig flau, und sie umarmte Dot mit aller Kraft.

Bei ihrer Ankunft in dem eleganten Haus in Mayfair musste sie sich erst wieder ins Gedächtnis rufen, dass sie jetzt wirklich hierhergehörte. Ihr Zimmer im zweiten Stockwerk hatte eine Tapete mit Zweigmuster und war mit einem Bett, einem Kleiderschrank, einer Kommode und einem Waschtisch ausgestattet. Kay packte aus. Ihre Sachen wirkten recht verloren in dem großen Schrank.

Es klopfte. Miranda trat ein. »Ah, da sind Sie ja«, rief sie erfreut, küsste Kay auf beide Wangen und sah sich neugierig um. »Na, das ist aber eine armselige kleine Kammer. Unser Pariser Haus ist viel schöner, Sie werden sehen.«

»Mir gefällt das Zimmer.«

»Man kann von hier aus wahrscheinlich in den Garten sehen.« Miranda trat zum Fenster und blickte in den gepflasterten Innenhof mit den gestutzten Buchsbäumen hinunter. Sie wandte sich wieder Kay zu. »Ich freue mich so, dass Sie hier sind. Papa wollte eine Hauslehrerin für mich engagieren, aber das habe ich mir nicht gefallen lassen. Ich bin viel zu alt für eine Hauslehrerin. Die letzte, die ich hatte, war ständig erkältet und hat beim Sprechen ununterbrochen geschnieft.«

Kay lachte. »Da werden Sie mit mir vielleicht ein bisschen mehr Glück haben. Ich schniefe normalerweise nicht.«

»Und die, die vor Mademoiselle Fournier da war, hat mir jedes Mal mit dem Lineal eins auf die Finger gegeben, wenn ich etwas falsch gemacht habe. Manchmal hat es sogar geblutet.«

»Ich verspreche, dass ich Ihnen nie eins auf die Finger geben werde. Ich halte nichts von körperlicher Züchtigung. So wenig wie meine Tante Dot.«

»Dot? Das ist ja ein lustiger Name.«

»Es ist die Abkürzung von Dorothy. Meine Tante Dot hat mich nach dem Tod meiner Mutter großgezogen. Sie war ihre jüngere Schwester. Mein Vater ist schon vor meiner Geburt im Krieg gefallen, wissen Sie.«

»Und wann ist Ihre Mutter gestorben?«

»Als ich drei war«, antwortete Kay.

»Hm, da hatte ich meine Mutter immerhin sechs Jahre länger. Haben Sie noch Erinnerungen?«

»Kaum. Sie hatte helles Haar wie ich. Wir haben damals in Hampshire gewohnt. Wir hatten Apfelbäume im Garten. Ich kann mich erinnern, dass ich auf der Wiese lag, zu den Blüten hinaufschaute und fand, sie sähen aus wie Schnee. Wie war Ihre Mutter?«

»Sie war sehr schön. Möchten Sie eine Fotografie von ihr sehen, Miss Garland?«

»Bitte nennen Sie mich doch Kay. Ja, ich würde gern eine Fotografie sehen.«

Miranda nahm sie mit in ihr Zimmer. Der große, luftige Raum hatte zwei hohe Schiebefenster mit rosaroten Vorhängen, die mit dem tiefen Blauviolett der Wände kontrastierten. Mit roséfarbenem Samt bezogene Sessel standen locker gruppiert im Raum verteilt, auf der Kommode und am Fußende des Betts hockten unzählige Puppen. Es waren teure, altmodische Puppen mit Wachs- oder Porzellangesichtern, in Gewänder aus Seide und Spitzen gekleidet.

»Sie haben meiner Mutter gehört«, erklärte Miranda. »Sie hat sie als kleines Mädchen gesammelt. Manche von ihnen sind sehr alt. Gefallen sie Ihnen? Manchmal mag ich sie, und manchmal finde ich sie abscheulich.« Sie griff nach einer Puppe mit einem roten Umhang und einem roten Mützchen. »Raten Sie mal, wer das ist.«

»Rotkäppchen, oder?«

»Manchmal, ja.« Miranda lächelte. »Aber manchmal …«

Mit einer schnellen Handbewegung drehte sie den Kopf der Puppe, und statt des Kleinmädchengesichts zeigten sich jetzt die runzligen Züge eines alten Weibs. Noch eine Drehung, und eine dritte Maske erschien, eine Wolfsfratze mit roten Augen und gefletschten Zähnen.

»Als ich klein war«, erzählte Miranda, »hatte ich immer Angst vor dieser Puppe. Ich dachte, der Wolf könnte in der Nacht lebendig werden und mich fressen. Gott, wie kindisch.« Sie setzte die Puppe wieder auf die Kommode und reichte Kay ein gerahmtes Foto. »Das ist meine Mutter. War sie nicht eine schöne Frau?«

»Ja, sehr schön.« Kay betrachtete das versonnene Gesicht mit den dunklen Augen. »Sie fehlt Ihnen sicher schrecklich.«

»Ich habe sie nicht allzu oft gesehen. Maman kränkelte immer. Die meiste Zeit war sie weg, zur Kur oder in einem Sanatorium.«

»Und Ihr Vater? Er ist doch zurzeit in Paris, nicht wahr?«

»Ja. Sie werden ihn bald kennenlernen.«

»Begleiten Sie ihn auf allen seinen Reisen?«

»Nicht nur ich, die ganze Mannschaft. Papa ist da sehr eigen.« Miranda stellte das Foto wieder weg. »Ich bin so froh, dass ich endlich jemanden habe, mit dem ich reden kann. Tante Sonya jammert immer nur. Ach, ich hoffe, wir werden richtig gute Freundinnen.« Mirandas Blick war ein wenig ängstlich, bemerkte Kay.

»Ganz sicher«, versprach sie.

Wenige Tage später reisten sie nach Paris ab. Sie nahmen den Golden Arrow, den durchgehenden Expresszug, der vormittags um elf vom Victoria-Bahnhof abfuhr. Kay und Miranda teilten sich ein Abteil erster Klasse mit Mirandas Tante Sonya, die einen Pelzmantel trug und dazu einen rosaroten Samthut mit Federn. Sie fröstelte demonstrativ und klagte über die Kälte.

Kay hätte gern über den kuschelig weichen Stoff gestrichen, mit dem die Sitze bezogen waren, hätte gern die Zuckerdose zur Hand genommen und mit der Fingerspitze das von den Worten »Pullman Car Company Limited« umkränzte Wappen nachgezeichnet. Der Zug stampfte langsam aus dem Bahnhof. Draußen zogen zuerst rußgeschwärzte Lagerhäuser und Rangierbahnhöfe vorüber, dann endlose Reihen trister Hinterhöfe, wo alles, was sonst verborgen war – Mülltonnen, Wäscheleinen, kleine gemauerte Aborthäuschen –, dem Blick der Zugpassagiere preisgegeben war. Schließlich blieb London zurück, und das großstädtische Gewirr von Häusern und Straßen wurde von der grünen Hügellandschaft Kents abgelöst.

Reisefieber packte Kay, als der Zug in den Hafen von Dover einlief und sie sich bereitmachten, an Bord der Fähre zu gehen. Von einem Steward geführt, gingen sie über das sachte schwankende Deck des Fährschiffs zu ihrer Kabine. Sonya Lambert streckte sich sofort mit einem tiefen Seufzer auf einem der Betten aus. »Wir gehen an Deck, Tante Sonya«, sagte Miranda schnell, nahm Kay beim Arm und schob sie aus der Kabine.

Sie stellten sich an die Reling und sahen zu, wie sich die englische Küste immer weiter entfernte. Die Wellen glitzerten, und über ihnen kreisten die Möwen. Es wehte eine steife Brise, und Kay war froh, dass sie ihren Dufflecoat angezogen und einen Schal umgebunden hatte. Miranda, die neben ihr stand, trug einen hellen Pelzmantel, dessen hochgeschlagener Kragen schmeichelnd ihr Gesicht umrahmte.

Auf der Überfahrt erforschten sie erst einmal das Schiff, ehe sie sich in den Speisesaal setzten und beim Kaffeetrinken Mutmaßungen über die anderen Reisenden anstellten, sich damit vergnügten, Namen und Berufe für sie zu erfinden. Als das Ende der Reise nahte, gingen sie wieder an Deck.

Frankreich war kaum mehr als eine dunkelgraue Stelle am Horizont. Nur langsam traten Küstenlinie, Stadt und Hafen aus dem Dunst. Als Kay von Bord ging, fühlte sie sich einen Moment lang völlig desorientiert – der Boden unter ihren Füßen schien zu schwanken wie Meereswellen. Dann dachte sie beglückt und ungläubig: Das bin wirklich und wahrhaftig ich, Kay Garland, endlich in einem fremden Land. Sie war begeistert von allem, was sie auf der Eisenbahnfahrt durch das flache Land des Pas-de-Calais sah, von den rot gedeckten Häusern der Dörfer bis zu den Ladenschildern – boulangerie, tabac, épicier. Viel interessanter, fand sie, als Bäcker, Tabakladen und Lebensmittelhändler.

An der Gare du Nord wurden sie von mehreren Wagen abgeholt, die sie ins achte Arrondissement fuhren, wo die Denisovs ihr Haus hatten. Es war ein großes, elegantes Gebäude mit Balkonen mit schmiedeeisernen Gittern, ähnlich dunkel und luxuriös ausgestattet wie das Haus in der Charles Street. Kays Zimmer, in der dritten Etage gelegen, war in Blassgrün und Weiß gehalten. Wenn sie aus dem Fenster zur Straße hinunterblickte, konnte sie das Hupen der Autos hören und vorübereilende Menschen sehen. Sie verspürte eine Sehnsucht, die beinahe schmerzte, so heftig war sie; sie konnte es kaum erwarten, diese märchenhafte fremde Stadt zu erforschen.

Aber vorher musste sie Dot schreiben und sie wissen lassen, dass sie gut angekommen war. Sie nahm ein Blatt Briefpapier und setzte zuerst das Datum darauf, 10. April 1936, und dann die Adresse, wobei sie das Wort »Paris« dreimal dick unterstrich.

An diesem Abend lernte Kay Mirandas Vater kennen. Konstantin Denisov war ein imposant aussehender Mann, groß und gut gebaut, mit breiter Brust, kräftigen Schultern und einem stämmigen Hals. Er hatte eine tiefe, volltönende Stimme und sprach gut Französisch, wenn auch mit starkem Akzent. Kay müsse das Abendessen mit der Familie einnehmen, wenn er und seine Tochter nicht gerade irgendwelchen gesellschaftlichen Verpflichtungen nachkommen müssten, erklärte er; er betrachte es als ein Privileg, sich mit einer geborenen Engländerin unterhalten zu können. Mr Denisov bewunderte die Engländer, sie seien ein unternehmungslustiges und praktisch denkendes Volk. Es war ihm wichtig, dass seine Tochter ordentliches Englisch sprach – es war schließlich die Muttersprache seiner Frau, Mirandas Mutter, gewesen. Er liebe England, sagte er, würde so gern in einem kleinen Haus auf dem Land leben, mit Apfelbäumen und vielen Tieren. Leider jedoch zwangen ihn seine Geschäfte, sich den größten Teil des Jahres auf dem Kontinent aufzuhalten.

Die förmlichen Diners im Haus Denisov hatten, wie Kay sehr schnell feststellte, mit den familiären Abendessen zu Hause, bei Tante Dot, nichts gemein. Da stand keine einladend dampfende Terrine auf dem Tisch, aus der sich jeder seine Portion Eintopf nahm, und es fanden keine gut gelaunten Diskussionen über Politik oder den neuesten Roman statt. Die Diener, die diskret die Speisen auftrugen, das Aufgebot an Porzellan, Glas und Silber schüchterten Kay ein, sie hatte plötzlich Angst, ihre Tischmanieren seien vielleicht nicht ganz perfekt, das braune Samtkleid, das Dot ihr für den Abend geschneidert hatte, könnte nicht genügen. Wie gut, sagte sie sich erleichtert, dass ihre Füße, die sie zu groß fand, unter dem Esstisch verborgen waren.

Das Tischgespräch bestimmte Konstantin Denisov. Wenn er sprach, schwiegen alle anderen. Ein- oder zweimal merkte Kay, dass er sie musterte. Der Blick war kalt und abschätzend. Beim Nachtisch kam Luca, der Sekretär, herein, um seinem Arbeitgeber zu melden, dass ein erwarteter Anruf gekommen sei, und Denisov ging hinaus. Kay hatte den Eindruck, dass Madame Lambert und Miranda aufatmeten.

In den folgenden Tagen lernte Kay den Haushalt besser kennen. Konstantin Denisovs Bedienstete und Angestellte bildeten eine internationale Truppe – eine englische Haushälterin, ein französischer Koch, ein deutscher Chauffeur, ein italienischer Sekretär. Obwohl Denisov selbst Russe war, wurde im Haus im Allgemeinen Französisch gesprochen.

Morgens war Denisov meist schon im Büro, wenn Kay und Miranda um acht Uhr aufstanden. Tante Sonya, die stets im Bett frühstückte, kam gähnend und noch im Negligé um zehn Uhr herunter. Die Stunde danach war dem Englischunterricht gewidmet, während Tante Sonya die Blumen versorgte und mit Mrs Ingram den Speisezettel besprach. An Mirandas Englisch gab es kaum noch etwas auszusetzen, darum vertrieben sich die beiden jungen Mädchen die Zeit damit, zusammen Shakespeare zu lesen. Außer Französisch und Englisch sprach Miranda fließend Deutsch und kam auch im Russischen und Italienischen gut zurecht.

Um eins aßen sie mit Tante Sonya zu Mittag, entweder in einem Restaurant oder zu Hause. Die Nachmittage waren mit Besuchen, Einkäufen, Tennis und Ballettstunden ausgefüllt. Das Ballett war Mirandas große Leidenschaft, nie hätte sie freiwillig auf eine Stunde verzichtet. Wenn ihr Vater sich über sie geärgert hatte und sie schmerzhaft bestrafen wollte, verbot er ihr den Unterrichtsbesuch.

Um vier Uhr tranken sie mit Tante Sonya Tee. Alle zwei Wochen kam ein Paket von Fortnum & Mason in London mit schottischem Teekuchen, Cooper’s-Oxford-Orangenmarmelade und Tate and Lyle Golden Syrup. Nach dem Tee ruhte Miranda eine Stunde, danach kleideten sie sich zum Abendessen um. Um halb neun wurde serviert. Wenn Denisov mit seinen beiden Damen abends ausging, zu einer Gesellschaft oder einem Ball, brachte eines der Mädchen Kay ein Tablett aufs Zimmer.

Tante Sonya hatte ein Schoßhündchen namens Frou Frou, meist halb versteckt in den Kaskaden von Seide und Chiffon, in die seine Herrin sich tagsüber kleidete. Abends trat Sonya dramatisch in schwarzem oder blutrotem Satin auf. Im Beisein Denisovs war Sonya respektvoll und bemüht, gefällig zu sein. Jede Panne im reibungslosen Ablauf des Haushalts versuchte sie zu vertuschen. Aber wenn Konstantin Denisov nicht im Haus war, räkelte sich Sonya für gewöhnlich mit Frou Frou und einer Schachtel Pralinés auf ihrem Lieblingssofa. Hin und wieder blätterte sie mit angefeuchteter Fingerspitze eine Seite in einer Zeitschrift um. Mirandas Vorschläge, spazieren zu gehen oder einen Einkaufsbummel zu machen, wurden unweigerlich mit einem matten »Ach, ich bin so müde, chérie« oder »Ich habe so entsetzliche Kopfschmerzen, Herzchen« abgelehnt.

Kay merkte von Anfang an, dass Miranda für Tante Sonya nicht viel übrighatte. Und Tante Sonya, die Miranda zwar »chérie« und »Herzchen« nannte und mit Küsschen nicht sparte, wurde schnell gereizt, wenn Miranda nicht gleich tat, was sie wollte, oder gar zu widersprechen wagte.

Eines Tages, vielleicht eine Woche nach ihrer Ankunft in Paris, hörte Kay, die gerade vom Briefkasten zurückkam, Konstantin Denisovs laute zornige Stimme aus dem Salon und dazwischen immer wieder Tante Sonyas furchtsames Blöken: »Aber Kostya, Liebster!« Schließlich folgten ein lautes Krachen und ein Schrei.

Als sie nach oben blickte, bemerkte sie Miranda, die sich lauschend über das Treppengeländer beugte. Sie lief nach oben. Miranda legte beschwörend einen Finger auf die Lippen. Unter ihnen flog die Salontür auf. Miranda nahm Kay bei der Hand. »Schnell«, flüsterte sie, »sie dürfen uns nicht entdecken.« Und hastig zog sie Kay die nächste Treppe hinauf.

»Was ist denn passiert?«, fragte Kay.

»Die Coreils – une famille très snob – haben eine Einladung zum Abendessen abgelehnt. Papa gibt Tante Sonya die Schuld.« Miranda schien sich darüber zu freuen. »Er ist wütend auf sie. Ich hoffe, er setzt sie endlich an die Luft.«

»Aber Miranda!« Kay war schockiert. »Sie ist doch Ihre Tante.«

Miranda öffnete die Tür zu ihrem Zimmer. Sie gingen hinein. »Nein, ist sie nicht«, entgegnete sie. »Sie ist nicht meine richtige Tante. Sie war einmal die Mätresse meines Vaters – aber das ist lange her. Und das ist auch schon alles.«

Kay starrte Miranda verblüfft an. »Sie war seine Mätresse?«

»Ja, sie war seine Geliebte.« Miranda ließ sich auf ein kleines, vergoldetes Sofa fallen. »Schwer zu glauben, nicht? Sie ist so dick und hässlich und so blöd. Und trotzdem war sie mal seine Geliebte. Als mein Vater sie kennenlernte, war sie noch mit Monsieur Lambert verheiratet, diesem Unglücksraben. Der arme Kerl ist ein paar Jahre später gestorben – kein Wunder, bei so einer Frau. Der Tod muss eine Erlösung für ihn gewesen sein. Natürlich ist das zwischen Papa und ihr längst vorbei. Er hat jetzt eine andere Geliebte. Conrad hat mir erzählt, sie sei sehr hübsch.« Conrad war der Chauffeur. Miranda lachte. »Machen Sie nicht so ein entsetztes Gesicht, Kay. Haben Sie sich denn nicht schon so etwas gedacht?«

Kay schüttelte den Kopf.

»Sie finden es wahrscheinlich abscheulich, dass ich so über Sonya spreche, aber glauben Sie mir, sie tut nur so, als würde sie mich mögen. Sie weiß genau, dass mein Vater sie fortschicken würde, wenn er dahinterkäme, wie unausstehlich sie mich findet, und dann wüsste sie nicht, wohin. Wir dulden einander nur, weil wir müssen. Wenn ich einmal heirate und von zu Hause weggehe, sprechen wir bestimmt nie wieder ein Wort miteinander.« Miranda runzelte die Stirn. »Ich hasse sie, weil sie mich ständig bespitzelt und ihre Nase in meine Angelegenheiten steckt. Sie belauscht mich am Telefon – manchmal macht sie sogar meine Briefe auf. Und einmal habe ich sie mit meinem Tagebuch ertappt.«

»Vielleicht ist das nur ihre etwas unglückliche Art«, meinte Kay. »Vielleicht geht es ihr nur um Ihre Sicherheit, Miranda.«

»Nein, das glaube ich nicht. Sie hofft, dass sie irgendetwas Nachteiliges über mich aufstöbert und es dann brühwarm meinem Vater erzählen kann. Sie bildet sich ein, dass er sie dann lieber mögen wird als mich. Ich habe Ihnen ja gesagt, dass sie blöd ist. Manchmal nimmt sie mir auch Geld aus dem Portemonnaie.«

Kay war erschüttert. »Sind Sie sicher?«

»Ich weiß nie genau, wie viel Geld ich in der Tasche habe, darum kann ich nie ganz sicher sein. Aber sie beklagt sich dauernd, dass sie nicht genug Geld hat, und manchmal ist mein Portemonnaie leer. Ich glaube nicht, dass mein Vater ihr sehr viel gibt. Warum sollte er auch? Sie ist eine unnütze Person. Und sie ist gemein. Einmal, als ihr grässlicher Hund eine Vase zerbrochen hat, behauptete Sonya, es wäre einer der Angestellten gewesen. Mein Vater hat ihn entlassen. War das etwa nicht gemein? Und ich bin es so leid, immer zu Hause herumsitzen zu müssen. ›Aber ich bin so müde, chérie… Ich habe schreckliche Kopfschmerzen, Herzchen.‹« Miranda imitierte unglaublich treffend den wehleidigen Ton Sonya Lamberts.

Seufzend kniete sie sich auf das Sofa und blickte zum Fenster hinaus. »Gott, habe ich dieses Haus satt. Aber morgen unternehmen wir etwas; irgendetwas Spannendes, ja, Kay?«

»Woran haben Sie denn gedacht?«

Miranda lächelte. »Morgen mache ich Sie mit meinen Freunden bekannt.«

Mirandas Freunde wohnten in der Rue Daru. Sie hatte ihre Bekanntschaft in der Alexander-Nevski-Kathedrale gemacht, wo sie und Tante Sonya manchmal am Gottesdienst teilnahmen. Die kunstvoll verzierten Türme der Kirche waren von goldenen Kugeln gekrönt; das Mosaikbildnis des Heiligen über dem Portal hob sich von einem goldenen Hintergrund ab. In diesem Viertel von Paris hatten sich viele russische Emigranten niedergelassen, nachdem 1917 mit dem Sturz des Zaren die ihnen vertraute Welt untergegangen war.

Ihr Vater verachte die Emigranten, obwohl er selbst einer war, erzählte Miranda auf dem Weg von der Schneiderin zur Rue Daru. Er fand, diese Leuten seien rückwärtsgewandt und höchstens zu bedauern in ihrer Unfähigkeit, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Tante Sonya, sagte sie, würde ihre Besuche in der Rue Daru augenblicklich unterbinden, wenn sie je davon erfahren sollte. Aber Miranda hatte im Lauf der Jahre gelernt, wie sie sich jeden Tag ein, zwei Stunden Freiheit stehlen konnte: Sie nützte Tante Sonyas Trägheit dazu aus, diese zu überreden, sie unbegleitet zur Schneiderin oder zur Ballettstunde gehen zu lassen. Tante Sonya achtete zwar streng darauf, dass Miranda pünktlich zur verabredeten Zeit von ihrem jeweiligen Termin zurück war, doch sie dachte nicht daran, dass eine Anprobe bei der Schneiderin auch in einer halben Stunde erledigt werden konnte oder dass Miranda lügen und ihr erzählen könnte, der Ballettunterricht dauere zwei Stunden, wenn er in Wirklichkeit nach einer vorüber war.

Diese gestohlenen Stunden hatte Miranda genutzt, um die Menschen aus der Rue Daru näher kennenzulernen. »Madame Baranova gibt jeden Mittwochnachmittag eine Gesellschaft«, berichtete sie Kay. »Es ist immer unglaublich nett dort. Es wird gesungen und Musik gemacht und viel erzählt, und das Essen ist ganz köstlich.« Miranda hakte sich bei Kay ein. »Ach, jetzt, wo Sie hier sind, wird das alles viel einfacher, Kay.«

Alexandra Baranova war die Witwe eines Generals, der im Heer des Zaren gekämpft hatte. Der Salon in ihrer Wohnung war nicht groß, dennoch zählte Kay mehr als dreißig Gäste, die auf Sofas, Sesseln, Fensterbänken und auf dem Boden Platz gefunden hatten. Die hohen Fenster waren von Vorhängen aus scharlachrotem Samt umrahmt, der an den Bruchkanten fadenscheinig war. Auf Beistelltischen und Kaminsimsen standen kobaltblaue Keramiken und Lackkästchen mit Bildern neben Fotografien von kleinen Jungen in Matrosenanzügen und sanft blickenden Mädchen mit gerüschten Kragen und langen weißen Röcken. Verblichene Eleganz und ein fremdartiger Charme bestimmten die Atmosphäre des Raums.

Kay machte die Bekanntschaft von Soldaten, Dichtern und Musikern. Ein Fürst erzählte ihr von seiner Kindheit in Russland: vom Knirschen des Schnees im Winter und von Schmetterlingen, die einander über sommerlich goldene Getreidefelder rund um die Familiendatscha jagten. Einmal war er mit auf einer Wolfsjagd gewesen, sein Vater hatte ihn vorn auf sein Pferd genommen und war mit ihm durch einen weißen Winterwald geritten, über dem die Sonne wie eine verschwommene weiße Scheibe tief am perlgrauen Himmel hing. Er hatte mit seiner Frau früher in St. Petersburg gelebt, in einem Garten mit Linden und Fliederbüschen. Nach der Revolution, in den Wirren des Bürgerkriegs, waren sie aus Russland geflohen und hatten sich, wie viele andere russische Exilanten, zuerst in Berlin niedergelassen. Um leben zu können, hatten sie den Schmuck der Fürstin verkauft, den sie, in das Futter ihres Mantels eingenäht, nach Deutschland geschmuggelt hatten. Damals, erzählte der Fürst, konnte man in Berlin gut leben, wenn man Gold oder Devisen hatte. Die Stadt, immer schon unkonventionell und lebendig, war voller Theater, Galerien und Museen, Konzertsäle und Kabaretts. Sie waren von Freunden umgeben und fühlten sich deshalb nicht einsam. In Berlin konnte man russische Zeitungen und russische Bücher kaufen. Aber jetzt nicht mehr, fügte der Fürst niedergeschlagen hinzu; Berlin hatte sich verändert.

Mitte der Zwanzigerjahre, als die deutsche Wirtschaft sich langsam erholte und Berlin immer teurer wurde, zogen sie nach Paris um. Nicht lange nach ihrer Ankunft dort starb die Fürstin. »Ich vermute«, sagte der Fürst zu Kay, »als wir noch in Berlin lebten, konnte meine Frau glauben, dass wir eines Tages nach Hause zurückkehren würden. Nach dem Umzug nach Paris hat sie die Hoffnung aufgegeben. Der Arzt sagte, die Influenza sei an ihrem Tod schuld, aber ich bin überzeugt, dass sie an gebrochenem Herzen gestorben ist.«

Er fragte Kay, ob London ihr fehle.

»Ein wenig«, antwortete sie, »aber ich wollte immer schon reisen.«

Der Fürst lächelte mit etwas bitterer Ironie. »Ich auch, als ich jung war. Reisen ist etwas Herrliches, wenn man weiß, dass man am Ende wieder nach Hause fahren kann.«

Um drei Uhr gab es Tee mit Käsegebäck und Kirschtörtchen. Der Tee wurde nach russischem Brauch in einem Glas und mit einem Löffel Konfitüre serviert. Später lauschten alle aufmerksam dem Klavierspiel eines schwarzbärtigen Mannes und hörten einer jungen Frau zu, die ein Gedicht sprach. Madame Baranova bat Miranda, ihnen etwas zu singen. Mit klarer, melodischer Stimme trug Miranda, von dem schwarzbärtigen Pianisten begleitet, ein französisches Lied vor. Sie waren alle anregend und interessant und kamen ihr freundlich entgegen, trotzdem hatte Kay den Eindruck einer unterschwelligen Traurigkeit, die sich nicht vertreiben ließ.

Von Alexandra Baranova – die ihre Freunde Shura nannten – erfuhr Kay mehr über Konstantin Denisov und seine Geschichte. Denisov, sagte Madame Baranova, war klüger gewesen als die meisten. Er hatte die Zeichen der Zeit rechtzeitig erkannt und sein Geld in ausländischen Unternehmen angelegt, sodass ihn die Revolution, als sie schließlich kam, nicht in völlige Armut stürzte wie so viele seiner Landsleute. Nach dem Ende des Großen Kriegs war Denisov wie andere russische Emigranten nach Berlin übergesiedelt. Während der Inflation, als junge Berlinerinnen sich für den Preis eines warmen Abendessens verkauften, hatte Konstantin Denisov einen ganzen Straßenzug aufgekauft. Einige Jahre später hatte er die Häuser für das Zehnfache des von ihm gezahlten Preises wieder losgeschlagen. Das hatte seinen heutigen Reichtum begründet.

Kay merkte sehr bald, dass Miranda, wenngleich von Geburt an von allem erdenklichen Luxus umgeben, immer ein einsames Kind gewesen war. Sie wurde verwöhnt und gehätschelt, aber sie war nie allein. Alles musste unter den wachsamen Blicken irgendwelcher Aufsichtspersonen geschehen. In mancher Hinsicht war Miranda kindlich für ihr Alter – diese Puppen, diese Unselbstständigkeit, wenn es etwa darum ging, ein Zugbillett zu kaufen, eine Scheibe Weißbrot zu toasten oder einen Knopf anzunähen. Kay war da ganz anders. Von Kindesbeinen an zur Selbstständigkeit erzogen, war sie es von ihrem neunten Lebensjahr an gewöhnt gewesen, nach der Schule allein nach Hause zu gehen und sich, da niemand sie erwartete, selbst das Essen zu machen. Sie kannte sich in London aus, verdiente seit ihrem Schulabgang ihr Leben selbst. Doch an Welterfahrenheit war Miranda ihr weit überlegen. Sie wusste mit ihren sechzehn Jahren genau, was eine Mätresse war und wie man zur Mätresse wurde. Im Umgang mit den Geschäftsfreunden ihres Vaters – Männern, die doppelt und dreifach so alt waren wie sie – war sie charmant, selbstbewusst und ein klein wenig kokett. Kay fand diese künstliche Scheinwelt, in der Miranda lebte, bestürzend und manchmal erschreckend.

Konstantin Denisov war ein Tyrann. Unter seinem Dach begegnete Kay zum ersten Mal absoluter Gewalt. Er überwachte seine Familie und sein Haus mit dem gleichen gnadenlos strengen Blick wie seine Geschäfte. Er war machtbewusst, schlagfertig und launisch. Ein ungeschickt gewähltes Wort, ein Lächeln oder Stirnrunzeln im falschen Moment, und seine Stimmung schlug blitzartig um: Hinter der Jovialität kam die zähnefletschende Wolfsfratze zum Vorschein. Von Denisov ging eine Kälte aus, die Kay vorsichtig machte. Er dachte sich nichts dabei, andere zu verletzen. Einen Konkurrenten zugrunde zu richten oder Miranda ein Vergnügen zu verbieten war für ihn das Gleiche – eine notwendige Maßnahme, um die Oberhand zu behalten oder den anderen zur Räson zu bringen. Die meisten Menschen hätten es nicht übers Herz gebracht, einem langjährigen Angestellten zu kündigen oder ein Familienmitglied zu quälen, bis es weinte. Anders Konstantin Denisov. Kay nahm niemals auch nur einen Funken Bedauern oder Mitgefühl bei ihm wahr.

Er neigte zu heftigen Temperamentsausbrüchen. Einmal sah Kay ihn eine Porzellanfigur auf einen Spiegel schleudern. Beide gingen in Scherben. Ein andermal versetzte er seinem Sekretär einen so harten Stoß, dass dieser an die Wand schlug und völlig benommen zu Boden stürzte. Wenn Sonya ihn mit Entschuldigungen und Beschwichtigungen besänftigen wollte, reagierte Denisov grausam und beleidigend. Miranda versuchte, vor solchen Wutanfällen ihres Vaters zu fliehen, aber wehe, er ertappte sie dabei, wie sie blass und verschreckt aus dem Zimmer schleichen wollte, dann bekam sie seine geballte Wut zu spüren.

Hatte Denisov seiner Wut Luft gemacht, wirkte er entspannt und befriedigt, hatte er doch meist erreicht, was er wollte. Er gebrauchte seinen unberechenbaren Jähzorn, um alle, die von ihm abhängig waren, zu beherrschen und dafür zu sorgen, dass sie vor ihm zitterten, immer ängstlich bemüht, es ihm recht zu machen, und eifersüchtig auf den jeweiligen Favoriten. So erschuf er eine Welt der Intrigen und der Täuschung, in der keiner wusste, woran er war, und jeder jederzeit in Ungnade fallen und alles verlieren konnte.

Miranda war ihrem Vater gegenüber stets höflich und respektvoll. Sie gab sich große Mühe, ihm zu gefallen, heiter und amüsant zu sein. Manchmal wirkte das, dann nannte er sie sein Täubchen. Die Geschenke, die er Miranda machte, waren verschwenderisch, oft überraschend – ein Armband von Asprey, eine Uhr von Cartier, eine Gefährtin zu ihrer Unterhaltung. Wenn aber Miranda die Stimmung ihres Vaters falsch einschätzte, stieß er sie schroff zurück. »Was willst du? Was willst du mir diesmal abluchsen?«, fuhr er sie dann an. »Deine Tricks kenne ich. Ihr Frauen seid doch alle gleich. Du musst mich weiß Gott für einen Idioten halten, wenn du glaubst, ich durchschaue dein Spiel nicht.« Wenn ihr Vater sie verhöhnte, weinte Miranda. Wenn er ihr Anerkennung schenkte, war sie glücklich und unbeschwert. Wie merkwürdig, dachte Kay,jemanden zu fürchten und dennoch gleichzeitig zu lieben. Vor noch gar nicht langer Zeit hätte sie so etwas für unmöglich gehalten.

In Gesellschaft, wo ihr Vater gern mit ihr glänzte, war Miranda in ihrem Element. Bei den abendlichen Diners im Haus Denisov strengte sie sich an, die Finanziers und Industriellen, die ihr Vater eingeladen hatte, zu unterhalten und zu umgarnen. Es war stets eine Gratwanderung: Flirtete sie nach Ansicht ihres Vaters zu heftig, so warf dieser ihr hinterher vor, sie habe sich wie eine Hure benommen; zog sie wiederum die Gäste nicht in ihren Bann, so beschuldigte er sie der Übellaunigkeit. Kein Wunder, dass sie sich nach einem Freund oder einer Freundin gesehnt hatte. Kein Wunder, dass sie manches Mal am Ende eines langen Abends zu Kay hinaufschlich und sich weinend und erschöpft zu ihr ins Bett legte, ohne sich darum zu kümmern, dass sie dabei ihr teures Vionnet-Kleid zerdrückte. Erzähl mir von deiner Schule, Kay. Sie waren schon lange beim Du angelangt. Erzähl mir von deiner Tante Dot. Erzähl mir von Brians Buchhandlung in der Charing Cross Road. Kays Stimme und ihre Erzählungen von friedlichen, alltäglichen Dingen schienen sie zu beruhigen.

Mirandas Eskapaden – von denen sie Kay erzählte und die sie später, als sie ihre Freundin geworden war, mit deren Wissen und Hilfe unternahm – waren Versuche, sich fern dem wachsamen väterlichen Auge ein eigenes Leben zu schaffen. Und sie waren eine waghalsige Geste des Aufbegehrens. In mancher Hinsicht schlug Miranda ihrem Vater nach. Beide konnten rücksichtslos sein, beide besaßen einen starken Willen.

Kay hatte eine Sonderstellung im Haus; sie bewegte sich in einer Grauzone zwischen Angestellter und Freundin der Familie. Manchmal fragte sie sich, ob Konstantin Denisov, als er seiner Tochter eine Freundin kaufte, erwartet hatte, dass sie sich so nahekommen würden. Aber da sie den Eindruck hatte, dass Konstantin Denisov sich nur für seine eigenen Belange interessierte – möglichst viel Geld zu machen und zu horten –, glaubte sie nicht, dass es ihm überhaupt aufgefallen war.

Doch das war naiv von ihr: Konstantin Denisov entging nichts.

Zwei Monate nach der Ankunft in Paris reiste Denisov mit seinem ganzen Tross schon wieder weiter nach Prag. Ein Monat in Prag, dann vierzehn Tage Urlaub an der Côte d’Azur. Wieder zurück nach Paris. Reisen, immer reisen. Die Länge des Aufenthalts am jeweiligen Reiseort war nie vorhersehbar. Manchmal erfuhren sie eine Woche vorher von einer geplanten Abreise, manchmal gerieten Kay und Miranda bei der Heimkehr von einem Stadtbummel mitten in hektischen Aufbruch, stießen auf Mädchen, die mit turmhohen Wäschestapeln durchs Haus rannten, während die männlichen Hausangestellten Koffer zur wartenden Wagenkolonne hinausschleppten.

Ihre Umzüge wurden von Denisovs Geschäften bestimmt. Das Netz seiner finanziellen Interessen – Immobilien, Kohle, Getreide, Banken – spannte sich über den ganzen Kontinent. Das kleinste Gerücht von Problemen oder günstigen Entwicklungen in London oder Berlin, und es wurde gepackt. Die Andeutung einer Krise an einer österreichischen Bank, und schon saßen sie im Zug nach Wien.

Sie blieben nie lange allein, wenn sie im Park spazieren gingen oder an einem Tisch unter der Markise eines Straßencafés saßen. Die Augen hinter einer dunklen Brille versteckt, den Kopf taxierend zur Seite geneigt, musterte Miranda die jungen Männer. »Pas mal«, sagte sie dann etwa beifällig. Oder: »Nein, nein, der ist unmöglich« – und schon glitt ihr Blick suchend weiter. Die jungen Männern waren gut aussehend und charmant, schüchtern oder selbstbewusst. Es waren Studenten oder Soldaten im Urlaub oder Angestellte, die beim Staat, bei Banken oder Industrieunternehmen tätig waren. Sie machten mit gewinnendem Lächeln und feurigen Blicken Komplimente, boten Zigaretten und Einladungen zum Kaffee an. Eine endlose Reihe junger Männer in den verschiedensten Städten, flüchtige Begegnungen, nett, lustig, niemals etwas Ernstes. Vergessen, sobald von Neuem die Sachen gepackt wurden.

Bis Olivier kam.

2

ES WAR DER APRIL 1937, ein Jahr war vergangen, seit Miranda Kay zum ersten Mal begegnet war, Konstantin Denisov und sein Tross kehrten nach Paris zurück. Für Miranda hatten alle Städte, in die ihre Reisen sie führten, ein freundlicheres Gesicht bekommen, seit Kay sich ihnen angeschlossen hatte, aber Paris war und blieb ihr Lieblingsaufenthalt. Oft hatte sie darüber nachgedacht, was für ein Wunder es war, dass gerade Kay sich auf die Anzeige ihres Vaters gemeldet hatte. Sie passten so gut zusammen. Sie konnten über die gleichen Dinge lachen. Nie ging ihnen der Gesprächsstoff aus, und wenn Miranda unglücklich war, konnte Kay sie immer aufheitern. Zum ersten Mal in den sechzehn Jahren ihres Lebens hatte Miranda sich ihrem Vater widersetzt, als sie unnachgiebig darauf bestanden hatte, dass er ihr nicht wieder eine Hauslehrerin engagierte, sondern diesmal eine junge Frau, die ihr eine Freundin sein konnte. Sie hatte große Angst gehabt. Es war – wie so oft – ein Machtkampf gewesen, bei dem – wie so oft – einen Moment lang alles auf Messers Schneide stand. Würde er sie anbrüllen, beschimpfen, schlagen? Aber zu ihrer tiefen Erleichterung hatte ihr Vater plötzlich gelacht und gesagt, sie gerate ganz nach ihm, er sei froh zu sehen, dass sie einen eigenen Kopf habe.

Der Parc Monceau war nicht weit entfernt vom Haus der Denisovs. Die Luft duftete nach Flieder an diesem Tag Ende April. Miranda bemerkte den jungen Mann, der auf der Bank saß, als sie um die Ecke des Fußwegs bogen. Er war auch am Tag zuvor hier gewesen, und die ruhige Selbstsicherheit, mit der er dort auf ebendieser Bank saß und seine Zeitung las, hatte ihre Aufmerksamkeit erregt, als sie und Kay an ihm vorübergekommen waren.

Sie sah, wie er aufstand, die Zeitung faltete und in seine Jackentasche schob. Er war groß und schlank, und sein lockiges Haar war kastanienbraun.

»Wir bekommen Gesellschaft«, sagte Miranda leise zu Kay.

»Wer sollen wir heute mal sein? Ich denke, ich bin Mademoiselle Dupont, und mein Vater hat ein Geschäft – warte –, ein Handschuhgeschäft, ja. Und du bist Miss Smith. Meine englische – äh –«

»– Brieffreundin«, ergänzte Kay.

»Bonjour, Mesdemoiselles«, grüßte der dunkelhaarige junge Mann höflich. »Können Sie mir vielleicht sagen, wie spät es ist?«

Miranda sah auf ihre kleine goldene Armbanduhr. »Es ist genau halb eins, M’sieur.«

»Danke vielmals. Ein herrlicher Tag, nicht wahr?« Er bot Miranda die Hand. »Darf ich mich vorstellen? Ich bin Olivier Roussel.«

Miranda nannte ihre erfundenen Namen und erzählte die Geschichte vom Handschuhladen ihres Vaters. Monsieur Roussel lächelte und sagte: Ein Handschuhgeschäft, das ist ja interessant. Dann erzählte er ihnen, dass er selbst Filme drehte.

»Oh, wie spannend«, meinte Miranda. »Aber jetzt müssen Sie uns entschuldigen, M’sieur, sonst kommen wir zu spät zu unserer Verabredung.«

»Natürlich.« Ein Lächeln, ein Nicken und ein Au revoir. Als sie sich außer Hörweite glaubten, prusteten sie beide los.

Am nächsten Tag war er wieder da, saß wieder auf derselben Bank. Die Zeitung steckte in seiner Jackentasche, als er zu ihnen trat.

»Mademoiselle Dupont, Miss Smith, wie schön, Sie wiederzusehen. Ich habe gehofft, dass Sie hier vorbeikommen würden.«

»Tatsächlich, Monsieur Roussel? Warum das denn?«

»Sie erinnern sich vielleicht, dass ich Ihnen gestern erzählt habe, dass ich Filme drehe. Nun stecke ich leider etwas in Schwierigkeiten.«

»Ach, das tut mir aber leid.«

»Meine Hauptdarstellerin hat mich versetzt. Sie ist krank geworden, und jetzt muss ich einen Ersatz für sie auftreiben. Kurz gesagt, Mademoiselle Dupont, ich glaube, Sie wären ideal für die Rolle.«

Im lichtgesprenkelten Schatten eines Ahorns blieb Miranda stehen.

»Wenn eine solche Tätigkeit Sie überhaupt interessiert«, fügte Monsieur Roussel hinzu.

»Das kommt ganz darauf an.«

»Natürlich. Und worauf, wenn ich fragen darf?«

»Wenn Sie von einer ›solchen Tätigkeit‹ sprechen, was genau meinen Sie da?«

»Ach so«, sagte er. »Sie haben recht, vorsichtig zu sein. Da springt plötzlich ein wildfremder Mann aus dem Gebüsch und bittet Sie, in seinem Film die Hauptrolle zu übernehmen. Das klingt – hm – gelinde gesagt dubios, ja.« Er nahm eine Karte aus der Innentasche seines Jacketts und reichte sie Miranda. »Wenn ich von Film spreche, ist das vielleicht etwas übertrieben. Es handelt sich um einen kleinen Reklamefilm, mit dem für das Telefon geworben werden soll.« Er zuckte mit den Schultern. »Tja, man muss zusehen, dass man Arbeit hat. Ich inszeniere vor allem kurze Informationsfilme – Werbesendungen für private Unternehmen, kurze Dokumentationen im Auftrag der Regierung zu Ruhm und Ehre unserer Fischer oder unserer Weinbauern. Oder auch einmal etwas Belehrendes über die Herstellung von Beton oder die Fabrikation von Bändern, so in der Art. Ach, und Hochzeiten filme ich auch – wie die errötende Braut vor der Kirche eintrifft und die Hochzeitsgäste später in der stattlichen Villa der Brauteltern das Frühstück einnehmen.« Er breitete wie bedauernd die Hände aus. »Das liebe Geld. Aber eines Tages werde ich Spielfilme inszenieren – hoffe ich jedenfalls. Sie brauchen sich also keine Sorgen zu machen. Alles, was ich Ihnen erzählt habe, ist wahr.«

Leichte Betonung auf dem ich und dem Ihnen. Miranda wurde ein wenig rot.

»Dieser Handschuhmacher, Ihr Herr Vater«, fuhr Olivier Roussel fort, ohne eine Miene zu verziehen, »scheint ja ausgezeichnete Geschäfte zu machen, wenn er seine Tochter bei Chanel einkleiden kann.«

Miranda zog die Augenbrauen hoch. »Sie kennen sich ja gut aus.«

»In meiner Branche muss man von allem ein bisschen Ahnung haben.« Er lächelte heiter. »Vielleicht darf ich Sie zum Mittagessen einladen, dann können wir noch einmal neu anfangen.«

»Wir sind leider verabredet.« Ach, diese schönen braunen Augen, dachte Miranda bedauernd, das Lachen, das in ihnen blitzte. Darum sagte sie: »Aber für einen Kaffee haben wir Zeit. Tante Sonya macht es sicher nichts aus, wenn wir uns ein wenig verspäten. Dann kann sie ungestört noch einen Aperitif trinken.«

Sie gingen in ein Olivier Roussel bekanntes Café in sicherer Entfernung von den Champs-Élysées und Fouquet’s, dem Restaurant, in dem Tante Sonya auf sie wartete. Beim Kaffee erzählte Olivier ihnen von der Filmarbeit. Nicht so glorios, wie die Leute gern glaubten, sagte er. Die meiste Zeit sei er damit beschäftigt, Geldgeber aufzutreiben oder irgendjemanden zu überreden, seinen Louis-quatorze-Sessel als Requisite zur Verfügung zu stellen. Bei diesem kleinen Film für die Telefongesellschaft brauche sie nichts weiter zu tun, als den Hörer abzunehmen und den Leuten vorzumachen, sie plaudere mit einer Freundin. Ein Kinderspiel. Ein Werk von ein paar Minuten. Er müsse sie allerdings warnen – in diesem Geschäft brauche man oft Stunden, ehe man eine Szene, die dann nur Minuten dauerte, im Kasten habe.

»Und der Film – diese Reklamegeschichte – würde in den Kinos gezeigt werden?«, erkundigte sich Miranda.

»Ja. So ist es jedenfalls geplant«, antwortete er. »Wäre das denn ein Problem?«

»Nein, gar nicht. Kein Problem.«

Kay sagte: »Aber Miranda –«

»Kein Problem«, wiederholte sie. Dann fragte sie neugierig: »Aber warum wollen Sie gerade mich dafür haben?«

»Weil die Leute hinsehen werden, wenn Sie auf der Leinwand erscheinen«, antwortete er. »Sie werden gar nicht wegsehen können.«

Als sie später zum Fouquet’s rannten, sagte Kay keuchend: »Miranda, er will dich für einen Film. Denk an deinen Vater.«

»Dem sage ich natürlich nichts davon.«

»Das brauchst du gar nicht. Die werden dich sowieso alle sehen.«

»Ja. Ist das nicht toll?« Sie seufzte zufrieden bei der Vorstellung.

»Wenn er es erfährt –«

»Bestimmt nicht. Er geht nie ins Kino.«

»Aber vielleicht jemand, der ihn kennt.«

Gerührt von Kays Besorgnis, hakte Miranda sich bei ihr ein und sagte: »Dieser Film – diese Reklamesendung – wird doch höchstens in ein paar kleinen Hinterhofkinos gezeigt werden. Und ich lege einfach pfundweise Schminke auf und frisiere mir die Haare um. Ich habe gehört, dass man im Film immer ganz anders aussieht als in Wirklichkeit. Und wenn wirklich irgendein Bekannter meines Vaters mich erkennt, würde der sich niemals trauen, es ihm zu sagen, das kannst du mir glauben. Du brauchst also überhaupt keine Angst um mich zu haben, chérie. Ein Film, Kay, stell dir nur mal vor!«

Olivier Roussels Film wurde in einem Lagerhaus in Belleville gedreht, einem Arbeiterviertel von Paris. Es war eine Riesenhalle, düster und beinahe gähnend leer. Die wenigen Gegenstände, die dort gelagert waren – ein halb verrostetes Auto, Möbelstücke, verschiedene Maschinen –, hatte man auf die Seite geräumt. Miranda musste sich einzig mithilfe des kleinen Spiegels in ihrer Puderdose selbst schminken. Sie setzte sich dazu in Oliviers Büro, einen von der Halle abgetrennten engen, kleinen Raum mit einem einzigen winzigen Fenster hoch oben in der Wand. Von der Autowerkstatt gegenüber wehte Benzingeruch herüber, und eine rot gescheckte Katze schlabberte Milch aus einer Untertasse.

»Sie verjagt die Ratten«, erklärte Olivier, als Kay in die Hocke ging, um die Katze zu streicheln. »Die sind verdammt lästig. Nebenan ist ein Zuckerlager, und das lockt sie an.«

Nein, besonders glorios war das alles nicht.

Das kurze Stück war in noch kürzere Szenen aufgeteilt. Jede Bewegung, jede Geste war wichtig. Und verlangte unheimlich viel Zeit. Für eine Aufnahme von Miranda, wie sie lächelnd den Telefonhörer abnahm, brauchten sie mehr als eine halbe Stunde, ehe sie Oliviers Zustimmung fand. Der Tonfall von Mirandas »Hallo?« musste endlos geprobt werden.

Ein schlaksiger junger Mann namens Benoît rannte in der Halle hin und her, stellte die Scheinwerfer ein und fummelte am Tonaufnahmegerät herum. Auf einem Hocker neben Olivier saß Agnès, eine zierliche junge Frau, sehr schick in schwarzem Mantel und passender Baskenmütze, und schrieb, zitternd vor Kälte, in ein Heft. Hin und wieder läutete das Telefon im Büro nebenan, dann rutschte Agnès vom Hocker und stöckelte auf ihren hohen Absätzen hinüber, um sich darum zu kümmern. Manchmal rief sie Olivier Fragen zu, und einmal hielt sie ihm den Hörer hin und sagte: »Es ist Sylvie, wegen ihrer Bezahlung. Sie will selbst mit dir sprechen.«

Ein Postbote brachte Briefe, und vor dem offenen Tor der Halle hielt ein Lieferwagen, dessen Fahrer zum Fenster hinausschrie: »He, Olivier, Jacques hat gesagt, der achtzehnte passt«, worauf Olivier statt einer Antwort nur winkte. In dem ganzen Durcheinander blieb Olivier immer ruhig und beherrscht, warf prüfende Blicke durch den Sucher der Kamera, gab Agnès und Benoît Kommandos und leitete Miranda an, indem er neben ihr stand und ihr die Bewegungen vorführte, die sie machen sollte. Als endlich die Dreharbeiten begannen, das Tor geschlossen und es drinnen in der Halle mucksmäuschenstill wurde, schimmerte Mirandas helles Gesicht wie der Mond in der Dunkelheit. Ein magischer Augenblick, fand Kay.

Als sie fertig waren, lud Olivier sie zum Mittagessen ein. Kay rief Sonya Lambert an und erklärte, sie hätten sich bei der Putzmacherin verspätet und würden unterwegs eine Kleinigkeit essen. Die Lügen kamen ihr mühelos über die Lippen, während sie, umgeben von Stapeln von Drehbüchern, Korrespondenz und Telefonbüchern, in Oliviers staubigem Büro stand. Welche Fähigkeit hat sich in Ihrer Laufbahn als Gesellschafterin als die hilfreichste erwiesen, Miss Garland? Die Fähigkeit, schamlos zu lügen.

Kay merkte, wie Sonya am anderen Ende der Leitung zwischen angeborener Trägheit und tief sitzender Neigung zu Argwohn und Misstrauen schwankte, bis sie schließlich sagte: »Na gut. Drei Uhr, und zwar pünktlich, Miss Garland. Konstantin hat gesagt, dass er heute wahrscheinlich früh nach Hause kommt.«

Sie quetschten sich zu fünft an einen Tisch in einem Café zwischen einer Autowerkstatt und einer Papierfabrik. Aber das Steak und der Salat schmeckten, und der Rotwein war in Ordnung. Miranda sprudelte über vor Ausgelassenheit und unterhielt sie, indem sie Leute aus dem Bekanntenkreis ihres Vaters, Filmstars und schließlich sogar Donald Duck imitierte und sie alle zum Lachen brachte. Olivier füllte ihre Gläser auf und warf eine geöffnete Packung Zigaretten auf den Tisch. Benoît und Agnès bedienten sich, Kay und Miranda rauchten nicht. Miranda sagte immer, wenn man schlau genug sei, könne man sich bei Tante Sonya vieles erlauben, aber sie habe eine Nase wie ein Trüffelschwein und würde den Rauch in ihren Kleidern sofort riechen.

Miranda fand Olivier, wie die meisten Männer, ein kleines bisschen zu selbstsicher und ließ ihn, den sie zu dieser Zeit lediglich als netten Freund betrachtete, deshalb gern ein wenig zappeln. Manchmal, wenn sie sich trafen, ließen sie und Kay sich überreden, mit ihm auf einen Kaffee zu gehen. An anderen Tagen schüttelte sie den Kopf, sah auf ihre Uhr und sagte mit einem kleinen Seufzer: Desolée, heute geht es nicht… Er ließ sich nie etwas anmerken und winkte lächelnd, bevor er ging. Er hatte nie etwas gegen Kays Begleitung einzuwenden, versuchte nie, Miranda von ihr loszueisen, war ihnen beiden gegenüber gleich aufmerksam und höflich, als hätte er sie beide gleich gern. Aber Miranda glaubte zu merken, dass er sich zu ihr hingezogen fühlte. Sein Blick verriet es und die Art, wie er sie berührte, wenn er sie durch eine Tür geleitete oder ihr einen Sessel zurechtrückte. Seit sie fünfzehn war, hatte sie Verehrer, und sie war nicht dumm, sie konnte die Zeichen deuten.

Sie mochte Olivier, weil er gut aussah, weil er witzig und klug war und keine Spur eingebildet oder aufgeblasen wie so viele Männer ihrer Bekanntschaft. Sie mochte sein Lächeln, bei dem sich die Mundwinkel zu kleinen Grübchen vertieften. Sie mochte seine Art, sich zu bewegen, seinen Gang, in dem so viel kaum gezügelte Energie schwang. Er war anders als die Männer, die am Tisch ihres Vaters speisten, mit denen sie flirtete und tanzte; Männer, die ihr Vater vielleicht nicht als ihm ebenbürtig, aber doch als würdige Vasallen oder nützliche Partner betrachtete. Sie umwarben sie, weil sie sie begehrten oder sich aus einer Verbindung mit der Tochter von Konstantin Denisov Vorteile erhofften. Ihre Boshaftigkeiten und verdeckt abfälligen Bemerkungen über die anderen Gäste langweilten sie. Miranda hätte Olivier für einen unbekümmerten Leichtfuß gehalten, hätte sie ihn nicht bei der Arbeit erlebt. Da war er angespannt, konzentriert, ernsthaft, in jeder Beziehung ein Perfektionist.

Miranda wusste, dass es so etwas wie Zugehörigkeit gab. Sie fühlte sich an keines der vielen flüchtigen Domizile gebunden, die einander im Lauf der Jahre abgewechselt hatten. Zu Hause war durch die Menschen definiert, mit denen sie reiste. Es konnte ein Eisenbahnwaggon sein, eine Hotelsuite, selbst das Innere eines Autos. Bei Olivier war das anders: Olivier – das erkannte sie schon früh – gehörte nach Paris. Mit Haut und Haaren. Es war schwer, sich ihn anderswo vorzustellen.

Manchmal, wenn es ihnen gelang, Tante Sonya zu entkommen, gingen sie zu dritt ins Kino. Miranda saß dann in der Mitte zwischen Kay und Olivier. Das Kino war für sie ein magischer Ort. Man kam aus der Helligkeit des Tages in eine Dunkelheit, die vom Geruch kalten Zigarettenrauchs und muffiger alter Polster durchzogen war, und rundherum saßen Liebespärchen und arbeitslose Männer, für die das Theater ein behaglicher Unterschlupf war. Aber wenn sich der Vorhang öffnete und die Musik einsetzte, wurde man in eine andere Welt versetzt. Und wenn es vorbei war und man wieder hinausging, trafen einen das Tageslicht und der Anblick dahineilender Menschen, die ihren Alltagsgeschäften nachgingen, wie ein Schock, weil man noch mit einem Bein in jener anderen, magischen Welt stand.

Olivier konnte sich bei solchen Kinobesuchen manchmal eine Bemerkung nicht verkneifen. »Ziemlich plump. Daraus hätte man mehr machen können«, murmelte er oder, wenn er beeindruckt war: »Es ist die Beleuchtung, die der Szene diese unheimliche Spannung gibt. Siehst du das? Diese schwarzen Schatten – der Scheinwerfer, der über die Mauer streicht.« Selbst im Dunkeln konnte Miranda die Faszination in seinem Gesicht erkennen.

Olivier hatte außer einem älteren Bruder, der in Südamerika lebte, keine Familie. Sein Vater war Literaturwissenschaftler gewesen, seine Mutter hatte im Wochenendhaus der Familie auf der Île-de-France eine Töpferwerkstatt gehabt. Nach dem Tod seiner Eltern hatte Olivier das Wochenendhaus verkauft. Die Hälfte des Geldes hatte er seinem Bruder Marc nach Brasilien geschickt, mit der anderen Hälfte des Erbes hatte er die Filmgesellschaft finanziert. »Wenn du wüsstest, wie oft ich mich gefragt habe«, sagte er zu Miranda, »ob ich die Scheine nicht ebenso gut in die Seine hätte werfen können. Aber wer nicht wagt, der nicht gewinnt.«

Das fand Miranda auch. An jenem aufregenden Morgen in der Lagerhalle hatte Olivier sie vieles gelehrt: wie man sich zur Kamera verhielt, wie man über das starre Auge des Objektivs Gefühle vermittelte, wie man jedem einzelnen Wort Bedeutung verlieh, ganz gleich, ob man für ein Reklamefilmchen oder für das grandioseste aller Dramen vor der Kamera stand. Dafür bemühte sich Miranda, nett und amüsant zu sein und ihm angenehme Stunden zu bereiten. Darauf verstand sie sich; sie wusste, wie man mit Männern umging. Man lachte über ihre Scherze, machte selbst hin und wieder ein Scherzchen, gab einen kleinen Schwank zum Besten oder ahmte einen gemeinsamen Bekannten nach. Und flirtete verhalten. Das war alles.

Olivier sagte, sie habe Talent. Anfangs glaubte sie ihm nicht. Sie waren in seinem Büro. Überall lagen Papierstapel herum. Auf dem Arbeitstisch standen eine Olivetti-Schreibmaschine und ein Ablagekasten voller Korrespondenz und Telefonnachrichten. An den Wänden hingen Filmplakate, ein wenig eingerissen an den Rändern. Zéro de Conduite, L’Atalante.

»Du bist noch nicht gut«, sagte er, »aber mit Übung könntest du es werden. Du hast das gewisse Etwas. Eine starke Präsenz. Das ist etwas Ungewöhnliches, und du solltest es nicht vergeuden.«

Sie antwortete mit einem unbeeindruckten Schulterzucken. »Mein Vater würde mir nie erlauben, Schauspielerin zu werden. Dieses Talent, das du bei mir siehst – darüber brauchen wir gar nicht erst zu reden.«

»Aber du hast doch nicht vor, bis in alle Ewigkeit bei deinem Vater zu leben?«

»Nein, aber ganz sicher, bis ich heirate.«

Er sah sie forschend an. »Wie alt bist du wirklich, Miranda?«

Sie hatte ihm weisgemacht, sie sei einundzwanzig, weil sie gemeint hatte, das klinge besser. Achtzehn, das hörte sich so jung an, beinahe als wäre man noch ein Kind. Einundzwanzig, hatte sie daher behauptet, genau wie ihre englische Freundin Kay.

»Zwanzig?«, schätzte er.

Sie schüttelte den Kopf. Ihr war ein wenig unbehaglich zumute.

»Sag mir, dass du wenigstens achtzehn bist.«

»Seit meinem Geburtstag im April, ja.«

»Das ist ein Trost. Ich dachte schon, ich müsste dich heim ins Kinderzimmer schicken. Und Kay?«

»Sie ist zwanzig. Ehrlich, Olivier. Ehrenwort.« Miranda hob die Hand wie zum Schwur.

Olivier wollte unbedingt einen richtigen Film drehen, einen Spielfilm anstatt der Reklame- und Dokumentarstreifen. Ein Freund hatte ihm ein Drehbuch geschrieben. Er gab es Miranda zum Lesen; sie schmuggelte es unter ihrem Pelzmantel ins Haus und las es nachts im Bett.

»Das Drehbuch ist das Entscheidende«, erklärte er ihr. »Aus einem schlechten Drehbuch wird niemals ein guter Film. Allerdings kann aus einem guten Drehbuch ganz leicht ein schlechter Film werden.«

»Aber du machst bestimmt einen wunderbaren Film, Olivier.«

»Wenn mir jemand eine Chance gibt, ja.«

»Was brauchst du denn, um deinen Film zu produzieren?«

»Ach«, sagte er mit einem etwas bitteren Lächeln. »Geld natürlich. Es geht immer ums Geld.«

Die Jagd nach dem Geld für einen Film nahm viel von Oliviers Zeit in Anspruch. Filme zu produzieren, erklärte er, sei eine teure Angelegenheit. Einmal, als sie im Café saßen und er ihnen von dem enttäuschenden Gespräch erzählte, das er am Morgen mit einem möglichen Geldgeber geführt hatte, war er – nun ja, nicht ganz so unbekümmert wie sonst, fand Miranda. Sie nahm ihr Smaragdarmband ab und schob es ihm über den Tisch zu.

»Nimm es«, sagte sie. »Ich bin sicher, es ist eine Menge Geld wert. Kein Mensch wird merken, dass ich es nicht mehr habe. Du kannst es verscherbeln, dann kannst du deinen Film drehen.«

Olivier, der normalerweise nie um Worte verlegen war, blieb lange still, bevor er bewegt sagte: »Das ist unheimlich großzügig von dir, Miranda, ich bin wirklich tief gerührt, aber ich kann das unmöglich annehmen, bitte versteh das.« Er ergriff ihre Hand und streifte ihr das Armband wieder über.

Es war der längste Tag des Jahres, die Frauen trugen geblümte Kleider und Sandalen und ließen sich in den Parks die Beine braun brennen. Tante Sonya lag bei geschlossenen Vorhängen mit einer Migräne zu Bett, und ihr ganzes Zimmer roch nach Lavendelöl.

In einem Restaurant in Montparnasse feierte Olivier. Er hatte endlich einen Geldgeber für seinen Film gefunden, einen gutmütigen rotgesichtigen Belgier namens Vincent Charlier, der beflissen aufsprang, als Miranda und Kay kamen, und ihnen die Hand küsste. Der Tisch stand in einem begrünten Innenhof unter einer grün-weiß gestreiften Markise. Die Mauern rund um den Hof waren von tiefrosa Kletterrosen überwachsen, und auf dem Tischtuch sammelten sich Krümel und leere Weingläser, während Benoît, Kay und Agnès sich über irgendwelche politischen Fragen die Köpfe heißredeten und Olivier sich mit Vincent Charlier darüber unterhielt, wo er die Handlung seines Films ansiedeln und wer die Hauptrolle spielen würde.

»Ihre Heldin«, sagte Charlier, »die schöne und geheimnisvolle Camille – Sie müssen mir verraten, wer Ihnen da vorschwebt, Olivier.«

»Ich habe sie noch nicht gefragt. Aber ich hoffe, ich kann sie überzeugen.«

Charlier lächelte breit, als er Oliviers Blick bemerkte. »Ich bitte um Entschuldigung, ich wusste nicht, dass Sie Schauspielerin sind, Mademoiselle Denisov.«

»Von wegen Schauspielerin«, murmelte Miranda. »Nichts als eine kleine Reklamemaus.«

»Wissen Sie was, Vincent«, sagte Olivier, »wir gehen in mein Büro, und ich zeige Ihnen, was Mademoiselle Denisov kann.« Er winkte dem Kellner, warf ein paar Scheine auf den Tisch, dann brachen sie auf.