Das Herz dieser Stadt - Stefan Murr - E-Book

Das Herz dieser Stadt E-Book

Stefan Murr

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Beschreibung

Berlin im Spätsommer 1920: Die Mächtigen und Berühmten der Weimarer Republik feiern auf Schloss Lessien ein rauschendes Fest. Noch stehen der Hausdiener Reinhard Kretzner und sein Sohn im Hintergrund, doch sie wissen die Zeichen der Zeit zu nutzen. Die Welt ist längst im Umbruch, die gesellschaftliche Elite der Intellektuellen, Gelehrten und Stars steht unwissentlich kurz vor dem Untergang. Eine spannende Familiensaga und bewegendes politisches und gesellschaftliches Portrait aus den Schicksalsjahren Deutschlands.

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Stefan Murr

Das Herz dieser Stadt

Ein Roman aus Berlin

Ich widme dieses Buch meiner Frau Charlotte, ohne deren Liebe und Geduld es nicht zustande gekommen wäre.

1 Eine Hochzeit in der Mark 1920

Eigentlich hatte er sein Arbeitszimmer im Obergeschoss nur betreten, um auf dem Schreibtisch die Liste der Gäste und die Tischordnungen noch einmal durchzusehen. Aber sein Blick war auf das offene Fenster gefallen, und er ging nachdenklich, die Hände in beide Hosentaschen versenkt, hinüber. Es war eines der hohen, schmalen Sprossenfenster des Knobelsdorffschen Baustils, die man in vielen Schlössern und Herrenhäusern der Mark Brandenburg findet. Beide Flügel waren weit geöffnet, und in ihren quadratisch unterteilten Scheiben spiegelte sich ein wenig verzerrt das schöne Bild, das sie nach draußen hin freigaben.

Paul von Lindach nahm die Hände aus den Taschen und stützte sich auf das Fenstersims. Ja, das war sein Besitz, seine Welt. Eine Welt, die ihm Kraft und Frieden gab, eingebunden in die unruhige Geschichte eines Landes, das er trotz seiner unbestreitbaren Schattenseiten liebte. Weithin und schon abgeerntet dehnten sich die Felder hinter der Zeile der Pappeln und Birken, die den Schlosspark von der Region der Ökonomie abgrenzten, eingefasst von dem fernen dunklen Saum rotstämmiger märkischer Kiefern. Über allem ein hoher Abendhimmel, durchzogen von langgestreckten Wolkenbänken, deren Ränder golden gesäumt zu sein schienen, noch einmal widergespiegelt von der stillen Fläche versteckter melancholischer Seen. Windstille, Schilf, das Schnarren ungezählter Frösche, Friede.

Nahezu regungslos der Abend, hätte nicht drüben bei den Garagen und dem Kutscherhaus der Chauffeur in Stiefeln und Gummischürze an dem zur Hälfte aus der Garage herausgefahrenen Lincoln mit einem wollenen Lappen den springenden Windhund der Kühlerverschraubung blank gerieben. Ohne die Arbeit zu unterbrechen, grüßte er nach oben, als er den Bankier am offenen Fenster bemerkte. Lindach grüßte mit knapp erhobener Hand zurück. »Noch bei der Arbeit, Asmus, es ist bald neun Uhr.«

Asmus zog den Lappen unter dem Bauch der springenden Hundefigur hindurch und richtete sich auf. »Wenn ick übamorjen det Frollein und ihren Mann von der Kirche zum Schloss fahren soll, muss der Wagen schon halweje sauba sind, Herr Baron. Det is nu man so’n Fimmel von mir.«

»Schon gut, Asmus, übertreiben Sie’s nicht«, rief Lindach zurück. »Es werden ohnehin anstrengende Tage werden über das Wochenende.« Er nickte noch einmal grüßend und wandte sich dann in das Zimmer zurück, denn er hatte die Tür klicken gehört.

Nun war es mit der spätsommerlichen Romantik am offenen Fenster vorbei. Denn auch Berchta von Lindach wusste, dass die Tage über das Wochenende, wenn ihre Tochter Françoise sich auf Gut Haus Lessien verheiratete, anstrengend werden würden. Sie wusste das sogar sehr genau. Denn schließlich war sie es, die für alles sorgen musste. Ihr Mann brauchte eigentlich nur zu zahlen. Um Einzelheiten kümmerte er sich nicht. Eine große Hochzeit sollte es werden, ein Signal dafür, dass man in diesem Jahr 1920 nach Kriegsende bereit war, noch einmal von vorne anzufangen. Außerdem galt es, Kultur und Lebensart der ehemals kaiserlichen Eliteschicht in die unvermeidlich heraufziehende Epoche der Republik hinüberzuretten.

Dafür sollte auch Aufwand getrieben werden, denn Geld war da, und noch ahnte – außer vielleicht von Lindach selbst – niemand die schreckliche monetäre Katastrophe, in der drei Jahre später das Abenteuer des Weltkrieges endgültig versinken sollte.

Berchta von Lindach trat ins Zimmer, blond onduliert, elegant in einem der kürzeren Röcke, die seit einem oder zwei Jahren aufkamen, und erinnerte ihren Mann an die Gegenwart.

»Wir haben übermorgen Mittag einen Cocktail für fünfzig Personen, Paul, danach ein Kammerkonzert im Garten mit Kaffee und Torten, danach …«

»Danach eine Trauung in der Dorfkirche«, fuhr Lindach wohlgelaunt fort und wandte sich zu ihr um. »Danach ein Festdinner für achtzehn Personen im Schloss, danach Tanz mit dem Orchester bis in den Morgen. Und am Tag danach haben wir noch ein Sektfrühstück für vierzig Personen mit allen möglichen Raffinessen bis Mittag …«

»Morgen kommen die ersten Gäste«, sagte Berchta vorwurfsvoll. »Und du schaust zum Fenster hinaus.«

Ihr Mann legte den Arm um ihre Schultern und zog sie zum Fenster. »Schau doch auch mal, Berchta. Eigentlich halte ich das Gut ja fast nur wegen dieses Blicks. Der Abend ist eine Pracht. Vielleicht wird es noch ein Gewitter geben.«

Es war sonderbar. Von ihnen beiden war Paul der romantischere, obwohl er viel Macht besaß, mit harten Gegnern und Partnern umgehen musste und ein hohes Risiko trug. Seine Offenheit für Gefühle sah man ihm auch an. Er war nicht mehr als mittelgroß, mit schmalen Schultern und von graziler Figur. Aus dem fein modellierten länglichen Gesicht mit der beginnenden Stirnglatze blickten dunkle tiefliegende Augen melancholisch in die Welt. Im Chefkontor seiner Bank in Berlin-Stadtmitte wirkten sie sicherlich nicht so, aber auf Fotografien, die ihn mit seinen Hunden zeigten, sah er warmherzig aus.

Berchta von Lindach stammte aus einer hanseatischen Bankiersfamilie und hatte davon beides mitbekommen: die zielgerichtete Entschlossenheit der Kaste und die kühle, distanzierte Selbstbeherrschung des Menschenschlages. Zu beschaulicher Naturbetrachtung brachte Paul sie selten. Als er das auch an diesem Abend spürte, fuhr er fort: »Ich bin nur hier oben, weil ich noch einmal nach der Tischordnung für das Dinner sehen wollte.«

Sie gingen zum Schreibtisch, auf dem die Notizen zurechtgelegt waren, und beugten sich darüber.

»Eine ziemlich ungewöhnliche Gesellschaft, die uns Francy da eingeladen hat«, murmelte Paul, nachdem er die Tischordnung noch einmal überflogen, sich aufgerichtet und die Arme vor der Brust verschränkt hatte.

»Francy ist eben ungewöhnlich«, antwortete Berchta. »Und die Zeiten haben sich geändert. Du solltest ungefähr wissen, mit wem du es zu tun hast, wenn du schon fünfunddreißig Mark pro Person und Menü ausgibst.«

»Natürlich«, sagte Paul. »Wer ist zum Beispiel Zumtobel? Nicht gerade ein preußischer Name.«

Berchta lachte. »Nein. Ein Schweizer Name. Und das Ehepaar Zumtobel kommt auch nicht von Francy, sondern auf Wunsch deines Schwiegersohnes. Florian Zumtobel ist junger Diplomat wie Carl auch. Sie haben sich irgendwo in Übersee kennengelernt und angefreundet. Er soll ehrgeizig, zuverlässig und fleißig sein, und die Familie seiner Frau soll in einem Gebirgstal in der Schweiz ein allmählich verfallendes mittelalterliches Schloss besitzen. Sie haben vor ein paar Tagen in der Tiergartenstraße Besuch gemacht. Die Karte muss zwischen den anderen irgendwo herumliegen.«

»Klingt nicht schlecht«, sagte Paul. »Zumal von Carls Seite sonst gar niemand da ist.«

»Die Eltern sind ja tot, und das Verhältnis Carls zu seiner weiteren Familie ist nicht besonders gut.«

»Ich weiß«, antwortete Paul düster. »Er hat mir bei unserer ersten Unterredung über die Einzelheiten der Heirat alles offen dargelegt. Auch dass die honorigen Mitglieder einer mächtigen Zeitungsdynastie Vorbehalte dagegen haben, dass einer ihrer Angehörigen ein halbjüdisches Mädchen zur Frau nimmt – und sei es auch die Tochter aus einer ebenso mächtigen Privatbankendynastie. Aber ebenso wenig wie wir Francy von der Heirat abhalten konnten, konnten sie es bei Carl. Und ich rechne ihm das hoch an.«

»Na ja«, überspielte Berchta die dunkle Sekunde. »Und wer die anderen sind, weißt du ja ohnehin.«

»Hierhin habe ich Hofer gesetzt, Karl Hofer, Leiter der Malklasse an der Berliner Akademie. Gegenüber Paul Cassirer, Hofers Förderer und Galerist. Aber wer ist Beckmann?«

Berchta schluckte in gespieltem leichtem Entsetzen und zögerte mit der Antwort. Schließlich seufzte sie und sagte: »Max Beckmann gehört zu diesen Bohemiens, zu denen sich Francy neuerdings hingezogen fühlt. Sie hat ihn aus Frankfurt angeschleppt. Ein Revolutionär, ein Aufrührer, der alles in den Schmutz zieht. Malt nichts als Elend und Verfall. Ein Pessimist aus Prinzip. Im Krieg natürlich nur einfacher Sanitäter gewesen.«

Paul ließ eine Weile Zeit verstreichen, bevor er Berchta antwortete, wobei er nachdenklich mit dem Fingerrücken über den dunklen, englisch gestutzten Oberlippenbart strich. »Wenn er im Krieg Sanitäter war«, sagte er endlich, »dann hat er jedenfalls genügend Motive gesehen, um Elend und Verfall zu malen, Berchta. Soll er vielleicht Wilhelm hoch zu Ross auf dem Feldherrnhügel malen? Diese Zeiten sind vorbei. Die Ansichten dieses Herrn Beckmann über Kriege scheinen sich mit meinen zu decken.« Er beugte sich noch einmal über den Schreibtisch und die darauf ausgebreiteten Listen.

»Dann ist da noch ein Name, der mir nichts sagt. Kraus, Hartwig von Kraus?«

Er richtete sich auf, und Berchta schluckte ein zweites Mal. »Ein verflossener Flirt von Francy«, antwortete sie schließlich. »Aber sie wollte ihn unbedingt dabeihaben. Und es fehlte ohnehin noch ein Mann an der Tafel.«

»Ein Flirt von Francy, soso«, knurrte von Lindach. »Auch ein Dichter vielleicht, wie ihr Brieffreund Rilke?«

Berchta schüttelte verlegen den Kopf.

»Oder ein Maler, wie dieser Beckmann?«

Berchta schüttelte noch einmal den Kopf.

»Na, was denn dann?«, drängte Paul. »Ein Strauchdieb wird er ja nicht sein. Raus mit der Sprache. Ein Student?«

»Ein Offizier«, erwiderte Berchta.

Paul von Lindach fiel zunächst aus allen Wolken. »Ein Offizier«, sagte er dann gedehnt und fügte hinzu: »Vielleicht einer von diesen Freikorpsleuten? Einer von denen, die nie genug bekommen können von Krieg und Schlachtenruhm?«

»Nein, nein, nicht das«, sagte Berchta begütigend. »Einer von der neuen Reichsmarine. Zum Leutnant ist er zwar schon befördert, aber die Beförderung ist noch nicht bestätigt. Rangdienstalter oder so ähnlich nennt man das, sagt Francy. Er soll einen Onkel im Ministerium haben. Die Offiziersuniform darf er erst ab Oktober tragen.«

Der Bankier Paul von Lindach war bei dieser Eröffnung nahe daran, in Schweiß auszubrechen. Er fuhr sich mit dem Zeigefinger in den steifen hohen Eckenkragen, um ihn zu lockern, wobei er das Gesicht verzog. »Das hätte uns gerade noch gefehlt, Berchta. Ein Marineoffizier in Uniform im September des Jahres 1920 im Hause des kaiserlichen Privatbankiers von Lindach. In den Zeitungen hätten sie uns in der Luft zerrissen, wenn das herausgekommen wäre. Der Kapp-Putsch, der Marsch des Generals von Lüttwitz auf Berlin, der Generalstreik – das war doch alles erst in diesem Jahr. Da ist noch nicht mal Gras drüber gewachsen.«

Er brach ab und wandte sich noch einmal dem offenstehenden Fenster zu, durch das die Schatten der Dämmerung das Zimmer zu erfüllen begannen. Drunten hatte der Chauffeur Asmus seine Arbeit beendet und den Lincoln zurück in die Garage gefahren. Am fernen Horizont, hinter dem Saum der Kiefernwaldungen, gewitterte es jetzt. Es war ganz still. Ohne sich wieder seiner Frau zuzuwenden, sagte Paul vom Fenster her: »Eine ziemlich problematische Hochzeit, die uns Francy da eingebrockt hat.«

Berchta trat neben ihren Mann. »Hochzeit oder Heirat, Paul?«

Der Bankier wandte sich ihr zu. »In der Tat, Berchta, beides.«

Eine Weile herrschte Schweigen.

»Carl ist neunzehn Jahre älter als Francy«, fuhr Lindach dann fort. »Und Francy weiß noch nicht einmal, was das wirklich bedeutet, nämlich dass sie sich in weiteren neunzehn Jahren vielleicht schon wie eine Witwe fühlen wird. Jetzt schaut sie zu ihm auf. Sie sieht in ihm nur den Weltmann, Kunstkenner, Herrenreiter und großzügigen Kavalier – der er ja auch ist –, aber das genügt nicht. Das genügt eben nicht für eine Ehe auf Dauer, Berchta.«

»Machst du dir Sorgen darüber? Ernsthaft Sorgen, meine ich.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass das eine lange und gute Verbindung wird«, sagte Paul von Lindach. Aber er sagte es zweifelnd mehr zu sich selbst und in die langsam heraufziehende Dunkelheit der spätsommerlichen Nacht hinaus. Berchta antwortete dennoch.

»Ich weiß das so gut wie du. Aber es war unmöglich, es ihr auszureden. Und nur ich hätte es überhaupt gekonnt. Du niemals.«

»Francy kann man gar nichts ausreden, was sie sich in den Kopf setzt. Das siehst du ja an dieser skurrilen Hochzeitstafel: Beckmann und ein Marineoffizier, ein Mann wie Karl Hofer und dieser ewig kaiserlich treudeutsche Architekt Albert Goldamer, dazu deine Tochter Francy und ein konservativer Zeitungserbe wie Carl. Das Gemisch kann Dynamit werden. Wenn die auf Politik kommen, gnade uns Gott.«

Bevor sich die beiden Lindachs noch weiter in Pauls düstere Prognosen hineinzusteigern vermochten, erklang aus dem Erdgeschoß der Gong, der zum Abendessen rief. Drei metallisch nachhallende Schläge und kurz darauf das gleiche Zeichen auf der Frontseite des Schlösschens zum Garten hin. Es war halb neun.

Paul und Berchta von Lindach verließen das Arbeitszimmer, in dem es inzwischen völlig dunkel geworden war, und begaben sich nach unten. Beide noch immer von düsteren Gedanken gepeinigt. Aber wie oft bei unheilvollen Befürchtungen, kam am Tag der Hochzeit alles völlig anders. Es wurde ein fröhliches Fest, das sich über einundeinhalb Tage und eine Nacht hinzog.

Viele reisten in eigenen Autos an, die bald einen lack- und chromblitzenden Wagenpark auf dem weitläufigen Gutshof bildeten. Andere benutzten die Bummelbahn bis zum Bahnhof im Dorf Lessien, etwa drei Kilometer entfernt, von wo aus sie mit Kutschwagen zum Gut gebracht wurden; die Nachbarn fuhren in ihren eigenen Kaleschen vor. Und von denjenigen, die nur zu Cocktail, Kaffeetafel und Trauung geladen waren, kamen einige sogar geritten. Platz für ihre Pferde gab es in dem geräumigen Marstall genug. Das Wetter war gnädig und bescherte bei milder Sonne einen wolkenlosen Himmel und außerdem noch eine der letzten lauen Nächte dieses sonst in jeder Hinsicht so stürmischen Jahres 1920. Nach Berchta von Lindachs vorzüglichem Aktionsplan lief alles ab wie am Schnürchen. Der Cocktailvormittag war gemessen ausgelassen. Zu Mittag gab es im Park ein warmes und kaltes Buffet, und der Nachmittag leitete mit dezenter Kammermusik bei Kaffee und Kuchen über in den abendlich festlichen Teil.

Um Punkt fünf Minuten vor sechs Uhr abends ließ sich der Bräutigam, Dr. Carl E. Schöngarten, zu dieser Zeit Legationsrat an der deutschen Botschaft in Stockholm, mit einem dunkelblauen Dodge 18/38er an der Dorfkirche Vorfahren, in deren geöffnetem Portal der Pastor bereits mit über dem Neuen Testament gefalteten Händen wartete. Schöngartens Trauzeuge, Edzard Jordan, ein junger Mann aus dem Freundeskreis der von Lindachs, kletterte hinter dem Bräutigam aus dem Auto. Die Herren waren, wie es die Etikette für diese Tageszeit vorschrieb, im abendlichen Frack, und Schöngarten hielt ein Bukett weißer Rosen im Arm.

Er hatte nicht lange zu warten, denn mit dem Glockenschlag fuhr Asmus den blitzenden Lincoln durch die Eichenallee, die vom Herrenhaus herüber zum Kirchplatz führte, und hielt den Wagen vor der Kirche. Schöngarten trat vor, öffnete den Wagenschlag und begrüßte Paul von Lindach, der als Erster ausstieg und seiner Tochter Françoise Marie Blanche, genannt Francy, die Hand zum Verlassen des Autos reichte. An den Sechsuhrschlag der Kirchenuhr schloss sich ein anhaltendes Geläut der Turmglocken an. Als Francy den Lincoln verließ, brachen die Dorfleute, die in dichten Reihen den Schauplatz säumten, in spontanen Beifall aus. Und sie hatten dazu auch Grund. Francy trug ein weißes Brautkleid, das mit gerüschtem und dennoch nach unten eng zulaufendem Taftrock der Abendmode der Jahrhundertwende nachempfunden war. Dazu ein miederartiges Oberteil und um die Schultern ein Cape aus schneeweißem Hermelin. Im kurzen schwarzen Haar funkelte ein Brillantdiadem, das den Vater schon zu Friedenszeiten 60 000 Goldmark gekostet hatte, und von diesem fiel glockenförmig ein Hauch von einem Tüllschleier herab, der das Gesicht frei ließ, das Gesicht einer modernen jungen Frau, oval, in leichter Bernsteintönung, mit schmaler Nase, apart geschnittenem, ein wenig herrischem Mund und einem Grübchen im Kinn. Man hätte an Schneewittchen denken mögen, wären da nicht die Augen gewesen, groß, schwarz und klug, und ein wenig mandelförmig, sodass sie eher an den Orient erinnerten als an einen deutschen Märchenwald oder die stille Melancholie der Mark.

Schöngarten überreichte seine weißen Rosen, die Francy über ihrem rechten Unterarm drapierte, während sie sich mit dem linken bei ihrem Vater einhängte. Unter dem Geläut der Kirchenglocken schritt das Paar gefolgt von Bräutigam und Trauzeugen auf das Portal zu, wurde dort vom Pastor begrüßt, der sich dann umwandte und gemessen und würdig in das dämmerige Innere der Kirche voranschritt, wie das seit Generationen in den Landgemeinden Preußens der Brauch war. Orgelklang rauschte voll und mächtig auf, die Leute in den Kirchenbänken erhoben sich und wandten sich dem Mittelgang zu, manche der Frauen weinten schon jetzt. Es gab ein Orgelpräludium, eine Predigt, einen Trautext aus den Korintherbriefen, die üblichen Worte beim Ringewechsel und dann Francys Lieblingsmusik, das Presto aus dem 4. Brandenburgischen Konzert. Die Glocken läuteten erneut, und um 6 Uhr 45 Minuten waren der Legationsrat Dr. Carl E. Schöngarten und Françoise Marie Blanche von Lindach nunmehr auch mit Gottes und des Pastors Segen Mann und Frau, bis dass der Tod sie scheiden würde. In diesem Augenblick weinten fast alle, wie auch dies seit Generationen der Brauch war. Das Kammerorchester spielte auf Wunsch Paul von Lindachs den Militärmarsch von Franz Schubert, als Carl und Francy die Kirche verließen und in die Hochrufe der Zuschauer eintauchten, die jetzt dicht an dicht vor der Kirche die Szene umlagerten.

»Unglaublich«, sagte Carl, als er mit seiner jungen Frau das Auto bestieg und zurückwinkte. »Meinen sie das ehrlich?«

»Sie meinen das ehrlich«, antwortete Francy. »Weil Papa Geld genug hat, um als Gutsherr gerecht und tolerant zu sein.«

Das Auto bog, während Francy das sagte, gefolgt von den anderen Automobilen der Gäste in die Eichenallee ein, deren Blattwerk in den Strahlen der späten Abendsonne schon einen ersten gelblichen Hauch des beginnenden Herbstes zeigte.

Im Vestibül des Herrenhauses löste sich die Gesellschaft zunächst einmal auf. Während das geschah, hatte Carl Schöngarten ein sonderbares Erlebnis. Im Hintergrund der Halle wartete ein Mann in schwarzer Hose und gestreifter Weste, der anscheinend Butlerdienste versah und den Gästen die Schals und Zylinder abnahm. Schöngarten nahm mit Verblüffung wahr, dass der Freund des Hauses Lindach, Professor Albert Goldamer, als er sich diesem Mann näherte, zu ihm sagte: »Guten Abend, Krentzner. Schön, Sie hier zu sehen. Als Herr von Lindach mich nach einer geeigneten Vertrauensperson für diesen Abend fragte, habe ich sofort an Sie gedacht. Ich freue mich sehr, dass das geklappt hat. Wie geht es zu Hause? Wie geht es Robert?«

Der Professor trat auf den Mann zu, reichte ihm die Hand, dann erst den Hut und den leichten Mantel und legte ihm eine Hand vertraulich auf den Oberarm.

»Den Umständen entsprechend, Herr Rittmeister. Is eben nich sehr erfreulich, immer von die Hand in den Mund. Meinen Sohn werden Herr Rittmeister auch sehen, der Herr von Lindach hat ihn gleich mit engagiert heute Abend. Für die Jetränke.«

»Sie sollen nicht immer noch an den alten Rängen herumkauen, Krentzner«, sagte Goldamer. »Wenn Sie schon unbedingt einen Titel verwenden wollen, nehmen Sie den Professor. Aber auch das brauchen Sie nicht zu tun, das wissen Sie doch.«

»Passt mir überhaupt nich ins Konzept, der Professor, überhaupt nicht. Wenn Herr Rittmeister mir das nicht ausdrücklich verbieten, sind Herr Rittmeister für mich immer noch Herr Rittmeister.«

Der Professor schmunzelte. »Dann muss ich Ihnen den Rittmeister eben ausdrücklich verbieten, Hauptwachtmeister Krentzner, mindestens wenn wir nicht alleine sind. Verwenden Sie den Professor. Und auch das nicht in der dritten Person. Die passt nicht mehr in die Zeit. Und übrigens, ich hätte Sie im Lauf des Abends gerne noch ein paar Minuten unter vier Augen gesprochen. Bleiben Sie auf jeden Fall so lange hier, bis das geschehen ist. Versprochen?«

»Versprochen, Herr Ritt…, Herr Professor. Und einen verjnügten Abend noch, Herr Professor.«

Der Professor ging weiter in das Rauchzimmer, wo sich schon einige der Herren versammelt hatten. Carl und seine Frau begaben sich in den Oberstock, um ein wenig auszuruhen.

»Kannst du dir darauf einen Reim machen?«, fragte Carl auf der Treppe auf dem Weg nach oben.

»Ja, kann ich«, antwortete Francy. »Irgendwie eine Art Männerfreundschaft. Aus dem Krieg muss das stammen.«

»Ein Diener und ein Stararchitekt? Komisch. Zwei Ewiggestrige wahrscheinlich?«

»Nein, nein«, sagte Francy. »So ist das nicht. Sie müssen sich gegenseitig sehr verpflichtet sein. Krentzner verehrt Goldamer, und Goldamer ist Krentzner für irgendwas sehr dankbar. Für was genau, weiß ich nicht. Wahrscheinlich hat er Goldamer mal das Leben gerettet oder so. Davon hört man ja öfter jetzt. Die angeblich positiven Seiten des Krieges. Frag Albert Goldamer, vielleicht erzählt er es dir.«

Der Hausherr hatte dem Brautpaar zwei ineinandergehende Zimmer zur Verfügung gestellt. Sie betraten diese Suite jetzt durch das Zimmer Francys. Carl legte den Arm um ihre Schultern und führte sie ans offene Fenster. Sanft wehte Abendluft herein.

»Wann möchtest du dieses Haus verlassen?«, fragte sie und schmiegte sich etwas enger in seinen Arm.

»Dein Elternhaus«, antwortete er. »Fällt es dir sehr schwer?«

Francy schüttelte an seiner Schulter den Kopf. »Eigentlich ist nicht Haus Lessien mein Elternhaus, sondern unser Haus in der Tiergartenstraße. Dort war ich Kind und Schulmädel. Nein, Charly, es fällt mir nicht schwer. Ich bin ja bei dir. Auf uns wartet das Leben. Und die Welt. Ich bin sehr gespannt auf Stockholm.«

»Aber vorher kommt noch Ägypten, Liebling. Pharaonengräber, Pyramiden, Kamele, eine Reise auf dem Nil. Papa war wirklich sehr großzügig.«

Das traf zu. Francys Vater hatte es sich nicht nehmen lassen, seinen Kindern die Hochzeitsreise an den Nil als Präsent zu verehren, und zwar so lange sie wollten und so teuer sie wollten.

»So ist er eben«, sagte Francy. »Aber du hast mir immer noch nicht verraten, wie du dir die Abreise vorgestellt hast.«

»Das Auto habe ich für zehn Uhr heute Abend bestellt«, sagte Schöngarten. »Es bringt uns nach Berlin zum Adlon am Pariser Platz. Dort übernachten wir. Morgen Nachmittag gegen fünf Uhr fährt der Schlafwagenzug nach Genua, wo wir noch einmal über Nacht bleiben, und am nächsten Tag gehen wir auf das Schiff nach Alexandria. Es ist alles vorbereitet. Ich hoffe, es ist dir recht, Liebling.«

»Ich verlasse mich in allen diesen Dingen ganz auf dich. Ich vertraue deinen großen Erfahrungen, Charly. Du hast so unendlich viel mehr erlebt als ich.«

Er küsste sie. »Jetzt werden wir noch etwas ausruhen, Francy. Das Dinner beginnt um acht Uhr. Und danach müssen wir uns noch für die Abreise umziehen.«

Er nahm den Arm von den Schultern der jungen Frau und wandte sich der Durchgangstür zu seinem eigenen Zimmer zu. Dabei fiel sein Blick auf Francys vorbereitetes Reisekostüm. Es war ein Complet aus blasslila Wollstoff, an dessen Revers eine gelbe Kunstblume befestigt war. Schöngarten wandte sich noch einmal um. »Ein wunderschönes Kostüm, Liebling.«

»Ja, nicht wahr? Es gefällt dir?«

»Es gefällt mir sogar sehr. Aber meinst du nicht, dass die gelbe Blume vielleicht etwas zu auffallend ist? Hast du nicht eine Blume in Rosa? Oder noch besser in Altrosa?«

Die junge Frau stutzte nur einen Augenblick lang. Dann sagte sie: »Ich hab wirklich eine in Altrosa, Charly. Wenn dich das freut?«

»Es würde mich sogar sehr freuen«, sagte er, wandte sich jetzt endgültig um und ging in sein eigenes Zimmer. Francy bemerkte mit einem seltsamen Stich in der Gegend ihres Herzens, dass er die Verbindungstür hinter sich zuzog. Sie hatte kaum Erfahrungen in Dingen der Liebe. Aber auf ein wenig mehr interessierte Leidenschaftlichkeit war sie doch neugierig gewesen. Sicherlich war diese Stunde nicht die richtige Zeit, und es war auch nicht der richtige Ort. Sie hoffte also auf das Adlon, den Schlafwagenzug, das Schiff nach Alexandria.

Sie suchte die Schubladen durch nach der versprochenen altrosa Kunstblume und fand sie. Sie wechselte die beiden Blumen aus und betrachtete ihr Werk. Dabei stellte sie fest, dass die Blüte aus steifem altrosa Tüll tatsächlich zu dem lila Wollstoff des Kostüms weit besser aussah als die gelbe, wodurch ihre Hochachtung vor dem erlesenen Geschmack ihres Gatten noch einmal erheblich stieg. Viele Jahrzehnte später, in einer anderen Zeit und einer von Grund auf veränderten Welt, sollte Françoise Marie Blanche Schöngarten, geborene von Lindach, sich dieser ersten Stunde nach der kirchlichen Trauung alleine mit ihrem Gatten in einer Art übersinnlicher Klarheit deutlich entsinnen.

»Wenn die auf Politik kommen, gnade uns Gott«, hatte Paul von Lindach noch vor zwei Tagen vorausahnend zu Berchta gesagt. Und natürlich kamen sie auf Politik. Denn Politik war allgegenwärtig in dieser Zeit nach dem verlorenen Krieg und das Gespräch darüber im Kreise gebildeter und interessierter Menschen unvermeidlich. Es entwickelte sich an diesem Abend während der von Berchta im Verlauf des Dinners eingerichteten Kunstpause, für die die Gäste auf die Terrasse und in den Garten gebeten worden waren, während im Saal Kerzenlicht entzündet und die flambierte Eisbombe vorbereitet wurde. Draußen reichten in gestreifter Weste Reinhard Krentzner und ein jüngerer Mann, dem man ansah, dass er der Sohn war, Champagner und Säfte. Das Verbindliche und Liebenswürdige, das den Vater auszeichnete, hatte der Jüngere nicht. Er gab durch Haltung, Gestik und Gesichtsausdruck zu verstehen, dass er korrekt eine bezahlte Verpflichtung erfüllte. Mehr nicht.

Das Gespräch über Politik kam zustande, als der Hausherr in einer kleinen Gruppe seiner Gäste eine Bemerkung darüber machte, dass der Kurs der Mark im Verhältnis zum US-Dollar erneut um zwei Pfennige gefallen sei. Albert Goldamer erwiderte, die Amerikaner hätten ja den Friedensvertrag noch nicht einmal ratifiziert. Dem Vernehmen nach wollten sie das im kommenden Jahr mittels einer eigenen Vereinbarung tun. Und was dann geschehen würde?

»Das kann ich dir schon sagen«, antwortete der Bankier. »Die Amerikaner sind nämlich die Einzigen, die noch ihre gesunden ökonomischen fünf Sinne beieinander haben. Sie werden die ersten sein, die merken, dass das Reich die Reparationen, von denen die Franzosen jetzt träumen, gar nicht aufbringen kann. Dass die mit einer zerrütteten Wirtschaft überhaupt niemand aufbringen kann. Dass Reparationen ein Hirngespinst sind. Es sei denn durch Sklavenarbeit.«

»Und dann?«, fragte Paul Cassirer, der zu der Gruppe getreten war.

Lindach wandte sich ihm zu. »Dann werden sie dafür sorgen, Herr Cassirer, dass die Gläubiger wenigstens ein bisschen etwas kriegen. Eine Art Monsterkonkurs, denn der Spatz in der Hand ist den Amerikanern allemal lieber als eine Taube auf dem Dach.«

»Sehr vernünftig«, sagte jemand aus der Runde.

»Nur leider nicht allgemein verbreitet. Sie brauchen davor natürlich keine Angst zu haben, Herr Cassirer, wer Dollars einnimmt, kann nicht durch den Rost fallen.«

»Wer meinst du denn, wird durch den Rost fallen?«, fragte Goldamer.

»Du zum Beispiel. Und alle anderen, die an den Fronten gekämpft haben und ihre Frauen zu Hause haben Kriegsanleihen zeichnen lassen«, sagte von Lindach. »Der gesamte anständige, patriotische und leichtgläubige Mittelstand, der keine Reserven mehr hat, wird verarmen und durch den Rost fallen. Und sie werden natürlich das Opfer revisionistischer Fanatiker und verlogener Heilsverkünder werden. Irgend so ein Verein ist da in der Provinz schon gegründet worden …«

»In München«, warf jemand ein.

»Na schön, in München«, korrigierte der Bankier sich bissig. »Aber der hat sich schon so was auf seine Fahnen geschrieben. Propheten aus der falschen Ecke. Aber dem werden die Leute nachlaufen, weil ihnen nämlich gar nichts anderes übrigbleibt, weil sie gar keine andere Wahl haben werden, als den Rattenfängern nachzulaufen. Und weiß der Himmel, wo das dann endet.«

Nach diesen nüchtern vorgetragenen, pessimistischen Worten breitete sich in der Runde eine Stille aus, in der das unregelmäßige Knistern der in die Rosen- und Asternbeete gesteckten Kienfackeln überdeutlich vernehmbar war.

»Was hätten wir denn schließlich schon tun können, Paul?«, sagte in resigniertem Tonfall Géza Jordan, Professor für Innere Medizin an der Charité und alter Freund der Familie Lindach.

»Wir hätten diesen Krieg gar nicht schüren dürfen, in das Feuer nicht auch noch hineinblasen, anstatt es auszutreten«, antwortete der Gastgeber. »Ich habe das dem Kaiser ein dutzendmal und öfter gesagt. Leider ohne Erfolg.«

»Er soll doch sonst auf dich gehört haben«, sagte der Arzt.

»In Finanzfragen schon, Géza, aber nicht in Dingen der herrscherlichen Moral. Da wusste er alles besser. Tja, und nun haben sie eben unterschrieben, die Leute, die dieser Hitler die Novemberverbrecher nennt.«

»Hätten sie denn nicht unterschreiben sollen?«, fragte jemand aus der Runde. Von rückwärts her war ein Mann an die Gruppe herangekommen, der bisher auch an der Tafel nur wenig in Erscheinung getreten war, und hatte aufmerksam zugehört. Er war nur etwa mittelgroß und etwas untersetzt, mit einem fast quadratisch wirkenden Schädel, den sehr spärlicher, schon ins Graue übergehender Haarwuchs bedeckte. Unter einer niedrigen Stirn blickten dunkle, ungemein wissende Augen in die Welt, unter einer kräftigen Nase ein schmallippiger Mund, dessen Winkel kritisch nach unten gezogen waren.

»Nein, sie hätten nicht unterschreiben sollen«, sagte dieser Mann. Der Kreis öffnete sich, und die Gesichter über den weißen Frackschleifen und Westen wandten sich ihm zu.

»Ganz die Meinung dieses Gefreiten Hitler, Beckmann«, sagte Cassirer, »der jetzt da drunten an Einfluss gewinnt und den Mund so voll nimmt. Genau das sagt der auch.« Die Zigarre Paul Cassirers war ausgegangen, er entzündete sie hinter vorgehaltener Hand aufs Neue und wedelte betont das Streichholz aus. »Eigentlich hatte ich an Ihre Einstellung eine andere Erinnerung. Und auch Ihre Bilder sprechen eine andere Sprache.«

»Nicht unterschreiben«, murmelte Professor Jordan betreten. »Wo wären wir da hingekommen?«

»Das ganze Land hätten sie besetzt«, sagte Goldamer vorwurfsvoll. »Wenigstens haben sie damit gedroht.«

Max Beckmann erwiderte: »Sollen sie doch. Ich wäre neugierig gewesen, wie sie das gemacht hätten. Fünfhunderttausend Quadratkilometer, von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt, wie es demnächst in unserer Nationalhymne heißen wird.«

»Herr Beckmann … aber ich bitte Sie … Herr Beckmann, überlegen Sie doch …«, klangen besorgte und zweiflerische Stimmen auf.

Aber der berühmte Maler des aufkommenden Expressionismus ließ sich davon nicht beeindrucken und fuhr fort: »Ein gewonnener Krieg befreit die Sieger nicht von der Pflicht zu Menschlichkeit und Moral. Und ein verlorener Krieg nimmt dem Besiegten nicht das Recht auf seine Existenz. Ein Sieg darf kein Racheakt werden. Was wir hätten tun können, fragen Sie sich. Nun, vom Generalstreik bis zum zivilen Ungehorsam, von der Einstellung der öffentlichen Verwaltung bis zur Unterbrechung jeglicher Rechtspflege oder Regierungstätigkeit gäbe es eine breite Palette von Möglichkeiten, deren Auswirkungen den Besatzungsmächten weit peinlicher gewesen wären als uns selbst. Krakeeler wie diesen Hitler hätten die Franzosen füsiliert, anstatt ihm eine Plattform in der Politik zu bieten. Und eines Tages wäre ihnen das alles über den Kopf gewachsen, und sie hätten zur Vernunft zurückkehren müssen, meine Herren. Und dann wäre unsere Position eine weit bessere als jetzt. Wer Reparationen will, muss eine Basis zulassen, von der aus er sie kriegen kann. Das ist meine Meinung. Sie alle wissen, wie fanatisch ich gegen diesen Krieg war, aber unsere ehemaligen Gegner überbieten sich an Dummheit, Verblendung und Kurzsichtigkeit.«

»Sie hätten Politiker werden sollen, Beckmann«, sagte Cassirer.

Beckmann lachte. »Nein, mein Lieber, da bleibe ich lieber Maler. Da braucht man nicht so viel zu reden, um etwas zu sagen.«

In der Runde war man bereit, über das Bonmot zu lachen, aber der Hausherr blieb ernst.

»Es ist bei uns nicht allgemein bekannt geworden, wie der eigentliche Sieger dieses Krieges, Marschall Foch in Frankreich, das beurteilt. Dieses Machwerk, hat er gesagt, ist kein Friedensvertrag, sondern ein Waffenstillstand auf fünfundzwanzig Jahre. Und ich bin ganz seiner Meinung.«

Das Gespräch wurde unterbrochen durch Reinhard Krentzner, der oben am Absatz der Freitreppe stand, in die Hände klatschte und in den Park hinunterrief: »Meine Damen und Herren, Herr Baron, der Nachtisch.«

Die Gruppen lösten sich auf, und man setzte sich in Bewegung.

»Na, mal hören, was die Presse dazu äußert«, sagte Paul Cassirer und meinte damit Carl Schöngarten. Aber als die Gäste den nun nur noch von Kerzen in großen Kandelabern erleuchteten Speisesaal wieder betraten, hatte Berchtas geschickte Regie es dem jungen Paar ermöglicht, die Festgesellschaft ohne Aufsehen zu verlassen. An seinen Plätzen prangten Blumenarrangements, und just in dem Augenblick, da man nach ihnen fragte, bestiegen Carl und seine junge Frau am Vordereingang den Wagen, der sie nach Berlin brachte.

An der festlich beleuchteten Tafel machte sich Ausgelassenheit breit. Als die beiden Krentzners feierlich schreitend die riesigen Eisbomben hereintrugen, auf dem Tisch absetzten und den Alkohol, mit dem sie übergossen waren, entzündeten, wurden Ausrufe des Entzückens hörbar. Zur gleichen Zeit begann im Nebenraum ein kleines Tanzorchester dezent zu spielen, und die zärtlichen Synkopen eines Altsaxophons erinnerten daran, dass man nicht gerade zu einer Trauerfeier geladen war, und verlockten zum Tanzen. Das alles trug zum Entstehen einer liebenswürdigen und lebensfrohen Stimmung bei, die die apokalyptischen Schatten, die durch die Gespräche im Park aufgestiegen waren, rasch vergessen ließ.

Von ihnen überhaupt nicht berührt worden waren drei junge Leute der Hochzeitsgesellschaft, weil sie gar nicht mit im Park gewesen waren, sondern sich in der Bibliothek mit den Grammophonplatten, Büchern und Zeitschriften des Hausherrn beschäftigt hatten. Diese drei waren Edzard Jordan, der Trauzeuge des Bräutigams, Sohn des Charité-Professors der Inneren Medizin und selber Student dieser Fakultät, sowie der Offizier in Zivil der neuen Kriegsmarine der Republik Hartwig von Kraus und ein weibliches Wesen zwischen Frau und Kind, dem beide jungen Herren den Hof machten.

Nun saß es zwischen ihnen an der von Kerzenlicht überstrahlten Tafel, ließ sich von ihnen bedienen und verzehrte gewaltige Portionen Eis. Diese junge Frau war, schon als Francy und Carl noch anwesend waren, der heimliche Mittelpunkt des Abends gewesen. Man konnte sie aber auch ununterbrochen anschauen, ohne des Anblicks müde zu werden, obschon sie im landläufigen Sinne nicht einmal eine Schönheit war. Sie wirkte zierlich in einem enganliegenden Kleid aus Silberlamé, das ihre knabenhaften Formen betonte. Das Gesicht war blass und fein modelliert. Es wurde beherrscht von großen, lebhaften und neugierig blickenden, ein wenig feucht schimmernden Augen, von denen man sich keineswegs mit einem flüchtigen Blick darüber klarwerden konnte, ob sie von einem samtigen Braun oder von einem warmen und geheimnisvollen Flaschengrün waren. Ihr Haar war zu einer Art Pagenfrisur geschnitten, die sich von rückwärts her, den Hinterkopf betonend, in keckem Schwung in der feinen Linie des Kinns fortsetzte. Es schimmerte zwischen Brünett und Tizianrot, je nachdem wie gerade das Licht der Kerzen darauf fiel. Die schmale Nase war leicht gebogen und hatte wundervoll geschwungene Flügel. Das Markanteste an ihrem äußeren Erscheinungsbild aber war ein leuchtend rotes Seidentuch, das sie über dem tiefen Ausschnitt ihres Kleides lässig um den Hals geknotet trug und das von einer Ornamentik dunkelrot gestickter, fast schwarzer Rosen eingefasst war.

Dies alles fiel natürlich Max Beckmann besonders auf, der sowohl von Formen und Farben wie auch von Frauen etwas verstand. Deshalb beugte er sich nach einer Weile zu seiner Tischdame Saskia Jordan hinüber, der Mutter des einen Verehrers der jungen Frau, und fragte: »Wer ist dieses charmante Geschöpf zwischen den beiden jungen Herren da oben am anderen Ende der Tafel?«

»Das ist Iris Goldamer, die Tochter des Architekten Professor Goldamer, dort drüben, schräg gegenüber. Das denke ich mir, dass Ihnen die gefällt, Herr Beckmann. Sie sieht aber auch zu entzückend aus, nicht wahr?«

»Farben sind sozusagen mein Geschäft«, antwortete der Maler und beobachtete mit Interesse, wie Iris Goldamer sich elegant durch eine anscheinend komplizierte Unterhaltung mit ihren beiden Tischherren schlängelte. Ganz offensichtlich ging es darum, dass sie zu den Rhythmen des zärtlichen Saxophons gerne tanzen wollte, es aber noch nicht feststand, mit wem.

In dem Augenblick, als der Maler zu ihr herüberschaute, sagte sie zu dem jungen Mann zu ihrer Rechten: »Tanzen Sie denn auch so ungern? Hören Sie, der Edzard hier neben mir, der ist sogar ein Tanzstundenfreund von mir, und wir duzen uns. Aber er tanzt nicht gerne.«

»Tanzstundenfreund?«, sagte von Kraus. »Das kann doch nur mitten im Krieg gewesen sein.«

»Natürlich«, antwortete sie eifrig. »Unsere Eltern haben das privat arrangiert. Mein Papa da drüben war ja in den schlimmsten Schlachten und hat einen hohen Orden. Der Butler, der eben die Zigarren herumreicht, war in seiner Kompanie und hat ihn mit den bloßen Händen aus einem zugeschütteten Granattrichter gebuddelt und auf den Schultern zum Verbandsplatz geschleppt. Daraus ist sogar eine Freundschaft entstanden. Kinder, amüsiert euch, hat mein Vater gesagt. Der Tod ist immer da. Und er tritt um keinen Millimeter zurück, wenn ihr euch nicht amüsiert. Also haben wir eben eine Tanzstunde veranstaltet.«

Sie zuckte mit den Schultern, sodass einer der schmalen Träger ihres Kleides über den Oberarm herabrutschte. Gelassen ordnete sie ihn wieder und fuhr fort: »Und trotzdem traut er sich nicht, mit mir das Tanzbein zu schwingen. Was sagen Sie dazu?«

Das wäre allerdings auch schon deswegen gar nicht möglich gewesen, weil Iris’ Nachbar zur Linken sich soeben mit einer der dicken dunklen Brasil mit Bauchbinde aus den Beständen des Hausherrn bedient hatte, wobei Iris spitz bemerkte, dass man einen jungen Mann von Welt von einem so subtilen Genuss ja auch nicht abhalten dürfe. »Aber Sie haben mir noch gar nicht geantwortet«, fuhr der hübsche kleine Paradiesvogel neben dem etwas gehemmten von Kraus mitleidlos fort. »Was sagen Sie dazu?«

Diesmal hatte sie das Wörtchen ›Sie‹ betont. Es gab keinen Fluchtweg mehr.

»Dass ich gottlob diese modernen Tänze nicht tanzen kann, gnädiges Fräulein.«

»Gnädiges Fräulein, gnädiges Fräulein«, prustete der Paradiesvogel los. »Seien Sie doch nicht so förmlich. Das könnte der Butler mit den Zigarren zu mir sagen, aber doch nicht Sie. Sagen Sie Iris zu mir, oder von mir aus Fräulein Goldamer, oder Miss oder sonst was, aber doch nicht gnädiges Fräulein. Ich bin nämlich gar nicht so gnädig. Und tanzen können Sie auch nicht? Los kommen Sie mit, ich bringe es Ihnen bei.«

Damit stand sie auf, ergriff sein Handgelenk und zog ihn mit sich fort in Richtung auf das zärtliche Geflüster des Saxophons im nächsten oder übernächsten der angrenzenden Räume.

»Sind Sie die einzige Tochter der Goldamers?«, fragte der junge Mann auf dem Weg dorthin.

»Bis jetzt schon«, antwortete sie. »Aber nicht mehr lange.«

Hartwig von Kraus war sprachlos. »Woher wissen Sie das?«, forschte er schließlich. Aber es kam noch weit unbefangener.

»Meine Mutter ist schwanger«, sagte der Paradiesvogel. »Im Mai oder Juni kommt ein Geschwisterchen. Und wir wissen auch schon, wie es heißen wird.«

»Wie denn?«

»Wenn es ein Mädchen wird, soll es Ester heißen wie meine Urgroßmutter. Die hat vor hundert Jahren in Berlin zu dem berühmten Cercle um Rahel Varnhagen gehört. Lauter Literaten oder so ähnlich. Ester Goldamer. Klingt doch ganz hübsch, finden Sie nicht?«

Iris’ Tanzpartner fand das auch. Sie waren inzwischen in dem ausgeräumten Salon mit dem Tanzorchester angelangt. Ein Flügel, ein Schlagbass, eine Oboe, das Saxophon und ein Jazzbesen. Die Atmosphäre war sehr intim. Auch hier war jetzt alles nur noch von Kerzen erleuchtet.

»Und Sie haben so was wirklich noch nie getanzt?«

»Nein«, sagte er. »Keine Gelegenheit gehabt.«

Sie stellte sich direkt vor ihn hin, verschränkte die Arme vor der Brust und musterte ihn prüfend von oben bis unten. Es wurde ein Foxtrott gespielt. »Machen Sie irgendeine Bewegung dazu«, befahl der Paradiesvogel.

»Mit was?«, fragte ihr Partner verwirrt.

»Mit irgendwas«, sagte sie. »Es muss nur zum Rhythmus passen. Wenigstens vorerst. Die Feinheiten lernen Sie dann später.«

»In der Tanzstunde«, sagte er ironisch.

»Das glaube ich nicht«, antwortete sie.

Von Kraus begann Schultern, Hüften und Arme zu bewegen.

»Ganz gut«, sagte seine strenge Lehrmeisterin. »Rhythmus haben Sie. Aber bei diesen Tänzen bewegen Sie nur die Beine. Ich mache es Ihnen vor, schauen Sie mir zu …«

Er sah nach unten. Ihre Beine kamen unter dem Silberkleid hervor, schlank und elegant. Irgendwann geschah es dann ganz von selbst, dass er den Rhythmus der richtigen Schritte begriff. Sie klatschte in die Hände und kam auf ihn zu.

»Jetzt Oberkörper und Arme ruhighalten, aber Rhythmus in Beinen und Hüften. So … jetzt kommt die Hauptsache.«

Und die Hauptsache kam. Sie ergriff seine linke Hand, hob sie hoch und legte sie um ihre Taille.

»Fassen Sie mich ruhig an, ich beiße nicht. Und jetzt machen wir beide genau die gleichen Schritte … passen Sie auf … Zuerst werden Sie machen, was ich Ihnen vormache, und später wird es umgekehrt sein … geht es?«

Es ging. Die Musiker schmunzelten und spielten besonders gefühlvoll. Auf diese Weise brachte Iris Goldamer an einem schönen Spätsommerabend bei Kerzenlicht dem jungen Hartwig von Kraus bei, wie man Foxtrott tanzt. Aber nicht nur das. Aus dem Foxtrott wurde ein Slowfox und irgendwann ein mit Synkopen arrangierter schwungvoller Walzer. Mit dem letzten Dreher dieses Walzers landeten die beiden schwer atmend in einer Fensternische. Die Fensterflügel waren geöffnet. Draußen in der warmen Dunkelheit verglühten die letzten der in die Rosenbeete gesteckten Fackeln. Die Musik schwieg jetzt. Die Stille der Nacht war überlagert von dem ununterbrochenen Quarren ungezählter Frösche. Von fern klangen die Stimmen erhitzter Diskutanten aus dem Speisesaal. Eine Weile hörten sie wortlos diesem Konzert zu.

Plötzlich griff der Paradiesvogel in die schweren Samtportieren, die die Fensternische vom Salon trennten, zog sie zu, schlang die Arme um den Nacken ihres Tänzers, bog seinen Kopf zu sich herunter und küsste ihn, dass ihm schwindlig wurde. Es dauerte nur sehr kurz, bis er reagierte. Mein Gott, was war das? Der schlanke, an ihn geschmiegte Mädchenkörper, die entschlossenen Hände, die seinen Nacken zu sich herabbogen, der gefühlvolle durstige Mund … was konnte daraus noch alles entstehen … gar nicht auszudenken, lieber Gott … Sie küssten sich, bis sie hörten, dass Leute in den Salon kamen. Die Musiker begannen wieder zu spielen. Iris ordnete Haar und Halstuch und zog gelassen die Portieren wieder auseinander.

»Aber erzählen Sie jetzt nur nicht überall herum, Sie hätten sich mit mir verlobt. Der Edzard macht das nämlich, weil er mich in der Tanzstunde unter der Treppe einmal geküsst hat. Aber es wird noch ziemlich lange dauern, bis ich mich mit jemandem verlobe, Hardy. Darf ich doch zu Ihnen sagen, oder …«

Der junge Mann, unversehens in überaus stürmisches Fahrwasser geraten, noch ehe er überhaupt in See gestochen war, tat sich schwer mit einer Antwort. »Miss«, sagte er endlich, denn das war von den Varianten, die sie ihm angeboten hatte, die, die ihm am besten gefiel, »Miss, was denken Sie denn von mir?«

Sie strich ihm mit der Hand übers Haar.

»Ich denke«, sagte sie, »ich denke, dass ein deutscher Seeoffizier eigentlich blondes Haar haben müsste. Ich denke aber auch, dass mir das dunkle viel besser gefällt. Außerdem denke ich, dass Sie kein Eroberungstyp sind, Hardy. Brauchen Sie auch nicht zu sein, aber Sie können zugreifen, wenn Ihnen etwas angeboten wird. Und das können längst nicht alle. Können Sie mir verzeihen?«

Während Hartwig von Kraus noch darüber nachgrübelte, was er denn Iris Goldamer hätte verzeihen sollen, war sie verschwunden.

Ein Mitternachtsimbiss war für ein Uhr nachts im Speisesaal angekündigt worden. Etwa eine halbe Stunde vorher hatte Max Beckmann sich von dem Schwarm der tanzenden, diskutierenden oder sich sonst amüsierenden Gäste auf der Suche nach einer der guten Zigarren des Hausherrn entfernt. Er geriet dabei in menschenleere, nur noch von Steh- oder Tischlampen mit dämpfenden Seidenschirmen erhellte Nebenräume. Einer davon musste eine Art Kabinett oder Damenzimmer sein. Jedenfalls lagen hier Sachen von Frauen herum, die anscheinend in den Garderobenräumen keinen Platz mehr gefunden hatten oder aus anderen Gründen dort nicht aufbewahrt wurden. Auf einem Barocksesselchen in der Sitzecke sah der Maler zwar nichts, das mit den gesuchten Zigarren zu tun hatte, aber er sah etwas glänzen in einer Farbe, die schon beim abendlichen Dinner seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Es waren zwei lange Damenhandschuhe aus demselben Silberlamé wie das Kleid einer gewissen jungen Dame. Daneben ein schwarzer Hut, in Topfform, mit an den Seiten weit heruntergezogenen Perlhuhnschwingen und einer Agraffe aus Straß. Das musste alles ihr gehören. Auch das Mäntelchen aus schwarzem Satin von größter Einfachheit, aber mit Sicherheit sündhaft teuer. Und auf diesem Mäntelchen lag noch etwas, das Max Beckmanns Neugier mehr reizte als alles andere, etwas, das der Künstler sofort als ein Skizzenbuch erkannte, wie er es selbst auch verwendete. Die Schleife, die es normalerweise an der Schmalseite zusammenhielt, war geöffnet, und die beiden Bändel hingen lose herab.

Beckmann, die Chance darfst du wahrnehmen, sagte sich der Maler, ergriff das Buch und schlug es auf. Zuerst schien er allerdings gar nicht glauben zu können, was er da sah. Er erblickte nämlich eine Bleistiftzeichnung von besonderer Strichführung und Schraffur. Es war eine Ansicht des Schlosses Haus Lessien zur Dämmerungszeit mit hell erleuchteten Fenstern, das Ganze vor einem breit hinter die Kiefernsilhouetten gezogenen hellen Abendhimmel. In der Komposition der Proportionen, dem Aufbau und der Licht- und Schattenwirkung durch die Schraffierung ein Meisterwerk.

Aber das war bei Weitem noch nicht alles. Der Maler blätterte – zu weiterer Indiskretion bereits fest entschlossen – das Buch durch. Es enthielt Studien jeglicher Art, alle gegenständlich, aber aus einer ganz besonderen inneren Sicht entstanden. Skizzen zu Tieren, Gartendetails, der Brunnen in verschiedenen Versionen, Interieurs aus anderen Häusern, wahrscheinlich aus dem der Eltern, ein Einfahrtstor, eine Freitreppe sowie Entwürfe zu Porträtstudien verschiedener Personen, die er zum Teil sogar persönlich kannte, darunter auch eine Gegenlichtstudie des Hausherrn, der in einer Zeitung las. Das waren teilweise keine fertigen Arbeiten, aber es waren Entwürfe, die den Kern des Erfolges in sich trugen, wenn noch die Politur des technischen Könnens hinzukam. Er war gerade dabei, die Porträtskizze Paul von Lindachs unter dem Licht einer Tischlampe genau zu studieren, als er ihre Stimme von der Tür her vernahm.

»Sagen Sie, halten Sie das für taktvoll, was Sie da tun?«

Der Maler richtete sich auf und wandte sich um, das Skizzenbuch noch in der Hand. »Ganz im Gegenteil, mein Fräulein. Für äußerst indiskret, ich gebe es zu. Ich darf also annehmen, dass dies Ihre Arbeiten sind?«

Sie kam auf ihn zu, schmalhüftig, schlank und grazil, mit tadelnd etwas schief gelegtem Kopf.

»Sind sie. Wenn man von ›Arbeiten‹ überhaupt sprechen kann. Bitten Sie mich um Verzeihung?«

»Aber nichts täte ich lieber.«

»Tut es Ihnen leid?«

»Nein«, sagte der Maler und gab ihr das Buch. »Nein, absolut nicht. Im Gegenteil.«

»Wie meinen Sie das?«

»Kommen Sie«, sagte er. »Setzen Sie sich ein paar Minuten zu mir. Ich wüsste gern ein bisschen mehr über Sie. Sie wissen, wie ich heiße?«

Er rückte das Rauchtischchen und den Sessel, auf dem ihre Sachen lagen, zur Seite, und sie ließen sich auf dem Sofa nieder, er in der Haltung des Weltmannes, der er war, mit übergeschlagenen Beinen, sie auf der Sofakante, das Skizzenbuch auf den Knien, wie bei der Schuldirektorin zu einer Strafpredigt vorgeladen.

»Natürlich. Sie sind Max Beckmann. Ich habe Sie mir eigentlich anders vorgestellt. Aber Sie gefallen mir auch so ganz gut.«

Er musste lachen. »Du lieber Himmel. Sind Sie immer so direkt?«

»Herumreden um den heißen Brei kann ich eben nicht ausstehen. Und Sie sind ja schließlich auch ziemlich direkt, oder? Was wüssten Sie denn zum Beispiel gern über mich? Wie alt ich bin? Ich bin siebzehn und mache im nächsten Jahr Abitur. Dann werde ich achtzehn sein. Was ich werden will, weiß ich noch nicht. Mein Vater ist gesund aus dem Krieg wiedergekommen und Architekt. Meine Mutter ist …«

»Geschenkt, mein Fräulein. Wer Ihre Eltern sind, weiß ich schon. Ich habe mich erkundigt. Was ich über Sie wissen will, ist viel einfacher.«

»Zum Beispiel?«

»Zum Beispiel, ob Ihre erste Zeichnung auch in diesem Buch ist.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, dies ist mein drittes Heft. Die beiden anderen habe ich zu Hause. Meine erste Zeichnung war unsere Dogge Bella. Vor der hatte ich nämlich Angst, weil sie so groß war. Mein Vater hat gesagt, versuch doch mal, sie zu zeichnen. Dann siehst du, dass sie schön ist und gute, treue Augen hat. Dann wirst du keine Angst mehr vor ihr haben. Und das habe ich gemacht. Mein Vater hatte recht. So sieht sie aber nicht aus, hat er allerdings gesagt. So sieht sie aber doch aus, Papa, habe ich gesagt. Wenigstens für mich. Er hat den Kopf geschüttelt, und dann hab ich halt damit weitergewurstelt, Mitschülerinnen, Lehrer, andere Hunde, andere Sachen …« Sie zuckte wieder mit den Schultern. »… und so halt. Heißt das, dass die Skizzen Ihnen gefallen? Sie sind ja ein berühmter Mann. Und ein Fachmann.«

»Ich bin kein berühmter Mann. Wer hat Ihnen das erzählt. Aber ich bin ein Fachmann. Und sie gefallen mir sogar sehr. Wie ist das mit dem Kunstunterricht in der Schule? Immer eine Eins?«

»Eins? Denkste. Die Einsen haben immer die anderen. Sie halten sich nicht an die vorgegebenen Regeln, Goldamer, heißt es. Wir können Ihnen höchstens eine Drei in Kunst geben. Vielleicht nehme ich mich deswegen selbst nicht so ernst. Die Skizzen gefallen Ihnen also trotzdem?«

»Sogar so sehr«, erwiderte der Maler, »dass ich Sie bitten möchte, mir das Heft für ein paar Tage mitzugeben. Und nicht nur das, die beiden anderen bitte auch. Ich wohne bei meinem Freund Hofer am Matthäi-Kirchplatz. Haben Sie übrigens schon jemals mit Farben gearbeitet?«

Iris schüttelte wieder den Kopf. »Nein, das ist mir viel zu umständlich, das Mischen, Zusammenstellen, Vorbereiten … und alles. Und davon verstehe ich ja auch gar nichts.«

»Das kann man lernen«, sagte Beckmann. »Das ist alles Handwerk, das andere nicht. Es kommt mir vor, als würden Sie nicht viel radieren, bis Ihre Zeichnungen stimmen.«

»Das stimmt«, sagte sie. »Ich hasse radieren. Wenn eine Zeichnung nicht aufs erste Mal sitzt, schmeiße ich sie weg.«

Der Maler streckte ermutigend die Hand nach dem Buch aus.

»Was wollen Sie damit machen?«, fragte Iris. »Aber bitte ehrlich.«

»Ich kann gar nicht anders. Ich möchte meine Freunde Hofer und Cassirer fragen, ob ihnen Ihre Arbeiten auch so gut gefallen wie mir oder ob ich mich täusche. Sonst nichts. Großes Ehrenwort.«

Das Mädchen sah ihm eine Weile nachdenklich und forschend ins Gesicht. »Ich vertraue Ihnen«, kam endlich die Antwort. »Die beiden anderen schicke ich Ihnen zum Matthäi-Kirchplatz.«

Iris drehte das Buch auf ihren Knien, band die Schleife und gab es Max Beckmann in die ausgestreckte Hand. »Großes Ehrenwort«, wiederholte sie sein Versprechen und stand auf. »Aber jetzt möchte ich wieder tanzen gehn, verstehen Sie das?«

Und ob er es verstand. Denn schließlich war sie ja erst siebzehn. Er sah ihr nach, als sie ihn in Richtung auf die Musik verließ und schon unter der Tür geschmeidig und hingegeben in die Rhythmen des Foxtrotts fiel, der gerade gespielt wurde.

Berchta von Lindach war landauf, landab dafür bekannt, die Gabe zu haben, Feste nicht nur zu veranstalten, sondern sie auch zu beenden. Ebenso wie Paul hasste sie es, wenn Gäste sich nach und nach verliefen wie eine gesättigte Herde und gegen Morgen nur noch ein paar Unentwegte beim letzten Glas oder beim allerletzten saßen und lärmten, während das Personal verstohlen gähnend in den Ecken herumstand. Aus diesem Grund war für den Mitternachtsimbiss die ursprüngliche Tafel noch einmal aufgedeckt und ein kaltes Buffet errichtet worden. Gegen ein Uhr nachts fanden sich alle dort zusammen und nahmen ihre Plätze noch einmal ein. Den Flügel hatte man herübergeschoben, und der Pianist spielte unaufdringliche Hintergrundmusik. Auf diese Weise kam es zu später Stunde in entspanntem Kreis noch einmal zum Genuss ausgesuchter Köstlichkeiten und zu angeregtem Gespräch.

Ernster ging es dabei zwischen dem Hausherrn und seinem ältesten Freund, dem Internisten Jordan, zu, der mit seinem gepflegten Spitzbart, der bleichen Stirnglatze und dem blitzenden Kneifer auf dem Nasenrücken manchmal an Walther Rathenau und dann wieder an Wladimir Iljitsch Lenin erinnerte.

»Siehst du wirklich so schwarz mit diesem Hitler, wie du es vorhin im Park an die Wand gemalt hast?«, fragte der Arzt.

»Das kommt darauf an, ob die Richtung und so ein Mann sich durchsetzen, Géza. Und diese Gefahr ist groß. Hast du gehört, dass er allen Ernstes behauptet, ein sogenanntes internationales Judentum hätte diesen Krieg angezettelt, während es doch in Wirklichkeit Seine Majestät der deutsche Kaiser und sein seniler Busenfreund in Wien waren, die das getan haben. Aber die Leute, die vier Jahre lang unermessliche Opfer für eine falsche Sache gebracht haben und das nicht werden glauben wollen, die werden eben das Märchen vom internationalen Judentum glauben. Und deshalb sehe ich so schwarz. Noch ist es nicht so weit, Géza, aber wenn die schleichende Inflation zur galoppierenden wird und der vaterländisch enttäuschte Mittelstand dann auch noch verarmt, dann kommt es so weit. Warte es ab.«

»Dann wandere ich aus«, sagte der Professor sachlich und trocken.

Albert Goldamer schaltete sich ein. »So blöd kann doch das fleißige und gutartige deutsche Volk gar nicht sein, Paul. Das glaubst du doch selber nicht.«

»Wir brauchen gar nichts anderes zu tun, als zu warten«, antwortete der Bankier. »Morgen Mittag wird der Dollar wieder um drei Reichspfennige teurer gehandelt werden als heute.« Er ließ eine Pause eintreten und wechselte dann das Thema.

»Deine Tochter könntest du übrigens heute unter die Haube bringen, wenn sie das wollte. Sie hat zwei Anträge einkassiert, soweit ich sehen kann.«

»Sie will aber nicht«, antwortete Goldamer lachend. »Sie ist ein wildes Füllen. Mit siebzehn, ich bitte dich, Paul. Sie soll erst mal was lernen, bevor sie an so was denkt.«

»Was soll sie denn lernen, wenn es nach dir ginge?«

»Wenn es nach ihrer Mutter ginge, sollte sie Hauswirtschaft lernen, wenn es nach mir ginge, Kunstgeschichte.«

»Ich weiß schon, um dann die Kanneluren von griechischen Säulen zu zählen. Ein Luxus- und Verlegenheitsstudium«, sagte von Lindach. »Mein Vorschlag, Albert, lass sie Wirtschaft und Finanzen lernen, und dann schick sie zu mir in die Bank. Das werden wir in den nächsten zehn Jahren am nötigsten brauchen.«

»Als Frau?«, sagte Goldamer perplex. »Ist das dein Ernst?«

Um die gleiche Person ging es auch am entgegengesetzten Ende der Tafel. Dort steckten nämlich Beckmann, Karl Hofer und Paul Cassirer die Köpfe zusammen.

»Und damit ist sie einverstanden?«, sagte Hofer.

»Die zwei anderen schickt sie auch zum Matthäi-Kirchplatz«, antwortete Beckmann. »Dann kannst du mal in aller Ruhe prüfen, ob ich recht habe oder ob mich mein Urteil im Stich lässt.«

»Weil sie nämlich wirklich attraktiv aussieht«, spottete der nüchterne Cassirer.

»Innerlich ist sie noch ein Kind, Paul«, antwortete Beckmann. »Und das ist das Schönste an ihr: Da ist nichts ausgeklügelt oder berechnet, alles pure, zupackende, spontane Natur.«

»Ein Wundertier«, knurrte Hofer. »Wir werden sehen.«

»Wollen wir eine Wette abschließen?«, sagte Beckmann. »Wenn ihre Bilder ausgestellt werden, kaufst du ihr das erste ab und hängst es bei dir zu Hause auf.«

»Abgemacht«, sagte Hofer und fügte sarkastisch hinzu: »Vorausgesetzt, einer von uns käme jemals in die Lage, ein Bild nicht nur malen, sondern auch kaufen zu können.«

»Ich schließe mich an«, sagte Cassirer, der erfolgreiche Galerist, »und verkaufe euch jedes der Bilder zum Einkaufspreis.«

Dieser Vorschlag wurde lachend angenommen und mit dem Leeren der vor ihnen stehenden Sektgläser besiegelt.

Der Gegenstand ihrer Wette diagonal gegenüber an der Tafel war allerdings viel zu intensiv damit beschäftigt, die Komplimente ihrer beiden Verehrer zu sortieren, um darauf achten zu können, dass am anderen Ende des Tisches sozusagen über ihr künftiges Leben diskutiert wurde. Edzard Jordan hatte ihr vor einiger Zeit unvorsichtigerweise versprochen, sie zu der neuen Revue im Wintergarten einzuladen, und Iris verhandelte mit dem jungen Mann über den Zeitpunkt. Hartwig von Kraus spürte trotz tapferer innerer Gegenwehr einen schmerzhaften Stich in der Herzgegend, als er dabei zur Kenntnis nahm, dass die beiden sich wirklich duzten.

Kurz danach wandte sich aber der Paradiesvogel an ihn. »Wenn Sie wollen, dürfen Sie mich dafür ins Haus Vaterland einladen, Hardy, haben Sie Lust?«

»Mehr als das, Miss«, antwortete er. »Aber es wird nicht gehen. Ich bin kein freier Mann mehr. Mein Dienst beginnt übermorgen auf einer Marineschule in Flensburg. Morgen muss ich reisen.«

»Aber Sie werden doch auch einmal Urlaub haben?«, schlug Iris vor.

Er quittierte diese Frage mit einem dankbaren »Dann werde ich Sie anrufen, wenn ich darf«.

»Natürlich dürfen Sie. Sie sollen sogar. Aber vergessen Sie es nicht.«

Vergessen? Wie sollte er. Der Paradiesvogel schien es nicht einmal zu ahnen, was für ein Feuer er angezündet hatte. Als der Abend langsam zu Ende ging, sinnierte der junge Offizier noch immer. Mit dem langweiligen, zigarrenpaffenden Jordan duzte sie sich, aber er tanzte nicht mit ihr. Sie hatten sich geküsst, aber das hatte ihr nicht gefallen. Ihn, Hartwig, hatte sie geküsst, und das hatte ihr gefallen. Jedenfalls hatte sie das gesagt, aber zu ihm sagte sie penetrant ›Sie‹. Wie das alles nur auseinanderzudividieren war?

Mitten in diese Überlegungen hinein fielen die ersten unübersehbaren Anzeichen des Aufbruchs. Iris’ Vater erhob sich als Erster, um sich zu verabschieden. Als er und seine Frau den Saal verließen, verabschiedete sich auch Iris von ihren beiden Beschützern. Dezent spielte der Pianist ›Guten Abend, gute Nacht‹ von Brahms, und in Harmonie löste sich die Runde langsam auf. Das Gastgeberpaar war umlagert und wurde mit Komplimenten überschüttet. Als der junge von Kraus an die Reihe kam, um sich zu verabschieden, sagte von Lindach zu ihm: »Und Sie sind also wirklich Offizier?«

»Ja«, sagte von Kraus. »Ich hoffe, es stört Sie nicht.«

»Im Gegenteil, junger Mann«, sagte der Hausherr. »Was ich Ihnen von Herzen wünsche, dass Ihr Lebensschiff immer drei Zoll Wasser unter dem Kiel haben möge.«

Der Respekt des jungen Mannes für den berühmten Bankier war groß, und seine Verbeugung dauerte deshalb eine halbe Sekunde länger, als notwendig gewesen wäre.

Als von Kraus ins Vestibül kam, hatte der ältere der beiden Krentzners soeben Professor Albert Goldamer in den Mantel geholfen, und der Architekt hatte den Bediensteten etwas beiseite gezogen.

»Hören Sie, Reinhard, eine Frage: Sie leben nach Ihrer Entlassung aus der Armee sozusagen von der Hand in den Mund. Gelegenheitsverdienste, so wie heute zum Beispiel?«

»Is natürlich nich jerade sehr schön, Herr Ritt…, Herr Professor, meine ich. Und das Stempelngehen auch nich. Wie det weitergeht, weiß keiner. Und einen zweiten Jungen haben wir inzwischen auch. Roderich heißt er.«

»Ich weiß«, sagte Goldamer. »Vor Ihrem Eintritt ins Heer hatten Sie doch das Druckereigewerbe erlernt, nicht wahr?«

»Jawohl, det stimmt, Herr Professor.«

»Haben Sie auch die Ausbildungsbefugnis? Sind Sie Meister?«

Krentzner nickte. »Bin ich auch. Warum fragen Herr Professor?«

»Sie sollen die dritte Person endlich im Grabe der alten Zöpfe ruhen lassen, Reinhard. Ich frage, weil ich in Britz einen Fabrikumbau zu machen habe und weil zu dem Gelände eine kleine Druckerei gehört, die ganz gut eingerichtet ist, aber verkauft wird, weil die Erben nichts mehr von dem Handwerk verstehen. Die könnte ich für Sie erwerben. Heute nur die Frage: Hätten Sie eventuell Lust auf so was? Vielleicht auch, um den Robert in dem Geschäft anzulernen, damit er eine Existenz vor Augen hat?«

»Ick? Lust? Und ob, Herr Professor. Det wäre ja wie Weihnachten. Aber ick habe doch keinen Pfennig Geld. Wie soll ick denn …?«

Professor Goldamer unterbrach ihn fast barsch. »Über die Einzelheiten will ich gar nicht mit Ihnen reden, Reinhard. Im Augenblick geht es nur um zwei weitere Fragen. Erste Frage, wollen Sie das?«

»Wie werd ick denn so wat nich wollen, Herr Professor?«

»Zweite Frage: Können Sie es?«

»Nach einem bisschen Einarbeitung auch jawohl, Herr Professor. Det wäre ja wirklich wie Weihnachten. Und wie Ostern noch dazu.«

»Lassen Sie’s man gut sein, Reinhard. Und kommen Sie diese Woche irgendwann zu mir ins Atelier, damit wir uns das zusammen anschauen und darüber reden können.«

Er legte die Hand freundschaftlich und aufmunternd auf den Arm Reinhard Krentzners, der sich inzwischen schon den Mantel des jungen Kraus gegriffen hatte und diesem dabei behilflich war, hineinzuschlüpfen. Als von Kraus in den Taschen nach seinen Handschuhen angelte, kam etwas zum Vorschein, das er nicht hineingesteckt hatte. Als er es vor sich ausbreitete, erwies es sich als ein leuchtend rotes Seidentuch, gesäumt von einem Dekor dunkelroter, fast schwarzer, gestickter Rosen.

»Das gehört aber wirklich nicht mir«, sagte der junge Mann verwirrt und sah suchend um sich.

Aber Goldamer hatte es beobachtet. Er erkannte das Halstuch und sagte: »Da wäre ich, wenn ich an Ihrer Stelle wäre, nicht so sicher, junger Mann. Meiner Tochter Iris gehört es jedenfalls nicht mehr, sonst hätte sie es nicht bei Ihnen in die Manteltasche gesteckt.«

Hartwig von Kraus konnte gar nichts dagegen tun, dass ihm eine plötzliche Röte ins Gesicht schoss. Goldamer sah es trotz der gedämpften Beleuchtung, lächelte und fuhr fort: »Sie brauchen sich aber gar nichts dabei zu denken. Iris ist absolut unabhängig. Wir nehmen keinen Einfluss darauf, mit wem sie sich befreunden will. Aber wenn Sie es sind, behandeln Sie sie gut, sie ist ebenso spontan wie verletzbar.«

Damit gab Goldamer dem jungen Mann die Hand, wandte sich um und verließ das Schloss Haus Lessien durch die Tür, die ihm von dem jüngeren der beiden Krentzners offengehalten wurde. Hartwig sah nach einer Weile die Schlusslichter des Goldamerschen Autos in der Dunkelheit verschwinden. Nachdenklich legte er das unerwartete und kostbare Geschenk säuberlich zusammen und verwahrte es in der Brusttasche seines Mantels. Er schlug den Kragen hoch und machte sich zu Fuß auf den Weg zu Maschureks Krug gegenüber der Kirche, wo Francy ihn einquartiert hatte.

Nach und nach wurde es im Haus still. Viel später standen Paul und Berchta von Lindach noch einmal oben in Pauls abgedunkeltem Arbeitszimmer am offenen Fenster und beobachteten, wie eines nach dem anderen die Lichter im Erdgeschoß erloschen und das Personal zur Ruhe ging. In der Ferne, jenseits des Saumes der Kiefernwälder, wetterleuchtete es fast über die ganze Breite des Horizonts, wohl das letzte Mal in diesem zu Ende gehenden Sommer. Aber die Luft war unbewegt, und man hörte nicht den leisesten Donner.

»Nun sind sie längst in Berlin«, sagte Berchta.

»Es war alles so gut geglückt«, antwortete Paul. »Es war ein so perfektes Fest, das du arrangiert hast, Berchta. Und trotzdem kann ich einfach nicht froh werden.«

»Wegen Francy und Carl? Wir müssen abwarten, wie sie sich zusammenraufen. Carl ist zuverlässig.«

»Nicht nur wegen Francy und Carl«, murmelte der Bankier. »Es geht um uns alle, die wir heute so fröhlich zusammen gefeiert haben. Ich sehe zu viel. Und ich weiß zu viel.«

»Hast du Angst vor der Zukunft, Paul?«