Das indonesische Geheimnis - Hella S. Haasse - E-Book

Das indonesische Geheimnis E-Book

Hella S. Haasse

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Beschreibung

Provoziert durch die Anfrage eines Journalisten, erinnert sich Herma Warner an ihre Kinder- und Jugendzeit im Indonesien der zwanziger und dreißiger Jahre. Als Tochter von Holländern in Batavia (Jakarta) geboren, wuchs sie dort privilegiert auf, befreundete sich mit indonesischen Mädchen und Familien, interessierte sich für deren Lebensweise und Sprache. Dann, gerade erwachsen, muss sie erfahren, dass die politischen Verhältnisse Ende der dreißiger Jahre (das harte Kolonialregime, der wachsende Widerstand dagegen und die Radikalisierung ihrer indonesischen Freundinnen und Freunde) alles in Frage stellen, was sie bis dahin als ihre Heimat, ihre Identität und ihre große Liebe begriffen hatte. Dieser Zeit nähert sie sich im Rückblick, in Details und Momenten, die sich langsam zu einem neuen, aufregenden Panorama zusammensetzen.

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Seitenzahl: 187

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Der Verlag bedankt sich für dieFörderung dieser Publikation durchdie Niederländische Literaturstiftung.

©2015 für die deutsche Ausgabe:by TRANSIT BuchverlagPostfach 121111 | 10605 Berlinwww.transit-verlag.de

©2002 by Hella S. HaasseOriginaltitel: SleuteloogFirst published in 2002by Em. Querido’s Uitgererij, Amsterdam

Umschlagabbildung © Tilly Weissenborn,Fotostudio Lux © NMW, Tropenmuseum(Volkenkunde, Leiden)Umschlaggestaltung: Gudrun FröbaeISBN 978-3-88747-326-6

Hella S. Haasse

Das indonesische Geheimnis

Roman

Aus dem Niederländischenvon Birgit Erdmann und Andrea Kluitmann

Inhalt

Das indonesische Geheimnis

STAMMBAUM

GLOSSAR

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Sehr geehrte Frau Warner,

mein Name ist Bart Moorland. Ich bin freiberuflicher Journalist, Soziologe und Politologe.

Zurzeit arbeite ich an einer Studie über westliche Menschenrechts- und Umweltschutzaktivisten in Südostasien. Bei meinen Nachforschungen bin ich mehrfach auf den Namen Mila Wychinska gestoßen, die in den Sechzigerund Siebzigerjahren eine wichtige Rolle als Kontaktperson zwischen verschiedenen internationalen Organisationen und der Lokalbevölkerung gespielt haben soll, unter anderem in Indonesien und Malaysia. Viele Leute, die ich gesprochen habe, wussten zwar von ihrer Existenz, sind ihr jedoch nie persönlich begegnet und hatten außer vagen und widersprüchlichen Geschichten eigentlich auch nichts zu berichten.

Einige behaupten, sie sei während einer Reise auf Sumatra (oder Java, oder Timor, das bleibt unklar) gestorben. Auch ihr Sterbedatum und die Todesumstände sind mir nicht bekannt.

Als ich hörte, dass sie (trotz des meiner Ansicht nach polnischen Namens) niederländischer Herkunft war, habe ich natürlich versucht, hier in den Niederlanden etwas über sie in Erfahrung zu bringen. So fand ich heraus, dass sie aus Batavia stammte, im früheren Niederländisch-Indien, und auch während der Herrschaft Sukarnos noch lange auf Java oder anderswo in Indonesien gelebt hat.

Ich interessiere mich besonders für ihre Kindheit und Jugend in den Tropen, vor allem vor dem Hintergrund der Tatsache, dass sie sich offenbar schon vor dem Zweiten Weltkrieg, in einer Zeit, als das noch gar nicht diskussionsreif war, als Verfechterin eines unabhängigen Indonesiens hervorgetan hat.

Warum ich mich an Sie wende? Natürlich kenne ich Sie als Kunsthistorikerin. Mir sind auch die interessanten Arbeiten bekannt, die Sie im Zuge der Restaurierung von Bauwerken aus der Zeit der Verenigde Oost-Indische Compagnie ausgeführt haben. Aus diesem Grund spreche ich Sie mit Ihrem Mädchennamen Herma Warner an, unter dem Ihre wissenschaftlichen Artikel veröffentlicht wurden, und nicht als Frau Tadema.

Auch Sie sind im kolonialen Niederländisch-Indien geboren und aufgewachsen, in Batavia, und Sie und Mila Wychinska sind gleichaltrig. Jemand erzählte mir, Sie hätten möglicherweise dieselbe Schule besucht. In noch erhaltenen Schülerverzeichnissen der europäischen Schulen in Batavia vor dem Krieg habe ich Milas Namen nicht finden können, wohl aber Ihren und den Ihres Ehemannes.

Kannten Sie Mila? Falls ja, täten Sie mir einen großen Gefallen, wenn Sie mir gestatten würden, Ihnen einige Fragen zu stellen.

Mit vorzüglicher HochachtungB.J. Moorland

OHNE DIESEN BRIEF hätte ich niemals damit angefangen.

Ja, ich kannte sie, Adèle, Adé, Dee Mijers, die später wie ihre polnische Mutter Wychinska heißen wollte und aus Dee Mila machte, um alle »holländischen« und »indonesischen« Assoziationen aus ihrem Namen zu verbannen. Aber ich fürchte, was ich erzählen könnte, wird diesem Journalisten nicht viel nützen. Ihr Leben, und auch meines, wurden von Umständen bestimmt, die unwiderruflich passé sind. Hat es Sinn, noch einmal aufzuwärmen, was niemand mehr nachvollziehen kann?

Mir ist schon lange klar, dass die versunkene Welt meiner Jugend zu einem großen Teil Illusion gewesen ist. Alle Phasen des Abschiednehmens und der Entwöhnung habe ich durchgemacht. Die sinnlichen und emotionalen Erlebnisse in meinem Geburtsland liegen in den Tiefen meines Bewusstseins, sie bestimmen mich, aber ich kann nicht mehr auf sie zugreifen. Dass ich nirgendwo jemals richtig zu Hause war, habe ich als meinen natürlichen Daseinszustand akzeptiert. Das gibt mir die Freiheit, und auch die Fähigkeit, mich anzupassen, oder Abstand zu wahren, je nachdem. Dee sagte einmal – zu Unrecht – diese Eigenschaft sei typisch für den Belanda, der sich wie ein Chamäleon verhalten kann, um sich die Umgebung, die er dominieren will, gefügig zu machen. Vielleicht hat sie später begriffen, dass es meine Art – und ihre! – war, mit der inneren Zerrissenheit zu leben, die uns beide prägte.

Habe ich das Recht, Dee »zu erklären«? Kann ich das, ohne selbst meinen Part dabei zu bedenken? Ich fürchte mich vor der Zwiespältigkeit, der Doppelsinnigkeit, der Abwehr in mir. Ich will mich der Bitte Moorlands nicht stellen, oder etwa doch?

Moorland bauscht meinen Beitrag an den Restaurierungsarbeiten der Holzschnitzereien an den paar Häusern aus dem achtzehnten Jahrhundert in Jakarta zu sehr auf. Viel gab es ja nicht mehr zu tun. Wie lange hat es doch gedauert, bis die Niederlande Geld zur Verfügung stellten und Indonesien das Angebot angenommen hatte. Für die Behörden in Jakarta genoss die Wiederherstellung kolonialer Hinterlassenschaften selbstverständlich keine Priorität, außer, wenn diese im wirtschaftlichen und sozialen Leben der Stadt eine Funktion erfüllen konnten.

Ach, was soll’s, Herr Moorland wollte mir halt ein Kompliment machen.

Ich weiß nicht, ob ich ihn empfangen werde. Selbst eine schriftliche Antwort bereitet mir Kopfzerbrechen. Hier, in meinem ländlichen, entlegenen Winkel, fühle ich mich wie aus der Zeit gefallen. Die alten Buchen und Kastanien auf dem Rasen vor dem Haus, in dem einst meine Großeltern lebten, haben sich, seit ich vor siebzig Jahren als Kind während des einzigen Europa-Urlaubs meines Vaters in ihrem Schatten gespielt habe, kaum verändert. Die gewaltigen Baumstämme, die breit gefächerten Blätterkronen, geben mir ein ähnliches Gefühl wie das überwältigende Grün Javas, eine Verbundenheit mit der Natur.

Bei gutem Wetter verbringe ich im Sommer ganze Tage in meinem Gartenhaus mit Veranda, versteckt zwischen dichten Bäumen. Wie schon zu Lebzeiten Tacos. Biwakieren im pondok nannten wir das. Dort spüre ich seine Gegenwart wie sonst nirgends.

So lebe ich auf meinen Tod zu, in Harmonie mit der rätselhaften Ordnung der Dinge. Bücher und Musik vertiefen meine Ruhe. Ich verfolge die Nachrichten zwar noch, aber relativiere sie oft auf erstaunliche Weise. Die Vergangenheit zieht sich in Nebeln zurück und lässt sich nur aus der Gegenwart interpretieren, die ich aber auch nicht in ihrer wahren Gestalt erkennen kann.

Seit Tacos Tod, vor fast siebzehn Jahren, habe ich die Ebenholztruhe mit ihren Kupferbeschlägen, in der ich aufhebe, was ich noch immer »Niederländisch-Indien« nenne, nicht mehr geöffnet. Irgendwann wollte ich die Briefe, Unterlagen und Fotos sogar vernichten. Jetzt könnten sie ganz nützlich sein.

Leider habe ich den Schlüssel verloren. Er hat eine ziemlich auffällige Form. Die Zähne des Schlüsselbartes, der in das komplizierte antike Schloss passt, sind außergewöhnlich zackig, der ovalförmige Schlüsselkopf ist vergoldet und von einem verschlungenen Ornament durchbrochen, das einem arabischen Schriftzug ähnelt. Der Schlüssel muss doch irgendwo sein. Tagelang habe ich schon danach gesucht, Schubladen leergeräumt, Kartons ausgeschüttet, verstaubte Regalbretter abgetastet. Das einzige Resultat war Verzweiflung über den ganzen Plunder, den ich im Laufe der Jahre angesammelt habe.

Wie bekomme ich den Deckel auf? Er schließt nahtlos an den Truhenrand an. Ich werde Hilfe hinzuziehen müssen, einen Fachmann, einen Schlosser, der auf Feinarbeiten spezialisiert ist, falls es hier in der Gegend so jemanden gibt.

Die Fragen des Journalisten haben etwas ausgelöst, das mich nicht mehr loslässt. Ich habe zwar keinen Zugriff auf den Inhalt meiner Truhe, aber jetzt ist es, als sei in meinem Gedächtnis ein Schloss aufgesprungen. Ich werde einfach aufschreiben, was mir durch den Kopf geht.

Wenn ich an Dee denke, sehe ich sie am liebsten als Kind vor mir: lebhaft, agil, gelenkig, und damals schon mit diesem funkelnden dunklen Blick, von dem viele Leute zu meinem Erstaunen behaupteten, er sei frech und unberechenbar. Ich war davon überzeugt, dass niemand sie so gut kannte wie ich. Deshalb wusste ich, wie ungeduldig und fast körperlich unpässlich sie werden konnte, wenn ein Spiel oder eine Situation zu Hause oder in der Schule ihrem Empfinden nach zu lange dauerte. Aus reiner Langeweile konnte sie völlig außer sich geraten, provozieren und triezen, oder sich gerade durch bockiges Schweigen unnahbar geben. Andere sahen nicht, was ich sah: die Neugier und das heimliche Vergnügen in dem Blick, mit dem sie die Wirkung ihres Verhaltens beobachtete. Ihr war natürlich klar, dass sie eine gewisse Macht ausüben konnte, gleichzeitig fand sie es aber auch lächerlich, wie Erwachsene und dumme Kinder sich von ihr gängeln ließen. Dann funkelte Verachtung in ihren Augen.

Weil ich nie das Gefühl hatte, zu denen zu gehören, die für Dee »die Anderen« waren, beachtete ich ihre tinkas nicht weiter. Plötzlich kehrte sie zu sich selbst zurück, war wieder verspielt und mitreißend. Nichts war geschehen.

Später, als junges Mädchen, gelang es mir nicht immer, so unbefangen gleichmütig auf Dees Stimmungsschwankungen und ihr Gehabe zu reagieren. Zudem war auch ich der Ansicht, ihr Blick tue ihrer Schönheit mitunter Abbruch.

Dee war nämlich schön. Sie hatte eine matte, leicht gebräunte Haut, ein schmales Gesicht mit kurzer gerader Nase und Augen, die, je älter sie wurde, einen grün-bräunlichen Glanz bekamen. Durch ihre stolze Haltung wirkte sie größer, als sie war.

Sogar der Schlosser aus Zutphen, der so nett war, an seinem freien Sonntagnachmittag bei mir vorbei zu schauen, bekam die Ebenholztruhe nicht auf. Er könne das Schloss gern austauschen, aber dazu müsste er die große und wunderbar verzierte Kupferplatte zerstören, die mit Dutzenden nahezu unsichtbaren Nägeln um das Schlüsselloch befestigt ist. Diesen irreparablen Schaden möchte ich nicht. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, den Schlüssel zu finden, er kann ja nicht weg sein.

Den Entscheidungen, die Dee im Laufe ihres Lebens getroffen hat – einige sind mir bekannt, die anderen kann ich nur erraten – liegt vermutlich eine tiefe Unsicherheit zugrunde. Früher habe ich davon nie etwas bemerkt, im Gegenteil, ich fand sie geradezu aufreizend selbstbewusst, und durch ihren Spott über die Vorurteile in der damaligen Kolonialgesellschaft erhaben.

Jetzt begreife ich, dass diese Haltung ein Täuschungsmanöver war. Sogar vor mir trug sie eine Maske. Hinter Stolz und Mut verbarg sie die demütigende Überzeugung, nicht völlig akzeptiert zu sein. Der stetig wachsende Groll gab ihr Halt, machte sie hart.

Zwischen ihr und mir steht etwas Dunkles und Undurchdringliches, und daran möchte ich lieber nicht rühren. Ich weiß nicht, wo sie ist. Ich weiß nicht einmal, wer sie ist – falls sie noch lebt.

Habe heute, zusammen mit meiner treuen Stien, wieder vergeblich lange nach dem Schlüssel gesucht. Wir haben auch die Zimmer gründlich durchforstet, die ich nicht mehr nutze, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, wie das Ding da hätte hingeraten sollen. Stien hatte eine Nichte mitgebracht, ein vorlautes sechzehnjähriges Schulmädchen, das sofort verkündete: »Echt asozial, wie Sie hier wohnen.«

Ich sagte, das sähe ich genauso, und dass ich umziehen würde, sobald in unserem Seniorenheim »Het Hoge Bos«, wo ich seit einigen Jahren auf der Warteliste stünde, ein Platz frei wäre. Das stimmte sie nicht milder, aber sie half nach Kräften bei der Suche, vor allem auf dem Dachboden, wo noch allerlei Zeug aus dem Hausrat meiner Großeltern herumliegt.

Bevor sie eben wegging, im Besitz eines Kupferleuchters und eines Nachttopfes aus geblümter Emaille, hörte ich sie sagen: »Shit, den halben Tag vergeudet. Den Schlüssel gibt’s doch gar nicht.«

»Sie ist alt, sie erinnert sich nicht mehr«, sagte Stien besänftigend.

Alte Leute führen oft Selbstgespräche, oder sprechen mit imaginären Personen. Ist dieses Geschreibe, mit dem ich angefangen habe, eine Variante dieser Unsitte? Und an wen bitte richte ich mich?

Sehr geehrte Frau Warner,

vielen Dank für Ihren Brief. Ich weiß wirklich sehr zu schätzen, dass Sie meiner Bitte – trotz der unglücklicherweise hermetisch verschlossenen Truhe – nachkommen möchten. Dass Sie aus Ihrem Gedächtnis schöpfen müssen, mindert den Wert Ihrer Informationen nicht.

Ich freue mich auf die versprochenen Angaben.

HochachtungsvollB.J. Moorland

ANGABEN ÜBER DEE, schwarz auf weiß, die Bart Moorland nutzen könnten? Erstmal müsste ich erklären, wie kompliziert ihr Familienhintergrund war. In groben Zügen kenne ich ihn, weil ich unzählige Male darüber habe reden hören.

Einst nahm, im siebzehnten Jahrhundert, Jonas Muntingh, ein Kaufmann im Dienst der Verenigde Oost-Indische Compagnie, eine einheimische Frau zu seiner rechtmäßigen Ehegattin. Er wurde reich und ließ an einer Flussbiegung des Tjiliwoeng, etwas außerhalb Batavias, ein Haus bauen und zog mit seiner Familie dort ein.

Auch Muntinghs Nachkommen waren durch Handel und Eheschließungen mit steinreichen Chinesen und Chinesinnen zu Reichtum gelangt. Sie kauften Land und so wurden aus Kaufleuten Großgrundbesitzer. Die letzte Erbin des Landgutes Pakembangan, auf halber Strecke zwischen Batavia und Buitenzorg, heiratete im letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts einen Sprössling aus dem französischen Adelsgeschlecht Lamornie de Pourthié, der sich wegen Spielschulden nach Niederländisch-Indien geflüchtet hatte. Sie bekamen zwei Töchter, Louise und Adèle. Um sich der bleibenden Verbundenheit seines Assistenten zu versichern, der talentiert war, die Arbeiter mit harter Hand regierte und somit die Reisernte und den Viehbestand vermehrte, zwang Lamornie de Pourthié, selbst kein Geschäftsmann und im Landbau unbewandert, seine Tochter Louise zur Ehe mit diesem unersetzbaren »Aufseher«. Erwartungsgemäß wurde sie totunglücklich.

Auch Adèle hatte kein Glück. Ihr Mann, der Marineoffizier Johan Mijers, starb an Malaria, just als ihm eine Beförderung zum zweiten Adjutanten des Generalgouverneurs in Aussicht gestellt wurde. Mit ihren beiden kleinen Kindern, Louis und Aimée (die immer nur Non genannt wurde) ließ sie sich in dem großen altjavanischen Haus nieder, in das die Muntinghs gezogen waren, als Anfang des neunzehnten Jahrhunderts wohlhabende Batavianer ihren Wohnsitz in die kühleren »hohen Areale« südlich der Unterstadt verlegten.

Da Louise kinderlos blieb, betrachteten die Schwestern es als unumstößlich, dass Adèles Sohn Louis Mijers, der einzige männliche Nachkomme des Geschlechts Muntingh, irgendwann Pakembangan leiten würde und zusätzlich zu dem seiner Mutter zustehenden Anteil des Familienbesitzes auch den seiner Tante erben sollte.

Als Junge war er ein Querulant, unfolgsam, aufsässig, ein Flaneur, der mit unerwünschten Freunden die Stadt unsicher machte und im Preanger-Bergland Abenteuer suchte. 1913 schickte Frau Mijers ihn nach Europa, um Manieren und Savoir-faire zu lernen. Trotz des Ersten Weltkriegs war Louis’ Aufenthalt in Paris, London und der Schweiz erfolgreich. Mit seinem attraktiven, exotischen Aussehen und den großzügigen Zuwendungen seiner Mutter entwickelte er sich avant la lettre zu einem mondänen Lebemann, einem Typ, der später in den zwanziger Jahren gern den Ton angab.

In meiner Ebenholztruhe muss sich ein »snapshot« (so hieß das damals) aus dem Jahr 1927 befinden. Louis Mijers, in einem für diese Zeit auffällig modischen Anzug aus leichtem Stoff, nicht in einem der steifen weißen Baumwollanzüge mit hochgeschlossenem tutup, der Alltagskleidung meines Vaters und seiner Beamten-Kollegen. Statt des üblichen Tropenhelms trägt er einen Panamahut und zweifarbige amerikanische Schuhe. Seine obere Gesichtshälfte liegt im Schatten, aber in seinem lachenden Mund blitzen die Zähne unter dem dünnen Schnurrbart. Er lehnt lässig gegen seinen Studebaker, an den ich mich von unzähligen Ausflügen erinnere. Das Leinenverdeck ist zurückgeschlagen und liegt gefaltet über der Rückbank. Das Foto muss im Garten unseres ersten Hauses in Batavia aufgenommen worden sein, dessen Auffahrt von einer langen Reihe stacheliger Pflanzen gesäumt wurde. Alle fanden Dees’ Vater hinreißend, einen Herzensbrecher. Auch mir als Kind fiel auf, dass er gut aussah, wie ein Filmstar aus Hollywood, aber hinter seinem Charme und seinem kühnen Auftreten verbarg sich etwas, das manchmal in seinem Blick kurz aufloderte, und mich verunsicherte. Niemals wurde ich das Gefühl los, dass er mich eigentlich nicht mochte, auch wenn er sich der besten Freundin seiner Tochter gegenüber noch so überschwänglich nett gab.

Dee und ich sind zusammen aufgewachsen. Unsere Väter waren im Dezember 1918, kurz nach dem Waffenstillstand, mit demselben Postschiff aus Europa gekommen und hatten ein Jahr später etwa zur gleichen Zeit geheiratet.

Dee und ich wurden beide 1920 in Batavia geboren. »Onkel Louis« (so durfte ich ihn nennen) war oft bei uns zu Besuch, immer allein. Damals fragte ich mich nicht warum, denn Dee hatte ja Non, ihre Tante, die im Haus ihrer Großmutter Mijers für sie sorgte. Das Haus war in meinen Augen ein Palast, mit weißen Säulenreihen auf den Veranden vorne und hinten, und Marmorfußböden, in denen man sich spiegeln konnte. In diesem Viertel der Stadt hatten die Gärten parkähnliche Ausmaße. Das Laub der hohen Kanaribäume warf Schatten über die blühenden Pflanzen in den mit Kalk abgesteckten Beeten und die Töpfe mit Rosen und Farnen. Es gab unzählige Stellen, an denen wir uns verstecken konnten, Bäume zum Reinklettern, Sträucher zum Unterkriechen. In einer großen Voliere hielt Frau Mijers Kakadus und einen Beo. Am meisten aber hatte es mir das Vordach auf Pfählen angetan, das pendoppo, das an die hintere Veranda grenzte. Das Reich von Non Mijers und ihren Orchideen. Als Kind war ich vor allem von den bizarren Formen und wunderbaren Farben der Blumen verzaubert. Später bekam ich ein Auge für die komplizierte Zucht und Pflege, die Nons Leben beherrschten.

Von Non besitze ich kein einziges Foto. Sie wollte nie geknipst werden, verbarg sich hinter anderen oder machte sich aus dem Staub, sobald ein Fotoapparat hervorgeholt wurde. Dass Louis Mijers und sie Geschwister waren, hätte niemand geglaubt, der es nicht wusste. Louis besaß den matten Teint und die geschmeidigen Bewegungen von Frau Mijers, Non hingegen war dunkelhäutig und mager, ohne jegliche Eleganz. In ihren zumeist weißen, halblangen weiten Kleidern und den Schlappen an den Füßen ähnelte sie eher einer Hausangestellten zwischen babu und Krankenschwester, oder einer armen entfernten Blutsverwandten, die als dienstwillige Hausbewohnerin in die Familie aufgenommen war. In den Blicken von Louis und seiner Mutter lag eine Art Überheblichkeit, wenn auch unterschiedlicher Art; er schaute herausfordernd selbstbewusst, sie damenhaft reserviert. Nons Augen jedoch waren wie stilles schwarzes Wasser. Fasziniert schaute ich auf ihre geschickten Finger, die sich vorsichtig und zielstrebig zwischen den Stielen und Luftwurzeln bewegten, den breiten lederartigen oder länglichen dünnen Blättern, den Blütentrauben auf ihren Farnwurzelballen, oder den bemoosten Baumrinden und Kokosborken, die am oberen Rand des Vordachs aufgehängt waren.

Ich finde Non in ihrem pendoppo. Sie bereitet gerade eine Pflanze vor, wie sie es nennt, die sie in aller Frühe auf dem pasar von einem zuverlässigen Züchter gekauft hat. Dee interessiert diese Arbeit nicht, sie schaukelt draußen im Garten.

»Sieh nur, Toet«, sagt Non (diesen Kosenamen gab sie mir, als sie merkte, dass ich ihre Orchideen liebe), und sie zeigt mir, dass sich gerade ein neuer Stängel entwickelt, und schon feine Wurzeln austreiben. Sie befestigt die Pflanze mit einer u-förmigen Klammer auf einem länglichen schwarzen Stück Farntorf und erklärt mir, es sei eine Larat, die an dem bald ausgewachsenen Stiel eine Traube aus sechs, acht oder sogar noch mehr Blüten tragen würde, diesmal aber nicht in den Farben purpurrosa oder samtig dunkelrot, sondern schneeweiß, mit einem sanftgrünen Kelch.

»Die Albino. Sie ist sehr selten, und auch sehr teuer!«

Und sie nennt den dazugehörigen Namen, »Hololeuca«.

»Schöner als Lilien!«

Es ist das erste Mal, dass sie sich einer weißen Larat bemächtigen konnte. Jetzt vertraut sie mir auch an, nun endlich ausprobieren zu wollen, worauf sie schon so lange hofft: Die weiße Pflanze mit einer anderen zu kreuzen, sie weiß schon, mit welcher, mit der, die ich auch so liebe, nämlich die gelb und dunkelbraun gefleckte Tigerorchidee.

»Weiß und braun, Toet! Boleh tjampur, oder?«

Sie hält den Kopf schräg und schaut mich mit leicht lächelnden Augen an, während sie sich eine Strähne ihres halblangen schwarzen Haares, die sich aus ihrer Haarspange gelöst hat, hinters Ohr streicht.

Aber nicht nur die Orchideen verbanden mich und Non. Etwas anderes war noch stärker, und gleichzeitig merkwürdiger als unsere Blumenliebe. Ich wusste, dass Non Dinge sehen und hören konnte, die anderen Menschen verborgen blieben. Das Hauspersonal sprach darüber, wenn Frau Mijers nicht in der Nähe war, jedoch nie vor Dee und mir. Non wich all unseren Fragen über diese rätselhafte Begabung aus. Ihr alltägliches Tun und ihre unauffällige Erscheinung waren uns so vertraut, dass wir ihre besondere Gabe, von der wir nie etwas bemerkt hatten, nicht weiter beachteten.

Dee und ich übernachteten oft beieinander, vor allem in den ersten Jahren unserer Gymnasialzeit, als unsere Gespräche über den Unterricht, die Lehrer und Mitschüler niemals versiegten. Fast gleichzeitig bekamen wir unsere Periode und dadurch auch das Gefühl, Anspruch auf ein eigenes Leben zu haben, eigene Geheimnisse, einen Bereich, in dem Erwachsene nichts zu suchen hatten. Unser Gekicher und Geschwätz bis tief in die Nacht brachten sowohl meine Eltern als auch Frau Mijers schließlich dazu, mich nur im Gästezimmer schlafen zu lassen. Bei Frau Mijers war der Pavillon für Gäste hergerichtet, ein kleines Replikat des großen Hauses mit eigener Veranda zu beiden Seiten. Ich fühlte mich geehrt – das großzügig geschnittene Zimmer, das Doppelbett mit Moskitonetz – aber wenn ich wach da lag und den Nachtgeräuschen der Insekten und anderen Tiere draußen im Garten und dem Rauschen der hohen Bäume lauschte (vor allem das Säuseln und Knarren des riesigen waringins am Ende des Wegs neben dem Grundstück, der nirgendwohin führte), überkam mich manchmal eine unerklärliche Angst, so als würde ich in eine unendliche Leere gesaugt.

Einmal, in solch einer Nacht, hielt ich es im Bett nicht mehr aus. Ich rannte hinaus, durch den überdachten Laubengang zwischen dem Pavillon und dem Hauptgebäude. Plötzlich sah ich jemanden durch den Garten gehen, eine weiß gekleidete Gestalt, die sich dann in der Hecke am waringin in Nebel auflöste.

Im dem Moment trat Non aus ihrem Zimmer. Sie schaute mich an und legte einen Finger auf die Lippen. Wie lange wir so da standen, weiß ich nicht. Später hielt Non mich fest und rieb meine eiskalten Hände und Füße.

»Du hast den Hadschi gesehen, Toet!«

Sie schien nicht erstaunt, eher zufrieden, als ginge es um etwas, worauf sie gewartet hatte. Natürlich kannte ich den hochkant gestellten schmalen Stein am waringin, unter dem vor ewigen Zeiten ein frommer Mann begraben worden war, der die Pilgerfahrt nach Mekka unternommen hatte. Die Einheimischen im Viertel legten regelmäßig Blumen und in pisang-Blätter verpackten Reis und Süßwaren am Fuß des Baumes nieder.

Danach sah ich den Hadschi öfter, in den stillen Abendstunden oder kurz vor Sonnenaufgang, aber immer in Anwesenheit von Non, und nur, wenn sonst niemand dabei war.