Das Hurenschiff - Martina Sahler - E-Book

Das Hurenschiff E-Book

Sahler, Martina

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Beschreibung

London im 18.Jahrhundert: Auf der berühmt-berüchtigten Lady Juliana, dem Segelschiff, das Straftäterinnen nach Australien bringt, treffen sie aufeinander: die zarte Claire, die unschuldig für einen Diebstahl büßen soll; die blutjunge Molly, die ein Verbrechen beobachtet hat und selbst verhaftet worden ist; die zupackende Rose und die bärbeißige Dorothy. Auf See müssen sich die Frauen in der brutalen und erbarmungslosen Männerwelt auf dem Schiff behaupten. Jack Barnes, der Steuermann, hat ein Auge auf Claire geworfen. Doch die junge Frau kann ihren Verlobten Henry nicht vergessen und hofft auf ein Wiedersehen …

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Seitenzahl: 405

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Martina Sahler

Das Hurenschiff

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

KartePersonenverzeichnis1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. KapitelNachwort und Danksagung
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Die wichtigsten Figuren

Aus London

Molly Monday, 13-jährige Straßenhure

Hannah Douglas, Mollys beste Freundin

Dorothy Johnson, Bordellbetreiberin und Geschäftsfrau

Pietro Lamberni, Dorothys betrügerischer Liebhaber

Laurie Hodginson, 17, Dorothys Lieblingshure

Rose Naiden, 25, gilt in London als »Königin der Diebe«

Andrew Naiden, ihr Ehemann, auf dem Gefangenenschiff Neptune unterwegs

Aus Lincolnshire

Claire Durand, 19, behütete junge Frau, die ihrem Herzen folgt

Henry Wheeler, Marinesoldat und Claires große Liebe

Annie, die »Kirschmund-Lady«, die Sir Thomas Edgar bezaubert

Sarah Whitlam, gefallenes Mädchen, in das sich John Nicol verliebt

Nelly, Claires Zellengenossin in Lincolnshire

Auf der Lady Juliana

Kapitän Aiken

Sir Thomas Edgar, Regierungsbeauftragter und Erster Offizier

Jack Barns, gutaussehender Steuermann

John Nicol, Steward

Matthew Randolphs, Koch

Will March, Schiffsjunge

Ben Benson, alter Seebär

Dr. Richard Alley, Schiffsarzt

Charlotte Spencer, Helferin des Schiffsarztes

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1. Kapitel

London, Juli 1788

Das Kichern hörte sie zuerst. Dann das grollende Lachen, tief aus dem Bauch, gefolgt von einem Rasselhusten. Die Treppe knarrte.

Molly kroch auf allen vieren über die Dielenbretter, fuhr mit ausgestrecktem Arm unter das Bett und hielt in der Bewegung inne. Ihr Pulsschlag pochte, während sie lauschte.

Wieder knackte die Treppe. Trippelnde Schritte, dahinter Stampfen.

Verflucht, Rachel war doch gerade erst runter auf die Wood Street gegangen. Dass sie so schnell mit einem Freier zurückkehrte …

Glück für sie, Pech für Molly.

Der Käse, den Rachel ihr gestohlen hatte, musste warten. Irgendwo in dieser Kammer hatte sie ihn versteckt, aber es blieb keine Zeit mehr, ihn zu suchen.

Die Stimmen wurden lauter, das Krachen der Bretter kam jetzt von den obersten Stufen.

Molly sprang auf und wandte den Kopf nach links und rechts auf der Suche nach einem Unterschlupf. Unter dem Bett war zu wenig Platz, selbst für eine magere Dreizehnjährige wie sie.

Der Schrank! Sie sprang zur Seite, zog die Tür auf und schlüpfte ins Innere. Der Nagel ihres Zeigefingers riss ins Fleisch, als sie die Tür von innen zuzog und sich zusammenkauerte.

Blut tropfte auf ihre Strümpfe, als sie die Hand aufs Knie legte. Sie führte den pochenden Finger zum Mund und saugte daran. Dann lauschte sie auf die Geräusche von draußen. Ihr Herz schlug so hart gegen die Brust, dass sie befürchtete, es würde sie verraten.

Im Schrank roch es wie in einem verrottenden Schmutzwäschesack. Der Gestank nach Urin und Schweiß hüllte sie ein und ließ sie jeden Atemzug mit Widerwillen ausführen. Überlagert wurde das ekelerregende Gemisch von dem Geruch nach – ungewaschenen Füßen? Molly konnte ihn nicht klar bestimmen, aber er kam aus der linken hinteren Ecke, wo unter einer löchrigen Decke vergilbtes Papier hervorlugte.

Die Zimmertür flog auf, der Schrank vibrierte. Ein Stolpern auf Stoffschuhen, ein weiteres Kichern, dann fiel die Tür mit einem dumpfen Knall zu. Molly hörte, wie sie verriegelt wurde, und schob die Nase ein wenig vor, um durch den Spalt zwischen den beiden Schrankflügeln nach draußen zu lugen.

Rachel, die verlauste Schlampe.

Molly verzog das Gesicht, als sie die Siebzehnjährige betrachtete. Das schmutzig gelbe Kleid hing notdürftig geflickt an ihrem Körper, die Haare standen verfilzt vom Schädel ab. Beim Lächeln zeigte sie die braunen Zahnstumpen in ihrem Mund, aber genau dieses Lächeln gefror nun zu einer Maske. Rachel riss die Lider so weit auf, dass Molly die Rundung der Augäpfel erkennen konnte. Ihre Pupillen wirkten übernatürlich geweitet. Ein Ausdruck von Todesangst ließ ihren Blick flackern.

Molly wagte es, ein Stück näher an den Spalt zu rücken, aber mehr als Rachels von Entsetzen gezeichnete Miene konnte sie nicht erkennen.

Die Stimme des Freiers erklang: »Du hässliches Miststück. Was glotzt du, hä?«

Rachel befeuchtete die Lippen mit der Zungenspitze. »Was wollt Ihr? Ihr braucht mich nicht zu zwingen.« Sie mühte sich ab, ein Gurren zustande zu bringen, um den Kerl zu überzeugen, dass auch sie Spaß haben würde. Molly wusste so gut wie Rachel, was die Freier aufgeilte.

Jedoch nicht diesen.

»Wenn es mir aber dann besonderen Spaß bereitet?« Jetzt trat der Mann einen Schritt vor. Molly griff sich an den Hals, als er in ihr Sichtfeld kam.

Niemals zuvor hatte sie einen so abstoßenden Kerl gesehen.

Er war wuchtig wie der an den Ketten reißende Bär, den Molly im Sommer auf dem Jahrmarkt beobachtet hatte. Sein Bauch erinnerte an einen zum Platzen gefüllten Hafersack, Pockennarben verunstalteten den kahlen Schädel und die breitflächige Fratze. Die Augen versanken in Fettwülsten, die Nase wirkte verformt und war von Adern durchzogen. Pelzige Brauen trafen sich über der Nasenwurzel.

Doch das Entsetzlichste an ihm war das Schlachtermesser.

Die Spitze zeigte auf Rachel, den Griff umfasste seine Pranke.

Molly sah Rachels Rocksaum über den zitternden Knien flattern, sah, wie sie die Hände hob und mit offenem Mund den Kopf schüttelte. »Tut mir nichts«, flehte sie. »Tut mir nichts …«

Das Gesicht des Fetten verzerrte sich zu einem Grinsen. Gleichzeitig fuhr er sich mit der Linken zwischen die Beine. Dann nestelte er, ohne Rachel aus den Augen zu lassen, am Bund seiner Beinkleider. In der nächsten Sekunde sackte der Stoff zu Boden und entblößte das Geschlechtsteil des Mannes, das wie eine rot glühende Lunte unter seinem Bauch hervorstach.

Wieder machte er einen Schritt auf Rachel zu, die inzwischen rückwärts bis zum Fenster gestakst war und sich gegen die Wand drückte, am ganzen Körper schlotternd vor Angst.

Molly biss sich auf die Fingerknöchel, während sie mit ansehen musste, wie der Freier mit der Klingenspitze Rachels Kleid aufritzte. Er ließ sich Zeit, schien jede Bewegung, das Wimmern und Flehen der Hure zu genießen. Wie ein Wurm fuhr die Zunge über seine Lippen, während er immer wieder an sein Glied fasste.

Rachels Kleid löste sich in Fetzen von ihrem Körper, das Messer zog Blutlinien auf ihrer Haut. Tränen liefen ihr über das Gesicht, Spuckeschaum klebte in ihren Mundwinkeln, während sie um Gnade winselte.

Die Gedanken schwirrten hinter Mollys Stirn wie ein Schwarm aufgeschreckter Vögel. Würde er Rachel aufschlitzen wie ein Kaninchen? Musste sie mit ansehen, wie er sie abschlachtete?

Was sollte sie tun?

Was konnte sie tun?

Sie war etwa drei Köpfe kleiner als der Freier und wog kein Viertel seines Körpergewichts. Sie hatte keine Chance gegen diesen Koloss, selbst mit dem Vorteil des Überrumpelns, wenn sie ihn von hinten ansprang. Sie besaß keine Waffe, sie war nicht kräftig. Sie hatte ihm nichts entgegenzusetzen. Er würde sie abschütteln wie ein Äffchen, das sich an seinen Bullennacken klammerte, und ihr einen Wimpernschlag später die Klinge in den Bauch rammen.

Wenn Rachel ihre Freundin wäre …

Ja, dann vielleicht.

Für Hannah etwa, die in dieser Minute irgendwo draußen in der Goldsmith Alley oder drüben an der Gutter Lane Freier anzulocken versuchte.

Für Hannah würde sie es riskieren.

Aber Rachel kannte sie nur als Diebin, als hinterhältige Schlange, die sich nachts in ihr Zimmer geschlichen hatte, um den Käse zu stehlen, den sie mit Hannah einem einäugigen Hafenarbeiter abgeluchst hatte.

Für so eine sollte sie ihr Leben riskieren?

Und wenn sie Hilfe holte?

Nur, wie?

Sie saß in dem Schrank wie eine Maus in der Falle. Keine Chance, ungesehen aus dem Zimmer zu verschwinden und Dorothy zu alarmieren.

Wenn eine von den Frauen dem Kerl die Stirn bieten konnte, dann Dorothy. Ihr gehörte der Laden hier. Dorothy sprach nur von ihrem »Gästehaus«, aber jeder in dem Viertel wusste, dass sie vom Bordellbetrieb lebte.

Schweißperlen lösten sich auf Mollys Stirn und liefen in Rinnsalen die Schläfen hinab. Die Knöchel bluteten von ihren eigenen Bissen, während sie durch den Spalt spähte und fieberhaft überlegte, ob es etwas anderes für sie zu tun gab, als darauf zu hoffen, dass alles schnell ging.

Der Freier änderte seine Taktik. Er führte der inzwischen nackten, knochigen Rachel die Klinge an den Hals und zwang sie durch Druck auf die Schultern in die Knie.

Molly hatte mit ihren dreizehn Jahren mehr gesehen und erlebt als manche erwachsene Frau. Einen Freier auf Französisch zu bedienen gehörte zu den Gepflogenheiten im Bordell – jede Hure spielte da mit.

Warum aber in drei Teufels Namen musste dieser Kerl Rachel dabei fast zu Tode quälen und ängstigen?

Erregte ihn das zusätzlich? Je stärker die Folter für sein Opfer, desto größer die Lust für ihn?

Molly beschloss, ihre Freier künftig genauer abzuschätzen, bevor sie sie mit aufs Zimmer nahm. Für ein paar Pence tat sie manches, was ihr die Würde nahm und den Respekt vor sich selbst. Aber so gefoltert zu werden –– dieses Risiko wollte sie gewiss nicht eingehen.

Mit einem Ruck zog der Freier Rachel an den Haaren nach oben, so dass sie laut aufschrie – ein Quieken wie von einem Ferkel, das zur Schlachtbank geführt wird. Die Pranke fuhr links, rechts, links über Rachels Wangen, die Haut an den Schläfen platzte auf, aus dem linken Nasenloch quoll Blut, der Kopf schwang hin und her. Dann warf der Mann Rachel auf das Bett, auf dem eine Decke über fauligem Stroh lag. Die Bretter ächzten.

Molly sog die Luft ein, als sie sah, dass der Freier das Messer auf den in der Mitte der Kammer stehenden Holztisch legte, bevor er sich auf Rachel stürzte. Sie hörte ein Gurgeln, als er Rachel würgte. Aus ihrem Mund kam nur noch ein Krächzen, während sich der schwabbelige Hintern des Freiers nun auf und ab bewegte.

Wenn Molly geglaubt hätte, dass es irgendeinen Sinn ergab, dann hätte sie jetzt vielleicht darum gebetet, dass der Freier Rachel nicht erwürgte. Dass er von ihr abließ. Aber Gott hatte in diesen Zeiten anderes zu tun, als sich um menschlichen Abschaum wie sie und Rachel zu kümmern. Davon war Molly überzeugt.

Sie starrte wie gebannt auf die im Licht der untergehenden Sonne blinkende Klinge auf dem Tisch. Jetzt sich aufrichten, aus dem Schrank stürmen, das Messer packen und es dem Kerl mit beiden Händen zwischen die Schulterblätter stoßen.

Sie könnte es schaffen, wenn sie sich flink bewegte – so schnell konnte er gar nicht begreifen, was geschah, und aufspringen, um sich zu verteidigen.

Molly spürte, wie sich die Anspannung aus ihren Schultern in ihren ganzen Körper bis zu den Sprunggelenken im Knöchel übertrug. Doch im nächsten Moment wurde ihre Aufmerksamkeit von dem Geschehen im Hurenzimmer abgelenkt. Ein Rascheln nur, ein Scharren. Ihr Kopf ruckte herum.

In der linken hinteren Ecke des Schranks bewegte sich etwas unter der Wolldecke.

Sie sah den langen dünnen Schwanz, den halbrunden Körper unter dem Stoff.

Der Käse, schoss es ihr durch den Sinn, und im nächsten Moment: Ratten!

In der Dunkelheit ihres Verstecks erkannte sie einen weiteren sich bewegenden Tierkörper. Ekel und Wut überrollten sie. Mistviecher! Sie mussten sich ein Loch durch die Wand in den Schrank genagt haben, angelockt von dem Geruch des Leckerbissens.

Unter anderen Umständen hätte Molly das nächste Brett oder Stuhlbein gepackt und die Tiere vertrieben oder erschlagen – sie war mit Ratten und Mäusen, Läusen und Wanzen aufgewachsen und wusste sich gegen sie zu wehren oder sich, wo es keine andere Möglichkeit gab, mit ihnen zu arrangieren. Aber dass sie jetzt zusehen musste, wie die dreisten Viecher Stück um Stück der gelben Brocken abrissen und davontrugen, ließ sie schier platzen vor Zorn.

Aus dem Hurenzimmer erklang ein Grunzen, gefolgt von einem Seufzer. Rachels krächzendes Atmen ging in einen Husten über. Offenbar war der Freier fertig und hatte seinen Würgegriff um ihren Hals gelockert.

Molly rückte näher an den Spalt heran und sah, wie sich der Kerl auf die Bettkante setzte und die Hose hochzog. Alles Grausame war aus seinem Gesicht gewichen, seine Züge entspannten sich, als würde er in der nächsten Sekunde eindösen. Die Unterlippe hing spuckefeucht herab, die Pupillen wirkten benebelt.

Rachel hustete und weinte gleichzeitig.

»Halt’s Maul«, fuhr der Freier sie schläfrig an, ohne die Stimme zu heben. Genauso gelassen fuhr er fort: »Ein Wort über das, was geschehen ist, und deine Hurenfreundinnen können deine Leiche in Stücken aus der Themse fischen. Hast du das verstanden?«

Rachel griff sich mit den Händen an ihren violett verfärbten Hals, nickte ein ums andere Mal. Tränen flossen über ihre Wangen, das Weiße in ihren Augen war rosa von geplatzten Äderchen. Sie bot ein erbärmliches Bild, spindeldürr, wie sie war, blutverschmiert, von Schnittwunden gezeichnet.

So durfte kein Freier eine Dirne zurücklassen. Nicht mal eine Käsediebin wie Rachel.

Der Moment, in dem Molly hätte eingreifen können, war vergangen. Unmöglich, jetzt noch hervorzuspringen. Wahrscheinlich langte der Fettsack auch noch schneller zum Messer als sie – er hockte nahe dem Tisch, auf dem die Klinge lag.

Einen Atemzug später durchfuhr Mollys Oberschenkel ein Schmerz wie von glühenden Nägeln. Die Pein drang ihr bis in die Knochen. Als sie begriff, dass sie den Schrei nicht unterdrückt hatte, glaubte sie sich einer Ohnmacht nah. Bloß nicht das Bewusstsein verlieren, bloß nicht umkippen!, hämmerte es in ihrem Schädel. Sonst überlebst du das hier nicht.

Sie packte das haarige Etwas, das an ihrem Oberschenkel hing, und schleuderte die Ratte gegen die Wand des Schranks.

Dann geschah alles gleichzeitig. Sie sah durch den Spalt, wie der Freier hochsprang, stieß die Türflügel auf und schnellte empor. Sie stürzte zum Tisch, warf ihn um, so dass das Messer in die Zimmerecke flog, und stand einen Herzschlag später dem tatsächlich mehr als drei Köpfe größeren Kerl gegenüber, der die Fäuste geballt hatte und die Schultern wie ein Ringer im Kampf mit einem ebenbürtigen Gegner hochzog.

Aber der Gegner war nur Molly, ein drahtiges Mädchen mit kohlschwarzen kurzen Haaren und eisblauen Augen, kaum der Kindheit entwachsen.

Auch sie hatte ihre Hände zu Fäusten geballt, tippelte auf nackten Füßen vor dem Mann, der sich keinen Zoll bewegte, und schob das Kinn vor, so dass sie mit der unteren Zahnreihe auf die Oberlippe biss.

Molly fixierte den Koloss, hielt seinem zuckenden Blick stand. In einer Ecke ihres Verstands nahm sie wahr, dass Rachel immer noch schluchzte und wie ein blutiger Haufen Haut und Knochen am oberen Ende des Bettes hockte. Im Zimmer stank es dermaßen nach dem Schweiß des Freiers und nach seinen Säften, dass es Molly würgte.

In dem Moment, als dem Kerl offenbar dämmerte, welch zwergenhafte Figur ihn hier zum Kampf herausforderte, und er sich mit einem Grinsen auf Molly werfen wollte, schoss ihr Knie vor. Sie musste es fast bis in Brusthöhe anziehen, aber es traf. Ein Geräusch wie von einem zertretenen Fisch, dem die Gedärme hervorquellen, erfüllte den Raum.

Der Koloss fuhr sich mit beiden Händen zwischen die Beine, seine Wangen blähten sich, durch seine zusammengepressten Lippen entwich zischend die Atemluft.

Molly hatte nur diesen einen Moment. Sie wirbelte herum, entriegelte die Tür, stürmte hinaus und hechtete die Treppe hinab.

Keuchend, die Arme angewinkelt, verharrte sie Sekunden später vor dem Eingang der Schenke, linste nach links und rechts die Goldsmith Alley entlang, wog ihre Möglichkeiten ab. Sie kannte jeden Schlupfwinkel in dieser Gegend, die Schuppen, Scheunen und Gässchen, die Pfandleiher, die Schlafsäle und Baracken, die Absteigen und selbst die Toilettenhäuschen in den Hinterhöfen. Seit ihrem siebten Lebensjahr streunte sie auf den Straßen Londons. Zu überleben zählte zu Mollys größten Talenten.

Sie wandte sich nach links in Richtung Cheapside und schlüpfte zwischen zwei Spelunken in eine Gasse. Der Weg führte zu einem Gartenhäuschen, in dem der Besitzer faulende Bretter und Fässer lagerte.

Wie eine Wildkatze sprang sie über eine Backsteinmauer, zerkratzte sich die Füße in dem Gestrüpp dahinter, hastete weiter, bis sie endlich die kaum mannshohe Hütte erreichte. Die Tür hing nur noch in einer Angel. Molly musste sie mit beiden Händen anheben, um sie einen Spaltbreit öffnen zu können.

Dunkelheit und Modergeruch empfingen sie. Sie tastete sich mit ausgestreckten Händen vor, bis sie einen Holzdeckel fühlte, hob diesen an und kletterte in ein Fass. Den Deckel schloss sie wieder, als sie sich hinkauerte, die Knie bis ans Kinn gezogen.

Hier bleibe ich, dachte Molly, während sie den Geruch nach schalem Bier und Fäulnis in die Lungen sog. Hier findet er mich nicht. Hier bleibe ich, bis er aufhört, nach mir zu suchen. Bis morgen früh vielleicht. Vielleicht bis zum Mittag.

Dann würde sie zurückkehren. Zurück zu Dorothys Gästehaus. Wohin auch sonst? Ein anderes Zuhause hatte sie nicht.

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2. Kapitel

Lincolnshire, Juli 1788

Der zweispännige Wagen holperte über den von Schlaglöchern übersäten Weg. Immer wieder musste der Mann auf dem Kutschbock die Pferde zügeln, um Steinbrocken oder den vom letzten Sommersturm abgebrochenen Zweigen auszuweichen.

Das Morgenlicht fiel pastellfarben auf die Heidelandschaft, durch die die Kutsche ratterte.

Claire schmerzte das Hinterteil. Das beständige Schaukeln seit Sonnenaufgang verursachte ihr Übelkeit.

Henry hatte den Arm um ihre Schultern gelegt und hielt mit der Linken ihre ineinander verschränkten Hände. Sein Atem streifte ihren Hals, sein Sandelholzduft hüllte sie ein, während er auf sie einsprach.

»Sorg dich nicht, mein Engel. Alles wird gut.«

Der Abglanz eines Lächelns erschien auf ihrem Gesicht. Der Teint schimmerte durchscheinend bläulich, die haselnussbraunen Augen wirkten vergrößert.

»Wenn du nur bei mir bleiben könntest. Ich habe Angst vor der Zeit, in der du mich allein lassen musst.«

Seine Kiefer mahlten, als er aus dem Fenster schaute, wo die Landschaft mit dem struppigen Heidekraut und vereinzelten in den blaurosa Himmel ragenden Nadelbäumen an ihnen vorbeizog. »Ich wünschte, ich müsste es nicht tun, Claire. Aber ich habe Verpflichtungen, die älter sind als unsere Bekanntschaft. Was ich dir versprechen kann: Sobald ich aus Frankreich heimkehre, werde ich dich nicht mehr allein lassen. Das schwöre ich dir bei unserer Liebe. In derselben Minute, da das Schiff in Portsmouth Anker geworfen hat, werde ich mich in die erste Kutsche setzen, um zu dir nach Lincoln zu reisen. Ich werde darum ersuchen, in ein anderes Regiment versetzt zu werden, zur Infanterie. Wohin auch immer ich dann verschickt werde – du wirst an meiner Seite sein. Du und unsere Kinder.« Er streichelte mit dem Finger über ihr Kinn und ihren Hals, bevor er sie auf den Mund küsste.

Claire genoss seine Nähe, seine Wärme, seine Worte. Dennoch blieb das wehe Gefühl, die Angst vor dem Unbekannten, auf das sie sich eingelassen hatte – in dem festen Glauben, die Liebe zwischen ihr und Henry Wheeler würde alle Hindernisse überwinden.

Sie waren füreinander bestimmt und gehörten allen Widrigkeiten zum Trotz zueinander.

Auch wenn sie Schande über ihre Familie brachte.

Auch wenn ihr rechtmäßiger Verlobter, wenn er je von ihrer Flucht erfuhr, ob der Demütigung vor Zorn rasen und Rache schwören würde.

 

Ihre Reisetasche in der Hand, verharrte Claire eine Stunde später mitten in dem Pensionszimmer und schaute sich um. Sie zog die Unterlippe zwischen die Zähne, während sie das mit bestickten Laken bedeckte Bett musterte. Auf dem Nachttisch stand eine Kerze in einem eisernen Halter, den Tisch mit den zwei Stühlen an den Längsseiten zierte ein Spitzendeckchen, an der Wand gegenüber dem Fenster prangte in einem geschnitzten Holzrahmen ein Bild: das Porträt einer alten Dame mit strengen Zügen und einer Haube über Schläfenlocken. Unter dem Fenster stand eine aus Eiche gehauene Truhe, deren Deckel in den Scharnieren quietschte, als Claire ihn anhob, um ihre Sachen hineinzulegen.

»Es ist heimelig hier«, sagte sie über die Schulter zu Henry, der ein paar Worte mit der Pensionswirtin Mrs. Collins tuschelte und dann die Tür hinter der Frau schloss.

»Hier wirst du dich wohl fühlen, Liebste, hier weiß ich dich behütet. Du ahnst nicht, wie schnell zwei Monate vergehen, wenn man sich liebt.«

Sie schlang die Arme um seinen Nacken und blickte zu ihm auf. »Sie werden mir wie eine Ewigkeit erscheinen, selbst wenn ich in einem Schloss auf dich warten würde«, erwiderte sie.

Er umfasste ihre Taille und drückte sie an sich.

»Wann musst du los?«, fragte sie.

»Morgen noch vor Sonnenaufgang. Uns bleibt der Rest vom Tag und die Nacht.« Er beugte den Kopf, um sie zu küssen. Sie erwiderte den Kuss mit aller Liebe, die sie für ihn empfand, und ließ es zu, dass er sie hochhob und zum Bett trug.

»Was wird die Wirtin von mir denken?«, fragte sie, als er sich neben sie legte und begann, ihr Dekolleté zu küssen und zu streicheln. »Wird es sie nicht wundern, dass ich hier allein wohne?«

»Ich habe sie in Kenntnis gesetzt – jedenfalls so weit, dass sie sich Fragen verkneifen sollte. Die Miete habe ich ihr für zwei Monate im Voraus bezahlt. Sie wird dich in Ruhe lassen.«

Als er begann, das Kleid von ihren Schultern zu streifen, sinnierte Claire, dass dies wahrscheinlich das größte Abenteuer war, das sie in ihrem Leben bestreiten musste. Eine schlimmere Unsicherheit und größere Ängste konnte sie sich zu dieser Zeit nicht vorstellen.

 

Zum Glück hatte sie daran gedacht, Lesestoff aus der Bibliothek ihres Vaters einzupacken. Diese Pension verfügte weder über ein Studierzimmer noch über Bücher, die sie sich hätte ausleihen können.

Wenn sie nicht die Mahlzeiten im Schankraum der Wirtin einnahm oder einen Spaziergang machte, saß sie in ihrem Zimmer am Tisch, beugte sich über die Romane von Daniel Defoe, Jonathan Swift oder Samuel Richardson und versuchte, sich auf die Zeilen zu konzentrieren.

Aber ihre Gedanken schweiften immer wieder ab, die Buchstaben verschwammen vor ihr. Sie dachte an ihre Eltern auf Gut Heartridge, stellte sich deren Mienen vor, wenn sie ihre Flucht bemerkten.

Ob sie nach ihr suchen werden? Wohl nicht. Ihr Vater ließ sie lieber in ihr vermeintliches Unglück rennen, als sich zu erniedrigen und sie um ihre Umkehr zu bitten.

Und die Mutter? Sie hütete wahrscheinlich das Bett, die Riechflasche griffbereit auf dem Nachttisch, die Haare gelöst, ein feuchtes Seidentüchlein auf der Stirn, unentwegt lamentierend über die Schande, die die einzige Tochter über die Familie gebracht hatte. Die Nerven ihrer Mutter waren wenig belastbar.

Aus diesem Grund schien es ein Glücksfall, dass Mrs. Elizabeth Durand sich nur mit einem einzigen Kind plagen musste; eine Schar von Nachkommen hätte gewiss ihre Kräfte überstiegen. Aber in jeder anderen Hinsicht war es ein Drama.

Als einzige Tochter ihrer Eltern besaß Claire nicht den mindesten Erbanspruch auf das Gut.

Nach ihrer Geburt hatte die Hebamme erklärt, eine weitere Schwangerschaft sei für Mrs. Durand ausgeschlossen. Was falsch gelaufen war, erfuhr Claire nicht, aber sie wusste, dass sie ihren Eltern nie genügt hatte. Sie hatte es zu spüren bekommen an den Zurechtweisungen und dem Tadeln der Mutter, an der Kälte, mit der ihr der Vater begegnete. Einziges Kind, doch nicht der Sohn, der das Erbe fortzuführen imstande gewesen wäre.

Als sie zwölf wurde, konfrontierten ihre Eltern sie mit der Entscheidung, sie, sobald sie heiratsfähig wäre, mit dem Vetter des Vaters zu verehelichen, dem laut Erbschaftsrecht der Besitz nach dem Tod der Eltern zufallen würde. So sei zumindest gesichert, dass sie auf dem elterlichen Gut bleiben und ihm als Hausfrau dienen könne.

Claire hatte sich wie stets gefügt – immer in der Hoffnung, dadurch Zuneigung und Achtung zu erringen.

Die Ehe mit dem Vetter erschien ihr wie eine unausweichliche Konsequenz, eine Notwendigkeit, die das Glück aller in der Familie wahren würde. Als nächster männlicher Verwandter stand Vetter Wilbur das Erbe von Gut Heartridge zu.

Doch Claires Leben geriet aus dem Takt, als in der Gegend das »Offiziersfieber« ausbrach, wie es die Mutter mit spöttischer Verachtung nannte. Im Dorf hatte ein Regiment Station bezogen. Die Kerle in ihren roten Röcken verdrehten allen jungen Frauen den Kopf.

Claires Freundin Matilda plapperte von nichts anderem mehr als davon, wer den nächsten Ball besuchte und wen von den Offizieren man mit welcher Dame zum zweiten Mal tanzen gesehen hatte.

Matilda verliebte sich bis über beide Ohren in einen Soldaten namens Gallagher. Claire beneidete sie um den Luxus, ihren Gefühlen nachgeben zu dürfen.

Sie selbst hielt sich bei den Festlichkeiten an der Seite von Vetter Wilbur, der sie seit ihrem siebzehnten Geburtstag in jeder Gesellschaft als seine Verlobte vorstellte.

Dann rief man Wilbur geschäftlich nach London, und Henry Wheeler, ein Freund von Matildas Kavalier Gallagher, ließ sich nicht nur den ersten, sondern auch den zweiten und dritten Tanz mit ihr beim Ball auf dem Nachbargut reservieren.

Das Munkeln der Leute nahm Claire nur am Rande wahr – sie schwebte wie auf einer Wolke, als Henry sie über das Parkett führte, ertrank in seinen meergrünen Augen. Der Duft seines Sandelholzparfüms betörte ihre Sinne.

Den ersten Kuss tauschten sie bei einem nächtlichen Spaziergang im Park. Claire fühlte sich, als schmölze sie in seinen Armen. Nie zuvor war sie von so viel Liebe erfüllt gewesen, nie hatte sie geahnt, dass solche Sehnsüchte in ihr schlummerten.

Als sie sich eingestand, dass sie sich Hals über Kopf in den Offizier verliebt hatte, war es zu spät, um sich noch zurückzuziehen. Sie hatte ihr Herz verloren – an den Falschen. Obwohl sie wusste, welche Komplikationen diese Entwicklung heraufbeschwören würde, genoss sie jede Minute, die sie in Henrys Gegenwart verbrachte, gestohlene Stunden, von denen niemand erfahren durfte.

»Komm mit mir. Als meine Frau«, flüsterte Henry in ihr Ohr, als sie sich zu einem ihrer Stelldichein in der Gartenlaube trafen, deren Schlüssel er von einem Freund geliehen hatte.

»Wie soll das gehen, Henry? Ich bin einem anderen versprochen. Das Arrangement gibt es seit vielen Jahren. Es rettet unser Familienerbe. Sobald ich eigene Söhne bekomme, wird dem Erstgeborenen, wenn ich den Vetter heirate, Gut Heartridge zugesprochen.«

»Willst du dein Leben für deine Eltern und das alte Haus opfern? Was ist mit dir? Willst du auf eigenes Glück verzichten?«

Tränen liefen ihr über die Wangen. »Ich liebe dich, Henry«, flüsterte sie, »und ich kann ohne dich nicht weiterleben.«

»Dann sei mutig, Claire. Vertrau deinen Gefühlen und erlaube es dir, glücklich zu werden. Was schert dich Gut Heartridge? Wir werden uns ein eigenes Zuhause aufbauen, irgendwo, wo dich keiner kennt. Wir brauchen niemandes Erbe.«

»Du wirst wieder in See stechen …«

»Ein letztes Mal«, unterbrach er sie. »Ein allerletztes Mal. Ich schwöre es dir, Liebste.«

»Dann warte ich hier auf dich.«

Er nahm eine Locke ihres hellblonden Haares und wickelte sie um seinen Finger. »Wenn ich gehe und dich hier zurücklasse, wirst du schwach werden. Du wirst dich dem Willen deiner Eltern beugen. Dann gibt es keine Zukunft mehr für uns. Bleib bei mir, Claire. Ich bringe dich nach Lincoln. Ich kenne dort eine Pension, in der kannst du auf mich warten. Ein, zwei Monate, längstens, dann bin ich bei dir, und wir ziehen nach Northampton oder London und bauen uns unser Glück auf.«

»Was soll ich meinen Eltern sagen?«

Er zuckte die Schultern. »Die Wahrheit.«

Die Locken flogen um ihre Schläfen, als sie verneinte. »Das bringe ich nicht fertig, niemals. Ich zerstöre ihr Lebensglück, wenn ich mit dir gehe.«

»Sie zerstören deines, wenn du bleibst.«

Er küsste ihr die Tränen von den Wangen und hielt sie umschlungen, als wollte er sie nie wieder loslassen. Ein größeres Gefühl von Geborgenheit und Liebe hatte Claire niemals zuvor erlebt. Als Henry sie küsste und sie seinen Nacken umschlang, wusste sie, dass sie diesem Mann überallhin folgen würde.

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3. Kapitel

London

Molly spürte ihre Beine nicht mehr. Sie bewegte vorsichtig ihre Zehen. Die Haut an den Füßen begann zu kribbeln, als liefe Ungeziefer darüber. Sie wünschte, sie könnte einschlafen. Aber in dem engen Fass roch es stickig wie in einem Grab, und der Rattenbiss in ihrem Oberschenkel brannte.

Noch wagte sie den Rückweg nicht. Vielleicht lauerte der Kerl an der nächsten Ecke, um sie abzupassen. Molly versuchte sich auszumalen, was in seinem Schädel vor sich ging.

Ein Wort über das, was geschehen ist, und deine Hurenfreundinnen können deine Leiche in Stücken aus der Themse fischen.

Diese Worte hatten sich in ihr Gedächtnis gebrannt. Verständlich, dass Kerle wie er alles daransetzten, ihre abartigen Triebe geheim zu halten. Doch nun wusste er, dass es eine Zeugin gab, ein schmales Hemd wie sie, die er, wenn er sie im richtigen Moment erwischte, mit einer Hand zu erwürgen vermochte. Er brauchte nur abzuwarten und geduldig zu sein.

Aber Geduld besaß sie auch.

Manchmal war es das Beste anzugreifen: zu kreischen wie von Sinnen, mit Wucht zu treten, zu beißen und Striemen in die Haut des Gegners zu kratzen.

Manchmal war es freilich klüger, sich ins Dunkel zu drücken und auszuharren.

Sie ließ die Gedanken treiben und rieb sich die Stelle unterhalb des linken Rippenbogens, die sich bemerkbar machte, wenn sie in Schwierigkeiten steckte und ihr der Angstschweiß hinunterlief: ein dunkelrotes, daumennagelgroßes Muttermal, an das sie nur dachte, wenn es juckte, so wie jetzt.

Molly hatte es im Spiegel eingehend betrachtet und es einmal Hannah gezeigt, die gleich festgestellt hatte, dass es die Form eines vierblättrigen Kleeblatts habe und deswegen ganz gewiss ein Glücksbringer sei. Molly hatte sie ausgelacht – Hannah war manchmal wirklich töricht, auch wenn es darum ging, was einem Glück versprach und was nicht. Ganz sicher kein Blutschwamm wie dieser.

Aus der Zeit im Waisenhaus bis zu ihrem siebten Lebensjahr hafteten nur einzelne Bilder in Mollys Erinnerung. Bilder, die in ihren Träumen lebendig wurden und die sie schweißfeucht aufwachen ließen.

Wie sie im nassen Bett gelegen hatte, die Beine angewinkelt, lautlos weinend. Wie die Nonnen, schwarzen Tieren gleich durch die Gänge huschend, sie an den Beinen auf den Steinboden gezerrt hatten.

Die Stockhiebe auf den nackten Hintern, die gebrannt hatten wie Höllenfeuer.

Der Hunger in ihrem Bauch, wenn die Essensrationen gestrichen wurden.

Der Geruch des Grützbreis, der von der Kelle in die Blechschüssel tropfte.

Die geflüsterten Gespräche der älteren Jungen, die sie belauscht hatte und die von Flucht handelten und davon, dass es ihnen überall bessergehen würde als hier.

Keiner hielt sie auf, als sie mit sieben Jahren ganz allein floh. Sie erinnerte sich an die ersten Nächte in der Nähe der Docks, wie sie die Füße vor Kälte nicht mehr gespürt hatte und der Hunger unerträglich geworden war. An das Triumphgefühl, nachdem sie in dem Laden an der Virginia Street das erste Brot gestohlen hatte. Wie sie Haken schlug, als die Verfolger in ihrem Nacken keuchten, und wie sie es schließlich zurück ans Ufer der Themse schaffte, wo sie in einem Gebüsch das Backwerk genoss wie ein königliches Festmahl.

Von nun an bin ich selbst für mein Glück verantwortlich, dachte sie damals beim Kauen. Bewegte sie sich flink genug und verhielt sie sich geschickt, würde sie überleben. Stellte sie sich schwachköpfig an, würde sie zugrunde gehen.

Molly überlebte die nächsten zwei Jahre, schloss sich Kinderbanden an und verließ diese wieder, als sie die Erfahrung lehrte, dass sie wirklich niemandem vertrauen konnte. Freunde fand man auf der Straße nicht – noch das geringste Diebesgut musste man bewachen, wenn man nicht am Morgen feststellen wollte, dass man von den eigenen Gefährten bestohlen worden war.

Sie war eine gute Diebin geworden. Gewandter und cleverer als die anderen. Gerissener als diejenigen, die sie bestahl. Sie sah deren Reaktionen voraus und berechnete sie bei ihren Beutezügen. Nur wenige Male hatte Molly vor einer Meute wütender Passanten fliehen müssen – meistens merkten die Bestohlenen erst viel zu spät, wenn Molly sich schon längst den Bauch vollschlug, die Münzen zählte oder mit dem nächsten Hehler feilschte, dass ihnen der Schinken aus dem Einkaufskorb, der Geldbeutel oder die Uhr fehlten.

Mit knapp zehn Jahren begegnete sie Hannah.

Das Mädchen fiel ihr auf, weil es ein froschgrünes Kleid trug und in den Haaren eine rosa Schleife aus Tüll. Sie hockte auf einer Mauer vor Dorothy’s Guesthouse und wippte mit den Füßen, während sie sich umschaute, als erwartete sie jemanden. Ihre nackten Füße starrten vor Schmutz – ein merkwürdiger Gegensatz zu ihrem Putz.

Molly beobachtete von einer Gasse aus das andere Kind. Was tat die da? Auf wen wartete die? War sie vielleicht die Tochter einer der Huren, die hier herumflanierten? Dass sie einer bessergestellten Londoner Familie entstammte, schloss Molly aus. Nicht in dieser Gegend, nicht mit diesen Füßen.

Ein Mann trat auf das Mädchen zu, ein Leutnant vielleicht, gepuderte Perücke unter dem Dreispitz, das Gesicht grau und faltig. Sie lächelte ihn mit zur Seite geneigtem Kopf an. Ihr Großvater? Er umfasste ihre Taille, hob sie von der Mauer, nahm sie an der Hand und verschwand mit ihr in dem Gästehaus.

Molly spähte ihnen hinterher, bis sie verschwunden waren.

Als sie sich aufrichten wollte, um sich den Staub von den Knien zu wischen, zog sich der Kragen ihres Kleides wie eine Schnur um ihren Hals zusammen, und ehe sie sich versah, zappelte sie in der Luft, als hinge sie am Galgenstrick.

Eine schneidende Frauenstimme erklang über ihr: »Was spionierst du hier herum, du Kröte?«

Selbst wenn Molly gewollt hätte, hätte sie nicht antworten können. Aus ihrem Hals entwich nur ein Röcheln, während sie um Luft rang und gleichzeitig um sich trat und boxte.

In der nächsten Sekunde wurde sie auf den Boden geschleudert, dass sie meinte, Knochen brechen zu hören – Schmerz aber spürte sie keinen.

Sie lenkte all ihre Aufmerksamkeit auf die Frau, die sie am Schlafittchen gepackt hatte wie eine streunende Katze und die jetzt mit in die Hüften gestemmten Händen über ihr aufragte und deren Körper die Sonne verdunkelte. Molly fixierte sie mit ihrem eisblauen Blick.

Das nachlässig aufgetupfte Rot ließ die Wangen der Frau ungesund fleckig erscheinen, die Kohle um ihre Lidränder betonte das Gelb ihrer Augäpfel.

An ihrem Hals funkelte eine Kette aus Glassteinen, an ihren Ohrläppchen baumelten grüne Kugeln, so schwer, dass sie sie langzogen. Die unzähligen zu Löckchen gedrehten feuerroten Haare umrahmten ihr Gesicht wie die Rüschenborte eines Zierkissens.

Während Molly all diese Eindrücke innerhalb des Bruchteils einer Sekunde wahrnahm, wog ein anderer Teil ihres Verstandes präzise ihre Möglichkeiten ab.

Wenn sie erst einmal auf den Füßen stand, hatte die Alte keine Chance mehr. Aber bis sie sich aufgerappelt hatte, würde sie sie mit ihren Schnürstiefeln zertreten wie einen Käfer.

Das Mittel der Wahl schien ihr zu sein, die Unschuldige zu spielen – die sie in diesem Fall tatsächlich war. »Ich kam hier nur vorbei und wollte …«

»Papperlapapp. Spar dir deinen Sermon. Du siehst aus, als könntest du eine heiße Hühnersuppe vertragen.« Die Frau musterte Molly von oben bis unten, als wäre sie das Geflügel, das sie in den Suppentopf zu werfen gedachte.

Molly konnte nicht verhindern, das bei dem Wort »Hühnersuppe« ihr Speichel zu fließen begann. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen.

Eine Falle, oder sollte sie tatsächlich unverhofft zu einer warmen Mahlzeit kommen?

Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie zum letzten Mal etwas Heißes im Bauch gehabt hatte.

Die Spitze des Stiefels traf sie am Hintern. »Na los jetzt. Beweg dich.«

 

Auch als Miss Dorothy ihr zum dritten Mal die Holzschüssel füllte, schwand Mollys Misstrauen nicht. Den linken Arm hielt sie, während sie löffelte, um die Schale gebeugt, als befürchtete sie, diese würde ihr genommen, bevor sie fertig war. Ihre Leibschmerzen ließen langsam nach und wichen dem wohligen Gefühl von Sättigung.

Molly seufzte unterdrückt, als sie den Löffel ablegte. Erst jetzt gestattete sie sich, sich in dem Zimmer umzuschauen, in das sie Miss Dorothy gebracht hatte.

Über der gemauerten Kochstelle dampfte der Topf mit der Suppe. Um den Holztisch, an dem Molly der Frau gegenübersaß, stand fast ein Dutzend wackeliger Stühle. Ein Bett mit einem geschnitzten Himmel und weinroten Samtvorhängen füllte eine Zimmerecke. Auf den Bodenbrettern lagen verschiedene, zum Teil verschlissene Teppiche mit orientalischem Muster. Es gab einen Schrank mit Glasvitrinen und Schubladen, Spitzendeckchen und Holzfiguren, die Frauen und Männer in Liebesposen darstellten. Ein blumiger Parfümgeruch überlagerte den Duft der Hühnersuppe in dem Raum.

»Könntest du öfter haben«, bemerkte Dorothy, während Molly die Holzschale ansetzte, um den letzten Rest der Suppe auszuschlürfen.

Über den Rand der Schale musterte Molly die Frau, versuchte, in ihrem gepuderten Gesicht zu lesen, Heimtücke zu erkennen, irgendeine Arglist. Keiner versprach ihr Suppe für jeden Tag ohne einen Hintergedanken. »Was muss ich dafür tun?«

Ein Lächeln kräuselte die Lippen der Frau. »Lieb sein.«

»Zu wem?«

»Zu Männern, die dafür viel Geld bezahlen.«

»Wer bekommt das Geld?«

»Ich.«

»Und ich die Suppe.«

Dorothys Lächeln verstärkte sich, während sie über den Tisch langte und Mollys Finger berührte. Sie zog sie zurück. »Du bekommst außerdem ein Dach über den Kopf und meinen Schutz. Keiner wird dir etwas zuleide tun.«

»Ich kann auf mich selbst aufpassen«, erwiderte Molly.

Dorothy hob die Schultern, nahm die Holzschale und kehrte Molly den Rücken zu. »Dann hau ab.«

Doch Molly blieb. Irgendein Instinkt verriet ihr, dass es diese Frau auf absonderliche Art ehrlich mit ihr meinte.

Dorothy behielt in allem recht und stand zu ihrem Wort. Nur in einer Sache hatte sie sich getäuscht: Molly wurde doch Leid zugefügt.

Am Anfang befürchtete sie, vor Ekel und Schmerz zu sterben, aber Anpassungsvermögen zählte zu ihren Talenten beim Kampf ums Überleben.

Und so arrangierte sie sich mit den veränderten Umständen.

 

Molly hatte jedes Gefühl für Zeit verloren, als sie es endlich wagte, den Fassdeckel hochzudrücken. Sonnenstrahlen fielen steil in die Hütte und erhellten das Durcheinander aus Holzabfällen. Es musste gegen Mittag sein.

Mollys Knochen knackten und schmerzten, ihre Muskeln brannten, über ihre Haut schien eine Armee von Kakerlaken zu laufen, als sie sich aufrichtete.

Sie hatte das Gefühl, die ganze Nacht über in eine Starre verfallen zu sein. Geschlafen hatte sie vielleicht ein paar Stunden, aber ausgeruht fühlte sie sich nicht.

Ob sie es wagen sollte, zurück zum Gästehaus zu laufen? Bestimmt hatte der Freier dort nicht so lange ausgeharrt, um ihr aufzulauern.

Was allerdings nicht hieß, dass er nicht wiederkehrte.

Künftig würde sie auf der Hut sein müssen. Sie mochte sich nicht ausmalen, was er mit ihr anstellte, wenn sie ihm zwischen die Pranken geriet.

Sie streckte sich vorsichtig, holte Luft und lugte aus dem Schuppen. Kein Mensch zu sehen. In einem der mit Unkraut überwucherten Hinterhöfe bellte ein Hund.

Mollys Zunge klebte an ihrem Gaumen. Ihre Kehle fühlte sich vor Durst rauh und kratzig an. Der Gedanke an das mit Wasser verdünnte Bier, das Dorothy für ihre Mädchen bereithielt, trieb sie zur Eile.

Sie quetschte sich aus dem Schuppen und flitzte den Weg zur Schenke zurück. Die Julisonne brannte auf ihre Arme und brachte den von Fliegen umschwirrten Unrat in den Ecken und Gassen zum Dampfen.

Kurz bevor sie die Goldsmith Alley erreichte, verlangsamte sie den Schritt, drückte sich gegen die Seitenwand der Spelunke und spähte um die Ecke.

Da baumelte das Schild von Dorothy’s Guesthouse, kein Mensch befand sich davor.

Seltsam, ging es Molly durch den Sinn. Müssten die anderen Mädchen und Frauen nicht auf Freiersuche sein? Um diese Uhrzeit flanierten normalerweise die ersten Dirnen auf der Straße. Nun, vielleicht hatten sie alle bereits Erfolg gehabt und verdienten in den Kammern ihre Pennys.

Ein Rest von Unbehagen blieb, aber Molly ignorierte das Gefühl. Sie wollte Dorothy gegenüber an dem Holztisch sitzen, still ihre Suppe löffeln und ihr Zuhause spüren. Einen Hauch von Geborgenheit und von dem Schutz einatmen, den Dorothy ihr versprochen hatte.

Sie rannte los, bog in den Hauseingang ein – und prallte drei Schritte weiter gegen einen blau berockten Körper. Ehe sie ihrem Instinkt folgen, wie ein Kreisel herumwirbeln und auf dem Absatz kehrtmachen konnte, hatten zwei Hände sie an den Oberarmen gepackt.

Innerhalb eines Herzschlags erfasste Molly die Situation, sah an der Knopfreihe der Uniformjacke hoch in das grimmige Gesicht eines Constablers, entdeckte einen weiteren Polizisten dahinter, der Hannahs Arme auf dem Rücken hielt, daneben Miss Dorothy mit versteinerter Miene und links von ihr … den einäugigen Hafenarbeiter mit dem herabhängenden Lid, der mit den Zähnen mahlte, während er Molly fixierte.

»Ist das die Zweite?«, rief der Constabler, der Molly hielt, über die Schulter.

Der Hafenarbeiter nickte und spuckte einen Schwall Kautabak auf die Dielenbretter. »Die würde ich unter Tausenden wiedererkennen, die kleine Hure. Verfluchtes Miststück, du!« Dorothy hinderte ihn mit einem seitlich plazierten Bein daran, sich auf Molly zu stürzen. Der Mann stolperte und fluchte noch lauter.

»Molly Monday?« Der Polizist schaute auf sie herab, als rechnete er mit einer Antwort.

Molly stierte zurück, ohne eine Miene zu verziehen.

»Ich verhafte dich wegen Diebstahls eines Käses. Auf deine Verurteilung durch das Hohe Gericht von Old Bailey wirst du mit deiner Komplizin Hannah Douglas im Gefängnis von Newgate warten.«

Die Constabler zerrten die beiden Mädchen hinter sich her zu der Kutsche, die auf der Cheapside stand. Die beiden Gäule schnaubten und warfen den Kopf hoch.

Während Bilder von den Blutbahnen auf Rachels Haut durch Mollys Verstand blitzten, überlegte sie, ob die Gesetzeshüter von London nichts Besseres zu tun hatten, als zwei Mädchen in den überfüllten Kerker zu werfen, weil sie einen halbblinden Trottel um einen Käse erleichtert hatten. Aber diesen Gedanken auszusprechen lohnte nicht, es würde ihr nur eine saftige Maulschelle einbringen. An den Zuständen im englischen Königreich änderte diese Überlegung nichts.

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4. Kapitel

Lincoln, Anfang August 1788

An diesem Nachmittag war Claire am Ufer des Witham entlangspaziert, hatte sich im Schatten der Kathedrale auf einer Bank ausgeruht und schlenderte nun, als die Sonne hinter den Dächern der Stadt versank, zur Pension zurück.

Seit fast zwei Wochen wohnte sie hier. Insgeheim rechnete sie sich aus, dass vielleicht schon die Hälfte der Zeit vorüber war, bis Henry zu ihr zurückkehrte und sie Zukunftspläne schmieden konnten.

Die Anspannung der ersten Tage hatte sich gelegt. Ganz offensichtlich unternahmen ihre Eltern keine Versuche, sie aufzufinden, um den Skandal abzuwenden und sie zur Heirat zur zwingen. Darüber verspürte Claire einerseits Erleichterung, andererseits schmerzte sie die Gleichgültigkeit, die dem Verhalten der Eltern zugrunde liegen musste.

Entgegen Henrys Rat hatte sie ihren Eltern nicht die Wahrheit gesagt. Das hätte mehr Mut verlangt, als sie aufzubringen vermochte.

Im Nebel der Morgenstunden hatte sie sich mit Henry davongeschlichen und ihren Eltern nur einen kurzen Brief hinterlassen: »Verzeiht mir. Ich kann nicht anders. Ich folge meinem Herzen.«

Wäre den Eltern mehr an ihr gelegen, wäre es nach dem ersten Durchforsten der näheren Umgebung von Gut Heartridge ein Kinderspiel für sie, den Aufenthaltsort der Tochter herauszufinden, um sie zu überreden, wieder heimzukehren und ihren Platz an der Seite von Vetter Wilbur einzunehmen.

Bekannte und Freunde hatten sie mit Henry Wheeler tanzen gesehen, und ihre Freundin Matilda würde Mr. Durands zwingendem Monokelblick keine zwei Minuten standhalten, wenn er von ihr zu erfahren wünschte, wer denn das Herz seiner Tochter vergiftet hatte.

Henrys Spuren zu verfolgen wäre ebenfalls eine Bagatelle. Zwar hatte er sie in dieser Pension unter falschem Namen eingemietet – sie heiße jetzt vorübergehend Miss Sanders, hatte er ihr zugeflüstert –, aber auch dies stellte keinen besonderen Schutz dar.

In den ersten Tagen in der Pension rechnete Claire ständig damit, dass es an ihrer Tür pochen und sie auf einmal dem Vater und der Mutter gegenüberstehen könnte. Aber nichts dergleichen passierte.

Sie hatten sie ziehen lassen und sie aus ihrem Leben gestrichen.

Ach, Henry. In seinen Armen gehalten zu werden, seinen Atem an ihrem Hals und seine Hände auf ihrem Körper zu spüren …

Bald, bald, sagte sie sich. Das Leben hatte ihr diese letzte Prüfung auferlegt. Sie würde sie meistern, um am Ende eine glückliche Frau zu werden, die mit dem Mann, der sie liebte, hoffnungsfroh der Zukunft entgegenschaute.

Den anderen Gästen der Pension begegnete Claire selten – sie kamen und gingen zu unterschiedlichen Zeiten. Nur hin und wieder hörte sie aus einem der Nachbarzimmer das Poltern von Truhendeckeln oder das Quietschen von Scharnieren, manchmal einen Wortwechsel.

Auch die Wirtin Mrs. Collins trug nicht zu Claires Unterhaltung und Zerstreuung bei. Sie sprach nur wenig und wenn, dann schwang in ihrer Stimme eine Missgunst mit, die Claire sich nicht erklären konnte. Henry hatte die Miete und das Kostgeld für zwei Monate im Voraus bezahlt. Es gab keinen Grund für die etwa vierzigjährige Frau mit den verbitterten Zügen, ihr Übles zu unterstellen. Aber vielleicht war Mrs. Collins einfach ein von Grund auf missvergnügter Mensch, den das Leben gelehrt hatte, dass ein Zuviel an Freundlichkeit schadete.

Als Claire die Pension am frühen Abend betrat, empfing sie der Geruch nach gekochten Rüben und Fleisch. Die Tür zur Wohnstube der Wirtin stand auf, doch sie selbst entdeckte Claire nicht.

Nach dem Treiben in den Gassen von Lincoln fühlte sich Claire, als würde sie in eine andere Welt eintauchen, während sie die Stufen der in die oberen Etagen führenden Treppe betrat. Nur das Ticken der Wanduhr zerhackte die Stille in dem Haus.

Das pastellgelbe Kleid an den Seiten raffend, bemühte Claire sich, die knackenden Stellen auf dem mit einem Teppich belegten Holz zu vermeiden, weil das Geräusch überlaut in dieser Stille hallte.

Sie hielt inne, als sie den Flur der ersten Etage erreichte. Die Tür ihres Pensionszimmers stand weit offen.

Wie konnte das sein? Ganz sicher hatte sie am Mittag den Riegel vorgeschoben. Dass die Wirtin in ihrer Unterkunft putzte, hatte sie noch nicht erlebt. Dafür standen im Hof für die Gäste ein Reisigbesen und ein Holztrog bereit, wie ihr Mrs. Collins gleich am ersten Tag auf ihre wortkarge Art erklärt hatte.

Claire setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, während sie sich ihrem Zimmer näherte.

Kein Geräusch drang heraus.

Mit einem Mal empfand Claire die Stille als bedrohlich – nicht tröstlich wie das Schweigen in einer Kirche, nicht beruhigend wie die Lautlosigkeit der Nacht. Sie fühlte ein Kribbeln ihren Rücken hinab, ein Flirren, als braue sich über ihr ein Gewitter zusammen.

Sie versuchte, ihre Beklemmung abzuschütteln, schluckte und schaute mit vorgerecktem Kinn in das Zimmer.

Da saß Mrs. Collins im hochgeschlossenen Hauskleid auf dem Stuhl am Tisch, die Arme vor der Brust verschränkt. Ihre Miene war verschlossen. Mit herabgezogenen Mundwinkeln starrte sie auf den Boden, als wollte sie die Holzbretter zählen.

Holzbretter?

Die Erkenntnis, dass etwas ganz und gar nicht mit rechten Dingen zuging, überfiel Claire mit Wucht, bevor sie noch die Ursache ausmachte.

Wo war der Teppich?

Ihr Blick ging von links nach rechts, von oben nach unten. Das Bild an der Wand, der Spiegel, der Kerzenleuchter, die Tischdecke, die bestickten Laken auf dem Bett – alles weg. Ein leer geräumtes Zimmer.

Die Wirtin zuckte zusammen, als Claire vor Schrecken die Luft einzog.

Was hatte das zu bedeuten? Würde die Wirtin ihr ein anderes Zimmer geben? Warum wartete sie hier auf sie?

Mrs. Collins sprang auf und war mit einem Satz vor Claire, der Spucketropfen entgegenflogen, als die Hauswirtin mit Zwiebelatem fauchte: »Dir hab ich von Anfang an nicht über den Weg getraut, du Luder! Bist wohl gekommen, um das übrige Mobiliar auch noch heimlich aus dem Haus zu schaffen, wie? Aber da bist du falsch gewickelt, verfluchte Diebin, du!«

Ihre Fingernägel bohrten sich wie Krallen in Claires Schultern, so dass diese aufschrie vor Schmerz. Im ersten Moment vermochte sie sich überhaupt nicht zur Wehr zu setzen, stand wie in Schockstarre vor der wütenden Frau. Mit offenem Mund schüttelte sie den Kopf.

Die Wirtin zerrte sie ins Zimmer und versetzte ihr einen Schubs, worauf sie taumelte und mit Wucht auf dem Boden landete. Claires Schläfe schlug krachend gegen die Wand, aber sie spürte den Schmerz kaum. Sie konnte nicht fassen, was sie hier erlebte, bis endlich ihr Verstand zu arbeiten begann.

Ein Missverständnis, ein grauenvolles Missverständnis. »Ich habe nichts gestohlen, Mrs. Collins! Jemand muss hier eingedrungen sein und die Sachen entwendet haben.«

Das Lachen der Wirtin klang, als würde eine Klinge über den Schleifstein gezogen, und verursachte Claire Übelkeit. »Was Besseres fällt dir nicht ein? Das sagen sie nämlich alle, und ich kenne Weiber wie dich.« Sie bog die Mundwinkel noch weiter hinab, als würde sie im nächsten Moment vor Verachtung ausspucken. »Geben sich nach außen hin den Anschein von Treuherzigkeit und Tugend und sind innerlich verdorben wie die billigsten Huren, die für drei Pence für jeden die Beine spreizen. Kommst hier anstolziert wie die feinste Dame und hast nur im Sinn, wie du mich, eine rechtschaffene Witwe, in den Ruin treiben kannst. Die werde ich an der Nase herumführen, hast du gedacht, um dann hinter ihrem Rücken zu lachen, hä? Aber da hast du dich geschnitten, Miss Wie-auch-immer-du-heißen-magst. Du rührst dich nicht von der Stelle, bis die Constabler eingetroffen sind. Dann sollst du deine Strafe erhalten. Wollen doch mal sehen, ob die Polizisten nicht aus dir herausprügeln, wo du meinen Besitz verschachert hast!«

Mit diesen Worten hastete Mrs. Collins aus der Tür und knallte sie hinter sich zu. Claire hörte, immer noch am Boden kauernd, den Riegel quietschen.

Sie strich sich über die Stirn, spürte den Schmerz in ihrem Rücken und ertastete die Beule über ihrem Ohr.

In was hat sich diese böswillige Person da verrannt? Wie kann sie annehmen, ich würde mich wie ein verlottertes Weib an ihrem Eigentum bereichern? Niemals in ihrem ganzen Leben war Claire auch nur die Idee gekommen, irgendetwas zu stehlen. Und dann ausgerechnet die schäbige Einrichtung in dieser drittklassigen Pension!