Das Hütchenspiel - Christian Kaufmann - E-Book

Das Hütchenspiel E-Book

Christian Kaufmann

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Beschreibung

Anna, alternde Schauspielerin, ehemalige Zirkusakrobatin und aktive Kunstdiebin, lebt und reist in ihrem eigenen Art-Déco-Zug. Auf der Bühne vor Publikum zu stehen, reicht ihr schon lange nicht mehr, um ihren Durst nach Adrenalin zu befriedigen. Als ihr ein harmloser, aber überbezahlter Insiderjob angeboten wird, bei dem sie ein Bild stehlen soll, nimmt sie trotz ihres anfänglichen Misstrauens an. Doch auch die exotische Shéhérazade ist hinter eben diesem Bild her, und das Ganze entwickelt sich bald zu einem undurchschaubaren Hütchenspiel zwischen Paris und München, bei dem selten klar ist, wer das in der Nazizeit geraubte Bild nun tatsächlich gerade besitzt und wo sich dessen Kopie befindet. Annas geheimnisvoller Auftraggeber mit den grünen Augen scheint allen immer eine Nasenlänge voraus zu sein und jeden zum Narren zu halten. Bis Anna den Spieß umdreht und sich selbst der Polizei stellt ...

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Seitenzahl: 169

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Ähnliche


Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Epilog

Prolog

Der Gaukler von Hieronymus Bosch aus dem Jahre 1502. Der Mann ging langsam auf das Gemälde zu. Wegen dieses Bildes war er in den Pariser Vorort Saint-Germain-en-Laye gefahren. Er kannte das Bild aus dem Internet und aus dem Katalog, hatte es aber noch nie persönlich gesehen. Nun stand er vor dem Gemälde und betrachtete es durch seine leuchtend grünen Augen.

Es war mit etwas über fünfzig mal sechzig Zentimetern nicht sehr groß und zeigte auf den ersten Blick auch nichts besonders Spannendes.

Eine mittelalterliche Gruppe Menschen steht um einen Tisch herum und schaut anscheinend einem Hütchenspieler zu, wie er sein Publikum unterhält. Eine der ersten in Öl festgehaltenen Versionen eines Glücksspiels oder eines Bonneteaus, wie es in Frankreich genannt wurde.

Eigentlich ist es kein Glücksspiel oder Spiel im eigentlichen Sinne, sondern eher Betrug, da der Spieler nie eine Chance hat. Es ist aber auch ein Spiel voller Fingerfertigkeit und - wenn gut gemacht - Witz und Unterhaltung auf der einen und der Zusammenarbeit eines Teams auf der anderen Seite. Es ist wie ein kleines Theater, das aufgeführt wird, in dem jeder seine Rolle hat. Der Geber ist der Hauptcharakter, alle Aufmerksamkeit ist auf ihn und die Karten oder Hütchen gerichtet.

Dabei wird er - unsichtbar für die Zuschauer - unterstützt vom Spitzel. Dessen Aufgabe ist es, den Geber zu warnen, falls Ordnungshüter oder Polizei auftauchen sollten.

Mitten unter den Zuschauern befanden sich zwei weitere Akteure: der Lockvogel und der Muskelmann.

Manchmal ist auch ein Dieb dabei, der die zuschauende und abgelenkte Menge im Visier hat.

Der Lockvogel spielt den Köder. Er agiert als Spieler, gewinnt und zeigt, wie leicht das Spiel ist, oder stellt sich absichtlich ungeschickt an und verliert, um die Zuschauer zu motivieren, selbst zum Spieler zu werden, weil sie in dem Glauben sind, es besser zu können. Gut gemachte Geber und Lockvögel sind wie ein Improvisationstheater. Je nach Stimmung und Dynamik der Zuschauer gewinnt oder verliert der Lockvogel, um die Zuschauer zur Teilnahme zu motivieren.

Der zweite Akteur ist sozusagen die Versicherung des Ganzen, der Muskelmann. Er passt auf, dass unglückliche Spieler, die Betrug wittern und schwierig werden oder sogar ihr Geld zurück bekommen wollen, friedlich bleiben und die Darbietung nicht über die Maßen stören.

Das Spiel selbst ist so einfach, wie ein Spiel nur sein kann: Es gibt drei Karten, meist zwei beliebige schwarze und eine rote Dame. Die Karten werden auf einer Unterlage umgedreht und der Geber vertauscht danach ihre Plätze. Die Aufgabe des Spielers ist es jetzt, herauszufinden, welche der drei Karten die Dame ist und darauf Geld zu wetten. Danach wird die einzelne Karte wieder gewendet, und wenn der Spieler richtig lag, gewinnt er den doppelten Wetteinsatz - wenn nicht, verliert er seinen Einsatz.

Von Runde zu Runde wird der Geber schneller, aber nur gerade so, dass der Spieler noch mitkommt und gewinnt. So baut der Geber das Selbstbewusstsein des Spielers auf.

Zu dieser Zeit ist der Geber weniger auf seine Fingerfertigkeit als auf seinen Instinkt und seine Menschenkenntnis angewiesen. Wie lange kann er den Spieler begeistern und an sich binden, wie hoch kann er die Wetteinsätze treiben? Ab wann wird sein Spieler übermütig und unvorsichtig? Das Ganze in Kombination mit einem guten Lockvogel ist ein schönes Schauspiel, das am Ende aber nur dazu dient, den Spieler auszunehmen.

Ab einem bestimmten Punkt beschließt der Geber, den Spieß umzudrehen, und spielt scharf. Von nun an nutzt der Geber verschiedene Tricks, um die Position der Karten zu beeinflussen und zu verschleiern. Der Spieler hat jetzt keine Chance mehr zu gewinnen. Je nachdem, wie erfolgreich der Geber es geschafft hat, den Spieler an sich zu binden, spielt der jetzt mehr oder weniger lange mit, bevor er kein Geld mehr hat oder komplett die Lust verliert.

Der Mann ging noch einen weiteren Schritt auf das Bild zu und begann, es systematisch zu untersuchen.

Im ersten Moment schienen alle auf den Tisch und damit das Spektakel zu schauen, bei genauem Hinsehen offenbarte sich aber, dass das nicht ganz richtig war. Der kleine Junge war abgelenkt und schaute auf den Mann mit der Kröte im Mund. Der Mann des Pärchens sah seine Begleiterin an. Einer der Männer hatte die Augen geschlossen oder schaute nach unten. Am auffälligsten war der Mann auf der linken Seite. Eine Art Mönch oder Laienbruder, der gen Himmel sah, während er gerade den Mann vor ihm bestahl.

Da haben wir also schon einmal den Dieb, dachte der Mann mit den grünen Augen erheitert. Wenn der Mönch der Dieb ist, sind dann die zwei Nonnen die Komplizinnen? Ihre Verkleidung hätte sie auf jeden Fall von jedem Verdacht freigesprochen.

Nun bemerkte er auch das Rundfenster auf der linken Seite des Bildes. Befand sich das Ganze etwa in einer Kirchenruine?

Wenn ja, dann wäre der massive Tisch des Gauklers vermutlich der ehemalige Altar? Der Mann schob diese Gedanken beiseite und suchte nach anderen Hinweisen auf dem Gemälde.

Er suchte nach dem Vexierbild, von dem er im Katalog gelesen hatte, hielt den Kopf schräg nach links und fokussierte seinen Blick auf den Tisch und seine Requisiten. Der bunte Kegel bildete dabei die Nase, die Kugeln die Augen eines Gesichts. Na ja, so spannend ist das jetzt aber nicht.

Er fragte sich, was es mit dem Mann in der Bildmitte auf sich hatte, der die Kröten herauswürgte. Als Franzose erschien es ihm weniger bizarr als Menschen anderer Nationen, Froschschenkel in den Mund zu nehmen, aber Hieronymus Bosch war Niederländer gewesen. Keine Ahnung, was er damit sagen wollte.

Er hatte genug gesehen, mehr gab das Kunstwerk vermutlich auch nicht her. Der Hauptgrund seines Kommens war auch weniger das Bild selbst, sondern seine Geschichte. Genau genommen seine neuere Geschichte. Nach seinen Informationen wurde das Bild am 1. Dezember 1978 gestohlen, nur um dann am 2. Februar 1979 wieder zurückzukehren. Und dieses Kuriosum inspirierte ihn auf das Äußerste.

Eigentlich war sein Plan fertig und bedurfte keiner weiteren Inspiration, schließlich hatte er schon fast ein halbes Leben daran gearbeitet. Und er gehörte nicht mal zur ersten Generation, die sich diesem Ziel verschrieben hatte.

Er setzte sich wieder auf die Bank vor dem Bild und dachte nach. Er hatte sich die Frage schon unzählige Male gestellt.

Wäre er ohne dieses Ziel, ohne diese Aufgabe die Person geworden, die er heute war? Er hatte sich schon vor langer Zeit eingestehen müssen, dass er sich die Obsession seines Großvaters und Vaters zueigen gemacht hatte.

Zugegeben, er führte ein erfolgreiches, glückliches und auch selbstbestimmtes Leben.

Aber schon seine Berufswahl und sein bisheriger Werdegang dienten am Ende des Tages der Vorbereitung.

Seine Fähigkeiten und gesammelten Erfahrungen der letzten Jahrzehnte und, wie er zugeben musste, auch die Ressourcen der Organisation, für die er gearbeitet hatte, hatten ihm geholfen, es ausfindig zu machen. Er hatte geschafft, was seinem Vater und Großvater versagt geblieben war.

Das Gefühl, das ihn bei diesem Gedanken durchströmte, war allerdings weniger von Stolz geprägt als vielmehr von Zuversicht und Erleichterung, dass nun bald alles ein Ende haben würde.

Aber Wissen war das eine, nun brauchte er noch einen geeigneten Helfer, um seinen Plan durchzuführen.

Er hatte sich extra Zeit genommen und wollte es jetzt am Ende nicht überstürzen oder wegen eines Detailfehlers vermasseln.

Darum hatte er sich mehr als drei Monate Zeit genommen, um die richtige Person auszusuchen. Und er hatte sie gefunden. Sie war perfekt.

Sie besaß die richtigen Fähigkeiten und Erfahrung, die notwendige Skrupellosigkeit, und das Beste war: Er würde ihr ein Angebot machen, das sie nicht ablehnen konnte.

Zudem hatte er alles bis ins Detail recherchiert und geplant, es konnte nichts schieflaufen. Bevor er den Gaukler vor sich gesehen hatte, wusste er nur auf rationaler Ebene, dass es funktionieren konnte. Nun fühlte er es auch, und mit diesem Gefühl verließ Maurice Neveu das Museum.

Kapitel

1

Quiiiiiiiiiiiiiietsch. Die Bremsen des alten Pullmanwagen aus den Goldenen Zwanzigern kreischten auf und bremsten den noblen Art-Déco-Zug sehr unelegant ab.

Adrenalin strömte durch Annas Körper, bevor sie die Augen öffnen konnte. Nach wenigen Augenblicken war sie hellwach und ihr Herz hämmerte.

Sie lag am Rande des Bettes und wäre beinahe herausgefallen, als es plötzlich aufgehört hatte, sich zu bewegen.

„Putain.” Wieder einmal bereute sie, das Bett nicht in Fahrtrichtung gedreht zu haben. „Aber Ästhetik ist dir nun mal wichtiger als Pragmatismus”, schalt sie sich.

Bertrams Stimme drang von außen durch die Tür und sie wusste sofort, was passiert war. Behände sprang sie aus dem Bett und lief zum Stuhl vor dem Schminktisch, auf dem der Morgenmantel lag. Es gab keine Eile, sie hatte genügend Zeit, sich fertig zu machen, bevor sie hereinkamen. Sie schaltete die kleine Messing-Stehlampe auf dem Schminktisch an, legte den Morgenmantel an, fixierte die Kordel mit einem ihrer Seemannsknoten und zupfte das Kleidungsstück schlussendlich beinahe in Zeitlupe zurecht. Bertrams und nun auch die fremden Stimmen vor der Tür kamen näher. Sie bürstete sich kurz durch die silberfarbene Mähne und legte sogar noch ein wenig Lippenstift und Rouge auf, bevor sie zur Tür schritt. Sie atmete tief durch, während sie den holzvertäfelten Gang entlang ging, und versuchte, sich zu beruhigen und das Adrenalin etwas besser unter Kontrolle zu bringen. Genau wie sonst, wenn sie die Bühne betrat.

Ein kurzer Blick durch die Scheibe in der Tür zeigte tanzende Lichtkegel von Taschenlampen und die Umrisse von zwei Personen. Bevor die Umrisse zu nah kamen und die Personen die Tür erreichen konnten, nahm sie den Hebel in die Hand und stieß sie nach außen auf.

Die Tür schwang auf und die Lichtkegel waren plötzlich auf sie gerichtet. Sie lächelte kokett. Da hatte sie ihre Bühne, die Show konnte beginnen.

„Guten Morgen, die Herren, womit kann ich Ihnen dienen? Kaffee vielleicht?”

„Guten Morgen, ich bin Capitaine Burnand von der hiesigen Polizei und das ist mein Kollege Lieutenant Millerand.”

„Ich bin die fabelhafte Anna Log, aber das wissen Sie bestimmt schon.”

Sie drehte sich in der Tür um und lud die Herren mit einer eleganten Handbewegung ein. „Bitte, kommen Sie doch herein. Milch und Zucker? Sie müssen meinen Aufzug verzeihen, aber ich hatte um 04:30 Uhr in der Früh keine Herrenbesuche erwartet.“ Verdutzt sahen sich die Polizisten an, kletterten dann die kleinen Tritte nach oben zur Tür und folgten ihr.

Anna war schon vorausgegangen und die beiden Polizisten hatten etwas Mühe, ihren schnellen Schritten zu folgen. Ihr Weg führte sie durch einen schmalen Gang, vorbei an einem Durchgang, der den Blick auf das Bad mit einer freistehenden kupfernen Badewanne und einem Waschtisch aus Marmor freigab. Der Gang ging ohne eine weitere Tür in das Schlafzimmer über.

Der Raum wurde nach wie vor nur von der kleinen Lampe des Schminktisches erhellt und tauchte das überaus üppig mit rotem Brokatstoff und Samt verkleidete Schlafzimmer in ein sanft schummriges Licht. Es war den beiden Polizisten nicht ganz klar, ob es sich hier um einen Palast oder um eine ganz andere Art von Etablissement handelte.

Verdutzt über das Interieur hatten sie die Hausherrin aus den Augen verloren, sie war am Ende des Ganges links abgebogen.

Beide beschleunigten ihre Schritte, um sie wieder einzuholen, während sie an mehreren Reihen von Kleiderschränken vorbeiliefen. Offenbar war ihre Garderobe so groß, wie ihr Geschmack exzentrisch.

Wieder ging der Gang nahtlos in einen Raum über, diesmal in das Wohnzimmer. Bestückt mit zwei azurblauen Chesterfield-Sofas an den Wänden und einem Lesesessel in der Ecke war auch dieser Raum mit dunklem Holz verkleidet. Capitaine Burnand konnte die Intarsien und die Lampen eindeutig dem Art Déco zuordnen.

„Wohnen Sie hier?“, rief einer Anna hinterher.

„Nur, wenn ich auf Tournee bin“, kam es von ihr zurück.

Während dieses Wortwechsels war sie am Ende des Wohnzimmers durch eine weitere Tür verschwunden.

Nachdem die beiden Polizisten auch diese passiert hatten, fanden sie sich in einer Bar wieder.

Die Frau mit der silberfarbenen Mähne und dem Morgenmantel stand schon hinter dem Tresen.

Der Raum maß gute fünfzehn Meter in der Länge und war wie das Wohnzimmer komplett im Art-Déco-Stil gehalten. Dunkles Holz, Messing und Leder waren die vorherrschenden Materialien, und Lieutenant Millerand fühlte sich in eine Szene aus The Great Gatsby versetzt.

„Und das hier gehört alles Ihnen?“, fragte er.

„Ja, Familienbesitz. Sie wissen ja, man kann sich seine Familie nicht aussuchen“, antwortete sie kokett. „Hätten Sie aber wohl nun die Freundlichkeit, mir zu verraten, wo wir uns befinden?“

„Chaumont-sur-Loire, Madame“, antwortete der Lieutenant hastig, während er an den kleinen Bistrotischen aus Ebenholz vorbeilief, um zur Bar zu gelangen. Diese war gut bestückt, hauptsächlich mit englischen und französischen Spirituosen aller Art, auch ein kleiner Weinkühlschrank mit Champagner und Rotweinen war zu sehen.

An der Theke angekommen, sah er zu, wie Anna die Kaffeemühle betätigte und die kleine Espressomaschine einschaltete. Sie schien ganz in dieser Tätigkeit aufzugehen und ihre zwei Besucher vergessen zu haben, als sie plötzlich aufblickte.

„Interessant. Und wo befindet sich dieses Chaumont-sur-Loire?“

„Etwa eine Stunde südwestlich von Orleans“, antwortete Millerand kleinlaut. Sie ignorierte ihn, während sie das Kaffeepulver in den Siebträger füllte und neben die Maschine legte.

„Ich verstehe. Dann hätte ich nur noch eine weitere Frage.“

„Ja, Madame?“

„Warum haben Sie mich und meinen kleinen Zug mitten in der Nacht aufgehalten und mich damit um meine wohlverdiente Nachtruhe gebracht?“

„Anweisungen, Madame Log. Anweisungen von Interpol, die auch bald hier sein sollten.“

„Oh, noch mehr Männerbesuch. In diesem Fall sollte ich mir vielleicht doch etwas Passenderes anziehen, während wir darauf warten, dass die Maschine aufheizt. Würden Sie mich bitte einen Moment entschuldigen?“

Kapitel

2

Ein müdes, aber glückliches Gesicht blickte Anna aus dem Schminkspiegel der Umkleide mit der Nummer 1 im Théâtre Hébertot entgegen. Die Frau war etwa Mitte vierzig, hatte langes, silbergraues Haar, trug einen weißen Umhang und war komplett ungeschminkt - sie sah sehr natürlich und fast etwas nackt aus. Sie wusste, Mitte vierzig war geschmeichelt, kannte sie doch das wahre Alter der Person. Es betrug genau fünfundfünfzigeinhalb Jahre. Ein Thema, über das sie nicht gerne sprach. Sie fühlte sich zwar geistig und biologisch zehn Jahre jünger, und doch wusste sie, ihre große Zeit war vorbei. Die restliche Zeit, die ihr noch blieb, war kürzer als die Strecke, die sie bisher hinter sich gebracht hatte. Das erfüllte sie mit Traurigkeit.

Der Raum hinter ihr war übersät mit Kleidern und Theaterrequisiten und in ein schummriges Licht getaucht. Die Hauptlichtquelle stand auf dem Schminktisch vor ihr. Sie war gerade mit dem Abschminken fertig geworden und starrte auf die Blumen neben sich.

Dass sie nach einer Aufführung Blumen bekam, war an sich nicht ungewöhnlich, aber dass ihr jemand dreizehn weiße Lilien schickte, schon.

Ihr heimlicher Verehrer kannte sowohl ihre Lieblingszahl als auch ihre Lieblingsblumen. Und als wäre das nicht schon genug, hatte die Person auch noch per Karte ihren Besuch angekündigt. Anna wusste nicht, ob sie sich geschmeichelt fühlen sollte oder bedroht.

Sie war immer sehr bedacht darauf gewesen, dass ihr Privatleben nicht ins Rampenlicht gezogen wurde. Und doch wusste diese Person mehr von ihr, als ihr lieb war.

Klopf, klopf - es pochte an der Tür, zweimal kurz, das Ganze hatte etwas Verstohlenes. Was war aus dem klassischen dreimaligen Klopfen geworden?

Es war also soweit, ihr vermeintlicher Verehrer würde sich zu erkennen geben.

„Ja, bitte?“, sagte sie voller Neugier. Die Tür öffnete sich schwungvoll, darin stand ein Herr. Auf den ersten Blick fiel ihr nichts Spezielles an ihm auf. Er schien das genaue Gegenteil von seinem passenden Blumengeschenk und seiner geheimnisvollen Karte zu sein.

Sie konnte nicht einmal genau sagen, was so unscheinbar an ihm war. Er war gut gekleidet, in einen dunklen Anzug mit schwarzem Mantel darüber, durchweicht vom Regen der letzten Tage. Mittelgroß, mit mittlerer Statur, normalem Haarschnitt und einem Allerweltsgesicht. Er sah aus wie ein Beamter, an dem alles passte, aber den man vergaß, bevor man das Gebäude verlassen hatte. Wären da nicht diese Augen gewesen. Grüne Augen, die leuchteten, obwohl er noch halb im Schatten stand. „Kommen Sie doch bitte herein, ich habe Sie bereits erwartet.“ Der Mann nickte und schloss die Tür leise und vorsichtig hinter sich, nachdem er eingetreten war. „Ich nehme an, Sie sind nicht da, um mich zu beglückwünschen und mir zu sagen, wie fabelhaft ich war.“ Der Mann lächelte. Es war ein sehr nettes, sympathisches Lächeln.

„Um ehrlich zu sein, bin ich aus genau diesem Grund hier. Nur bezieht sich das nicht auf Ihre Aufführung heute Abend, die habe ich leider verpasst.“

Seine Stimme war sanft, und er hatte einen Pariser Akzent, er musste also hier aufgewachsen sein.

Anna legte den Kopf leicht schräg und sah den Mann fragend an.

„Ich bin hier wegen Ihrer Aufführung in Marokko.“

„Ich habe noch nie in Marokko gespielt“, sagte Anna leicht irritiert.

„Ich weiß“, erwiderte der Mann. „Sie waren nur auf einer Wüstensafari zum Ausspannen.“

„Nun ja, wie dem auch sei“, antwortete Anna schnell, ohne auf seinen Kommentar einzugehen. “Ich freue mich, dass Ihnen meine Aufführungen gefallen. Aber deswegen sind Sie vermutlich nicht hier?“

„Oh doch, ich möchte Sie für eine Privatvorstellung engagieren.“

„Oh, das ist sehr schmeichelhaft von Ihnen, aber ich bin im Moment sehr beschäftigt, und es kann sich auch nicht jeder meine Dienste leisten.“

„Ich bin mir dessen völlig bewusst, aber ich denke, dass Ihnen diese Rolle gefallen wird. Sie ist Ihnen wahrlich auf den Leib geschneidert. Schenken Sie mir nur zwanzig Minuten Ihrer Zeit, um mich zu erklären.“

„Wenn es Ihnen nichts ausmacht, dass ich mich dabei fertig mache? Ich würde mich nur ungern zu meinem Rendezvous verspäten.“

„Natürlich, wir wollen doch nicht, dass der Herr Direktor warten muss.“

Anna zog eine Augenbraue hoch und ignorierte den Kommentar. Der Mann wusste auf jeden Fall mehr über sie als sie über ihn, was ihr sehr missfiel.

Der Herr begann zu erzählen, und von Satz zu Satz klang seine Geschichte phantastischer. Trotzdem war er gut darin, die unglaubwürdigen Stellen zu erklären und zu belegen. Auch erklärte er ihr ihre Rolle und warum er sie dafür vorgesehen hatte. Er hatte an alles gedacht und man bekam fast den Eindruck, er hatte das Ganze zu Hause geprobt, um sicherzugehen, dass sie anbiss.

Als der Herr nach genau zwanzig Minuten zu Ende erzählt hatte, schaute sie ihn nachdenklich an.

Anna versuchte zu verarbeiten, was sie gehört hatte. Viele Aspekte an dem Auftrag waren äußerst ungewöhnlich. Der Ort war so stark bewacht und so berühmt und damit sichtbar für jedermann, dass normalerweise ein ganzes Team von Spezialisten vonnöten wäre, um den Auftrag durchzuziehen.

Spezialisten, die Kameras loopen konnten, Alarmanlagen und Lasergitter deaktivieren und sich um all diese neuen Sensoren für Temperatur, Bewegung, Erschütterung und wer weiß was es noch so alles gab kümmern konnten. Dazu kam, dass aktuelle Sicherheitssysteme von Computern kontrolliert wurden. Ohne einen sechzehnjährigen Hacker mit Pickeln im Schlepptau hatte man heutzutage Mühe, ein Gebäude unentdeckt zu betreten.

Anna hasste Computer und alles Neumoderne. Die Welt war so kompliziert geworden, dass man fast nichts mehr allein machen konnte.

Ihr war die gute alte Welt der Illusion und Täuschung lieber, sie interagierte lieber mit Menschen als mit Technologie.

Damit gehörte sie zu einer aussterbenden Art, wie ihr erzählt wurde. Trotzdem weigerte sie sich, das Neue zu lernen, sondern versuchte, vielleicht ja auch aus Trotz, ihre vorhandenen Fähigkeiten zu verbessern, solange es noch ging.

Auch die Tatsache, dass sie genau zwei Tage hatte, um den Auftrag vorzubereiten und zu erledigen, war bei einer Aktion dieser Größenordnung eher ungewöhnlich. Es sah fast so aus, als wäre die Erstbesetzung abgesprungen und sie jetzt die Verlegenheitslösung. Aufträge wie dieser benötigten eine Vertrauensbasis, die sie beide nicht besaßen. Zu vieles konnte schieflaufen.

Und noch etwas bereitete ihr Sorgen. Auf der einen Seite fühlte sie sich geschmeichelt, auf der anderen war sie sich jedoch bewusst, dass sie eigentlich zu alt war für einen Coup wie diesen. Und doch wirkte es so, als hätte ihr Auftraggeber dies vorhergesehen und alle physischen Hindernisse, akrobatischen Einlagen, Kämpfe mit den Wachen, Verfolgungsjagden, Geiselnahmen und so weiter herausgenommen. Als wollte er den Auftrag zu einer kurzweiligen Shoppingtour auf der Rue de Rivoli degradieren.

Mit etwas Mut, Geschick und ein klein wenig Glück könnte dies der einfachste und gleichzeitig unterhaltsamste Auftrag werden, den sie je gehabt hatte.