Das Herz des Königs - Kim Leopold - E-Book

Das Herz des Königs E-Book

Kim Leopold

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Beschreibung

Das große Finale! Sie sagten, der Palast sei ein sicherer Ort. Doch wie sicher kann etwas sein, wenn die Grenzen von Gut und Böse verwischen, wenn Geheimnisse und Intrigen an der Tagesordnung stehen und wenn jeder bereit ist, für seine Ziele einen hohen Preis zu zahlen? Kim Leopold hat eine magische Welt mit düsteren Geheimnissen, nahenden Gefahren und einem Hauch prickelnder Romantik erschaffen, bei dem Fantasy-Lover voll auf ihre Kosten kommen. Das Herz des Königs – Der Abschlussband der Urban Fantasy Serie Black Heart!

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Black Heart 16

Das Herz des Königs

 

 

Kim Leopold

 

[was bisher geschah]

 

1449 – Ichtaca und Nanauatzin haben sich ein neues Leben in Norwegen aufgebaut, nachdem Meztli sie aus der brenzligen Situation in Mexiko befreit hat. Ichtacas Freiheit gegen das Erstgeborene – so lautete der Handel, den Nanauatzin mit ihr eingegangen ist. Ichtaca wird schwanger und bringt eine Tochter zur Welt, und je mehr Zeit verstreicht, umso sicherer fühlt sich die kleine Familie. Doch eines Tages fordert Meztli, was ihr zusteht.

 

2018 – Am Palast der Träume ist es endlich so weit: Das Ritual zur Rückgewinnung von Mikaels Herzen hat begonnen. Hayet und er wachen in der Parallelwelt auf. Dort treffen sie auf Louisa und Ivan, die nach ihrem Tod an diesem Ort gelandet sind und nach einem Weg zurück gesucht haben. Mit Mikael und Hayet sehen sie endlich ihre Chance gekommen – doch die uralte Hexe Desdemona verweilt ebenfalls bei ihnen.

 

Adele hat Mikael in eine Falle gelockt. Sie hatte nicht vor, ihn wieder ins Diesseits zu lassen. Bei einer Konfrontation mit Emma wird ihr jedoch klar, dass ihre Tochter Hayet an dem Ritual beteiligt ist. Um sie zu retten, muss sie die Pforte öffnen und erbittet sich Emmas Vertrauen.

 

Farrah allerdings findet Adeles Beteiligung am Ritual alles andere als witzig, weshalb Willem sie aus der Wohnung wirft. Ohne ihre Magie und mit plötzlichen Erinnerungen an ihr Leben vor ihrem Gedächtnisverlust versucht sie, die Nacht zu überstehen.

 

Als Adele und Emma dann jedoch Hilfe von Black Hearts benötigen und damit nicht nur Moose und Max in die Geschichte reinziehen, sondern auch Jegor Stanislav, kann Farrah ihre Wut kaum noch bändigen und verpasst ihm eine Kopfnuss, die jedoch auch sie ins Aus befördert.

 

Willem bringt Farrah in seine Wohnung, damit sie sich dort erholen kann. In dem Moment, in dem er wieder gehen möchte, trifft ihn ein unerwartetes Flashback aus seinem alten Leben – der Fluch scheint gebrochen.

Mikael hat sein Herz zurück.

 

[prolog]

Ichtaca

Norwegen, 1449

 

Ihre Stimme lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. Thea fängt an zu weinen, als würde sie spüren, dass gerade etwas unaussprechlich Schreckliches geschieht.

»Nein«, stoße ich hervor und versuche es noch einmal mit der Tür, doch Meztli ist stärker. Sie schafft es mühelos, die Tür gegen meinen Druck aufzuhalten.

Ich weiche zurück und umklammere mein Kind, als könnte sie es mir niemals wegnehmen, wenn ich es nur fest genug halte. Nanauatzin taucht an meiner Seite auf, schiebt sich vor uns und streckt die Hände aus, doch seine bloße Willenskraft reicht nicht aus, um Meztli abzuwehren.

»Na, na.« Sie schüttelt den Kopf und lacht glockenhell auf, bevor sie unsere Hütte betritt. »Begrüßt man so eine alte Freundin?«

»Du bist hier nicht erwünscht«, erwidert Nanauatzin kalt, doch die Hilflosigkeit strahlt in Wellen von ihm ab.

»Schhh«, mache ich, um Thea zu beruhigen.

»Was für eine bildhübsche Tochter ihr beide da bekommen habt.« Meztli kommt auf mich zu. Ich weiche so weit zurück, bis ich die Wand im Rücken habe und versuche selbst dann, Thea vor ihr abzuschirmen. »Sie wird es gut bei mir haben.«

»Sie wird nicht mit dir gehen.« Nanauatzin will sie am Arm festhalten, doch sie wischt bloß einmal mit ihrer Hand und er fliegt quer durch den Raum, knallt gegen den Tisch, und all die Vorbereitungen für Theas Feierlichkeiten fallen hinunter.

Mir wird schlecht, und ich lehne mich gegen die Wand, weil ich andernfalls einfach zu Boden fallen würde. Meine Knie wollen mich nicht mehr halten, jetzt da ich begriffen habe, wie wenig wir gegen sie ausrichten können.

»Können wir neu verhandeln?«, bitte ich sie mit zitternder Stimme. »Ich gebe dir alles, was du willst, wenn du uns unsere Tochter nicht nimmst.«

Meztli lacht auf. »Am Ende sind sie alle gleich«, murmelt sie. »Alle wollen sie neu verhandeln, mich mit etwas weniger Wertvollem abspeisen, weil sie beim ersten Mal nicht nachgedacht haben. Aber nicht mit mir. Nein, es wird nicht neu verhandelt. Ein Handel ist ein Handel, und wer ihn nicht einhalten will, muss mit den Folgen leben.«

»Bitte«, flehe ich sie an. »Bitte nimm mir meine Tochter nicht weg.«

Mein Blick gleitet zu Nanauatzin, der sich langsam aufrafft. Seine Lippen scheinen Worte zu formen, Worte, für die ich einen Moment brauche, um sie zu verstehen.

Magica. Benutz deine Kräfte.

Seine Worte jagen neuen Mut durch meinen Körper. Natürlich! Wofür habe ich sonst so lange geübt, meine Fähigkeiten zu benutzen?

»Gib sie mir einfach.« Meztli streckt die Hände nach Thea aus. »Dann ist es gleich vorbei. In ein paar Wochen vermisst ihr sie nicht mehr und könnt ein neues Kind bekommen.«

Ein neues Kind? Niemand könnte Thea ersetzen! Das wäre niemals das Gleiche. Nur eine Frau, die nie ein Kind bekommen hat, kann so etwas sagen.

»Nein!«, schreie ich und schleudere ihr Flammen entgegen, die ihr die Hände und das Gesicht verbrennen müssten. Ich zögere nicht lange und laufe los, um meine Tochter in Sicherheit zu bringen, doch Meztli lässt sich ebenfalls nicht lange aufhalten. Eine Druckwelle reißt mich zu Boden, Thea fällt mir aus den Armen und überschlägt sich ein paar Mal.

Sie bleibt regungslos liegen. Mein Herz macht einen Satz, Panik erfüllt mich. Ich krabble durch den Raum, auf sie zu. Alles, was ich denken kann, ist: Bitte nicht.

Doch da rührt sie sich und beginnt zu weinen. Erleichtert weine ich mit ihr und beeile mich, zu ihr zu kommen. Sie wegzubringen. In die Wälder, den Breen, irgendwohin, wo Meztli sie nicht finden kann, aber bevor ich sie erreiche, füllt ein Lichtblitz den Raum.

Ich hebe eine Hand vor Augen, geblendet von der plötzlichen Helligkeit, und als sich meine Augen erholt haben, ist meine kleine Tochter fort.

»Nein.« Ich starre ungläubig auf den Fleck, an dem sie gerade noch gelegen hat. »Nein, nein, nein. Nicht meine Tochter. Nicht meine Thea.«

Ich höre einen wütenden Brüll hinter mir. Einen Aufschrei. Gerangel. Aber es fällt mir so unendlich schwer, mich von dem Anblick vor mir zu lösen. Es ist, als wäre sie dann endgültig verloren.

»Taca!« Nanauatzins Stimme ist das Einzige, was mich davon abhält, nicht vollends durchzudrehen. Ich fahre herum, komme auf die Füße.

Meztli hat Nanauatzin mit ihrer Magie voll im Griff, er baumelt an der Wand, fasst an seinen Hals, als würde ihn irgendwas würgen. Ihre weißblonden Haare sind zerzaust, die veilchenblauen Augen sprühen Funken. »Wie könnt ihr es wagen«, spricht sie bebend aus. »Nach allem, was ich für euch getan habe. Ich habe euch eine Heimat geschenkt. Einen Zufluchtsort. Und ihr wagt es, mich um meinen Handel betrügen zu wollen?«

Ich balle die Hände zu Fäusten, beobachte hilflos, wie Nanauatzin immer blasser wird.

»Du bist nicht besser als ein Tier, Nanauatzin.« Meztli spuckt ihm verächtlich vor die Füße. »Also sollst du leben wie eines.«

Sie hebt die andere Hand und schickt einen Schwall leuchtender Magie in Nanauatzins Richtung. Er fällt zu Boden, schreit vor Schmerzen auf. Ein entsetzliches Knacken ertönt, dann noch eins, gefolgt von vielen weiteren, die immer wieder durch seine Schmerzenslaute unterbrochen werden.

»Was passiert mit ihm?« Panisch laufe ich zu ihm, fasse ihn an den Schultern und sehe zu Meztli, die selbstgefällig auflacht. »Was hast du ihm angetan?«

»Lauf, Taca«, presst Nanauatzin zwischen zwei Schreien hervor. »LAUF!«

»Nein!« Ich versuche mich in der Magie, will einen Schutzschild zwischen Meztli und uns aufbauen, doch sie schmettert die Mauern einfach nieder. Sie ist viel zu mächtig.

»Er wird zu dem Tier, das er ist. Bald schon wird er sich an nichts mehr erinnern können. An dich nicht, an seine Tochter nicht.« Sie schnaubt. »Ich bin gnädig. Ich lasse euch vergessen, was war. Wer ihr seid. Aber ein Leben in Liebe ist euch nicht mehr vergönnt.«

Ich verstehe kein Wort von dem, was sie sagt, doch als ich zu Nanauatzin sehe, stelle ich fest, dass er immer mehr von seiner menschlichen Form verliert. Entsetzt weiche ich zurück. Fell wächst aus seiner Haut, seine Ohren verziehen sich in die Länge, und sein schöner Mund …

»Bei den Göttern«, stoße ich hervor, Meztlis schrilles Lachen in meinen Ohren. Ich fasse an mein Herz, während Nanauatzin sich vor Schmerzen krümmt.

»Sieh ihn dir an, deinen Liebsten. Es wird das letzte Mal sein.«

Und noch während ich versuche zu verstehen, wird plötzlich alles um mich herum dunkel.

 

 

Ein Rauschen.

Es kommt näher, es geht wieder. Es kommt wieder näher, und geht. Wieder und wieder und wieder.

Der Schrei eines Vogels.

Ich stöhne. Schließe die Hände zu Fäusten und spüre Sand zwischen meinen Fingern. Er entgleitet mir.

Aber das macht nichts, denn er ist überall. Auf mir, unter mir. Sogar in meinem Mund schmecke ich Sandkörner.

Leises Getuschel dringt an meine Ohren. Ich versuche den Kopf zu heben, aber mein Nacken schmerzt, als hätte ich zwei Nächte lang durchgetanzt.

Wo bin ich hier? Es braucht ein paar Momente, bis ich es schließlich schaffe, die Augen zu öffnen. Die Sonne blendet mich für einen Moment, mein Blickwinkel wirkt sonderbar schief.

Erst da fällt mir auf, dass ich auf dem Bauch liege und auf mehrere paar nackte Füße schaue.

Das Getuschel wird lauter, aber ich verstehe kein Wort. Die Sprache ist mir fremd, das Gefühl des Sandes unter mir auch. Ich weiß nicht, wo ich bin.

Ein Paar Füße kommen näher. Sie gehören zu einer Frau, die vor mir in die Hocke geht und mich an der Schulter berührt. »Tutto a posto?«, fragt sie mich in ihrer sonderbaren Sprache.

Ich zucke mit den Schultern und blicke ihr fragend in das freundliche Gesicht. Sie hilft mir dabei, mich aufzusetzen, und ich sehe, dass sie nicht die Einzige ist, die mich neugierig mustert. Um uns herum stehen locker zehn andere Personen. Männer, Frauen, ein Kind.

»Non toccarla!«, sagt einer der Männer und tritt hervor, um die Frau an der Schulter zu fassen.

»La donna ha bisogno d’aiuto.« Sie wischt seine Hand unwirsch weg und hilft mir auf die Beine. Ich stehe wacklig auf, blicke mich um. Wir befinden uns auf einem Strand, das Wasser ist keine zwei Meter weg von mir. Mein Kleid ist nass und voller Sand.

Und ich habe keine Ahnung, wer ich bin.

 

[1]

 

Farrah

Österreich, 2018

 

Mein Schrei gellt durch die Nacht. Er verlässt den Palast der Träume durch das gigantische Loch, das die Explosion in die Außenmauer gerissen hat, und rüttelt jedes Tier im Umkreis von mehreren Kilometern wach.

»Willem!« Ich stürze los, suche nach dem leisesten Funken Magie in mir, doch ich finde ihn nicht. Ich bin ein verdammter Mensch. Ein verdammter Mensch, der gerade alles verloren hat, was ihm wichtig ist.

Der Metallbalken ist riesig. Er ist schwer. Er bedeckt Willems leblosen Körper nahezu vollständig. Alles, was ich von ihm sehe, ist ein Bein.

»Scheiße!« Weinend rüttle ich an dem Balken, um ihn hochzuheben. Ich bringe alle Kraft auf, die ich in mir finden kann. Versuche Willem zu befreien, aber es reicht nicht. Ich bin machtlos ohne meine Magie. Zu schwach, um gegen Metall anzukämpfen. »Komm schon! Verdammte Scheiße.«

Ich breche zusammen, falle zu Boden und beginne hemmungslos zu schluchzen, während ich mich nach irgendetwas umsehe. Nach irgendjemandem, der mir helfen kann. »Wieso ist hier denn niemand?«, schreie ich. »Hallo? Wir brauchen Hilfe!«

Um mich herum zerbricht noch mehr vom Palast, Holz zerbirst, Steine von den Außenmauern rollen über den Schutt. Aber es ist mir egal. Alles ist egal. Meine Freunde sind hier. Wenn ich sie nicht retten kann, brauche ich mich auch nicht mehr retten.

Du musst nach anderen Überlebenden suchen, flüstert mir eine Stimme in meinem Kopf zu. Mikael. Das ist der einzige Grund, wieso ich aufstehe. Wieso ich mich auf meine zitternden Beine zwänge und Willem zurücklasse. Ich kann ihm nicht helfen. Aber vielleicht kann ich wem anders helfen.

Ich klettere über Steine, befreie meinen Weg von den Überresten des Mobiliars, von Teilen, die aussehen, als gehörten sie mal zu einem Bettgestell, von Lampenschirmen, Fensterbruchstücken, all den Dingen, die die Explosion zu einer nicht identifizierbaren Masse gemacht hat, - und nähere mich der Stelle, an der einst mein Gästequartier gewesen ist.

Da entdecke ich etwas Leuchtendes zwischen all dem Schutt.

Rosa.

»Emma«, stoße ich hervor und lege einen Zahn zu, um sie zu erreichen. Mit bloßen Händen befreie ich sie von Trümmerteilen. Sie blutet. Sie blutet verdammt nochmal überall.

Und trotzdem öffnet sie die Augen.

»Farrah«, murmelt sie erleichtert. Ich streiche ihr weinend die Haare aus dem Gesicht. Blut und Dreck vermischen sich mit meinen schweißnassen Handflächen.

»Ich krieg das wieder hin«, verspreche ich ihr und gehe in mich. Versuche meine Magie hinauf zu beschwören, um sie zu heilen.

Sie greift nach meiner Hand, stöhnt auf. »Ich bin nicht wichtig«, krächzt sie. »Ich hab lang genug gelebt. Meine Schüler … Bitte.«

Ich nicke, presse die Lippen aufeinander, aber selbst das hilft nicht mehr gegen die Tränen, die mir über die Wangen rinnen.

Ihre blauen Augen suchen mein Gesicht ab. »Willem?«

»Ihm geht’s gut«, lüge ich sie an, weil es alles ist, was ich für sie tun kann. Verzweiflung schnürt mir die Kehle zu. »Er wird bald hier sein. Bei dir.«

»Gut.« Sie schließt die Augen, stöhnt wieder, bevor sie zu lächeln beginnt. Sanft, aber friedlich. »Sag Mikael … ich hab’s gern …«

»Was?« Ich beuge mich hinunter, um ihre letzten Worte zu verstehen. »Was hast du gesagt, Emma?«

Doch sie antwortet nicht mehr. Sie gleitet mir davon, ich spüre förmlich, wie ihre Seele ihren Körper verlässt.

Es fällt mir schwer, überhaupt noch einen Atemzug zu tun. Mein Herz zieht sich zusammen, meine Sicht wird von all den Tränen getrübt. Ich will aufgeben. Will mich einfach danebenlegen und einschlafen. Für immer.

Wie kann ich einen weiteren Schritt tun, wenn –

»Farrah.« Eine Hand legt sich auf meine Schulter. Eine warme Hand. Eine, die mir so bekannt vorkommt, dass ich vor Erleichterung aufschreie.

Ich drehe mich um, falle Mikael in die Arme. »Gott sei Dank, es geht dir gut.«

Er hält mich so fest, dass ich kaum Luft bekomme, und es ist nicht annähernd fest genug. Seine Hände gleiten über meinen Rücken, streicheln durch mein Haar. Ich halte mich an seinen starken Armen fest, breche vollends zusammen, bringe keinen klaren Satz mehr heraus.

»Willem … Emma … Sie sind …« Ich kralle mich in Mikaels Oberteil, suche nach dem Halt, den ich so unbedingt brauche. Aber nichts in dieser Welt könnte mir das nehmen, was ich gerade empfinde. Nicht einmal Mikael.

»Ich weiß. Schhh, ich weiß.« Er küsst meine Stirn. »Du musst diesen Ort verlassen. Du bist hier nicht sicher.«

»Aber …«, schluchze ich auf. »Ich muss doch … ich muss helfen. Emma. Willem.«

Mikael löst sich ein Stück weit von mir, um mich anzusehen. Grüne Augen, dichte Wimpern. Er sieht anders aus, anders, aber so familiär, das mein Herz einen aufgeregten Salto macht. »Du musst jetzt sofort hier weggehen und Antonio anrufen, ja?«

Ich versuche auszumachen, wieso mir seine Gestalt so bekannt vorkommt, aber mein Kopf kann keinen klaren Gedanken fassen.

»Antonio anrufen«, murmle ich wie eine Marionette.

Mikael nickt. »Sag ihm, dass er sofort ein Bergungsteam herschicken soll. Und dann gehst du zum Eingang und lässt unsere Leute rein. Komm erst zurück, wenn Antonio da ist. Kannst du das für mich tun, Farrah?«

»Ich … Ich denke schon.« Langsam löse ich meine Hände aus seinem Shirt. Ein Plan. Ich hab einen Plan, an dem ich mich festhalten kann. Ich kann etwas tun, um zu helfen. Der Sturm in meinem Kopf lichtet sich, verkommt zu einem etwas leiseren Tosen. »Was ist mit den anderen? Hayet?«

»Darum kümmere ich mich.« Mikael hilft mir hoch. Ich löse meinen Blick von seinen Augen, sauge seine ganze Gestalt in mir auf. Er ist nicht mehr Mikael. Er ist auch nicht Mads Johansen aus Norwegen.

»Nanauatzin«, spreche ich das aus, was mir durch den Kopf geht.

Er reißt kaum merklich die Augen auf. »Du erinnerst dich tatsächlich.«

»Ich …« Verwirrt blinzle ich. Meine Gedanken sind so durcheinander, dass ich nicht mal ganze Sätze formulieren kann.

Er schüttelt den Kopf. »Das ist jetzt egal. Wir müssen uns um die anderen kümmern. Wir reden später darüber.«

»Später«, wiederhole ich matt.

Er betrachtet mich besorgt und berührt meine Schulter. »Schaffst du das, Farrah? Kannst du für mich bei Antonio anrufen?«

»Ja. Ich … Ja.«

»Okay, gut.« Mikael streicht mir über die Wange, er sieht mich zärtlich an. »Später, versprochen. Erst die anderen an. Ruf Antonio an.«

Ich lehne mich noch einen Moment in seine Berührung, als wolle ich dadurch Kraft tanken, dann nicke ich entschlossen und laufe los, um meine Aufgabe zu erledigen. Antonio anrufen, ihn in den Palast lassen. Später mit Mikael reden.

Das schaffe ich. Das kann ich tun.

 

[2]

 

Louisa

Österreich, 2018

 

Halleluja.

Ich fühle mich, als hätte ich den schlimmsten Kater aller Zeiten. Mein Kopf dröhnt, mir ist augenblicklich übel. So übel habe ich mich in der Zwischenwelt nicht gefühlt - aber ich begrüße das Gefühl freudig, denn es bedeutet, ich bin am Leben.

Ich öffne die Augen, blicke an eine weiße Zimmerdecke und versuche mich zu orientieren. Unter mir spüre ich das kuschlige Gefühl einer Couch, über mir die Sanftheit einer Wolldecke. Es duftet nach Kräutern, angenehm, nicht zu aufdringlich. Meine Nasenspitze ist ein bisschen kalt, aber ansonsten ist mir muckelig warm.

Das flaue Gefühl in meiner Magengrube ebbt ab, je mehr ich mich darauf konzentriere, wie es in dieser Welt ist. Auch die Kopfschmerzen vergehen so schnell, wie sie gekommen sind.

Aber die Angst davor, dass das hier nur ein Traum ist, bleibt.

Vorsichtig bewege ich die Hände, spüre, wie der Stoff der Wolldecke über meine Haut gleitet, wie er die feinen Härchen auf meinen Unterarmen glattstreicht, bevor ich sie unter der Decke hervorziehe.

»Es hat geklappt«, murmle ich mehr zu mir selbst als zu irgendwem anders. Erst dann setze ich mich auf und blicke mich um. Ich befinde mich in Emmas Wohnung, in der sie meinen Körper abgelegt haben, aber ich bin allein.

Kein Wunder, die anderen sind vermutlich noch dort, wo sie das Ritual durchgeführt haben.

Ich stehe auf, wackle mit den Beinen, strecke mich. Meine menschliche Form fühlt sich definitiv schwerer an als die Version aus der Zwischenwelt … oder dem Jenseits … oder wie auch immer man diesen Ort nennen mag. Dahin möchte ich nie wieder zurück.

Und Desdemonas Gesellschaft werde ich jedenfalls auch nicht vermissen.

»Shit«, murmle ich und erinnere mich daran, was geschehen ist, kurz bevor der Zauber uns zurück in diese Welt gezogen hat. Desdemona ist auf uns zugekommen. Sie war so schnell da, wie sie sonst immer verschwinden konnte. Jetzt, da ich mich wieder erinnere, spüre ich ihre kalte Hand immer noch auf meinem Arm.

Ich blicke mich unwohl um, fürchte mich davor, dass sie jeden Moment aus ihrem Versteck springen könnte.

Wir haben sie mit hergebracht, dessen bin ich mir sicher. Doch dagegen kann ich gerade nichts tun. Ich erschaudere und versuche mich auf die Probleme zu konzentrieren, die ich lösen kann.

Ivan aus der Leichenhalle zu befreien zum Beispiel, wie ich es ihm versprochen habe.

Dass unser »Was-wäre-wenn«-Plan für den Fall, dass wir es aus der Zwischenwelt schaffen, nun greift, treibt mir trotz der Umstände ein Grinsen aufs Gesicht. Wir sind wirklich hier. In dieser Welt. In unserer Welt. Bei den Menschen, die wir lieben. Die alles für uns gegeben haben und immer wieder geben würden.

Jetzt können wir es ihnen zurückgeben.

Am liebsten würde ich sofort zu Alex laufen, aber erst mal muss ich Ivan befreien und die anderen suchen. Emma wird wissen, was zu tun ist, um Alex und Lotta aus ihrer misslichen Lage zu befreien. Wegen Totschlags können sie die beiden jetzt jedenfalls nicht mehr drankriegen.

Ich borge mir ein Paar Schuhe von Emma, die glücklicherweise die gleiche Größe trägt wie ich, und verlasse die Wohnung. Sie hat nicht abgeschlossen, vielleicht hat sie sogar geahnt, dass bei dem Ritual nicht nur Hayet und Mikael zurückkehren würden.

Da man mich für tot hält, achte ich darauf, niemandem zu begegnen, was nicht ganz so schwer ist, da die Nacht längst über den Palast hereingebrochen ist und die Menschen friedlich in ihren Betten liegen dürften. Abgesehen davon haben Ivan und ich genug Zeit im Unsichtbaren verbracht, dass ich den Palast nun wie meine Westentasche kenne.

Viel mehr hatten wir in den letzten Tagen nämlich nicht zu tun.

»Was-wäre-wenn«-Spiele und eine Palastführung nach der anderen, inklusive aller Orte, die man als Schülerin normalerweise nicht zu sehen bekommt. Die Waffenkammer zum Beispiel, in der ich ihm feierlich geschworen habe, kämpfen zu lernen – sollten wir jemals wieder einen Weg zurückfinden.

Ich erreiche die Leichenhalle ungesehen und rüttle an der verschlossenen Tür. Kurz darauf höre ich Schritte aus dem Inneren.

»Hallo?« Eine gedämpfte Stimme.

»Ivan?«

»Louisa!«

Ich lege eine Hand auf die Tür und stelle mir vor, wie er auf der anderen Seite das Gleiche macht. Zu wissen, dass auch er es sicher zurück in diese Welt geschafft hat, lässt mein Herz leichter werden. »Ich bin froh, dass es dir gut geht. Weißt du, wo ich einen Schlüssel für die Tür finde?«

»Wieso benutzt du nicht deine Magie?«, fragt er, und ich kann ihn durch die Tür lachen hören.

»Scheiße, wieso benutzt du nicht deine Magie?« Ich muss auch lachen, kurz darauf klickt es, und die Tür schwingt auf. Ivan steht vor mir, halb grinsend, halb lachend, eine Hand immer noch auf die Tür gerichtet. »Wie dämlich kann man sein?«, begrüßt er mich. »Ich hab einfach mal vergessen, dass ich selbst Magie habe, nachdem ich sie in der Zwischenwelt nicht benutzen konnte.«

Ich lache und betrete die Leichenhalle. Er breitet die Arme aus. »Ich hoffe, diese Umarmung fühlt sich so gut an, wie ich sie mir vorstelle.«

»Darauf würde ich meinen Arsch verwetten«, entgegne ich. Er umarmt mich ganz fest, hebt mich von den Füßen und dreht mich einmal im Kreis.

»Scheiße, ist das geil!« Seine Stimme ist schon fast ein Jauchzen. »Ich hab schon nicht mehr damit gerechnet, jemals wieder einen lebendigen Menschen zu spüren.«

»Oh ja!« Ich atme tief ein, drücke mich an den Mann, der mir in den letzten Tagen zu einem so engen Freund geworden ist, und schlucke die Freudentränen hinunter. Wir haben immer darüber geredet, was wir tun würden, wenn wir es zurück in diese Welt schaffen – und jetzt sind wir hier, und es fühlt sich ganz anders an, als wir dachten.

»Und nun?«, frage ich, nachdem wir unsere Auferstehung ausgiebig genug gefeiert haben. »Befreien wir Lotta und Alex und suchen die anderen? Noch ist es dunkel. Wir sollten die Gunst der Stunde nutzen.«

»Das sollten wir.«

Wir verlassen die Leichenhalle und schließen die Tür leise, bevor wir uns auf den Weg zu den ›Verliesen‹ machen. Sie befinden sich zwar im Keller des Palastes, sind aber keine wirklichen Kerker, sondern einfach nur besser gesicherte Räume, die mit allem ausgestattet sind, was man für einen längeren Aufenthalt gebrauchen kann.

Mein Herz beginnt schneller zu schlagen, je näher mein Wiedersehen mit Alex rückt. Ob er immer noch Gefühle für mich hat? Ja, denke ich, wenn nicht, hätte er bestimmt nicht alles dafür getan, mich zurückzuholen. Ich empfinde jedenfalls umso mehr für ihn. Dankbarkeit, Liebe, Sehnsucht … ich kann es kaum erwarten, ihn endlich wieder zu berühren.

Es war so entsetzlich, sein Leid zu sehen und nichts dagegen tun zu können. Keine meiner Berührungen hat er gespürt, es nie gemerkt, wenn ich eine Hand tröstend auf seinen Unterarm gelegt habe. Wenn ich mich an ihn geschmiegt habe, um ihm zu zeigen, dass ich immer noch da bin.

Wenn ich nicht all meine Magie aufgebracht hätte, um ihm Zeichen zu geben, hätte er vermutlich aufgegeben.

Und was dann mit mir geschehen wäre … das will ich mir gar nicht erst ausmalen.

»Warte.« Ivan hält mich zurück, als wir den Korridor erreicht haben, in dem die Zimmer liegen. »Da wird eine Wache vor den Räumen sitzen.«

Ich nicke. So war es bei unseren letzten Besuchen auch schon, nur dieses Mal würde uns die Wache sehen können. Er wirft einen vorsichtigen Blick um die Ecke. Dann: »Shit.«

Er läuft sofort los. Verwirrt über seine Reaktion folge ich ihm in den Gang und sehe, was ihn in Aufruhr versetzt hat.

Es ist eine Wache da, doch sie liegt bewusstlos am Boden.

 

[3]

 

Hayet

Österreich, 2018

 

»Hayet.« Ein sanftes Rütteln an meiner Schulter reißt mich aus dem erholsamsten Schlaf, den ich seit Ewigkeiten hatte. »Hayet, wach auf.«

Ich murre, hebe eine Hand an mein Gesicht, um mir die Augen zu reiben, und heiße Schmerzen schießen mir durchs Handgelenk.

»Merde«, fluche ich und schieße hoch. Mein Handgelenk pocht und ziept. Das macht es mir schwer, mich wieder auf die Entspannung einzulassen, die mir der Schlaf gebracht hat.

Ein Mann hockt vor mir. Grüne Augen, braunes Haar, ein hübsches Gesicht, aber vor allem ein fremd vertrautes.

»Mikael?«, versuche ich es verwirrt und presse die Zähne wieder aufeinander. Mein Handgelenk tut echt saumäßig weh. Vorsichtig wage ich einen Blick. Es ist grün und blau und angeschwollen.

»Ja«, antwortet der Mann. »Lange Geschichte. Du hast dir die Hand gebrochen.«

»Wie …« Ich hebe den Blick und sehe mich um. Erst da fällt mir auf, dass ich mich im Zentrum einer Zerstörung gigantischen Ausmaßes befinde. Im Umkreis von drei Stockwerken und locker drei Zimmern zu jeder Seite … liegt alles in Trümmern. Das Herz rutscht mir in die Hose. Ich atme laut aus. »Was zum Teufel …?«

Zwischen Schutt und Asche entdecke ich einen Arm, der mir verdammt bekannt vorkommt. Armreifen über Armreifen.

»Maman«, keuche ich auf und stehe mit Hilfe meines unverletzten Arms auf. Ich stürze auf die halb unter Schutt begrabene Frau zu, zerre Holz und Steine von ihr runter. Aber für sie kommt jede Hilfe zu spät.

Ihre Augen blicken leblos in den Himmel. Die Armreifen an ihren Handgelenken sind für immer verstummt.

»Maman«, wiederhole ich noch einmal im Flüsterton. Ungläubig berühre ich ihre Wange. Sie fühlt sich kalt an unter meinen tauben Fingerspitzen. Ihr Gesicht ist ganz blass.

Ich wünschte, ich könnte sie heilen. Ich wünschte, ich wäre eine richtige Hexe. Eine, die so mächtig ist wie sie. Die Tote wieder zum Leben erwecken kann.

Aber das bin ich nicht.

Ich bin bloß ein Mädchen, das um seine Mutter weint.

Egal, was sie getan hat. Egal, wer sie ist. Ich bin noch nicht bereit dafür, sie gehen zu lassen. »Ich brauche dich doch noch.«

Schluchzend beuge ich mich über sie. Tränen rinnen mir über die Wangen und fallen auf ihren Körper. Ich drücke sie an mich, atme ihren vertrauten Duft ein.

Ein letztes Mal.

Nie wieder werde ich ihre Umarmung spüren, nie wieder ihren Rat bekommen, wenn ich ihn so dringend brauche.

»Hayet, es tut mir so leid, aber hier ist es nicht sicher. Du musst hier weg.« Mikael taucht neben uns auf. Ich löse mich widerwillig aus der Umarmung, falle zurück auf meine Unterschenkel und betrachte den leblosen Körper zwischen uns.

Erst da fällt mir der Dolch in ihren Rippen auf.

Sie ist nicht durch die Explosion gestorben.

»Mikael«, keuche ich auf und deute auf die silberne Waffe. Er nickt ernst. »Ist sie hier? Desdemona?«

»Ich hab keine Ahnung.« Er hilft mir hoch und deutet auf den intakten Teil des Palastes, der uns am nächsten ist. »Darum kümmern wir uns später, okay? Bring dich in Sicherheit. Farrah holt Hilfe. Ich suche in der Zwischenzeit nach weiteren Überlebenden, und du lässt dich erst mal verarzten.«

»Okay«, krächze ich und stolpere durch die Trümmer. Erst da gleiten meine Gedanken zu Moose, und ich bleibe wie angewurzelt stehen.

---ENDE DER LESEPROBE---