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West-Berlin, Winter 1983. Die beiden 18-jährigen Freunde Rainer und Ludwig langweilen sich in Rainers kalten Einzimmerwohnung in Kreuzberg und beschließen in eine Diskothek zu fahren. Dort lernen sie die zwei Kunststudentinnen Steffi und Nicole kennen, die sie in derselben Nacht einladen, an einem Kunstprojekt auf den Straßen Berlins teilzunehmen. Als eines der Mädchen während der Aufnahmen kurz auf die Toilette geht, versucht ein Unbekannter, sich an ihr zu vergehen. Das ist der Anfang vieler Verwirrungen, in deren Verlauf ihre hedonistische Welt ins Wanken gerät. Irgendwann weiß niemand mehr, wer gut und wer böse ist.
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Seitenzahl: 583
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Armin Achtmann
Das ist nicht das Rohe vom Ei
Ein Roman
1. Auflage 2024
Copyright © 2024 by Armin Achtmann
Armin Achtmann
Wallgasse 14
35510 Butzbach
Ich freue mich über Anregungen, Kritik und Austausch unter:
Korrektorat: Irmingard Becker-Kochen
Coveridee und Gestaltung: Armin Achtmann und Elma Ferchland
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors.
ISBN 978-3-9826011-1-3
Die Handlung ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Markennamen sowie Warenzeichen, die in diesem Buch verwendet werden, sind Eigentum ihrer rechtmäßigen Eigentümer.
Inhaltsverzeichnis
1. Der Anfang
2. Disco
3. Die Anzeige
4. Smog
5. Im Park
6. Transit
7. Haus am Meer
8. Parfüm
9. Iserlohn
10. Hausmeister
11. Träumereien
12. Wannsee
13. Alte Liebe
14. Geburtstag
15. Bei Emma
16. Schwesternwohnheim
17. Kottbusser Tor
18. Der Plan
19. Und weg waren sie
20. Das Hauptquartier
21. Die Venusfalle
22. Bei Marcus
23. Blutspenden
24. Tomaso
25. Mit dem Dampfer auf dem Landwehrkanal
26. Der Streit
27. Bonnies Ranch
28. Ein Strauß Blumen
29. Auf dem Weg
30. Veränderungen
31. Der Verräter
32. Als der Regen kam
1. Der Anfang
Es war früher Nachmittag an einem kalten Wintertag im Januar 1983, und es war einer von diesen Tagen in Berlin, an denen man nicht nur nicht das Haus verlassen will, sondern am liebsten auch nur im Bett bleiben möchte. Unglücklicherweise hatte ich mich gerade wieder mal mit meiner Freundin Simone gestritten, musste ihre Wohnung, in der wir zusammen lebten, fluchtartig verlassen und nun stand ich hier, auf der Einfahrt des Nachbargrundstücks der Reichenberger Straße 157 in Kreuzberg, und schrie mir die Lunge aus dem Hals.
»Rainer!«
Nichts. Ich wartete einen Moment und rief dann noch einmal.
»Rainer!«
Wieder keine Antwort. Na super, dachte ich mir. Jetzt kann ich wieder über diese widerlich hohe Mauer klettern und mir die Klamotten dreckig machen oder in der Schweinekälte warten, bis einer der Nachbarn nach Hause kommt, um die Hoftür aufzuschließen. Denn mein Problem war nur ins Haus zu kommen, da ich wusste, wie man Rainers Tür, die noch ein steinaltes Schnappschloss hatte, mit einer bestimmten Fingertechnik, auch ohne Schlüssel, aufbekommen konnte und ich dann auf ihn in seiner Wohnung warten könnte oder vielleicht lag er nur wieder völlig besoffen im Bett und schlief seinen Rausch aus. Obwohl wir beide erst achtzehn Jahre alt waren, hatte Rainer schon einen leichten Hang zum übermäßigen Bierkonsum. Ich entschied mich, erst mal eine zu rauchen und auf Zeit zu spielen.
Während ich da so vor dem Eingangstor stand, an meiner Zigarette zog, schlunzte ein ganzes Rudel von Punks an mir vorbei und dann fiel es mir wieder ein, wie ich damals Rainer kennengelernt hatte.
Das war im Oktober 1980 und das neue Jahrzehnt hatte sehr turbulent und mit vielen Konfliktherden auf nahezu allen Kontinenten der alten Mutter Erde begonnen.
Maggie Thatcher stritt sich aufs Heftigste mit den Gewerkschaften und regierte mit eiserner Hand in Großbritannien, die Russen waren mal eben in Afghanistan einmarschiert und die Amis hatten gerade einen alten, abgehalfterten Wildwest Darsteller zu ihrem Präsidenten gewählt. Die ganze Welt stolperte von einer Krise in die Nächste und unter der Jugend machte sich Mut- und Ratlosigkeit breit. Es verging kaum ein Tag, an dem nicht irgendwelche Schreckensnachrichten in den Medien die Runde machten.
Hatte die Studentengeneration der 68er, erst in den Hörsälen und dann später bei den Demonstrationen auf den Straßen West-Berlins, noch davon geträumt, eine Revolution zu beginnen und die Gesellschaft zu verändern, so hatte sich doch in den letzten Jahren, nachdem sich nicht wirklich viel an den herrschenden Zuständen getan hatte, viel Frust und Resignation aufgebaut, denn die allgemeine Situation in der Mauerstadt verschlechterte sich ständig, ja sogar fast täglich.
Es schien so, als würde die Zukunft wegen mangelnder Teilnehmerzahl abgesagt werden.
Jeder suchte sich irgendwo auf dieser Eisscholle eine Nische, eine Ecke, einen Zufluchtsort, in der man dem tristen Alltag entkommen konnte und auch den endlosen, zermürbenden politischen Diskussionen, bei denen es meistens doch nur darum ging, warum denn alles nun so scheiße wäre.
So gab es Teds, Punks, Rocker und viele weitere Lager Gleichgesinnter, die sich über die Musik und den Kleidungsstil definierten, aber auch Hippies und Ökos. Ein jeder war dem anderen spinnefeind, konnte die anders Aussehenden alle nicht ausstehen und ständig bekriegte man sich. Ganz schlecht dran waren die Hippies, die von fast allen auf die Fresse bekamen, wenn sie sich zur falschen Zeit am falschen Ort aufhielten und die Skinheads, die der Beweis waren, dass es eine Sackgasse der menschlichen Evolution gab, taten sich besonders hervor. Die scheinbar bürgerliche Ordnung wurde immer mehr durcheinandergebracht.
Die Lage in den verfeindeten Gruppen spitzte sich immer weiter zu und eine gewalttätige Auseinandersetzung war nur noch eine Frage der Zeit.
So kam es dann, wie es kommen musste, was sich sowieso schon seit langem angebahnt hatte: Zu der "Schlacht am Hermannplatz" in Neukölln im Oktober 1980, so wie man sie ganz im populistischen Sinne in der Berliner Boulevardpresse des Axel Springer Verlages mit ihrer martialischen Rhetorik konterkarierte, als bei einem Konzert der sogenannten Popper, die sich modisch in grellen Farben und Karottenhosen kleideten und gerne elektronische Musik hörten, zu der man tanzen konnte, sich in einer Diskothek in der Hasenheide trafen, hielten die selbsternannten Retter des guten Geschmacks, nämlich die Punker und Rocker, es für nötig, dies verhindern zu müssen.
Es kam zwischen den rivalisierenden Fraktionen zu einer Straßenschlacht, wie sie die Stadt schon lange nicht mehr erlebt hatte.
Das Ganze lief aus dem Ruder und die Polizei musste einschreiten, in deren Folge viele Schaufensterscheiben der umliegenden Geschäfte zu Bruch gingen. Schilder und Knüppel wurden gegen jeden und alles eingesetzt, was wiederum dazu führte, dass die Polizisten mit Steinen beworfen wurden. Man könnte also fast sagen, dass dies ein ganz normaler Tag im Berliner Großstadtdschungel war, denn irgendwo war immer was los und man bekam mit seiner täglichen Dosis der Gewalt einen kleinen Vorgeschmack auf die Endzeitstimmung, die sich immer mehr breitmachte.
Allerdings waren die Brutalität und Härte, mit der man diesmal aufeinander losging, neu und irgendwie auch ziemlich irritierend.
Zumindest für uns, denn eigentlich wollte ich mit einem Freund aus meiner Schule nur zu dem Konzert, tanzen und ein bisschen Spaß haben. Wir waren auch keine richtigen Popper, nur ein bisschen modisch gekleidet, aber das war in dem Moment egal, denn auf einmal befanden wir uns, wie aus heiterem Himmel, mitten im Getümmel und da wir keinen Bock auf den ganzen Klamauk und auf diese folkloristische Aufführung hatten, die es in Berlin leider immer häufiger gab, wenn sich Punks, Rocker und Hausbesetzer, teils unerbittliche Kämpfe mit den Ordnungshütern lieferten, schlugen wir uns in eine der vielen Seitenstraßen, in der Hoffnung, ungeschoren und mit heiler Haut, das Weite suchen zu können.
Weit gefehlt. Die Taktik der Punks war es gewesen, sich in Splittergruppen aufzuteilen, vagabundierend durch die Straßen zu ziehen und dabei alles kurz und klein zu hauen, was ihnen in die Quere kam.
Wir hatten uns vielleicht schon einhundert Meter vom Ort des Straßentumultes, zu dem sich das Ganze bereits ausgeweitet hatte, in der die Polizei sogar Wasserwerfer und Schlagstöcke einsetzte, entfernen können, als auf einmal eine Rotte von Punks vor uns stand, und mich und meinen Freund, als Popperschweine beschimpfte und abseits des Geschehens in die Mangel nehmen wollten, was aufgrund der zahlenmäßigen Überzahl unser Antipoden, die Knüppel und Steine in ihren Händen hielten, nicht so aussah, als würden sie uns zu einem Milchmixgetränk einladen oder wie die alten Indianer eine Friedenspfeife mit uns rauchen.
Gerade als es so schien, dass unser letztes Stündlein geschlagen hätte und sich nur die Frage stellte, wer als erster von uns Dilettanten die Hucke voll gehauen bekommen würde, tauchten urplötzlich und völlig unverhofft zwei Typen, die wie wir gekleidet waren und einen ähnlichen Haarschnitt trugen, aus dem Nichts auf und vermöbelten nach allen Regeln der Kunst die ersten 3 Punks, die sich ihnen in den Weg stellten, woraufhin die anderen feigen Hyänen die Flucht ergriffen.
Die Aktion fand ein würdiges und gutes Ende für uns, denn wir ließen es uns nicht nehmen, den auf dem Boden liegenden Punks noch ein paar gezielte Fausthiebe zu versetzen und sie dann mit kräftigen Arschtritten davonzujagen. Sicherlich reichte dieses leicht unsportliche Verhalten nicht dafür aus, um in die engere Auswahl für eine Fairplay Auszeichnung zu kommen, aber die Luft auf Neuköllns und Kreuzbergs Straßen war sehr eisig und die untereinander verfeindeten Gruppierungen kannten kein Pardon.
Wir rannten dann alle schnell noch einige Straßen weiter, denn die Schwachmaten mit ihren zerrissenen Lederjacken würden höchstwahrscheinlich alsbald zurückkommen, nur diesmal mit Verstärkung und sicherlich bis an die Zähne bewaffnet.
Völlig außer Atem drängten wir uns in eine dieser typischen Berliner Eckkneipen und wir merkten erst dann, dass wir, aufgrund des abrupten Anstieges unseres Adrenalinspiegels, bis dahin noch überhaupt kein Wort miteinander gesprochen hatten.
»Danke, dass ihr uns geholfen habt. Das war knapp. Ohne euch hätten die uns platt gemacht. Ihr habt uns echt den Arsch gerettet«, sagte ich keuchend zu den beiden. »Übrigens heiße ich Ludwig und das ist mein Freund Fred«, fügte ich noch hinzu und streckte ihnen die Hand aus.
»Ich bin Andreas, aber alle nennen mich Katschi«, sagte der eine.
»Und ich bin Rainer«, sagte sein Kumpel.
Zum Dank luden wir sie ein, bestellten für uns zwei Cola, aber Rainer nahm ein großes Bier und Katschi sogar einen Futschi und meinte, dass wäre das Neuköllner Nationalgetränk und man würde auch schon mal nur eine Pinzette voll mit Coca-Cola in den Weinbrand tun. Dann beschlagnahmte Katschi gleich einen Geldspielautomaten und war dabei so geschickt, dass er so viel aus der Kiste rausholte, um uns eine Runde zu spendieren. Wir blieben bei der Cola, aber Rainer und Katschi hielten sich am Alkohol schadlos.
Das war jetzt etwas über 2 Jahre her. Rainer und ich wurden beste Freunde und wir wohnten nur einige hundert Meter, lediglich getrennt durch den Landwehrkanal, auseinander.
Rainer war eigentlich ein echter Neuköllner, im dortigen Neuköllner Krankenhaus geboren, und die ersten Lebensjahre verbrachte er im Herzen des alten Neuköllns, in Rixdorf. Dort wohnte er in recht einfachen Verhältnissen in einer kleinen drei Zimmer Wohnung mit seinen Eltern und seiner älteren Schwester, mit der er sich ein Zimmer teilen musste. Sein Interesse an den staatlichen Lehranstalten war von Anfang an nie sonderlich groß und was die Lehrer betraf, beruhte es auf gegenseitiger Ablehnung, da Rainer schon in jungen Jahren recht groß und kräftig war und die Autorität der Pauker mehr als einmal in Frage gestellt hatte. Lediglich im Kunstunterricht konnte man ein beachtliches Talent und Leidenschaft für das Malen und Zeichnen erkennen, was aber seitens der Schule nicht weiter gefördert wurde.
Während seiner gesamten Schulzeit war er immer eine Art von Außenseiter und Unruhestifter, dem man besser in hohem Bogen ausweichen sollte, um nicht unnötig in Schwierigkeiten zu geraten, denn, hätte er damals im Wilden Westen gelebt, dann wäre sein Wahlspruch sicherlich gewesen: Erst hängen, dann fragen. So verließ er mit einem Hauptschulabschluss in der Tasche, den er gerade noch so geschafft hatte, die Schule und weinte ihr auch keine Träne nach.
Er dachte nun in seiner jugendlichen Naivität, dass für ihn ein Leben in grenzenloser Freiheit beginnen würde, mit einem tollen Job und leicht verdientem Geld, aber der Zahn wurde ihm durch den harten Aufprall in der Realität schnell gezogen. Die Sorglosigkeit wurde ihm vehement genommen und die Zukunftsangst nahm in gleichem Maße zu.
Ausgerechnet in einer Zeit anhaltender rezessiver Konjunktur drängten die geburtenstarken Jahrgänge der sechziger Jahre auf den Arbeitsmarkt und als Folge war jeder fünfte Jugendliche arbeitslos.
Irgendwann wusste er gar nicht mehr, wie viele Bewerbungen zur Ausbildung als Maler und Lackierer er schon geschrieben hatte, aber es hagelte Absagen, und zwar eine nach der anderen.
Eigentlich hatte er immer seinen Vater bewundert, der in den 50er Jahren, als er im gleichen Alter wie sein Sprössling jetzt war, zu den Teds gehörte, eine, wie Rainer fand, hammerharte Haartolle hatte, und immer Rock´n´Roll von Elvis Presley und Chuck Berry gehört hatte. Nur jetzt war er nicht mehr ganz so cool, da er partout nicht verstehen konnte, warum sein Sohn keine Arbeit finden konnte oder vielleicht gar nicht wollte und die Spannungen in der Familie nahmen immer mehr zu, was sich manchmal in lautstarken Diskussionen entlud, die aber immer ergebnislos blieben und die Gräben zwischen beiden Parteien immer weiter aufrissen.
Als Folge dessen entwickelte Rainer gewisse Rückzugstendenzen hinsichtlich eines neuen kulturellen Umfeldes, um sich von seinen Eltern und der prekären Situation, in der er sich momentan befand, abzugrenzen.
Da kam ihm die aufkommende Bewegung der Popper gerade recht, in der er sich anfänglich sehr wohl fühlte und auch mit seiner offenen Art gut ankam, obwohl sein Berliner Dialekt stark ausgeprägt war, denn aus ihm nicht ganz ersichtlichen Gründen, versuchten alle, mehr oder weniger gekünstelt, Hochdeutsch zu sprechen.
Allerdings merkte er nach einiger Zeit, dass sich diese Füllhornillusion der Großtuer und Aufschneider, die immer neue, teure Klamotten trugen und genug monetäre Möglichkeiten für die unnützen Dinge des Lebens hatten, die sich unter der Woche in den angesagten Szene Cafés trafen und am Wochenende von einer Party zur nächsten hüpften, nicht seine Welt war. Im Gegensatz zu den anderen, die zum größten Teil aus der Mittel- oder Oberschicht kamen und für die Geld nur eine untergeordnete Rolle spielte, da ja immer mehr als genug vorhanden war, und wenn es dann doch mal ausging, holten sie einfach schnell frisches von Papa, hatte Rainer immer nur einen schmalen Taler auf der Tasche. Irgendwann wurde es ihm auch zu oberflächlich, dieses Ganze bewusst unpolitische, konformistische Denken, in dem es doch nur um Konsum ging, der bis ins Absurde zelebriert wurde, man nur verächtlich auf die anderen Jugendlichen herabsah und sich für was Besseres hielt.
Nein, das war sein Ding nicht mehr. Als er sechzehn war, fand er das alles ganz toll, aber mittlerweile kotzte ihn diese alberne „Sehen und gesehen werden“ Inszenierung nur noch an.
Er war nun mal ein Arbeiterkind und da biss die Maus keinen Faden ab. Seit frühester Jugend musste er sich schon sein eigenes Geld verdienen, wenn er sich mal etwas Schönes kaufen wollte, denn mit dem spärlichen Gehalt seines Vaters und dem kleinen Zubrot, welches sich seine Mutter mit putzen dazuverdient hatte, kamen sie immer gerade so über die Runden und bisweilen waren sie so knapp bei Kasse, dass der Monat schon mal am 23. oder 25. zu Ende sein konnte. In diesen Fällen mussten sie immer im Tante-Emma-Laden um die Ecke, von denen es im tiefsten Neukölln noch einige gab, anschreiben und wenn dies mal nicht mehr möglich war, weil die Schulden vom Vormonat noch nicht beglichen worden waren, wurde auch schon mal von Rainer in den Supermärkten, die etwas weiter weg lagen oder in den Kellern der Nachbarhäuser, in denen sich immer ein noch volles Einmachglas finden ließ, etwas für Mutters Suppentopf organisiert.
Seit seinem vierzehnten Lebensjahr hatte er immer die sechswöchigen Sommerferien auf dem Bau gearbeitet und alle möglichen Hilfsarbeiten verrichtet. Das dort verdiente Geld musste er zum größten Teil zu Hause abgeben, um die Haushaltskasse aufzubessern, in der ja bekanntlich immer Ebbe war und die paar Kröten, die ihm seine Eltern ließen, reichten kaum für Bier und Zigaretten, denn das war einer dieser unliebsamen Nebeneffekte des Bauarbeiter Daseins, dass die nämlich wie die Don Kosaken soffen und auch wie die Schlote aus dem tiefsten Ruhrgebiet rauchten.
Rainer, der natürlich dazu gehören wollte, wurde anfänglich von den Polieren und Vorarbeitern immer an den Kiosk geschickt, um Nachschub zu holen, denn auf der einen Seite war er der Jüngste, und die mussten immer daran glauben, auf der anderen, dachten sie, dass er auf dem Weg nicht schon die ersten Biere weg saufen und die Zigarettenschachteln ungeöffnet das Ziel erreichen würden, aber da hatten sich die anderen gewaltig geirrt. Allzu lange konnte Rainer der Versuchung nicht widerstehen und steckte sich bereits nach wenigen Tagen die erste Fluppe an, was anfänglich seiner Gesundheit, und im Besonderen seiner Lunge, nicht sonderlich gefiel, jedoch nach ein paar Tagen hatte er sich bereits daran gewöhnt und die Schlagzahl wurde stetig erhöht, bis er am Ende des Sommers bei einer Schachtel am Tag angelangt war, was dann auch konsequent gehalten wurde. Mit dem Bier hatte er weniger Schwierigkeiten, denn das erste Mal richtig besoffen war er schon mit dreizehn, was ihm aber auch eine ordentliche Tracht Prügel seines Vaters eingebracht hatte, als er, voll wie eine Strandhaubitze, nach Hause kam und obendrein den ganzen Hausflur vollgekotzt hatte. Nur genützt hatte es nicht viel, denn er hatte Blut geleckt und die germanische Gerstensaftkaltschale wurde bald ein Grundnahrungsmittel für ihn und irgendwie auch Vehikel der Kommunikation.
Eine weitere, eher unerwünschte, Begleiterscheinung des frühen Geldverdienens war die Tatsache, dass er sich allzu schnell daran gewöhnt hatte, ein paar Moneten in der Tasche zu haben und, nachdem der Sommer vorbei war und die Schulpflicht rief, seine Einnahmequelle versiegte, nicht aber der Wunsch, seinen beiden neuen Lastern, dem des Rauchens und des Trinkens, zu frönen, kam er zwangsweise mit dem Gesetz in Konflikt, als er einmal bei passender Gelegenheit einem kleinen Jungen aus dem Nachbarhaus die Barschaft abnahm, nicht ohne ihn vorher mit einem kräftigen Schlag in die Magengrube gefügig gemacht zu haben, es aber am helllichten Tage getan hatte und er von einem zufällig vorbeikommenden Gossenmolch, so nannte man im Altberliner Jargon die Polizisten vielerorts, gestellt wurde.
Es war nur dem geschickten Taktieren seines Anwalts zu verdanken, dass er nicht vorbestraft wurde, weil er ja damals schon vierzehn Jahre alt war und es zum Glück nur bei einer Geldstrafe bzw. Androhung einer härteren Strafe im Wiederholungsfalle blieb.
Dies war ihm eine Lehre und er verlagerte fortan seine diesbezüglichen Aktivitäten auf die Abend- oder Nachtstunden, wenn es zum einen schon dunkel war und zum anderen sich weniger Leute auf der Straße herumtrieben, die ihn bei seinen gelegentlichen Überfällen beobachten konnten.
Das war aber alles Schnee von gestern und gefühlt eine halbe Ewigkeit her. Er war jetzt achtzehn Jahre alt, hatte gerade noch rechtzeitig die letzte Abfahrt auf den Pfad der Tugenden genommen, um nicht ins kriminelle Milieu abzurutschen und hatte seit bald einem Jahr einen Job als Mädchen für alles im Hotel Steigenberger, einer der besten und feinsten Adressen in Berlin, und obendrein in unmittelbarer Nähe des Ku´damms, was die Planung der nächtlichen Spaß- und Tanzaktivitäten erheblich erleichterte.
Das Einzige, was ihm noch als Erinnerungsstück seiner wilden Zeit blieb, war ein fehlender Schneidezahn, den er bei einer seiner vielen Schlägereien verloren hatte, ein Umstand, der seine Chancen bei den Frauen in keinster Weise beeinträchtigte, eher noch förderte, denn dieser Mut zur Zahnlücke machte ihn irgendwie ein bisschen verwegen.
Sein ganzer Stolz war aber seine erste eigene Wohnung im Herzen Kreuzbergs, die er kurz nach Erlangung der Volljährigkeit bezogen hatte, in der er nun sein eigener Herr war und tun und lassen konnte, was er wollte.
Rainer lebte in einer dieser typischen Kreuzberger Hinterhof Wohnungen, die nur aus einer kleinen Küche, in der sich auch eine Dusche befand, die er sich selbst eingebaut hatte, und einem relativ großen Zimmer bestand.
Die Toilette, die von mehreren Mietparteien benutzt wurde, befand sich eine halbe Treppe tiefer. Der Treppenaufgang, der wohl schon seit Jahrzehnten keinen Farbanstrich mehr bekommen hatte, in dem bereits teilweise der Putz von der Wand fiel, und auch sonst die 3 Treppen hoch zu seiner Wohnung waren eine echte Prüfung für das Riechorgan, denn der muffige Geruch des schimmligen Treppenhauses und der mit dem Odeur des Ammoniaks durchsetzten Außenklos konnten schon zu leichten Schwindelanfällen führen.
Die Wohnungstür, die auch nicht mehr ganz fabrikneu aussah, weil er sie einmal eintreten musste, denn er hatte seinen Schlüssel verloren oder vielleicht war er ihm auch wieder einmal im halbkomatösen Zustand in irgendeiner Kneipe aus der Tasche gefallen, war nur notdürftig mit einem Brett geflickt worden und wirkte mit seiner bunten Bemalung eher wie der Eingang zu einem Abenteuerspielplatz.
Überhaupt war Holz dominierend in Onkel Rainers Hütte. Direkt über dem Kachelofen hatte er sich ein Hochbett gebaut, mit Materialien, die in den umliegenden Hinterhöfen Kreuzbergs so herumlagen, beziehungsweise zeitweise unbeaufsichtigt waren.
Die Wände waren weiß gestrichen und neben der Wohnzimmertür hing ein fünfteiliger großer Spiegel, der den ganzen Raum ein bisschen heller und auch größer erschienen ließ.
Unterhalb des Hochbettes hatte er sich einen Schreibtisch gebaut, an dem er, wenn er nach einem langen Arbeitstag, oder einer langen Zechtour, nach Hause kam, saß und diese Momente der Inspiration nutzte, um zu zeichnen, bevor ihn dann die Müdigkeit oder der Rausch oder beides übermannten und er dann zum Pennen die Stufen ins Bett hochkraxelte.
Überall an den Wänden hingen von ihm gemalte Bilder und Zeichnungen. Die Couch, die in der einen Ecke stand, wurde von einer halb vertrockneten Palme flankiert, deren ausschließliche Flüssigkeitszufuhr aus kaltem Kaffee und schalem Bier bestand. Gelegentlich wurde noch, zu Zwecken der Düngung, eine Zigarette in ihr ausgedrückt.
Gegenüber der Couch stand das Prunkstück des ganzen Hauses, eine, für seine Verhältnisse, teure und exklusive Stereoanlage mit Plattenspieler und zwei von ihm selbstentworfenen und zusammengezimmerten Boxen, die in ihrer Pyramidenform wie zwei Sphynx-Katzen neben der Anlage thronten, und so laute, dröhnende Bässe hatte, dass man schon am Kottbusser Tor hören konnte, ob er zu Hause war oder nicht.
2. Disco
Es war Mittwochabend. Ich war bei Rainer und wir lümmelten auf seiner Couch herum und taten das, was wir immer taten, uns über diese Schweinekälte beschweren, weil sich Väterchen Frost für einen längeren Aufenthalt in unseren Breitengraden eingefunden hatte und er einfach keine Anstalten machte, sich wieder Richtung Osten zu verziehen.
Rainer hatte Neurodermitis, was sein Arzt mit dem Asthma in Verbindung gebracht hatte, das er schon als kleines Kind bekam und die kalte, feuchte Luft in seiner Wohnung war da eher kontraproduktiv. Ein riesiger Pott mit Creme, fast mit der Größe eines Farbeimers, stand bei ihm immer auf dem Tisch, denn er hatte die Neurodermitis mal ein bisschen stärker, mal ein bisschen schwächer, aber er schämte sich immer für seine Schorfbuletten, wie er die Verkrustungen an seinen Händen und seinen Armbeugen nannte.
Wir begannen Pläne für die Gestaltung des Abends zu schmieden, um aus Rainers kalten Bude raus zukommen, denn er hatte nur einen alten Kachelofen, der die ganze Wohnung heizen musste und es dauerte ewig, bis er sich auf eine einigermaßen angenehme Temperatur erwärmt hatte, die Fenster waren nur einfach verglast und zu allem Überfluss hatte eines der Küchenfenster ein Tennisball großes Loch, durch das der kalte Wind reinpfiff.
Die Frage, die sich uns fast täglich stellte, war die, ob wir unser spärliches Geld besser für den Erwerb von Briketts beim Kohlenhändler um die Ecke verwenden sollten, um den Kachelofen in Rainers Wohnung entsprechend seiner Bestimmung zu nutzen, oder die Nacht in einer Kneipe oder Diskothek zu verbringen und das Geld, oder die Kohle, wenn man so will, Spaß bringend in Form von Bier zu investieren.
Die Entscheidung fiel uns nicht schwer und so fuhren wir mit der Linie 1 vom Kottbusser Tor bis Zoologischer Garten und liefen dann die Budapester Straße runter bis zum Bikini Haus, welches sich direkt hinter dem Berliner Zoo befand. Dort war unser Ziel, das Linientreu, das mittlerweile fast zu unserem Wohnzimmer geworden war, in dem genau die Musik gespielt wurde, die wir mochten und zu der wir tanzten. Vor allen Dingen aber war es dort warm.
Das „Treu“, wie es von allen nur liebevoll genannt wurde, war ein Ort, an dem sich die unterschiedlichsten Typen der Szene trafen und für jeden Musikgeschmack etwas dabei war. Der DJ, der immer in seiner Plattenkiste kramte und dabei ein Bier nach dem anderen wegzog und ab und zu kurz auf der Toilette verschwand, schaffte es immer, die ganze Nacht genau die Mucke zu spielen, die die Leute der verschiedensten Fraktionen der Berliner Nachtschwärmer auf die Tanzfläche trieb, die sich genau in der Mitte der Diskothek befand und, mit silberfarbenen Metallplatten ausgelegt, den Effekt der Laser- und Lichtmaschinen durch die Reflexion noch verstärkte. Dem Kolosseum in Rom gleich, waren die Sitzmöglichkeiten in verschiedenen Ebenen um die Tanzfläche angeordnet, von denen man einen guten Überblick auf das hatte, was da vor einem passierte, und um auch rasch, bei einer den Gehörgängen angenehmen musikalischen Vertonung, auf das Parkett zu gelangen und das Tanzbein zu schwingen.
Viel war aber diesmal nicht los. Es gab diese Abende, an denen anscheinend keine Sau rausging und alle zu Hause blieben, oder sich in anderen Läden herumtrieben. Keiner, oder noch schlimmer, keine, die man kannte, war in der Menge auszumachen und so pendelten wir über mehrere Stunden zwischen der Tanzfläche, den Sitzen und der Bar hin und her, ohne dass wirklich etwas außer der Reihe passierte. Rainer, als einer der wenigen überhaupt, konnte an der Bar anschreiben, weil er einmal dem Barkeeper geholfen hatte, als dieser von einem volltrunkenen Gast angegriffen wurde und, bevor die Rausschmeißer da waren, er den Agitator bereits kampfunfähig gemacht hatte.
Der Abend schien sich eigentlich schon langsam dem Ende zuneigen, wir hatten uns gerade nach dem Tanzen wieder hingesetzt, unsere Barschaft war auch schon so gut wie aufgebraucht und wir wollten unseren Deckel beim Barmann nicht noch größer werden lassen, als ich plötzlich von einem Mädchen, das uns schon eine ganze Weile beobachtet hatte, angesprochen wurde.
»Dürfen wir euch zu etwas zu trinken einladen?«, fragte sie mit leicht unsicherer Stimme, die, wie ich sofort erkannte, nicht aus Berlin stammen würde und einen eher süddeutschen Klang hatte.
»Natürlich«, antwortete ich, »da sagen wir auf keinen Fall nein, aber was meinst du denn mit „Wir“?«
»Schön, da drüben ist meine Freundin. Das meinte ich mit „Wir“. Kommt doch mit rüber und dann trinken wir etwas an der Bar.«
Okay, dachte ich mir, dass ist jetzt bestimmt wieder die Nummer mit der Freundin, die meinen Kumpel Rainer ganz toll findet, sich aber nicht traut, ihn direkt anzusprechen und dann wiederum ihre Freundin vorschickt, die mich anquatscht, damit wir auf diese Art ins Gespräch kommen.
Irgendwie sind die Mädels aber auch leicht zu durchschauen und auch ein bisschen einfallslos. Immer die gleiche Masche.
Wer weiß, wie das Ganze wieder ausgehen wird. Das Spielchen endet dann wahrscheinlich wieder einmal mit Stress ohne Ende und einer Flutwelle von Tränen, weil sie sich in ihn verliebt hat, er aber nur seinen animalischen Trieben nachgeht, nach ein paar Wochen der Liebelei das Interesse an ihr verliert und ich mir dann von allen Seiten anhören muss, was er doch für ein Schwein ist.
Egal, dachte ich mir, scheiß der Hund drauf. Jetzt gibt es erst mal ein Bier für Umme und danach sehen wir dann weiter.
Also gingen wir mit ihr rüber.
»Hallo«, sagte das Mädchen, welches an der Bar gegenüber gestanden hatte. Sie war recht groß, hatte schwarze, toupierte Haare und ein fast edel wirkendes Gesicht. »Ich heiße Nicole und das ist meine Freundin Stefanie, aber alle nennen sie Steffi. Wie heißt ihr denn?«, und die beiden Mädchen streckten uns die Hand, mit einem freundlichen Lächeln begleitet, zur Begrüßung entgegen.
»Ich bin Ludwig und das ist Rainer«, antwortete ich ein bisschen verwundert, denn diese Art des Kennenlernens und des Vorstellens war für uns Berliner Jungs eher unbekannt und man vermutete sowieso hinter jeder Freundlichkeit gleich irgendeine Heimtücke.
»Ah, Rainer«, sagte das Mädchen, das Nicole hieß, »schreibt man das mit a i oder mit e i?«
»Mit a i«, antwortete ihr Rainer, dem die Frage schon hundert Mal in seinem Leben gestellt worden war.
»Schön. Möchtet ihr was trinken?«, fragte sie.
»Bier wäre gut«, sagte Rainer und sie wandte sich zur Bedienung und bestellte zwei Bier für uns, die dann auch sogleich auf den Tresen gestellt und von ihr an uns weitergereicht wurden.
Wir prosteten den beiden Mädchen zu, die noch halbvolle Getränke hatten und wir stießen alle an.
»Nicht, dass ihr denkt, wir wollen euch abschleppen oder so was ähnliches«, fing Nicole, die gar nicht schüchtern wirkte, an zu erzählen, »aber wir hatten euch vorhin schon gesehen, als ihr kamt und eure langen Mäntel anhattet.«
»Lange Mäntel?«, fragte Rainer, »wieso das denn, was soll denn mit denen sein?«
»Na ja, wir studieren Kunst an der HDK und wir bräuchten zwei Jungs, die uns bei einem Projekt helfen könnten«, kam Nicole schnell auf den Punkt.
»Was?«, unterbrach sie Rainer, der aufgrund der Lautstärke nicht alles verstanden hatte, »Ihr arbeitet bei Edeka und was hat das mit langen Mänteln zu tun?«
»Nein, nein«, antwortete ihm Steffi, die kleinere und zierlichere der beiden, die aber nicht minder hübsch war.
»Wir arbeiten nicht bei Edeka, wir sind Kunststudentinnen an der Hochschule der Künste, also der HdK, und wir möchten für unsere Semesterarbeit, die wir als gemeinsames Projekt machen, welches so eine Mischung aus echten Fotos und gezeichneten Comic-Bildern sein soll, so was wie eine Horror Story mit Vampiren.«
»Wie jetzt?«, fragte ich überrascht. »Ihr wollt Fotos von uns machen und die dann für eine Geschichte verwenden?«
»Ja, genau. Das haben wir vor«, antwortete mir Nicole. »Hättet ihr Interesse, da mitzumachen? Geld können wir euch keins geben, aber wir würden euch dann mal auf eine Pizza einladen.«
»Na gut, das klingt nicht schlecht, aber wie stellt ihr euch das vor und was sollen wir da tun?« fragte ich die beiden Elfen.
»Wir müssten nur ein paar Fotos mit euch in euren Mänteln auf der Straße und in der Stiege eines Hauses machen. Vorher müssten wir euch ein bisschen schminken, damit es echt rüber kommt und dann müsst ihr nur noch ein wenig irre, so wie Boris Karloff oder Dracula, gucken. Das ist schon alles.«
Rainer, ganz verdattert:
»Stiege, wat is´n ditte? Das habe ich ja noch nie gehört.«
»Das Treppenhaus, so nennt man das auch«, sagte ihm Nicole, ohne dabei überheblich zu sein, ja sogar ganz natürlich wirkend.
»Habt ihr Lust darauf? Es ist zwar schon nach Mitternacht, aber hier ist doch sowieso nichts mehr los. Wir haben ein Auto und könnten zu uns fahren, dort gibt es Häuser, die dafür ideal sind. Es dauert auch nicht lange. Danach können wir euch nach Hause fahren, falls ihr weiter weg wohnt.«
»Wo wohnt ihr denn?«, fragte ich sie.
»Wir wohnen in Neukölln, in der Stuttgarter Straße«, antwortete Steffi.
»Neukölln? Na so ein Zufall. Das ist doch super. Ich wohne in der Pflügerstrasse am Kottbusser Damm und Rainer in der Reichenberger Straße, die ist auch nur noch ein kleines Stück weiter oben, allerdings ist das schon Kreuzberg. Das ist nur einen Steinwurf entfernt. Ja klar, dann lasst uns das machen. Hier ist heute irgendwie auch tote Hose. Was meinst du Rainer, fahren wir mit den Mädels mit, schießen schnell ein paar Fotos und auf dem nach Hause Weg nehmen wir in der Kneipe noch einen Absacker?«
»Sicher«, antwortete er, »lass uns hier vom Acker machen.«
»Gut«, sagte Nicole, »dann trinken wir aus und fahren los. Wir haben den Wagen ganz in der Nähe geparkt.«
Bevor wir dann von dannen zogen, kam es mir noch in den Sinn, die beiden zu fragen, woher sie kamen, denn ihr etwas merkwürdig anmutender Dialekt war mir irgendwie vertraut, von meinen Großeltern, die aus dem südlichen Baden-Württemberg stammten.
»Sagt mal, woher kommt ihr eigentlich? Nicht, dass wir euch nicht verstehen würden, aber für uns klingt das ein bisschen komisch. Ist das schwäbisch?«
»Ja, stimmt, wir kommen aus Böblingen, das ist in der Nähe von Stuttgart, und seit ein paar Monaten sind wir hier an der HdK eingeschrieben. Seitdem wohnen wir erst hier, vorher kannten wir Berlin gar nicht, nur vom Hörensagen«, erklärte mir Steffi.
»Das ist doch irgendwie lustig, ihr kommt sozusagen aus Stuttgart und wohnt jetzt in der Stuttgarter Straße, wie geil ist das denn. Das glaubt einem doch keiner. Solche Zufälle gibt es doch gar nicht.«
»Stimmt, irgendwie schon, hatte ich noch gar nicht so darüber nachgedacht«, sagte mir Steffi und dann konnte man ihre niedlichen Grübchen sehen, als sie lächelte.
Nachdem wir unsere Biere ausgetrunken hatten, verließen wir zu viert das Linientreu, liefen zu ihrem Auto und fuhren dann Richtung Neukölln. Auf der Fahrt erzählten uns die beiden leidenschaftlich von ihrer Liebe zur Kunst und warum sie unbedingt in Berlin studieren wollten, um aus diesem Mief des schwäbischen Spießbürgertums mit seiner „Schaffe, Schaffe, Häusle baue Mentalität“ raus zukommen.
Obwohl ich anfänglich, als sie uns angesprochen hatten, noch das Gefühl hatte, dass es vielleicht ein paar Verrückte oder Durchgeknallte wären, von denen es im Berliner Nachtleben nur allzu viele gab, und man ja praktisch jeden Augenblick mit einer bösen Überraschung rechnen musste, war es bei ihnen recht schnell klar, dass sie total normal und auch sehr neugierig waren.
Allerdings, dachte ich mir, war es ziemlich leichtsinnig, einfach zwei ihnen völlig unbekannte Typen anzusprechen und sie in ihrem Auto mitzunehmen. Aber vielleicht tickten ja die Uhren im Wessi Land anders und die Menschen waren vertrauensvoller, was mal eine nette Abwechslung wäre und sicherlich auch entspannter, zu der Habachtstellung und dem „gleich wird wieder irgend etwas passieren, was dir den ganzen Tag bzw. die ganze Nacht versaut“, die man hier in West-Berlin schon mit der Muttermilch aufgesogen hat.
Dafür, dass die beiden Mädchen neu in der Stadt waren, fuhren sie ziemlich zügig und ohne Umwege durch die Straßen. Nach einer knappen halben Stunde kamen wir in dem Arbeiterbezirk Neukölln an und in diesem Teil West-Berlins gab es noch sehr viele dieser alten Gas-Straßenbeleuchtungen, die Anfang des letzten Jahrhunderts installiert worden waren. Diese Laternen waren sehr störungsanfällig und es kam schon mal vor, dass halbe Straßenzüge nachts im Dunkeln lagen, weil wieder mal eine, oder sogar mehrere, kaputt waren.
So war es auch in dieser Nacht und mittels des diffusen Lichtes der Gaslaternen, vermischt mit den Rauchschwaden der Kohleöfen der Anlieger, die sich wie eine geschichtete Wiener Sachertorte über den Gehweg gelegt hatten, herrschte eine gespenstische Atmosphäre, die eigentlich ideal für unser Unterfangen war.
»Was machen wir jetzt?«, fragte ich die Mädchen, als wir geparkt hatten und ausstiegen.
»Wir haben eine Spiegelreflexkamera im Auto und etwas Schminke haben wir auch dabei. Wenn das für euch in Ordnung ist, malen wir euch ein bisschen an und dann legen wir einfach los«, schlug uns Nicole vor.
Rainer nickte nur zustimmend und schon begannen sie uns die Gesichter weiß und die Augen schwarz zu schminken.
Nach ein paar geschickten Handbewegungen waren sie fertig und wir sahen uns unsere Visagen in dem Taschenspiegel an, den uns Steffi vorgehalten hatte.
»Mann sehen wir scheiße aus«, sagte Rainer, »wie echte Zombies aus einem Horrorfilm. Wenn jetzt eine alte Oma vorbeikäme, würde sie sofort tot umfallen vor Schreck.«
»Rainer, es ist 2 Uhr nachts und die sind hier doch alle schon vor ein paar Stunden vor dem Fernseher eingeschlafen. Kein normaler Mensch ist mehr um diese Uhrzeit auf der Straße«, sagte ich zu ihm.
»Okay, Jungs, lasst uns anfangen«, sagte Nicole. »Also stellt euch mal da hin.« Sie hielt mit dem Objektiv genau auf uns und knipste unentwegt. »Ja, so ist es gut, und jetzt bewegt euch ein bisschen nach links und lauft hier am Tor vorbei.« Wir taten einfach das, was sie uns sagte, liefen die Straße entlang. »Ja, super macht ihr das«, rief uns Nicole zu und das Klicken der Kamera hörte gar nicht mehr auf. »Und jetzt guckt mal ganz böse drein«, war das, was sie als nächstes zu uns sagte, und wir schauten so schändlich und zornig, wie wir nur konnten.
Man sah sofort, dass sie sich gut mit dem Fotografieren auskannte, und nach ein paar Minuten hatte sie eine Menge Fotos geschossen, als sie dann sagte:
»Da vorne ist ein offener Hauseingang mit einem ziemlich schäbigen Treppenaufgang und ich würde gerne noch da drinnen ein paar Fotos zum Abschluss machen. Leider sind die Batterien der Kamera fast leer. Ich geh mal kurz zu uns in die Wohnung und hole schnell neue.«
»Das brauchst du nicht«, meldete sich Steffi zu Wort. »Ich muss sowieso auf die Toilette und dann bringe ich mal eben welche mit. Es ist ja nur um die Ecke. Ihr könnt ja so lange eine rauchen. Dauert auch nicht lange.«
Gesagt, getan und schon bog sie um die Ecke und wir steckten uns eine Zigarette an, die wir dann so ein paar Minuten genüsslich vor uns hin rauchten.
»Ihr seid echt fotogen und macht das wirklich gut«, gab uns Nicole ein Kompliment, während wir von einem Fuß auf den anderen stapften, denn, wenn man sich nicht viel bewegte, merkte man schon die Kälte, die sich unerbittlich an den Händen und Beinen hochzog.
Gerade als ich die Kippe wegschnippte und mich bei ihr bedanken wollte, hörten wir, plötzlich und völlig unerwartet, ein lautes, schrilles Schreien, welches den dicken, breiigen Nebel der Nacht, wie ein heißes Messer die Butter, durchschnitt.
»Hilfe! Hilfe!« Und es war unverkennbar die Stimme von Steffi.
Wir zögerten nicht lange und liefen schnell in die Richtung, aus der wir die Stimme gehört hatten.
Als wir um die Ecke kamen, konnten wir schon Steffi mit einer anderen Person, die sie zu umklammern schien, am Eingang ihres Hauses sehen und sie schrie weiter:
»Hilfe! Lass mich los! Hilfe!«
Als wir uns dann, wild gestikulierend und laut rufend: »Lass sie in Ruhe, du Mistschwein!«, näherten, ließ der Typ von ihr ab und suchte das Weite. Rainer und ich rannten sofort hinter ihm her, jedoch hatte er schon über 20 Meter Vorsprung und die Tatsache, dass wir extrem spitze Schuhe trugen, die wir ihm, wenn wir ihn gekriegt hätten, mit vorzüglicher Hochachtung bis zum Anschlag in den Arsch gerammt hätten, erhöhte nicht gerade unsere Chance, ihn einzuholen und die widerlich glitschigen Katzenköppe, so nannte man die gewölbten Pflastersteine auf Berlins Straßen, die schon unter normalen meteorologischen Bedingungen für unzählige Becken- und Beinbrüche ganzer Kohorten älterer Bürger Berlins verantwortlich waren, taten ihr übriges, dass wir ihn nicht einholen konnten und er uns letztendlich entwischte.
Er entkam uns in der Dunkelheit der Nacht in einer der vielen Seitenstraßen, was aber auffallend war, dass der Typ nicht richtig rund lief, so, als wenn er hinken würde. Als wir stehen blieben, sagte ich, keuchend wie eine alte Dampflok, zu Rainer: »Verdammter Mist, er war schon zu weit weg, aber hast du gesehen, wie komisch der gerannt ist? Normal sah das nicht aus.«
»Das würde ich auch sagen.«, und dabei schnaufte Rainer auch nicht schlecht. »Zumindest lief er nicht wie einer aus der Kaderschmiede der Leichtathleten.«
Dann drehten wir uns um und kehrten rasch zu den Mädchen zurück, die noch am Hauseingang standen. Nicole, die die Ruhe bewahrt hatte, hielt Steffi tröstend im Arm, die bitterlich weinte.
»Der Sausack ist uns entkommen, weil sein Vorsprung zu groß war. Tut mir leid«, sagte Rainer.
»Das ist nicht so schlimm. Letztendlich ist ja nicht passiert«, sagte Nicole, »jetzt gehen wir erst einmal hoch zu uns und wir beruhigen uns nach dem Schreck alle.«
»In welchem Stock wohnt ihr denn?«, fragte ich und die Vokabel hoch gefiel mir überhaupt nicht, denn das bedeutete, das sie mindestens im zweiten Stock wohnen würden.
»Ganz oben, im Vierten, leider ohne Aufzug«, antwortete Nicole.
Auch das noch, so eine Scheiße, dachte ich mir. Warum müssen die immer ganz oben wohnen und das ohne Fahrstuhl? Mal sehen was da noch kommt.
Wir schleppten uns die Treppen hoch und oben angekommen, öffnete Nicole die Tür und der Flur der Wohnung sah aus, wie eine kleine Kunstgalerie, bei so vielen Bildern, die an der Wand hingen und Kunstobjekten, die da so rumstanden. Wir gingen in die Küche, die gleich rechts vom Eingang war und setzten uns an den Küchentisch. Zu meinem Erstaunen war alles blitzblank sauber und es gab sogar Küchenutensilien zum Kochen. Das war das erste Mal seit geraumer Zeit, dass ich eine Küche sah, durch die nicht eine Horde von Vandalen geritten war.
»Ich mache jetzt erst mal einen Kaffee für alle«, sagte Nicole und im Handumdrehen gab sie den gemahlenen Kaffee in den Filter und setzte die Kaffeemaschine in Gang. Sofort füllte sich der Raum wohlig mit dem Duft des erquickenden Getränkes.
»Was ist denn überhaupt passiert?«, fragte Rainer Steffi, die immer noch ganz aufgewühlt war und schluchzte. »Das ging alles so schnell.«
Steffi nahm ein Taschentuch, dass auf dem Tisch lag, wischte sich die Tränen aus den Augen und nach einem kleinen Moment des Durchatmens, sagte sie immer noch ziemlich verstört:
»Ich bin zum Haus gelaufen, die Treppe hoch, in die Wohnung, war auf der Toilette und hatte auch schon die Batterien eingesteckt. Als ich die Treppe wieder runterkam, ich war schon fast unten an der Eingangstür, stand auf einmal dieser Kerl im Hausflur, wie aus dem Nichts, mit einem Messer vor mir.«
Sie machte eine kurze Pause, um nach Luft zu schnappen und sagte dann mit weinerlicher Stimme:
»Er fasste mir an die Brust, drängte mich in eine Ecke, das Licht des Treppenhauses war schon wieder ausgegangen und drohte mir, wenn ich mich wehren würde, dann würde er mich wie ein Schwein abstechen. Ich bekam Panik, fing an zu schreien, schlug wie wild um mich und habe ihm mit der Hand ins Gesicht geschlagen, woraufhin er für einen Moment überrascht war und dann habe ich die Gelegenheit genutzt, die Tür aufgestoßen, bin raus, aber er war dann schon wieder an mir dran. Ich habe weiter um Hilfe gerufen und dann wart ihr ja auch gleich da.«
»Hast du gesehen, wie er aussah, konntest du irgendetwas erkennen?« fragte sie Rainer.
»Nicht viel. Er war ziemlich klein, kaum größer als ich und jung war er, ja ziemlich jung, vielleicht sechzehn oder siebzehn und dunkle Haare hatte er. Sein Gesicht habe ich nur ganz kurz gesehen, es ging ja alles so schnell.«
»Würdest du ihn denn wiedererkennen?«, fragte ich.
»Weiß nicht. Vielleicht. Na ja, ich denke schon, wenn ich ihn vor mir sehen würde, aber ganz sicher bin ich mir nicht.«
»Da hast du, obwohl es sich bescheuert anhört, noch Glück gehabt, denn das hätte echt böse ausgehen können«, sagte ich zu ihr und wir waren alle so nervös und aufgebracht, dass wir gar nicht bemerkten, dass wir eine nach der anderen weg rauchten und ich auch schon die zweite Tasse Kaffee intus hatte.
»Was sollen wir denn jetzt machen?«, fragte Steffi und sie zitterte immer noch am ganzen Leib.
»Die Bullen. Morgen gehen wir alle Mann zur Polizei und machen eine Anzeige. Wer weiß, wen der Wichser noch vergewaltigen will und möglicherweise schon öfter versucht hat«, sagte Rainer, der genau das aussprach, was ich auch dachte.
»Ach, ich weiß nicht«, sagte Steffi, »meint ihr, das bringt etwas? Ich habe ihn ja nur kurz gesehen und es war auch dunkel.«
»Dunkel ja«, wand ich ein, »da war aber etwas von Bedeutung. Er hat irgendwie sein Bein nachgezogen. Das war schon richtiges Hinken.«
»Ja, aber…«, und Steffi überlegte einen Augenblick.
»Steffi«, sagte Rainer und bevor sie noch weiter reden konnte, führte er fort: »Der Typ hat versucht dich zu vergewaltigen. Das ist allerunterste Gürtellinie. Ich will ja nicht den schwarzen Kater an die Wand malen, aber man muss solchen Schweinen zeigen, wo der Haken hängt. Glaube mir, wenn man da nichts macht, versucht er es bald wieder bei der Nächsten.«
Ich konnte sehen, dass Nicole und Steffi im Groben verstanden hatten, was Rainer sagen wollte, sie sich aber schon wunderten, wie er die Redewendungen verdreht hatte. Mit der Zeit hatte ich mich daran gewöhnt, trotzdem bereitete es mir manchmal auch so meine Schwierigkeiten, diese Auswüchse des Malapropismus zu verstehen.
»Äh, ja..«, stammelte Nicole ein wenig und nachdem sie die Information entsprechend verarbeitet hatte, sagte sie: »ich denke auch, dass es angebracht ist, eine Anzeige zu machen. Man kann das nicht einfach so hinnehmen und ignorieren.«
»Absolut«, sagte Rainer und drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus.
»Wir gehen jetzt nach Hause, pennen uns richtig aus und morgen Mittag kommen wir wieder zu euch und dann machen wir die Anzeige auf der Wache. Was haltet ihr davon?«, fragte ich die beiden Mädchen. Steffi und Nicole nickten zustimmend.
»Ja, gut. So machen wir das. Soll ich euch noch schnell fahren?«, fragte Nicole.
»Nein Danke, das ist ein wirkliches nettes Angebot von dir«, antwortete Rainer und ich verneinte es ebenfalls mit einem Kopfschütteln. »Bleib du mal bei Steffi und kümmer dich um sie. Wir laufen jetzt Richtung Heimat und sehen uns dann morgen.« Dann tranken wir schnell noch unsere Tassen aus, standen auf und zum Abschied drückten wir uns alle noch freundschaftlich. Nachdem wir das Haus verlassen hatten, liefen wir durch Neuköllns Straßen und kehrten auf halben Weg noch in eine Kneipe ein, um ein Verdrängungs- und Beruhigungsbier zu trinken.
3. Die Anzeige
Am nächsten Morgen, obwohl es eher schon Mittag war, gingen Rainer und ich wieder zu den Mädchen. Steffi hatte vor Aufregung, die ganze Nacht kaum geschlafen und war total aufgedreht.
Sie versuchte uns zu verklickern, dass die Typen ja sowieso alle gleich aussehen und es nichts bringen würde, zur Polizei zu gehen. Mit sanftem Druck und gutem Zureden, brachten wir sie dann doch noch dazu, mit uns zur Wache zu gehen und das in der Nacht Geschehene zu melden. Unsere Lebensgeister weckten wir mit einer heißen Tasse Kaffee und irgend so einer schwäbischen Spezialität, die Wibele hieß, aber gar nicht so schlecht schmeckte. Danach noch eine Zigarette und wir machten uns zu Fuß auf den Weg zum Polizeiabschnitt 54, der sich, keine fünfhundert Meter entfernt, in der Sonnenallee befand. Dort angekommen, mussten wir zum Glück nicht lange warten und Steffi konnte ihre Anzeige machen.
Rainer und ich warteten derweil im Flur und als Steffi fertig war, wurde ich für meine Zeugenaussage als nächster ins Zimmer hereingerufen. Während ich meine Version des Vorabends zu Protokoll gab, fiel mir wieder ein, dass der Typ so merkwürdig rannte, als würde er humpeln oder hinken und das sagte ich natürlich auch dem Polizeibeamten, weil ich dachte, dass das doch ein Anhaltspunkt sein könnte.
Der Polizist sah das auch so, meinte aber, dass es ihn wundern würde, warum Steffi es ihm nicht gesagt hatte, denn das könnte von entscheidender Bedeutung sein, um das Feld der potenziellen Täter einzuschränken. Ich erwiderte ihm nur, dass sie es möglicherweise in der Aufregung nur vergessen hatte. Als ich meine Aussage gemacht und unterschrieben hatte, mich draußen im Flur wieder auf die Bank gesetzt hatte, wurde Steffi noch einmal hereingebeten. Rainer fragte mich verwundert, warum er nicht an der Reihe war und dann erklärte ich ihm, dass Steffi wohl nicht daran gedacht hatte, zu erwähnen, dass der Kerl ziemlich seltsam lief und wohl was an seinen Beinen haben musste. Eine halbe Stunde später hatten wir alle unsere Erklärungen abgegeben und in dem Moment, als wir das Polizeirevier verlassen hatten, begann es ein wenig zu schneien. Wir steckten uns eine Zigarette an und ich fragte die beiden:
»Was machen wir jetzt mit dem angebrochenen Tag?«
»Seid mir nicht böse«, antwortete Steffi, »aber ich habe die ganze Nacht kaum ein Auge zugetan und habe gerade einen toten Punkt. Wenn es für euch okay ist, gehe ich jetzt nach Hause und schlafe mich erst mal richtig aus.«
»Na klar, kein Problem. Dann melden wir uns in den nächsten Tagen bei euch«, sagte Rainer und dann verabschiedeten wir uns voneinander. Wir winkten Steffi noch hinterher und als sie um die Ecke gebogen war, fragte ich Rainer erneut: »Was machen wir denn nun?«
»Auf jeden Fall weg von hier. Vor einer Polizeiwache bekomme ich immer Beklemmungen«, antwortete Rainer.
»Was ist mit Marcus?«, schlug ich vor. »Der wohnt doch in der Donaustrasse und die ist nur ein paar Hundert Meter entfernt die Sonnenallee runter und Richtung Hermannplatz müssen wir so oder so.«
Rainer nickte nur ab und wir machten uns auf die Socken zu Marcus, den wir vor ungefähr einem Jahr in einer Diskothek namens Pick-Up am Ku´damm kennengelernt hatten. Jeden Dienstag konnte man sich dort für lächerliche fünf Mark an einem ausgiebigen Käsebuffet laben, was natürlich dazu führte, dass solche Hungerhaken wie wir wie die Heuschrecken einfielen und alles ratzekahl wegfraßen. Nach einer Weile hatte man eben auch die anderen Strategen kennengelernt, die genauso unterwegs waren wie man selbst und Marcus war immer vorne mit dabei, wenn es um die besten Plätze am Buffet ging. Das Konzept des Käsebuffets, um den Laden vollzukriegen, war aber nicht sonderlich erfolgreich, da alle sich immer nur die Bäuche vollschlugen, sich an einem Wasser oder einer Cola festhielten und dann recht schnell einen Abflug machten. Der Einzige, der noch ein bisschen für Umsatz sorgte, war Rainer, dem die Barfrau, jedes Mal, wenn er die Treppe runterkam, schon das erste Bier auf den Tresen stellte.
Eigentlich kam Marcus aus gutem Hause und seine Familie hing voll wie ein Weihnachtsbaum. Nur hatte seine Mutter ihn schon mit sechzehn Jahren bekommen und als sein Bruder geboren wurde, war sie gerade erst neunzehn. Sie war völlig überfordert mit Marcus, der wohl ein recht aufgewecktes Bürschlein war, so dass er später in ein Internat abgeschoben wurde, in dem er weniger durch seine schulischen Leistungen hervorstach, sondern mehr durch sein Talent, unentwegt Scheiße zu bauen.
Als Marcus zum wiederholten Male dabei erwischt wurde, wie er sich mit einer Mitschülerin auf dem Klo vergnügt hatte, war das Fass übergelaufen und er flog in hohem Bogen aus dem Internat.
Da er zu dem Zeitpunkt bereits sechzehn Jahre alt war und er auch schon zehn Schuljahre voll hatte, bekam er noch seinen Realschulabschluss in die Hand gedrückt, nicht ohne die Bemerkung des Schuldirektors, dass es mit ihm noch ein böses Ende nehmen würde.
Seine Oma, die nicht nur Oberstudienrätin war, sondern auch noch die Schatzmeisterin des Familienvermögens, beschloss, Marcus in den Schuldturm zu werfen, aus dem schönen, vornehmen und baumreichen Stadtteil Zehlendorf zu verbannen und mit einer Wohnung in einer der ärmsten und schäbigsten Gegenden West-Berlins zu bestrafen, nämlich Neukölln, genauer gesagt, in der Donaustrasse.
Nur, was seine Oma nicht ahnte, war die Tatsache, dass Marcus direkt im Paradies gelandet war, denn er wohnte neben dem Mekka der sexuellen Weltkarte Neuköllns. Gegenüber seiner Wohnungstür gab es nämlich ein Bordell, welches von türkischen Mitbürgern frequentiert wurde und die sich ständig irrten, wenn sie sich im Hausflur befanden, und bei ihm an die Tür klopften, er sie dann aber stets mit einem freundlichen Fingerzeig, auf die gegenüberliegende Pforte verwies. Die im dortigen Etablissement arbeitenden Damen bedankten sich bei Marcus in der Form, dass sie manchmal etwas zu Essen rüber brachten und er von ihnen, sofern er mal das Bedürfnis hätte, einen ganz besonderen Service und natürlich auch zu einem Sonderpreis bekommen würde.
Da er ja nun nichts mehr in der Schule anstellen konnte, verlegte er seine Aktivitäten des Unsinns und völlig Hirnverbrannten auf das Neuköllner, beziehungsweise Kreuzberger Territorium.
Aus dem Kaufhaus Bilka am Kottbusser Damm wurde er einmal rausgeschmissen, weil er mit einigen Kleidungsstücken in die Ankleidekabinen ging und nach ein paar Minuten lauthals rief: „Verdammt noch mal, die haben ja gar kein Klopapier hier“. Kurze Zeit später drohte er damit, dass, wenn man ihm keins bringen würde, er eben die Klamotten nähme, um seinen Hintern abzuwischen. Daraufhin wurde ihm, nach der Erstürmung der Kabinen durch diverse Verkäuferinnen, ein Hausverbot ausgesprochen. Das gleiche Schicksal ereilte ihn, als er im Karstadt am Hermannplatz in der Kinderabteilung den ganzen Puppen vom rosaroten Panther die Schwänze von hinten nach vorne gedreht hatte. Dummerweise wurde er dabei vom Hausdetektiv beobachtet und erhielt die rote Karte sowie die Androhung einer Anzeige wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses.
Nun wohnte Marcus in einer Gegend, die für seine leicht spießige Oma das untere Ende der Nahrungskette darstellte und sie hoffte inständig, dass ihn dieser extreme Kontrast läutern und auf den Weg der Tugend bringen würde. Mit dem Versprechen, dass er irgendwie das Abitur machen würde, leierte Marcus ihr die Kosten für die Wohnung, das Essen und das Benzin für sein Motorrad, eine neue Enduro, die sein ganzer Stolz war, aus dem Kreuz.
Dessen ungeachtet, nahm es Marcus, genauso wenig wie ich, nicht allzu genau, was das regelmäßige Besuchen der Schule anging und er war ein Meister im Erfinden der fadenscheinigsten Ausreden und auch im Fälschen der Unterschrift seiner Mutter hatte er ein nicht zu verachtendes Geschick entwickelt.
Nach seiner Verbannung aus dem Schlaraffenland wohnte Marcus jetzt in einem ziemlich heruntergekommenen Altbau zu ebener Erde, oder im Parterre, wie man in Berlin sagte, und es gab in der Nachbarschaft viele, die ihr ganzes Leben dort verbracht hatten. Das er jetzt inmitten des Prekariats wohnen würde, störte in nicht die Bohne, denn hier war den Leuten einfach alles egal und er konnte tun und lassen, was er wollte. Weil er das Geld, was er von seiner Oma für die Renovierung bekommen hatte, lieber für andere, seiner Meinung nach sinnvollere Dinge, wie beispielsweise Spirituosen und Schallplatten, ausgegeben hatte, kam er auf die glorreiche Idee, auf den umliegenden Baustellen Styroporplatten zu klauen und diese, anstatt Tapete, an seinen Wänden zu befestigen. Nicht nur das, er malte auch noch alles schwarz an.
Von den Decken hingen nur einige Funzeln in Form von Baulampen, die er ebenfalls bei seinem Raubzug hatte mitgehen lassen.
An dem Fenster zur Straße war eine etwa 1,50 Meter lange, orangefarbene Leuchte hochkant platziert, auf der mit großen schwarzen Lettern das Wort „Photoautomat“ geschrieben stand. Die Aneignung der Reklamelampe war etwas kurios. Eines morgens, Marcus war erst vor kurzem in seine neue Wohnung eingezogen, hatte ich mit ihm, vom Ku´damm kommend, die erste U-Bahn bis zum Hermannplatz genommen. Als wir ausgestiegen waren und zum Ausgang liefen, sahen wir einen Photoautomaten, auf dem die Leuchte nur oben aufgelegt war. Marcus sagte dann, dass er eine Lampe bräuchte und, da sie nicht fixiert war, kletterte ich mit einer Räuberleiter auf den Automaten und zog einfach den Stecker aus der Wand, zerrte die Leuchte vom Automaten runter und dann trugen wir sie auf den Schultern, wie zwei Arbeiter aus dem VEB Kombinat Rote Rübe, zu Marcus nach Hause. Seitdem diente sie Marcus als Zimmerleuchte und erstrahlte in seinem Wohnzimmer in hellem Lichte. Allerdings kam Marcus nie auf die Idee, dass das grelle Orange, doch einer Puffbeleuchtung sehr ähnlich war und die Freier wie Motten vom Licht angezogen wurden und deswegen immer an seiner Tür klingelten und manchmal sogar an sein Fenster klopften.
Ein bisschen durchgeknallt war Marcus irgendwie schon, aber auf der anderen Seite war er auch so eine Art Wundertüte, denn es passierte immer etwas überraschendes, und vor allem wurde es nie langweilig mit ihm.
So marschierten Rainer und ich durch den stärker werdenden Schneefall, und der unter unseren Schuhen liegende Schnee knirschte nach jedem Schritt ein bisschen mehr. Wir stampften bis zu Marcus, der zu Hause war, denn er hatte seine Enduro vor seiner Haustür geparkt.
Überraschenderweise war er auch schon wach und öffnete sogar nach dem ersten Mal klingeln die Tür.
Zur Abwechslung tranken wir mal einen Tee mit Schuss, denn Likörchen und Schnäpperken hatte Marcus immer da, und wir erzählten ihm, mit allen Details, was in den letzten zwölf Stunden passiert war, dass wir gerade vom Polizeirevier kommen würden, und den ganzen anderen Kram. Aber Rainer erwähnte auch nebenbei, dass er Steffis Freundin, Nicole, sehr attraktiv fand und sie gerne näher kennenlernen wollte.
Als wir unser Plauderstündchen beendet hatten, verabredeten wir uns für den Abend, denn in Schöneberg fand wieder eine Ausstellungseröffnung statt. Nicht etwa, dass wir uns groß für die Kunst interessiert hätten, aber dort gab es immer etwas zu Essen und zu Trinken. Auf die Meisten dieser Vernissagen oder Ausstellungen gingen wir einfach hin und niemand fragte, wer wir wären, und wir schlemmten uns durch das Buffet rauf und runter. Natürlich kippten wir alle möglichen Sorten von Alkohol, der uns so zwischen die Finger kam, in uns hinein, da wurde nicht groß Fehlerlesen gemacht. Selbst bei den Veranstaltungen, bei denen es eine Gästeliste gab, hatten wir schon eine erfolgreiche Taktik entwickelt. Wir erzählten jedes Mal die gleiche Geschichte, dass wir eine Nachricht für einen Micha, Chrille oder Andy hätten, denn jemanden mit diesem Namen gab es immer, und es würde auch nicht lange dauern. Das gab uns die nötige Zeit, die kredenzten Fressalien ausfindig zu machen, uns die Wampe vollzustopfen und bevor die Veranstalter merkten, dass wir dort nichts zu suchen hatten, wieder einen Abflug zu machen. Marcus hatte ein derartiges Talent, das Raubgut in Form von Rotwein Flaschen und Sekt in seinen Klamotten zu verstecken, dass er sich schon einen beachtlichen Weinvorrat angelegt hatte.
Als wir ausgetrunken und uns aufgewärmt hatten, verabschiedeten wir uns von Marcus und liefen durch das mittlerweile dichte Schneegestöber in Richtung Hermannplatz
4. Smog
Die Vernissage war ein voller Erfolg. Es gab alles, was das Herz begehrte im Überfluss, vor allem italienischen Rotwein. Ein echt cooles Buffet war auch dabei, mit allerlei Leckereien, und diesmal gefielen uns sogar die ausgestellten Bilder. Nur hatten wir viel zu viel des köstlichen Rebensaftes getrunken, bekamen daraufhin erst schwere Beine und dann dicke Schädel, also strichen wir schon vor Mitternacht die Segel. In dem Wissen, dass wir am nächsten Morgen furchtbare Kopfschmerzen haben würden, hatten wir uns schon früh, also eher am späten Vormittag, bei Marcus in der Donaustrasse verabredet, denn für uns war der einzige Weg, einen Kater zu bekämpfen, konsequent um ihn herumzutrinken. Vielleicht war das nicht besonders sinnvoll, aber so wollten wir uns die ganze Tristesse Neuköllns schön saufen und uns langsam, Kneipe für Kneipe, hoch nach Kreuzberg trinken.
Jedoch schafften wir nur die Hälfte der Strecke, bis zu mir in die Pflügerstrasse, die genau in der Einflugschneise zu Rainers Wohnung in der Reichenberger lag. Am frühen Nachmittag hatten wir schon so eine Art Zwischenrausch, so dass wir uns gerade noch bis zu mir in den vierten Stock schleppten, um dann, wie die kleinen Kinder, recht schnell einzuschlafen.
Plötzlich wurde ich jäh aus meinen Träumen gerissen, draußen war es schon wieder dunkel, meine Birne brummte, und ich lag in einer sehr unbequemen Position, denn ein Arm und ein Bein hingen auf dem Boden herunter, aber ich ahnte gleich, wer es war.
»Was ist denn das hier wieder für eine Scheiße?«, ranzte mich meine Freundin Simone an, die wohl gerade von der Arbeit nach Hause gekommen war.
Ich kratze mich erst einmal und murmelte nur etwas von schlafen und dass sie mich später noch einmal fragen könne.
»Das ist mir egal, ob du pennen willst. Was machen diese Vögel in meinem Bett?«, krächzte sie weiter. So langsam konnte ich mich orientieren. Anscheinend war ich im Wohnzimmer auf dem Sofa eingeschlafen und meine Kumpanen hatten sich dann im Bett des Schlafzimmers breit gemacht, um ihren Rausch auszuschlafen. Das wäre schon unter normalen Umständen keine gute Idee gewesen.
»Meinst du etwa Marcus und Rainer?« Simone reagierte überhaupt nicht auf das, was ich gesagt hatte, beugte sich ein wenig zu mir herunter und sprach mit leiser, aber schneidender Stimme direkt in mein Ohr:
»Okay, Sportsfreund. Ihr habt fünf Minuten, um hier raus zu sein, weil ich nämlich ins Bett will, denn im Gegensatz zu dir faulem Schwein arbeite ich. Fünf Minuten und wenn ich „ihr“ sage, meine ich auch dich damit! Lasst euch ja nicht einfallen, länger zu brauchen.«
In rekordverdächtiger Zeit weckte ich die beiden und wir trollten uns sofort, denn Marcus und Rainer hatten auch schon einmal einen Wutausbruch von Simone erlebt und da konnte es ziemlich laut und auch nicht ganz jugendfrei werden.
In dem Wissen, dass Simone nach meiner Rückkehr, so oder so, wieder eine Szene machen würde, weil es in der Wohnung nicht nur stank wie in einem Schweinestall, sondern auch so aussah, denn ich hatte das Katzenklo ihrer zwei Perser Katzen nicht sauber gemacht und sie waren Virtuosen im Kacke aus dem Klo scharren, war es naheliegend, für die nächste Nacht politisches Asyl bei Rainer zu beantragen, denn sonst käme wieder die Kavallerie angeritten und würde alles niedermetzeln. Sie bezeichnete uns unentwegt als arbeitsscheue Penner und nur weil sie ein paar Jahre älter war als ich, glaubte sie, mich und meine Kumpels ständig bevormunden zu müssen, aber das prallte an mir ab wie der Puck von der Bande beim Eishockey.
Mir war schon ziemlich klar, dass unsere Beziehung eine Sollbruchstelle hatte.
Ich zog einfach mein Ding durch, durfte es aber mit meiner Ignoranz nicht auf die Spitze treiben und gelegentlich machte ich einen auf lieb Kind und brachte ihr kleine Geschenke, so wie die Eroberer, wenn sie den Eingeborenen Glasperlen schenken. Trotz einiger Momente der Glückseligkeit war unsere Beziehung zuweilen sehr anstrengend, und, wenn ich gewusst hätte, wie das Ganze hier laufen würde, hätte ich die Show schon nach der Premiere wieder abgesetzt.