Das ist doch gar nicht dein Vater! - Jack-Peter Kurbjuweit - E-Book

Das ist doch gar nicht dein Vater! E-Book

Jack-Peter Kurbjuweit

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Beschreibung

1945 im Flüchtlingslager Watenstedt-Salzgitter geboren, erfährt Jack-Peter Kurbjuweit im Alter von 13 Jahren, dass sein leiblicher Vater Pietro Dolcetti heißt und ein Grieche mit italienischen Wurzeln ist. Erst 1996, im Alter von 50 Jahren, beginnt er, nach diesem Mann zu suchen, und kommt so in Kontakt mit seiner in Athen lebenden Familie. Er trifft seinen Vater, der bald darauf stirbt. Von seinem Onkel Takis erfährt er viel über seine Vorfahren und das Schicksal der Brüder Pietro, Nikos und Takis als NS-Zwangsarbeiter während des Zweiten Weltkriegs im Sudetenland. Persönliches Schicksal und Zeitgeschichte verbinden sich zu einem spannenden Bericht. Zahlreiche Fotos dokumentieren die Spurensuche nach der eigenen Herkunft.

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Das Buch

Im Alter von dreizehn Jahren erfährt ein Junge zufällig, dass der Mann seiner Mutter nicht sein leiblicher Vater ist. Er wendet sich von der Familie ab und beginnt erst im Alter von fünfzig Jahren, nach seiner Herkunftsfamilie väterlicherseits zu suchen. Er findet sie und erfährt viel über die Lebenswege seiner Vorfahren, nach Griechenland eingewanderte Italiener, und das Schicksal, das sein Vater und dessen Brüder im Zweiten Weltkrieg erlitten haben. Sie wurden von den Deutschen ins Sudetenland verschleppt und mussten dort Zwangsarbeit verrichten.

Es gelingt ihm, einen Onkel zum Erzählen dieser lange verdrängten Geschichte zu bewegen. Am Ende hat er Klarheit über seine Herkunft gewonnen und ist in die große griechische Familie aufgenommen.

Der Autor

Jack-Peter Kurbjuweit, Jahrgang 1945, aufgewachsen in einem Flüchtlingslager in Niedersachsen, ausgebildeter Starkstromelektriker, hat nach gewerkschaftlichem Studium als Gewerkschaftssekretär gearbeitet, er war und ist immer noch politisch aktiv.

1996 begann er, etwas über seinen leiblichen Vater herauszufinden. Das Ergebnis seiner Suche dokumentiert er in diesem Buch.

Als die Nazis die Kommunisten holten,

habe ich geschwiegen,

ich war ja kein Kommunist.

Als sie die Sozialdemokraten einsperrten,

habe ich geschwiegen,

ich war ja kein Sozialdemokrat.

Als sie die Katholiken holten,

habe ich nicht protestiert,

ich war ja kein Katholik.

Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.

(Pastor Martin Niemöller, 1892-1984)

Inhalt

Vorbemerkung

Mit einem Brief fing es an

Kapitel 1 Meine Kindheit im Lager Watenstedt-Salzgitter

Kapitel 2 Ein Brief und die Folgen

Kapitel 3 Mein Vater lebt

Kapitel 4 Die Vorfahren: Migration, Geschäfte, Erster Weltkrieg

Kapitel 5 Der Zweite Weltkrieg beginnt

Kapitel 6 Aus Kriegsgefangenen werden Militärinternierte

Kapitel 7 Der lange Heimweg von Tschechien nach Athen

Kapitel 8 Was für ein Mensch war mein Vater?

Schlussbemerkung und Dank

Meine Familie, Stammbaum

Vorbemerkung

Vor zwei Jahren übergab mir Jack-Peter Kurbjuweit viele Seiten Material mit der Frage, ob sich daraus etwas machen lasse, das publiziert werden könne. Es handelte sich um Szenen aus seiner Kindheit, die Suche nach seinem leiblichen Vater, die Lebenswege seiner italienisch-griechischen Vorfahren und Zeitzeugenberichte seines Onkels Takis über Gefangenschaft und Zwangsarbeit im Zweiten Weltkrieg sowie um die Nachkriegsjahre. Dieses Material bestand aus persönlichen Notizen, Briefen, Transkriptionen von aufgezeichneten Gesprächen und vielen Fotos. Und ich fand: Ja, daraus könnte man etwas machen – es muss nur viel Arbeit investiert werden. Zwei Jahre vergingen, bis wir uns dann schließlich ans Werk machten. Ich übernahm es, die einzelnen Teile zu sichten, zu ordnen, zu kürzen bzw. zu ergänzen und daraus eine gut lesbare Fassung herzustellen.

Zwei Hauptthemen waren unter einen Hut zu bringen, die auf den ersten Blick nicht unbedingt miteinander zu tun haben: zum einen die späte und schließlich erfolgreiche Suche nach dem Vater samt Aufnahme in dessen griechische Familie und zum anderen das Zeitzeugnis des Onkels über das Schicksal der drei Dolcetti-Brüder als italienische Militärinternierte in Nazi-Deutschland. Da aber dieser Bericht ohne die vorangegangene Suche nicht möglich gewesen wäre, hängen beide Themen dennoch eng zusammen. Mir schien auch notwendig, die private Geschichte durch kurze informierende Abschnitte zu ergänzen, die die persönlichen Erlebnisse in den historischen Kontext einordnen, ohne den sie nicht immer verständlich sind.

Berlin, Januar 2018

Ruth Lisa Knapp

Mit einem Brief fing es an...

Spät habe ich mich auf die Suche nach meinem leiblichen Vater gemacht, dessen Existenz mir meine Mutter lange verschwiegen hatte. Es hat sich gelohnt. Meine große griechische Familie, die ich nach und nach kennenlernte, hat mich, den fremden Deutschen, freundlich aufgenommen. Dank der Erzählungen meines Onkels Takis konnte ich tief in die Vergangenheit des vertrackten 20. Jahrhunderts eintauchen und einiges über das Leben meiner Vorfahren in Erfahrung bringen, in dem Migration, Neuanfänge und Abbrüche an der Tagesordnung waren. Zweimal haben Kriege hart in das Schicksal der Einzelnen eingegriffen und zu Verschleppung, Gefangenschaft, Zwangsarbeit und Flucht geführt, Erlebnisse, die ihre Spuren hinterlassen haben bis heute.

Im Folgenden berichte ich, wie ich herausgefunden habe, woher ich stamme und was mir über die Familie meines Vaters Pietro Dolcetti bekannt geworden ist. Was er und seine beiden Brüder im Zweiten Weltkrieg und kurz danach erlebt haben, bildet einen Schwerpunkt und zeigt an einem konkreten Beispiel das immer noch wenig bekannte Schicksal der italienischen Militärinternierten während der Naziherrschaft.

Meine Spurensuche begann im Jahr 1996 mit diesem Brief, den ich in zwei Versionen, auf Deutsch und auf Griechisch, an mehrere Adressen im Großraum Athen verschickte:

Pietro Dolcetti und Edeltraut Gregori 1944/45

13.06.1996

Sehr geehrte Familie Dolcetti,

ich bin am 18. 10. 1945 als Jack-Peter Gregori geboren und wende mich heute mit einer vielleicht unverständlichen Frage an Sie.

Mein Vater Pietro Dolcetti, geboren 1922, war 1945 mit meiner Mutter verlobt und sie wollten heiraten.

Im Mai/Juni 1945 wurde meine Mutter Edeltraut Gregori aus dem Sudetenland ausgewiesen und musste von heute auf morgen fliehen. Die kurz nach Kriegsende durchgeführte Suche nach Pietro Dolcetti und seiner Familie blieb damals erfolglos. 1947 erhielt ich durch Adoption meinen jetzigen Familiennamen Kurbjuweit.

Pietro Dolcetti, geb. 1922, hatte 2 Brüder: Nikolaus Dolcetti, geb. 1924, und Takis Dolcetti, geb. 1926

Sollten in Ihrer Familie verwandtschaftliche Beziehungen bestehen oder Sie etwas darüber wissen, würde ich mich sehr freuen, von Ihnen mehr zu erfahren, und verbleibe mit herzlichen Grüßen

Jack-Peter Kurbjuweit

Was darauf folgte, ist in Kapitel 2 und 3 nachzulesen. Zuvor berichte ich kurz über meine eigene Kindheit und Jugend in einem Flüchtlingslager bei Salzgitter und wie ich von der Existenz meines leiblichen Vaters erfuhr. Im 4. Kapitel schildere ich die Geschichte der Familie Dolcetti, soweit ich sie mithilfe meines Onkels Takis rekonstruieren konnte. Sie beginnt Ende des 19. Jahrhunderts mit meinem Urgroßvater Pietro, erzählt von meinem Großvater Giacomo und endet mit dessen Söhnen Pietro, Nikos und Takis.

Der Untertitel „Eine europäische Spurensuche“ wurde gewählt, weil wiederholte Ortswechsel diese Familie geprägt haben: einerseits die freiwillige Migration zwischen Italien, Griechenland und Deutschland, andererseits die Deportation von Italien auf deutsches Reichsgebiet und die Rückkehr der Verschleppten durch mehrere europäische Länder nach dem Zweiten Weltkrieg. Kurze informierende Texte sollen das Geschilderte in einen größeren Kontext stellen, denn die Zeitumstände im jeweiligen historischen Moment haben eine wichtige Rolle gespielt und unsere persönlichen Lebenswege entscheidend beeinflusst.

Hameln, Januar 2018

Jack-Peter Kurbjuweit

Kapitel 1 Meine Kindheit im Lager Watenstedt-Salzgitter

Das Lagergelände

Ich wurde im Oktober 1945 in Watenstedt-Salzgitter geboren. Meine ersten zwölf Jahre habe ich im dortigen Flüchtlingslager verbracht. Das Lager bestand bis in die sechziger Jahre. Es wurde Zug um Zug aufgelöst und durch Neubaugebiete in anderen Stadtteilen ersetzt. Als Kind nahm ich dieses Lager wahr als eine riesengroße Stadt, die aus lauter Holz- und Steinbaracken bestand. Das Zentrum bildete die sogenannte Feierabendhalle, die für Veranstaltungen genutzt wurde und auch eine Gaststätte, eine Kegelbahn und ein Kino beherbergte.

Luftaufnahme des Barackenlagers Watenstedt-Salzgitter

Angegliedert waren ein Kindergarten und eine Schule, die zunächst ebenfalls in Baracken untergebracht waren. Es gab einen Bäcker, diverse Läden und größere Freiflächen für Aufmärsche. 1945 lebten in diesem ehemaligen Zwangsarbeitslager circa 15.000 Flüchtlinge.

Zwischen dem Barackenlager und dem alten Dorf Watenstedt-Salzgitter lag der sogenannte Gummibahnhof. Uns kleinen Steppken kam dieses asphaltierte Areal riesig vor. Hier gab es circa zehn Haltestellen für parallel haltende Busse, mit denen man fast alle 28 Stadtteile der Großstadt Watenstedt-Salzgitter erreichen konnte. Beim Gummibahnhof befand sich eine Baracke mit Gaststätte, Lebensmittelgeschäft und einem Zeitungs-Lotto-Schnaps-Laden.

Im Zuge der Kriegsvorbereitungen wurden 1937 in der Nähe von Braunschweig die „Reichswerke AG für Erzbergbau und Eisenhütten Hermann Göring“ gegründet. Dort sollten aus den Eisenerzen der Region Rüstungsgüter hergestellt werden. Innerhalb von zwei Jahren bauten zehntausende Arbeiter aus dem In- und Ausland diesen modernsten und größten Rüstungsbetrieb Nazi-Deutschlands auf. Sie waren in provisorischen Barackenlagern untergebracht, in denen nach Kriegsbeginn die Kriegsgefangenen und Deportierten einquartiert wurden, die in der Rüstungsproduktion Zwangsarbeit verrichten mussten. Ab 1942 entstanden im Gebiet Salzgitter zusätzlich drei Außenlager des KZ Neuengamme. „Vernichtung durch Arbeit“ war der von Goebbels geprägte Begriff für diese Form extremer Ausbeutung. Im Gebiet von Salzgitter befreiten die Alliierten im April 1945 ca. 40.000 Menschen (Kriegsgefangene, KZ-Häftlinge, Zwangsarbeiter), sie bildeten mehr als die Hälfte der Gesamtbelegschaft der Reichswerke. Die Barackenstadt wurde bis in die 1960er Jahre weiter als Flüchtlingslager für aus den Ostgebieten geflüchtete Deutsche genutzt.

An den Rändern des Barackenlagers, das in einzelne Sektoren unterteilt war, befanden sich weitläufige, teilweise gesprengte Bunkeranlagen. Auf der südlichen Seite wurde das Lager von den Linke-Hoffmann-Waggonwerken und einer großen Kiesgrube begrenzt, in der die Schlacken aus den Hochöfen der Hüttenwerke über Gleisanlagen entsorgt wurden. Auf der Nordseite war die Hauptverwaltung Drütte untergebracht und links davon, in westlicher Richtung, befand sich die Werksanlage der Hütte, der ehemaligen „Reichswerke Hermann Göring“.

1952 im Lager

Kurz nach der Geburt 18. Oktober 1945

Wohnverhältnisse

Unsere Familie, meine Mutter, mein vermeintlicher Vater, zwei jüngere Geschwister und ich, wohnten in einer Steinbaracke. Diese Unterkünfte waren komfortabler als die Holzbaracken. In jedem dieser Gebäude gab es eine Wohnung am Kopfende und durch vier seitliche Eingänge gelangte man in vier weitere Wohnungen.

In unsere Wohnung gelangten wir durch einen winzigen Flur. Rechts führte eine Tür zu einer kleinen Abstellkammer mit Doppelhochbett. Durch die andere Tür betrat man das Wohnzimmer, von dort aus ging es weiter in die Küche und ins Schlafzimmer. Im Wohnzimmer stand ein sogenannter Sägespäne-Ofen, der aussah wie ein großes Metallfass. In der Küche gab es einen gemauerten Herd mit Backofen, der mit Briketts und Eierkohle betrieben wurde, sowie ein Waschbecken mit Wasseranschluss. Jeden Samstag wurde eine kleine Zinkwanne in der Küche aufgestellt. Das Badewasser wurde auf dem Küchenofen erhitzt und mit kaltem Wasser in der Wanne vermischt. Erst setzte sich Mutter in die Wanne, dann kamen wir Kinder an die Reihe. Nach dem Haarewaschen mussten wir aufstehen und wurden mit Wasser begossen, um den Schaum abzuspülen.

Danach gab es Abendbrot und dann durften wir im Fernsehen die aktuelle Schaubude mit ansehen. Für jeden machte meine Mutter einen Teller mit einzelnen Schokoladenstückchen und Keksen zurecht. Süßigkeitenentzug war eine der Strafen. Das führte einmal dazu, dass wir Kinder, allein zuhause, Bonbons selbst herstellen wollten. In einem Topf haben wir Butter zerlassen, Zucker zugefügt, gerührt, die klebrige Masse in kaltes Wasser gekippt und abgekühlt – und fertig waren unsere wunderbaren Karamellbonbons. Aber dafür, für die eigene Arbeit, gab es Schimpfe, denn Topf, Herd und Kochlöffel hatten wir hinterher natürlich nicht sauber bekommen.

Die Latrine

Mehrere Baracken teilten sich eine Latrinenanlage, die etwa 50 Meter entfernt war, ein langer Schuppen mit zehn Eingängen auf jeder Seite. Die etwas älteren Kinder wurden angehalten, diese Latrine zu benutzen. Sie hat bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Die Latrine war für mich das Schlimmste überhaupt im Lager. Allein der Gang dorthin löste Horrorfantasien aus: Falle ich da mal rein? Zieht mich da mal einer runter? Es war einfach nur schrecklich. Sobald man die Latrinentür geöffnet hatte, musste man in das große Donnerbalken-Öffnungsloch schauen. Kaum saß ich auf dem Balken, durchlief mich ein schauerliches Gefühl: Was da unten wohl alles drinnen ist? Was da drunten wohl lebt? Es gab keine Klodeckel, keine Wasserspülung, stattdessen penetranter Chlorgestank, der mich veranlasste, diesen schrecklichen Ort ganz, ganz schnell wieder zu verlassen. Die Hose konnte ich mir ja auch vor der Tür wieder hochziehen.

Schule und Freizeit

In Watenstedt-Salzgitter wurde 1952, dem Jahr meiner Einschulung, außerhalb des Lagers eine neue Schule eröffnet. Von dem neuen riesigen Gebäude gelangten wir durch einen Verbindungsbau zur angeschlossenen Sporthalle. Der Sportunterricht wurde damals sehr wichtig genommen, diese Stunden wurden immer gehalten. Im Verbindungsbau befanden sich moderne Umkleideräume und Duschanlagen. Es war herrlich, nach dem Sport dort mit warmem Wasser zu duschen. Für uns Kinder war es die einzige Duschmöglichkeit im gesamten Lager.

Wir hatten einige recht strenge Lehrer, meist ehemalige Soldaten. Sie benutzten teilweise noch den Rohrstock. Und zuhause hatten wir meist strenge Eltern. Mein Vater arbeitete im Dreischichtbetrieb im Kraftwerk, war also kaum daheim, auch am Wochenende nicht. Meine Mutter arbeitete als Sekretärin. Sie ging morgens zur Arbeit und kam erst am späten Nachmittag zurück. Wir Kinder waren ab Mittag wieder zuhause, eine Nachbarin kochte uns das Mittagessen, danach waren wir uns selbst überlassen. So taten wir uns an den langen Nachmittagen ohne elterliche Aufsicht in Jugendcliquen zusammen.

Schnee und Sonnenstrahlen im Lager

Weihnachten mit Eltern und Großeltern

In jedem Lagerbereich gab es Jugendbanden, die hierarchisch gegliedert waren und jeweils einen Häuptling hatten. Hier galten eigene Regeln. Unsere Nachmittage waren spannend, wir hatten sehr viel Spaß. Die kleineren Verletzungen und Abschürfungen, die bei unseren Raufereien entstanden, nahmen wir in Kauf. Wir klauten um die Wette die besten Bonbons im Lebensmittelgeschäft. Anschließend wurden die Süßigkeiten genau gezählt und gleichmäßig auf alle verteilt. Wir klauten Schrott beim Schrotthändler und brachten, was wir erbeutet hatten, durch das Eingangstor auf der anderen Seite des Platzes zum selben Schrotthändler zurück. Er wog es auf seiner Schrott-Waage und wir kassierten ein paar Groschen dafür. Wir spielten Cowboy und Indianer gegen jeweils andere Banden, machten Streifzüge durch die alten Bunkeranlagen und Tunnelsysteme, suchten nach Waffen und Munition, die überall zu finden waren, und hatten in den Sommermonaten eine gute Zeit in den alten Kiesgruben.

Besonders beliebt bei allen Jugendbanden war der eigene Tabakanbau, oder wir vermischten den Tabak aus den überall aufgesammelten Kippen zu neuen Mischungen, die wir in Papier drehten oder in Indianerpfeifen rauchten. Das Rauchen gehörte in allen Cliquen immer dazu, erst dann war man ein ordentliches Mitglied. Auf der kleinen Gartenfläche, die zu den Baracken gehörte, wurde auch Mohn angebaut und wir waren darauf spezialisiert, die fremden Mohnkapseln zu ergattern, obwohl die Pflanzen streng bewacht wurden. Für mich waren dies die schmackhaftesten Beutestücke und ein bestimmter Mohnkuchen ist noch heute mein Lieblingskuchen. An den ersten sexuellen Kontakten beim Indianerspiel in selbst gebauten Zelten waren überwiegend Mädchen aus den höheren Klassen beteiligt. Ich erinnere mich an eine Karin, die vielen aus unserer Clique die Unschuld geraubt hat.

Der Untermieter

Irgendwann nahmen meine Eltern einen Untermieter zuhause auf, der im Wohnzimmer auf einer Klappcouch schlief. Er war Streifenpolizist und hatte einen Schäferhund, der Asta hieß. Mit dem Polizeihund an der Leine bei unserer schwächeren Clique aufzutauchen, wertete diese ungeheuer auf, wir waren dadurch zumindest gleichrangig. Nun mussten die anderen ihre Vormachtstellung beweisen und uns vertreiben. Mein Hinweis „Ich hole Asta“ genügte, uns Respekt zu verschaffen und die Fronten zu klären.

Klaus hieß der Polizist, von ihm bekam ich öfter eine Abreibung, zweimal wohl mit Zustimmung der Eltern. Er besaß das größte Motorrad im Lager, eine Horex, die er am Abend auf einer kleinen Wiese vor unserer Baracke aufgebockt abstellte. Für unsere Clique war das natürlich toll. Ich saß vorne auf der Horex und lud jeweils einen anderen Jungen zum Mitfahren ein. Wir fuhren und fuhren um die Welt. Es dauerte nicht lange und unser Untermieter rief mir von der Baracke her zu: „Macht, dass ihr da runterkommt. Wenn die Maschine umkippt, könnt ihr euch verletzen. Die Horex ist schwer.“ Wir fuhren natürlich weiter durch die Welt – brumm, brumm, ein super Motorklang, wenn auch nur in unseren Köpfen. Auch wenn er „Runter von der Maschine!“ brüllte, fuhren wir weiter, wir kannten doch noch lange nicht die ganze große weite Welt. An den Abend dachte ich dabei nicht. Da gab es dann die erste schmerzhafte Abreibung.

Klaus, der Polizist, öffnete jeden Abend nach Dienstschluss sein Koppel und seine Pistolentasche, zerlegte die Pistole in ihre Einzelteile, wickelte diese in ein Tuch und verstaute sie in seiner Aktentasche, die mit einem Zahlenschloss gesichert war. Eines Abends gingen die Eltern mit Klaus zu einer Geburtstagsfeier. Während mein Bruder Ralf in dem Aquarium, das der Untermieter liebevoll pflegte, nach Fischen angelte, versuchte ich, alle Einzelteile aus der Aktentasche herauszubekommen und die Pistole zusammenzusetzen. Das gelang mir auch, und nun wollte ich ausprobieren, ob sie tatsächlich funktionierte. Unsere Haustür hatte im unteren Bereich einen Briefschlitz mit Klappe. Mit einer Hand hielt ich die Klappe hoch, mit der anderen steckte ich die Pistole quer durch den Schlitz und drückte ab. Es gab einen höllischen Knall. Mir kam es vor, als hätte ich mir in die Hosen gemacht. Schnell baute ich die Pistole wieder auseinander und verstaute die Teile in der Aktentasche. Ralf hatte es inzwischen geschafft, einige Fische aus dem Aquarium zu angeln und in ein daneben stehendes Gefäß zu setzen.

Fürs Angeln gab es Krach und Schimpfe, fürs Schießen wurde mir so richtig der Hintern versohlt, und beide bekamen wir Stubenarrest. Dieser Arrest war allerdings keine schlimme Strafe für uns Kinder, denn er galt nur, wenn die Eltern zuhause waren. Waren wir uns selbst überlassen, fanden wir immer Mittel und Wege, unser Cliquenleben draußen weiterzuführen.

Erste Information über meinen leiblichen Vater

Als ich dreizehn Jahre alt war, trennte sich meine Mutter von meinem Vater und ließ uns allein im Lager zurück. Ich vermutete, dass er, der frühere „Tapferkeitsoffizier“, ihr Gewalt angetan hatte. Sie zog nach Hannover, wo sie als Chefsekretärin bei der AEG beschäftigt war. Ihr Weggang verletzte mich sehr, ich kam mir verlassen vor und vermisste sie jetzt besonders, denn eine liebevolle Beziehung zum Vater hatte ich nie gehabt. Im Lager blieb ich mit meinem Bruder allein zurück, meine Schwester zog zu unserer Großmutter Anna Gregori. Für eine kurze Zeit versorgte uns eine Haushälterin, wenn der Vater zur Schicht war. Ich durfte einen zugelaufenen Hund behalten und zu Hause aufnehmen.