Das Jahr der Schatten - Hannah Richell - E-Book

Das Jahr der Schatten E-Book

Hannah Richell

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Beschreibung

„Dieser Roman lässt den Leser alles um sich vergessen.“ The Australian

Als Lila ein verfallenes Cottage im englischen Peak District erbt, scheint dies ihre Rettung zu sein. Ihr Leben und ihre Ehe stecken in der Krise, und so entschließt sie sich zu einer Auszeit an dem idyllischen Ort am See. Sie genießt die Einsamkeit, bis sie beunruhigende Spuren der früheren Bewohner entdeckt, die auf einen überstürzten Aufbruch hindeuten. Ein mysteriöser Brief lässt ein Unglück erahnen. Welches Geheimnis bergen die Mauern des Hauses, und welche Bedeutung hat es für Lilas Leben?

Eine bewegende Geschichte über Liebe, Freundschaft und Verrat

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Seitenzahl: 623

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Über den Roman

Als Lila ein verfallenes Cottage im englischen Peak District erbt, scheint dies ihre Rettung zu sein. Ihr Leben und ihre Ehe stecken in der Krise, und so entschließt sie sich zu einer Auszeit an dem idyllischen Ort am See. Langsam kommt sie zur Ruhe, bis sie beunruhigende Spuren der früheren Bewohner entdeckt, die auf einen überstürzten Aufbruch hindeuten. Ein mysteriöser Brief lässt ein Unglück erahnen. Welches Geheimnis bergen die Mauern des Hauses, und welche Bedeutung hat es für Lilas Leben?

»Dieser Roman lässt den Leser alles um sich herum vergessen.«      The Australian

Über die Autorin

Hannah Richell wurde in Kent geboren und wuchs in Buckinghamshire und Kanada auf. Sie studierte an der University of Nottingham und arbeitete danach mehrere Jahre im Verlagswesen. Heute lebt die Autorin mit ihrer Familie im australischen Sydney. Geheimnis der Gezeiten, ihr Debütroman, wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und begeisterte Leser und Presse gleichermaßen. Das Jahr der Schatten ist ihr zweiter Roman.

HANNAH RICHELL

Das Jahr

der Schatten

Roman

Aus dem Englischen

von Christiane Burkhardt

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel The Shadow Year bei Orion Books, an imprint of The Orion Publishing Group Ltd, London.
Copyright © 2013 by Hannah RichellCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014 by Diana Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.Redaktion  |  Claudia KraderCovergestaltung  |  t.mutzenbach design, München Covermotive  |  © shutterstockAutorenfoto  |  © David GriffithsSatz  |  Leingärtner, NabburgAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-641-14265-0V002
www.diana-verlag.dewww.penguinrandomhouse.de

»Ein See ist der schönste und ausdrucksvollste Zug

einer Landschaft. Er ist das Auge der Erde.

Wer hineinblickt, ermisst an ihm die Tiefe

seiner eigenen Natur.«

Henry David Thoreau,

Walden, 1854

Prolog

Es sind die winzigen Details, die ihr auffallen: das feuchte, mit Butterblumen übersäte Gras unter den Füßen. Die vor Insekten summende Luft. Das Rascheln ihres Nachthemds im Wind. Während sie das Cottage verlässt und zum spiegelglatten See hinuntergeht, sind ihre Sinne geschärft. Sie hört eine Ente, die sich platschend im Schilf versteckt, und das langsame Pochen ihres Herzens. Nur kurz allein sein, denkt sie. Mich waschen, schwimmen gehen, den Kopf freibekommen. Mich gegen das wappnen, was vor mir liegt.

Bald wird sie nicht mehr hier sein.

Auf halber Höhe des Hangs stolpert sie auf dem unebenen Boden und fängt sich wieder, läuft weiter bis zum Ufer. Der See liegt vor ihr, ein blaues, zum Himmel emporschauendes Auge. Schatten langsam vorbeiziehender Wolken gleiten darüber, und während sie hinsieht, beginnt das Bild zu flirren wie eine durch Sommerhitze heraufbeschworene Fata Morgana. Sie blinzelt, und das Flirren hört auf.

Sie steckt einen Zeh ins kühle Nass und watet hinein. Zäher Schlamm und Schlick quellen zwischen ihren Zehen hervor, und die Feuchtigkeit kriecht dunkel am Saum ihres Nachthemds empor. Um sie herum breiten sich kleine Wellen aus. Es muss an der Sonne liegen, dass sie zunehmend das Gefühl hat, durch den verschmierten Sucher einer Kamera zu schauen. Ganz so, als watete sie nicht durch einen See, sondern durch einen Traum. Die Kiesel fühlen sich unter ihren Füßen jedoch ziemlich echt an, genau wie das kühle Wasser, das ihr inzwischen bis zur Brust reicht. Der Stoff ihres Nachthemds breitet sich auf der Seeoberfläche aus, treibt auf ihr wie die Blätter einer Blüte. Wirklich und unwirklich zugleich.

Sie stößt sich ab und schwimmt hinaus, dorthin, wo das Wasser tief und dunkel ist. Dann hält sie inne, um zu sehen, wie der Wind über die Seeoberfläche streicht, sie aufwühlt. Ihr Blut kühlt ab, und sie spürt das Gewicht. Arme und Beine, die Schwere ihres Nachthemds und ihr langsam schlagendes Herz. Sie sieht, wie das Cottage in der Ferne kippt und die Baumwipfel sich leicht wiegen.

Das ist ein Traum, sagt sie sich, legt den Kopf nach hinten, schwebt zwischen Himmel und Erde und lässt sich treiben.

1

Lila

Juli

Lila sitzt am Rand einer leeren Picknickbank, vor sich einen Kaffee zum Mitnehmen. Obwohl es draußen so warm ist wie schon lange nicht mehr, ist im Park kaum etwas los. Es ist die ungewöhnlich ruhige Stunde, wenn die Angestellten nach der Mittagspause wieder in ihre Büros zurückgekehrt sind und die Schulen die Kinder erst noch ausspucken müssen. Von ihrem Platz aus kann Lila durch die Panoramascheibe des Parkcafés schauen, wo eine Frau gerade den Getränkekühlschrank auffüllt. Ein Stück weiter beugt sich ein Stadtgärtner über ein Beet welker Blumen. Eine leere, vom Wind erfasste Gießkanne rollt scheppernd an ihm vorbei. Ganz in der Nähe steht ein Kinderwagen im Schatten einer großen Platane.

Darin schläft ein Baby. Lila kann die Wölbung eines Köpfchens hinter einer blassrosa Decke erkennen. Seine Wangen sind rosig, und ein Haarbüschel schaut unter seiner Baumwollmütze hervor. Lila sieht fasziniert zu, wie das Kind im Schlaf das Gesicht verzerrt, wie seine Lider ein-, zweimal flattern und sich dann wieder beruhigen. Die Mutter ist beim Planschbecken. Sie hat ihre Schuhe und Socken ausgezogen und tobt mit einem kleinen, etwa zwei oder drei Jahre alten, Jungen im flachen Wasser. Lila sitzt auf der Bank und beobachtet sie hinter ihrer dunklen Sonnenbrille, dreht den Kaffeebecher in ihren Händen.

»Schau, Mummy, eine Biene.« Der Junge zeigt auf etwas im Wasser, und seine Mutter kommt näher, beugt sich neben ihm hinunter. Lila nippt an ihrem Kaffee und lässt den Blick zurück zum Kinderwagen schweifen. Sie kennt das Modell. Sie weiß, dass die Bremse festgestellt ist. Dass man den weißen Griff um einhundertachtzig Grad nach oben drehen muss, um sie zu lösen. Sie hat es vor wenigen Wochen selbst im Laden ausprobiert. Sie schluckt den bitteren Kaffee herunter. Wie einfach es doch wäre!

Die Mutter und ihr Sohn waten wild um sich spritzend ans andere Ende des Beckens. Sie klettern hinaus und laufen auf ein paar Büsche beim Café zu, suchen nach etwas, mit dem sie die Biene aus dem Wasser befördern können. Der Junge rennt über den Asphalt und schreit auf. Er hat etwas am Fuß. Seine Mutter eilt zu ihm, wischt ihm Schmutz von der Fußsohle, drückt ihn an sich und krempelt seine durchnässten Hosenbeine weiter hoch.

Schwaches Sonnenlicht fällt durch die Zweige des Baumes auf Lila und lässt Lichtflecken über ihre nackten Arme tanzen. Aus der Ferne hört man das Geräusch eines Schuhs, der einen Fußball trifft. Das entzückte Kreischen eines Kindes, das auf der Schaukel angeschubst wird. Ein Flugzeug hoch in der Luft. Die Mutter und der Junge betreten das Café. Lila sieht, wie sie nach etwas fragen – nach einem Pappbecher. Lila schaut zum Kinderwagen hinüber und steht auf.

Sie ignoriert den Schmerz in ihrem Brustkorb und konzentriert sich stattdessen auf das laute Klopfen ihres Herzens, als sie näher tritt. Die Lippen des Babys sind jetzt gespitzt, sie öffnen und schließen sich, saugen im Schlaf. Eine Fliege summt über dem Dach des Kinderwagens und landet dann auf der rosa Decke, krabbelt auf das Gesicht des Babys zu. Lila macht einen Schritt weiter nach vorn, kämpft gegen den Drang an, das Insekt zu verscheuchen. Die schmerzhafte Lücke in ihrem Innern bringt sie fast um. Es könnte so einfach sein!

Sie streckt die Hand aus, gestattet sich, den Griff des Kinderwagens zu streifen. Das Plastik ist warm unter ihrer Hand. Das Baby bewegt sich. Hinter sich hört sie platschende Füße im Planschbecken, das Kichern des kleinen Jungen. »Nimm sie, Mummy.« Lila schaut auf das schlafende Baby hinunter und bekommt Gänsehaut. Sie seufzt laut und entfernt sich vom Kinderwagen, vom Baby. Sie dreht sich um und betritt den Weg um das Becken, in dem Mutter und Sohn mit vereinten Kräften versuchen, die Biene aus dem Wasser zu fischen.

»Sie lebt«, hört sie den Jungen entzückt rufen.

»Nicht anfassen«, warnt ihn die Mutter. »Sonst sticht sie dich noch.«

Als Lila vorbeigeht, schaut die Frau auf und lächelt sie an. Lila nickt der Frau unmerklich zu, während hinter der Sonnenbrille Tränen in ihren Augen brennen. Sie nimmt den Weg durchs Parktor, überquert den Zebrastreifen und erklimmt den Berg. Den gesamten Heimweg über hat sie Herzklopfen.

Reiß dich zusammen, Lila, beschwört sie sich. Reiß dich verdammt noch mal zusammen.

Der Mann steht vor ihrer Haustür, als sie durchs Gartentor tritt. Er hat ihr den Rücken zugekehrt, trägt eine Motorradlederkombi und Helm und drückt mehrmals auf die Klingel.

»Hier bin ich«, sagt sie.

Als er sich umdreht, kann sie nur zwei dunkle Augen erkennen, die sie durch das Visier des Helms mustern. Ein Funkgerät knackt neben seinem Revers. »Sind Sie Lila Bailey?«

»Ja.«

»Eine Sendung für Sie. Sie müssen unterschreiben.«

Nickend nimmt sie das Tablet in Empfang, kritzelt ihre Unterschrift auf das Display und gibt das Gerät zurück. Dafür bekommt sie einen steifen cremefarbenen Umschlag, der in fein säuberlicher Handschrift an sie adressiert ist. Ohne ein weiteres Wort geht der Kurier zu seinem Motorrad. Es springt mit lautem Knattern an und saust den Berg hinunter. Lila klemmt sich den Umschlag unter den Arm und macht sich mit ihren Schlüsseln am Schloss zu schaffen.

Im Haus bückt sie sich, nimmt Imbiss-Flyer sowie verschiedene Rechnungen von der Fußmatte und legt sie mit der Kuriersendung zu dem wachsenden Stapel ungeöffneter Post auf dem Flurtischchen. Doch es ist ein Umschlag zu viel, und der ganze Papierkram ergießt sich auf den Boden. Sie überlegt, einfach alles so liegen zu lassen, bis ihr einfällt, dass Tom dieses Chaos als Erstes zu Gesicht bekommen wird, wenn er heute Abend nach Hause kommt. Während sie sich vorsichtig den Brustkorb hält, geht sie in die Hocke, sammelt die Umschläge auf und stapelt sie zu zwei ordentlichen Stößen auf dem Tisch. Das letzte Stück ist das cremefarbene Kuvert des Kuriers. Während sie es auf den Stapel legt, spürt sie, wie etwas darin hin und her rutscht. Sie zögert und schüttelt den Umschlag. Er enthält eindeutig etwas Kleines, aber Schweres. Neugierig tritt sie einen Schritt zurück, den Brief nach wie vor in der Hand, und trägt ihn die Treppe hoch.

Im Bad lässt Lila Wasser in die Wanne laufen – Wasser, das so heiß ist, wie sie es gerade noch aushält. Sie schaut zu, wie Dampf aufsteigt und der Spiegel über dem Waschbecken beschlägt. Mit einem tiefen Atemzug greift sie zu ihren Tabletten und nimmt zwei davon, bevor sie erneut den Umschlag in die Hand nimmt.

Die Schrift ist ihr fremd, der Poststempel verschmiert und unleserlich. Sie schiebt den Finger unter die Lasche und zieht ein getipptes Schreiben sowie mehrere gefaltete Unterlagen heraus. Sie schüttelt den Umschlag ein letztes Mal, und ihr fällt ein schwerer Silberschlüssel in die Hand. Sie starrt ihn eine Weile an, dreht ihn anschließend um und spürt die beruhigende Rundung zwischen ihren Fingern. Als sie so weit ist, greift sie nach dem Schreiben und beginnt zu lesen.

Eine Stunde später kommt Tom nach Hause. Undeutlich sieht sie die Umrisse seines Gesichts über der Wasseroberfläche. Sie sieht, wie er Augen und Mund erschreckt aufreißt, bevor sie keuchend auftaucht.

»Meine Güte«, ruft Tom, sich an die Brust fassend. »Ich dachte schon …« Kopfschüttelnd starrt er sie an. »Was machst du da?«

»Na, was wohl. Ich bade.«

Tom fährt sich durchs Haar. »Tut mir leid, aber du hast mich erschreckt.« Er holt tief Luft und lockert den Knoten seiner Krawatte. »Und, wie war dein Tag?«

»Gut.« Sie greift nach dem Waschlappen. »Und deiner?«

»Gut.« Er zögert. »Warst du draußen?«

»Ja, ich bin in den Park gegangen. Es war schön.« Sie schafft es nicht, seinem Blick standzuhalten, trocknet sich lieber das Gesicht ab.

»Prima.« Er lächelt. »Hast du mit Suzie über die Arbeit gesprochen?«

Lila nickt.

»Und?«

»Im Moment ist nicht viel los.« Das Wasser wird kalt, Lila setzt sich auf, schlingt die Arme um die Knie und stützt das Kinn darauf. »Die meisten unserer Kunden kürzen ihre Etats. Sie meint, dass ich mir so viel Zeit nehmen soll, wie ich brauche.«

»Das ist toll.« Tom sieht sich im Bad um, und sein Blick bleibt am Schlüssel auf der Waschbeckenablage hängen. »Was ist denn das?« Er greift danach, wiegt ihn in der Hand.

»Der kam heute mit der Post.«

»Wozu gehört er?« Er greift nach dem Umschlag und den Unterlagen daneben.

»Keine Ahnung.« Lila versucht, sich nicht zu ärgern, dass er ihre Privatkorrespondenz liest, ohne sie vorher um Erlaubnis zu fragen.

»Wer ist Gordon & Boyd?«

»Eine Anwaltskanzlei, nehme ich an.«

Er schaut von dem getippten Schreiben auf. »Hat das was mit dem Testament deines Vaters zu tun?«

»Keine Ahnung.« Sie versucht, gelassen zu klingen. »Ich glaube eher nicht. Es ist eine andere Kanzlei.«

Tom sieht sie an wie eine Wildfremde. So als wollte er einschätzen, ob sie ihm freundlich oder feindlich gesinnt ist. Schulterzuckend legt er den Schlüssel zurück auf die Waschbeckenablage. »Gut. Sehen wir uns unten?«

»Natürlich.« Sie sieht ihm nach, wartet, bis sich die Tür hinter ihm geschlossen hat, bevor sie den Warmwasserhahn aufdreht und noch einmal untertaucht.

Sie essen gemeinsam in der Küche zu Abend. Lila im Schlafanzug, ihr Haar feucht vom Baden. Tom hat sich über den Teller gebeugt, trägt immer noch sein zerknittertes Hemd und die Anzughose. »Hast du dich heute mit jemandem getroffen?«, bricht er schließlich das Schweigen.

»Nein.«

»Hast du morgen schon was vor?«

Sie schüttelt den Kopf.

»Mum will dich anrufen. Sie lässt fragen, ob du Lust hast, Ende der Woche mit ihr in die Stadt zu gehen.«

Sie mustert ihn eindringlich. »Du musst keine Verabredungen für mich ausmachen, Tom.«

»Das tue ich auch gar nicht. Sie will dich sehen.«

Lila zieht eine Braue hoch, bevor sie sich wieder aufs Essen konzentriert. Sie hat keinen Hunger, schiebt das Huhn auf dem Teller hin und her, als könnte sie es zum Verschwinden bringen, indem sie es in immer kleinere Stücke schneidet.

Er seufzt. »Lila, ich versteh das schon. Erst der Herzinfarkt deines Vaters … und dann …« Er kann es nicht aussprechen, und sie kann ihm nicht in die Augen schauen. Tom räuspert sich und versucht es erneut. »Ich glaube nur, dass es dir nicht guttut, dich so abzuschotten. Du trauerst, ja, aber vielleicht ginge es dir besser, wenn du ausgehen und Freunde treffen würdest.«

Lila schüttelt den Kopf. »Es geht mir gut. Ich hab dir doch gesagt, dass ich im Park war.«

»Ja, aber allein durch die Gegend zu laufen ist nicht …«

»Tom«, erwidert sie warnend. »Hör auf, mein Leben zu organisieren. Hör auf, mich heilen zu wollen.«

Er hebt ergeben die Hände, und beide konzentrieren sich wieder auf ihre Teller. Nur das gelegentliche Klappern von Besteck ist zu hören.

»Und, was wirst du wegen des Briefs unternehmen?«, fragt er schließlich. »Die Sache kommt mir ziemlich seltsam vor.«

Lila nickt. »Ich weiß. Warum sollte mir jemand ein Stück Land vermachen?«

»Es könnte zum Nachlass deines Vaters gehören.«

Sie schüttelt den Kopf. »Das glaube ich nicht. Das wurde schon vor Wochen geklärt. Ich habe etwas Geld geerbt, von Grundbesitz war nie die Rede. Außerdem steht in dem Brief, dass es eine anonyme Schenkung ist.«

Tom runzelt die Stirn. »Hast du einen Blick auf die Karte geworfen? Es ist ein ziemlich großes Stück Land. Kennst du die Gegend?«

»Nein. Es scheint sehr abgelegen zu sein. Am nördlichen Rand des Peak District. Ich war noch nie in dieser Gegend und kenne erst recht niemanden von dort.«

Toms Stirnfalten werden tiefer. »Am besten, du rufst morgen in der Anwaltskanzlei an und versuchst, mehr herauszufinden. Irgendwas müssen die dir doch sagen können.«

»Ja.« Sie schiebt ihr Essen an den Tellerrand und legt das Besteck sorgfältig in die Mitte. »Und wenn das nichts ergibt, könnte ich hinfahren und mich dort umsehen.«

Toms Hand erstarrt, Messer und Gabel schweben über dem Teller.

»Warum erstaunt dich das so? Ich habe die Karte und den Schlüssel. Schaden kann es ganz bestimmt nicht.«

Tom schürzt die Lippen. »Es ist nur alles etwas seltsam.«

»Wir könnten zusammen hinfahren«, schlägt sie behutsam vor. »Dieses Wochenende … oder nächstes. Es würde uns guttun, mal rauszukommen, und sei es nur für kurze Zeit.«

Tom zögert. Sie merkt, dass er über ihren plötzlichen Tatendrang staunt. Natürlich findet er das merkwürdig, nachdem sie sich die letzten Wochen im Haus verkrochen und kaum etwas anderes getan hat, als zu schlafen, zu weinen und ziellos durchs Haus zu laufen. Aber ein unbekannter, weit entfernter Ort … einer, wo man sie nicht kennt, wo niemand weiß, was passiert ist … das klingt seltsam verlockend.

Doch Tom schüttelt den Kopf. »Ich kann nirgendwohin – nicht, bis mein neuer Entwurf durch ist.«

»Na ja«, sagt sie und schaut auf den Tisch. »Ich kann auch allein fahren.«

»Nein«, sagt Tom rasch. »Ich möchte gern mitkommen. Gib mir ein, zwei Wochen Zeit, dann begleite ich dich.« Er schiebt den Teller weg und lächelt sie an. »Du hast recht, so ein Tapetenwechsel könnte Spaß machen … eine Art Abenteuer.«

»Gut«, willigt Lila ein. »Ich werde warten. Eine oder zwei Wochen.« Sie nimmt seinen Teller, stellt ihn auf ihren und trägt beide zur Spüle, wo sie die Essensreste in den Müll wirft. Keiner von beiden scheint richtig Appetit zu haben.

Als sie später im Bett liegen, greift Tom nach ihr und versucht, sie an sich zu ziehen. Seine Finger berühren die Prellungen an ihren Rippen, und sie atmet scharf ein.

»Entschuldige«, sagt er. »Tut es noch weh?«

»Ja.« Sie dreht sich weg und starrt in die Dunkelheit. Natürlich tut es weh. Sie hat Angst, dass es für immer wehtun, dass der Schmerz in ihrer Brust niemals aufhören wird.

»Entschuldige«, murmelt er erneut.

Sie spürt, wie er sich auf der Matratze dreht, und weiß, dass er auf dem Rücken liegt und an die Decke starrt. Sie sind nur durch wenige Zentimeter voneinander getrennt, trotzdem ist da eine Riesenkluft zwischen ihnen. Es gibt so vieles, worüber sie nicht geredet – so vieles, dem sie sich noch nicht gestellt haben. Wörter und Bilder drängen in ihr Bewusstsein. Sie schiebt sie beiseite, versucht sich stattdessen auf Toms langsamer werdende Atmung zu konzentrieren.

Lila weiß, dass sie kein Auge zutun wird. Ihr Körper ist angespannt, ihre Gliedmaßen sind unruhig, und ihre Gedanken rasen. Sie hat Angst – Angst davor einzuschlafen, Angst vor dem Gefühl, in einen dunklen Abgrund zu fallen, das Bewusstsein zu verlieren. Sie wartet, bis Tom leise schnarcht, schlüpft dann vorsichtig aus dem Bett und geht auf Zehenspitzen ins Bad.

Das Fläschchen mit den Tabletten ist halb voll. Die Ärztin war bei der Verschreibung sehr großzügig, hat ihr aber nahegelegt, die Einnahme längstens nach zwei Wochen einzustellen, wenn die Angst nachlasse. Aber Lila hat sich an die Entspannung gewöhnt, die dann in ihr aufsteigt und den Schmerz lindert, allem Grübeln seinen Schrecken nimmt.

Deshalb schraubt sie den Deckel auf und spült zwei weitere Pillen mit Leitungswasser hinunter.

Unten liegt der Brief auf dem Esstisch, daneben glänzt der Schlüssel im Schein einer Straßenlaterne. Während Lila darauf wartet, dass die Medikamente wirken, zieht sie einen Stuhl vom Tisch weg, nimmt den Schlüssel und wiegt ihn in der Hand. Stadtlärm dringt an ihr Ohr. Ein Martinshorn in der Ferne, hohe Absätze auf dem Bürgersteig, die sich laut klappernd entfernen, das leise Bellen eines Hundes. Während die schlimmsten Bilder in ihrem Kopf verblassen, grübelt sie über den Schlüssel und das mysteriöse Schloss nach, in das er passt. Darüber, was wohl hinter der Tür liegen mag, die er öffnet.

2

Juli

1980

Einer nach dem anderen taucht in der Küche auf, angelockt von klirrenden Flaschen und dem betäubenden Duft nach Marihuana, bis alle fünf um den wackligen Holztisch sitzen, Bier trinken und Joints herumgehen lassen. Jemand drückt die Play-Taste des quietschenden Kassettenrekorders, und die ersten Takte von Going Underground ertönen, plärren in die heiße, stille Nacht hinaus. Ein Feuerzeug flackert im Dunkeln auf, ein Aschenbecher wird weitergereicht, eine Flasche geöffnet. Im Rauchdunst über ihren Köpfen verdichtet sich eine Atmosphäre des Wartens. Sie warten auf eine kühle Brise, warten auf den Abschied – darauf, dass das wahre Leben beginnt.

»Sieht ganz so aus, als wäre es endlich Sommer«, sagt Kat und lässt den Rest Bier in ihrer Flasche kreisen. Sie hat die nackten Füße auf die Tischkante gestützt, hebt die Arme, schüttelt ihr feuchtes kastanienbraunes Haar und dreht es zu einem Knoten, bevor sie es wieder schwer auf die Schultern fallen lässt. »Es ist so was von heiß heute Nacht.«

»Ich habe gesehen, wie Kinder auf der Kühlerhaube ein Spiegelei gebraten haben«, sagt Ben und legt Tabak in ein Blatt Zigarettenpapier. »Es sah ziemlich appetitlich aus, ich hätte es gegessen.«

»Warum wundert mich das kein bisschen?«, fragt Carla und verdreht die Augen.

Eine Kerze flackert auf dem Tisch, sie spiegelt sich in den überall herumstehenden Bierflaschen und taucht alle in ein unheimliches Flackerlicht. Kat spielt mit den Fransen am Saum ihrer abgeschnittenen Jeans. »Wir sollten dankbar dafür sein. Nächste Woche gießt es bestimmt wieder in Strömen.« Sie schüttelt frustriert den Kopf. »Wir sollten feiern … irgendetwas tun, statt bloß rumzusitzen und Eiern beim Braten zuzuschauen.«

Simon lacht am Kopfende des Tisches leise auf und dreht den Kronkorken seines Biers wie einen Kreisel. »Du meinst, ein letztes Freudenfest, bevor wir alle nach Hause fahren und uns in die Schlangen vor dem Arbeitsamt einreihen?«

»Sieh uns doch an«, sagt Ben, leckt an seiner Selbstgedrehten und klebt sie routiniert zu. »Lauter erfolgreiche Uniabsolventen des Jahrgangs 1980. Drei Jahre hocken wir schon herum, bauen Joints und halten uns an unseren Bierflaschen fest.« Er dreht das Ende des Joints zusammen, reißt ein kleines Stück aus der Zigarettenschachtel und rollt die Pappe zu einem Mundstück.

»Du musst nicht von dir auf andere schließen«, sagt Kat. Sie hat die letzten Wochen mit dem Schreiben von Bewerbungen verbracht und bisher nichts als unfreundliche Absagen bekommen. Trotzdem hat sie die Hoffnung nicht aufgegeben.

»Außerdem weiß ich nicht so genau, ob unser Mac ein Bier umklammern kann.« Simon zeigt mit dem Kinn auf Mac, der zusammengesunken in einer Ecke hockt. Sein dunkles Haar fällt ihm wie ein Vorhang vors Gesicht.

Ben lacht, klappt mit einem Klicken sein Zippo-Feuerzeug auf, hält die Flamme an den Joint und fackelt das zusammengedrehte Ende ab. Zufrieden führt er den Joint zum Mund und inhaliert zweimal tief, bis dieser rot aufglimmt. Er zieht noch einmal daran und reicht ihn dann Simon. Kat sieht zu, wie Simon inhaliert. Sein Gesicht wird ganz hohl, und seine Wangenknochen zeichnen sich scharf ab. Er hebt das Kinn zur Decke und bläst eine lange Rauchsäule aus. Er nimmt einen zweiten Zug und reicht den Joint Carla. Kat schaut ihn noch immer an, als er wieder in die Runde sieht und ihren Blick auffängt. Er grinst sie im Dunkeln an.

Die Kassette stoppt mit einem Klicken. Kat steht auf, um sie umzudrehen, und beim Zurückkommen sieht sie, dass das Kerzenlicht alle fünf in eine goldene Blase gehüllt hat. Das Schummerlicht kaschiert die weniger appetitlichen Details ihrer Studentenbehausung. Am Rande des Zimmers steht eine verkrustete Kochplatte, grüne Schimmelflecken erblühen an den Wänden, die Türen der schmutzigen Oberschränke hängen schief in den Angeln. Bens kitschiges Poster von Kate Bush im Leopardenlook löst sich von der Wand, der Mülleimer quillt über, Chipstüten und Bierflaschen liegen auf dem klebrigen Linoleum herum. Hinter ihr türmen sich schmutzige Töpfe und Pfannen, für deren Reinigung ihnen seit Längerem die Kraft fehlt. Kat weiß, dass sich irgendwann jemand ihrer erbarmen wird, vermutlich Carla. Das Kerzenlicht verhüllt den ganzen Müll und Verfall. Im Moment gibt es nur sie, ihre Freunde, die Musik und die Rauchwolke über ihren Köpfen. Kat betrachtet ihre zusammengewürfelte Wahlfamilie und lächelt. Eine goldene Blase. Vermutlich haben sie in den letzten Jahren ihres Studiums genau darin gelebt.

»Schläft er?«, fragt Carla und nickt zu Mac hinüber.

»Keine Ahnung. Mac!« Simon beugt sich vor und gibt ihm einen Stoß zwischen die Rippen. »Mac, aufwachen!«

»Was ist denn?«, fragt Mac, streicht sich das Haar aus dem Gesicht und reibt sich die Augen. »Ich bin wach.«

»Na klar!«

»Nicht einschlafen«, befiehlt Carla. »Das ist einer unserer letzten Abende. Den sollten wir nicht einfach so verplempern.«

Einer ihrer letzten Abende. »Ja«, pflichtet ihr Kat rasch bei. »Lasst uns keine Minute davon verschwenden. Lasst uns etwas tun.« Sie pult das Bieretikett ab. »Ihr seid als Mitbewohner natürlich unausstehlich, aber sogar ich muss zugeben, dass ich euch vermissen werde.«

»Gut«, sagt Simon. »Woran hattest du gedacht?«

»Morgen soll es wieder heiß werden. Wie wär’s mit einem Ausflug ans Meer?« Carla schmiegt sich in Bens Arm. »Baden, Fish and Chips, ein Eis. Du könntest uns hinfahren, Mac, einverstanden?«

Mac gähnt. »Gern.«

Simon schüttelt den Kopf. »Da werden wir nicht die Einzigen sein. Das wird furchtbar. Außerdem brauchen wir fast den ganzen Tag, bis wir überhaupt dort sind.«

»Wie wär’s mit dem Kanal hinterm Haus?«, fragt Ben grinsend und nimmt einen langen Zug vom immer kleiner werdenden Joint, bevor er ihn weiterreicht. »Falls ihr unbedingt schwimmen müsst.«

Kat lacht entgeistert auf. »Du bist wirklich ein Schwein, Ben. Nur du kannst auf die Idee kommen, in diese Jauchegrube zu springen.« Sie wendet sich an Carla. »Und mit diesem Kerl gehst du ins Bett?«

Ben rülpst laut und schmiegt sein rotblondes Ziegenbärtchen in Carlas Nacken. »Lass dich von ihrem damenhaften Äußeren nicht in die Irre führen. Sie mag es gern ein bisschen schmutziger.«

»Ja, ja«, sagt Carla und nimmt seinen Kopf in die Hände. Kat winkt dankend ab, als der Joint zu ihr kommt. Sie ist bereits zu betrunken, und der grässlich gemusterte Linoleumboden, auf dem sie die letzten beiden Jahre gelebt haben, schwankt bedrohlich vor ihren Augen. Alle schweigen, während sie über ihre dahinschwindenden Möglichkeiten nachdenken, bis Mac vom Kopfende des Tisches aus das Wort ergreift. Er spricht so leise, dass sie sich vorbeugen müssen, um ihn überhaupt zu verstehen. »Es gibt da einen Platz.« Er zögert. »Einen See. Draußen auf dem Land. Ich bin als Kind dort gewesen.« Er räuspert sich. »Es war okay dort. Echt nett, meine ich.«

»Ein richtiger See?«, fragt Kat stirnrunzelnd.

»Ja.« Mac nickt und schüttelt sich das Haar aus dem Gesicht. »Ich würde ihn bestimmt wiederfinden.«

»Wie weit ist er weg?«, fragt Simon, während der Kronkorken seines Biers ruhig in seiner Hand liegt.

Mac zuckt mit den Schultern. »Ich denke, so ein, zwei Stunden in Richtung Norden.«

»Was meint ihr?«, fragt Simon und dreht sich zu den anderen um, während seine Augen im Kerzenlicht funkeln.

Carla greift in den Ausschnitt ihres T-Shirts und zieht es von ihrer Haut weg. »Mir ist so heiß, dass ich den Kanal ernsthaft in Erwägung ziehe. Ich bin auf jeden Fall mit dabei.«

Ben nickt. »Ich auch.«

»Ich ebenfalls«, sagt Kat und drückt das kalte Glas der Bierflasche gegen ihre Stirn.

Alle drehen sich zu Simon um. Er starrt zurück, sein Blick ist dunkel und undurchschaubar. Während Kat ihn ansieht, spürt sie wieder, wie ihre Kehle eng wird. Sag ja, beschwört sie ihn insgeheim.

Mit einer raschen Bewegung wirft er den Kronkorken in die Luft, fängt ihn wieder auf, dreht ihn auf dem Handrücken um und mustert ihn wie eine Münze. »Abgemacht«, sagt er grinsend. »Wir sollten uns amüsieren, bevor wir die Wohnung auflösen, und …«

»… morgen losfahren?«, fragt Kat.

»Ja genau, morgen«, bekräftigt er ihre Worte, und Kat spürt, wie sie erleichtert lächelt.

Am nächsten Morgen rechnet Kat damit, dass die anderen den Plan vergessen haben. Doch zu ihrer Überraschung quetschen sich am Ende alle in Macs klapprigen Kleinwagen und verlassen die Stadt – genau in dem Moment, als die Kirchturmuhr zehn schlägt.

»Auf die Plätze, fertig, los«, ruft Simon. Er sitzt vorn neben Mac, während Carla, Ben und Kat sich auf den Rücksitz zwängen müssen. Alle scheinen sich auf den Ausflug zu freuen. Carla hat sogar Zeit gefunden, Käsebrote zu schmieren und eine Kühltasche mit Bier und Limonade vollzupacken. Die Flaschen klappern fröhlich im Kofferraum.

»Kommt bloß nicht auf blöde Ideen«, sagt Kat warnend, als sie sieht, wie Bens Hand Carlas Schenkel emporwandert. Sie wendet sich ab und starrt auf die Wölbung von Simons Nacken, die durch die Lücke zwischen Sitz und Kopfstützen zu sehen ist. Sie sieht den dünnen Schweißfilm auf seiner olivbraunen Haut und das herzförmige Muttermal direkt unter dem linken Ohrläppchen. Gern würde sie ihn berühren, traut sich aber nicht.

Die Stadt leidet bereits an den Folgen eines weiteren, unerwartet heißen Sommertags – wie ein Tourist, der seinen Sonnenbrand zur Schau stellt. Die Straße flimmert in der Hitze, der schwarze Teer weicht auf, das Gras am Straßenrand wird trocken und braun wie Karamell.

Nach einer Weile wird es im Auto trotz der heruntergekurbelten Fenster unerträglich. Es fühlt sich an, als säßen sie in einem heißen Föhnstrahl. Kat schaut auf eine große Plakatwand mit Werbung für Kartoffelbrei. Neidisch sieht sie sich anschließend nach ein paar kleinen Kindern um, die sich an einer Straßenecke kreischend mit Wasserpistolen nass spritzen. Zwei Frauen, die sich die Haare mit einem Schal hochgebunden haben, sitzen auf einer Ziegelmauer und wickeln Schokoladeneis aus weißem Papier, während sie den tobenden Kindern zuschauen. Langsam quält sich das Auto durch den Verkehr und erreicht schließlich die offene Landstraße.

Kat hielt es für eine gute Idee, etwas zu unternehmen, was anderes zu tun. Aber je länger sie auf dem Rücksitz des winzigen Wagens sitzt, desto beengter fühlt sie sich. Die Bänder ihres Bikinis schneiden ihr schmerzhaft in den Nacken, und Carlas dellige Schenkel drängen sich heiß gegen ihre. Ihre Arme streifen sich zufällig und bleiben beinahe aneinander kleben. Kat rückt näher zum Fenster, genervt von ihrem Kater und dem Biergeschmack von gestern Abend, der einen unangenehmen Belag auf ihrer Zunge bildet.

»Du bist so still«, sagt Simon, dreht sich um und mustert sie durch seine schwarze Sonnenbrille. »Alles in Ordnung?«

Sie nickt.

»Hast du einen Kater?«

Sie nickt erneut, und Simon grinst. »Das wundert mich nicht. Beim Anblick von Bens Hemd bekomme selbst ich Kopfschmerzen.«

»He, was hast du gegen mein Hemd? Wir sind schließlich im Urlaub«, murrt Ben und zupft am Stoff mit dem wilden Hawaii-Muster. Aber allen ist zu heiß, um etwas darauf zu erwidern, sodass Simon wieder nach vorn schaut. Das graue Asphaltband breitet sich endlos vor ihnen aus. Eine Straße, die ins Nirgendwo führt, denkt Kat und lehnt den Kopf an die Scheibe, um eine Weile zu dösen.

»Wohin fahren wir eigentlich?«, hört sie Ben etwa eine Stunde später fragen, als sie ein weiteres idyllisches Dörfchen aus schiefen Steincottages und gewundenen Gassen durchfahren. »Der Peak District ist nicht mehr weit, oder?«

»Ja, Richtung Norden.«

»Bringst du uns in den Nationalpark?«

Mac zuckt mit den Schultern. »Keine Ahnung. Vielleicht gehört der See zum Park, vielleicht einem Bauern.«

»Na, ganz toll«, sagt Kat und öffnet ein Auge einen Spalt. »Ich wusste gar nicht, dass wir vorhaben, uns von einem wütenden Bauern über den Haufen schießen zu lassen.«

»Du warst doch scharf auf ein Abenteuer«, sagt Simon und dreht sich erneut zu ihr um. »Mac weiß schon, was er tut, stimmt’s, Mac?«

Aber Mac schweigt, konzentriert sich auf die Straße, bringt sie immer tiefer in die üppig wuchernde Natur hinein. Sie fahren an Rapsfeldern vorbei, die golden in der Sonne schimmern, und an grünen, mit schwarz-weißen Kühen übersäten Weiden.

Eine weitere Stunde vergeht, und sie vertreiben sich die Zeit mit Ich sehe was, was du nicht siehst und streiten wie kleine Kinder über die Musik. Die Mädels wollen Blondie hören, werden aber überstimmt, stattdessen wird Bens Album eingelegt.

»The Clash?«, stöhnt Carla. »Nicht schon wieder.«

Kat schließt die Augen und versucht, die lauten Gitarrenklänge auszublenden. Ihre Kopfschmerzen werden schlimmer.

»Wir müssten bald da sein«, sagt Carla und bindet ihr kupferrotes Haar zu einem hochsitzenden Zopf. »Es ist ziemlich heiß hier hinten. Wenn es noch weit ist, könnte ich eine kleine Pause gebrauchen.«

»Was meinst du, Kumpel?«, fragt Ben und beugt sich zwischen den Sitzen nach vorn. »Wie weit ist es noch?«

»Ich bin mir nicht sicher«, sagt Mac, ohne auch nur vom Lenkrad aufzuschauen.

»Du bist dir nicht sicher?« Kat ist fassungslos. »Ich dachte, du weißt, wo der See ist?«

Mac zuckt nur mit den Schultern.

»Wann bist du denn das letzte Mal dort gewesen?«

Mac zuckt wieder mit den Schultern, sein Blick ist stur geradeaus gerichtet. »Keine Ahnung.«

Simon mustert Mac und bricht dann in Gelächter aus. »Genau das mag ich so an dir, Mac! Man kann dich so schwer zum Schweigen bringen.«

Kat lehnt den Kopf an die Scheibe und sieht abwechselnd von einem zum anderen, versucht sich vorzustellen, wie es nächste Woche sein wird, wenn sie nach dem Uniabschluss ihre Sachen packen und sich voneinander verabschieden werden. Zwei Jahre haben sie zusammen in dem chaotischen Reihenhaus verbracht. Obwohl sie über den Abwasch, Toilettenpapier, Haushaltspflichten und Rechnungen gestritten haben, weiß sie, dass sie Bens lässigen Humor, Carlas warme Großzügigkeit und Macs seltsam in sich gekehrte Art vermissen wird. Und Simon … nun, der ist sowieso einzigartig. In der kurzen Zeit ihrer Bekanntschaft sind ihre Freunde ihr Ein und Alles geworden.

Zwanzig Minuten später verlangsamt Mac die Fahrt auf einer gewundenen Landstraße, setzt den Blinker und biegt in einen überwucherten, mit Steinen und Schlaglöchern übersäten Weg ein. Am hohen Gras in seiner Mitte sieht man, dass darauf lange kein Fahrzeug mehr gefahren ist. Kat beugt sich vor und schaut aus dem Fenster, sucht nach Lücken in der Hecke, die einen Blick auf in der Ferne blau schimmerndes Wasser erlauben. Doch da ist nichts. Während sie über den unebenen Boden holpern und die Mittagssonne erbarmungslos auf sie herabbrennt, wünscht sich Kat sehnlichst, endlich anzukommen.

Die Hecken sind hoch, voller Disteln und Dornbüsche. Nistende Spatzen schießen aus dem Unterholz hervor, während Kohlweißlinge sich flatternd vom blauen Himmel abheben. Eine riesige, pollentrunkene Biene weht durchs offene Fenster herein. Carla kreischt auf und schlägt wie wild um sich, bis es Ben gelingt, das Insekt unversehrt aus dem Auto zu scheuchen. Weit über ihnen kreist die schwarze Silhouette eines Habichts am Himmel. Simon zeigt darauf, und alle staunen ehrfürchtig, wie er schattengleich über ihnen schwebt.

Ruckelnd setzen sie ihren Weg minutenlang fort, bis die Hecken immer näher zusammenrücken und Brombeerranken das Auto verkratzen. »Bist du sicher, dass das der richtige Weg ist?«, fragt Ben und beugt sich erneut auf dem Rücksitz nach vorn. »Hier können wir nicht wenden, wenn der Wagen stecken bleibt.«

»Wart’s ab«, sagt Mac.

Ben und Kat tauschen einen besorgten Blick, aber nach wenigen Hundert Metern wird der Weg plötzlich wieder breiter. Mac stellt den Wagen an der grasbewachsenen Böschung ab und macht den Motor aus.

»Ich sehe keinen See«, sagt Kat.

»Wir müssen da durch.« Mac zeigt auf ein hölzernes Gatter, das schief in den Angeln hängt und durch die dichten Brombeersträucher und Weißdornbüsche kaum zu erkennen ist. Sie starren es an. Nichts als das laute Summen der Insekten und das Brummen des Motors unter der Kühlerhaube ist in der Stille zu hören, die sich auf sie herabgesenkt hat.

»Wohin führt der Weg?«, fragt Simon und zeigt mit dem Kinn dorthin, wo er sich über einen Hügel in der Ferne windet.

»Keine Ahnung«, sagt Mac schulterzuckend. »Ins Moor, nehme ich an. Aber der See liegt in dieser Richtung. Los, nehmt eure Sachen.«

»Wir gehen zu Fuß?«, fragt Kat entsetzt.

Sie holen ihre Sachen aus dem Kofferraum – Hüte, Handtücher, eine alte karierte Wolldecke, die Tasche mit den Getränken und belegten Broten – und klettern nacheinander über das ächzende Holzgatter. Das Gras der Weide auf der anderen Seite ist fast hüfthoch und strotzt von Margeriten und scharlachrotem Mohn, der in der heißen Sonne dahinwelkt. Im Gänsemarsch bahnen sie sich einen Weg, während Mac sie auf eine dichte Baumreihe in der Ferne zuführt.

Heuschrecken stieben davon, während sie durchs hohe Gras gehen. Eine riesige blaue Libelle fliegt in Kat hinein und surrt dann im Zickzack übers Feld davon, während ihr lautes Flügelsurren leiser wird. Ben hat sich bereits einen neuen Joint angezündet, der riecht wie ein exotisches Parfüm. Kat spürt, wie Schweiß vom Hals zwischen ihre Brüste rinnt. Sie wischt ihn mit dem Saum ihres T-Shirts ab, gibt ihren Bauch und unteren Rücken der Sonne preis. Ihr Kater wird immer schlimmer.

Als sie das Wäldchen am anderen Ende der Weide erreicht haben, folgen sie Mac durch den Baumschatten. Ein feuchter, erdiger Geruch steigt vom Boden auf. Farnwedel nicken ihnen zu, als sie vorbeigehen. Riesige Brennnesselstauden streben zum Blätterdach empor. Es ist ruhig, nichts als ihre Schritte und das Knistern trockener Blätter und Äste unter ihren Schuhen ist zu hören. Kat hat das Gefühl, meilenweit vom Lärm der Großstadt entfernt zu sein.

Schließlich brechen sie zwischen Holunderbüschen hervor, doch von einem See fehlt nach wie vor jede Spur. Kat betritt hinter den anderen einen grasbewachsenen Grat, ihr Kopf dröhnt im Rhythmus ihrer Schritte, bis Mac auf halbem Weg stehen bleibt und sich umsieht, als versuchte er sich zu orientieren.

Carla stöhnt. »Sag nicht, dass wir uns verlaufen haben.« Ihr hoch sitzender Zopf welkt in der Hitze, ihre runden Wangen bekommen rote Flecken.

»Nein«, erwidert Mac kopfschüttelnd. »Los, weiter.« Er führt sie bis ans andere Ende des Grats und dann einen langen, mit Grasbüscheln übersäten Hang hinunter, bevor er hinter einer dichten Brombeerhecke verschwindet.

Einer nach dem anderen geht ihm nach, Kat bildet missmutig das Schlusslicht. Als sie auf der anderen Seite der Büsche herauskommt, läuft sie beinahe in Carla hinein, die abrupt stehen geblieben ist.

»Tut mir leid«, murmelt sie, hebt den Kopf und folgt dem Blick der anderen, nimmt das Panorama in sich auf. Sie atmet laut hörbar aus. »Ah!«

»Ja«, sagt Simon.

»Das ist … das ist ja …« Ihr fehlen die Worte.

»Perfekt«, sagt Carla und beendet ihren Satz.

»Unglaublich«, ruft Ben. »Und kein Mensch da.« Mac verliert kein Wort, steht einfach nur mit einem dümmlichen Grinsen auf seinem roten Gesicht da.

Sie befinden sich oberhalb eines grasbewachsenen Hangs und schauen in ein kleines grünes Tal, in eine von smaragdgrünen Hügeln und schattigen Wäldern umschlossene Talmulde. Das Beste daran ist der schimmernde See inmitten der Hügel, der wie ein Spiegel in der Sonne glitzert. Nach der langen Autofahrt und der anstrengenden Wanderung durch die Felder und Wälder kommt ihnen die Landschaft wie eine Fata Morgana vor. Kat schützt die Augen vor der grellen Sonne.

Sie war noch nie gut darin, Entfernungen zu schätzen, aber der See hat eine angenehme Größe. Er ist bestimmt dreihundert Meter breit und achthundert Meter lang, also auf jeden Fall mehr See als Teich. Das blitzende blaue Auge, eingebettet in die umgebende Landschaft, vermittelt den Eindruck, als wären sie in einem geheimen Tal gelandet, inmitten einer ungewohnten, köstlichen Einsamkeit.

Kat reißt sich vom Anblick des Wassers los und mustert ein altes steinernes Cottage, das etwas zurückgesetzt vom Seeufer liegt. Ein schlichtes kleines Haus mit viereckigem Grundriss, einem dreieckigen Dach und je zwei quadratischen Fenstern im Ober- und Erdgeschoss. Letztere flankieren eine rechteckige Tür. Ein Kamin ragt auf einer Seite des Daches empor und betont die symmetrische Anlage des Gebäudes. Während Kat es ansieht, muss sie an einfache Kinderzeichnungen mit Wachsmalkreiden denken. Hinter dem Cottage kann sie eine alte windschiefe Scheune erkennen, die sich gefährlich schräg an den Hügel lehnt, und, näher am See, einen brüchigen Holzsteg, der vom Ufer zu einem alten Blechboot führt. Es ist mit einem zerfransten Seil an einem Pfosten im Wasser befestigt.

Das Cottage, die Scheune, der Steg und das Boot verweisen auf den früheren Besitzer. Doch man merkt an der Stille, an der Atmosphäre von Vernachlässigung und Verfall, die über den Gebäuderuinen liegt, dass hier seit Langem keiner mehr wohnt. Ben hat recht, merkt Kat. Der See gehört ihnen ganz allein.

Ein Fisch springt aus der gläsernen Wasseroberfläche empor und bricht den Bann, der sie gefangen gehalten hat. Mit einem lauten Jubelschrei rennt Simon den Hang hinunter, Ben und Carla folgen ihm dicht auf den Fersen. Simon erreicht den Steg als Erster. Er läuft ihn entlang und schält sich dabei aus seinem T-Shirt. Kat sieht, wie sich seine Muskeln unter der olivbraunen Haut bewegen, sieht seine Rippen, als er die Arme über den Kopf streckt und einen fast perfekten Kopfsprung in den See macht. Er verschwindet unter Wasser. Ein Muster aus konzentrischen Kreisen breitet sich als einzige Erinnerung an sein Eintauchen auf der spiegelglatten Fläche aus. Kurz darauf taucht er fünf Meter weiter wieder auf und schüttelt sich das Wasser aus den dunklen Haaren. Wieder schreit er entzückt auf und verschwindet erneut unter Wasser.

Ben ist der Nächste. Er rennt über den Steg, erreicht mühsam das Ufer, während er sich von Hemd und Hose befreit. Als er sich endlich bis auf die graue Unterhose ausgezogen hat, macht er eine Bombe, sodass das Wasser wild aufspritzt. Carla schält sich am Ufer etwas gemächlicher aus Trägerkleid und Top und watet in Unterwäsche ins flache Wasser. Sie schwimmt zu den Jungs hinüber.

»Ganz schön kalt«, ruft sie.

»Nicht, wenn man sich daran gewöhnt hat«, erwidert Simon von weiter draußen, der wassertretend auf dem Rücken liegt. »Es ist herrlich.«

»Kommt«, ruft Ben und wendet sich an Kat und Mac, die nach wie vor am Ufer stehen. »Worauf wartet ihr?«

Kat lächelt Mac kurz an – eine unausgesprochene Entschuldigung, weil sie ihm nicht zugetraut hat, den See wiederzufinden. Dann steigt sie den grasbewachsenen Hang bis zum Ufer hinunter. Dort ragen grüne Schilfstauden in den Himmel, und Wasserzikaden rudern träge in ihrem Schatten herum. Sie bleibt kurz stehen, rafft den gelben Baumwollstoff ihres Rocks bis zum Oberschenkel und sieht, wie Wasserreflexe auf ihren nackten Beinen tanzen.

»Kommt schon«, ruft Simon. Als sie sieht, dass er auf die Mitte des Sees zuschwimmt, gibt sie sich einen Ruck. Sie zieht Rock und Oberteil aus, wirft sie auf den Kies und watet im Bikini ins flache Wasser hinein. Zunächst ist das Wasser noch warm, fast wie in der Badewanne. Dicke grüne Algen bedecken den Kies und die Steine am Grund. Aber je tiefer es wird, desto klarer wird es – und kälter. So kalt, dass sie instinktiv die Arme hochreißt und ihr der Atem stockt. Das Wasser reicht ihr fast bis zur Brust, als sie sich umdreht und Mac zuruft: »Kommst du nicht mit rein?«

Er mustert sie vom Ufer aus, sein zu langer, strähniger brauner Pony verdeckt seine Augen, als er den Kopf schüttelt. Typisch Mac, immer will er nur zusehen. Immer hält er sich im Hintergrund. »Du spinnst! Du musst umkommen vor Hitze.« Aber sie wird keine Zeit darauf verschwenden, ihn zu überreden. Mit angehaltenem Atem taucht sie unter, schlägt mit den Beinen und zieht die Arme durchs Wasser. Sie krault zu den anderen, sieht Luftblasen aus ihrem Mund strömen und wie schillernde Perlen an die Oberfläche steigen.

Als sie wieder auftaucht, lacht Carla, kreischt und versucht vergeblich, Ben unter Wasser zu ziehen. Kat sieht kurz zu, wie sie sich balgen, wendet sich ab und schwimmt weiter hinaus – dorthin, wo sich Simon fröhlich treiben lässt, seinen Körper wie ein Seestern der Sonne zugewandt. Im hellen Licht wirkt seine olivbraune Haut blass vor dem blaugrünen See. Sie starrt ihn an, sieht, wie sich seine Brust hebt und senkt, sein Gesicht zufrieden entspannt. Sie stellt sich vor, zu ihm zu schwimmen, sich um ihn zu schlingen und ihn an sich zu ziehen. Ihren Mund auf seine kühlen, nassen Lippen zu pressen, während sich ihr heißer Atem vermischt und sie ihn schmeckt. Sie fragt sich, wie er wohl reagieren würde, wenn sie den Mut dazu hätte, und bekommt Gänsehaut.

Simons dunkle Augen öffnen sich. Er dreht sich um und mustert sie.

Kat wird rot und fragt sich, ob er Gedanken lesen kann. »Er will nicht rein«, sagt sie, weicht seinem Blick aus und zeigt mit dem Kinn auf Mac. »Keine Ahnung, warum.« Simon schweigt, lässt sich weitertreiben. »Da haben wir den ganzen weiten Weg gemacht, und er will einfach nur am Ufer sitzen bleiben?«

Das Schweigen hält an, bis sich Simon auf den Bauch dreht und mit ein paar gleichmäßigen Zügen zu ihr hinschwimmt. Seine Haut schimmert nass, sein Kinn ist ins Wasser getaucht, seine vollen Lippen verziehen sich zu einem Lächeln. Er ist ihr so nahe, dass sie die winzigen Wasserperlen in seinen langen Wimpern, die Flecken in der Farbe des Sees in seinen Augen erkennen kann. Er sieht sie auf seine typische Art an, als könnte er auf den Grund ihrer Seele blicken. Kat spürt, wie ihr Herz schneller schlägt, und versucht zu atmen. Es kommt ihr wie eine Ewigkeit vor, bis er endlich fragt: »Bist du glücklich, Kat?«

Sie schluckt und versucht, seinem Blick standzuhalten. »Ja«, sagt sie. »Ich denke schon.« Sie überlegt, ob sie richtig geantwortet hat, und holt dann tief Luft. »Ich meine, im Moment schon.« Ihre Wangen werden heiß. »Hast du das gemeint?«

Stille tritt ein. Kat hält die Luft an. Küss mich. Der Gedanke hallt so laut durch ihren Kopf, dass er ihn einfach hören muss.

Aber er küsst sie nicht. Stattdessen lächelt er erneut. Seine Zähne blitzen weiß in der Sonne auf, dann schließt er die Augen und legt sich zurück ins Wasser, lässt Kat dort treiben, während ihre Füße paddeln und ihre Hände kleine kreisende Bewegungen machen, um an Ort und Stelle zu bleiben.

Seit drei Jahren geht das so, denkt sie und tritt Wasser. Ich versuche, an Ort und Stelle, an seiner Seite zu bleiben.

Als sie Simon Everard das erste Mal sah, stand er in einem Ruderboot in der Mitte des Sees auf dem Unigelände und sprach in ein Megafon. Er forderte lautstark dazu auf, gegen die gestiegenen Mensapreise zu protestieren. Kat musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. Sein verblichenes Che-Guevara-T-Shirt und sein schulterlanges, dunkles Haar stempelten ihn als einen weiteren Möchtegern-Revoluzzer ab. Davon gab es mehr als genug. Aber die Szene war eine willkommene Abwechslung, deshalb setzte sie sich mit einer wachsenden Schar Studenten ans Ufer und sah erstaunt zu, wie ein steter Strom Freiwilliger wie die Lemminge ins Wasser sprang, um gemeinsam mit ihm zu protestieren. Das Sicherheitspersonal der Universität sah hilflos zu.

»Eine tolle Figur, was?«, seufzte ein Mädchen mit langem, schimmerndem Haar und den kürzesten Shorts, die Kat je gesehen hatte. Sie saß auf der abschüssigen Wiese neben ihr. Als Kat sich umdrehte, bemerkte sie die breiten Schultern und sehnigen Muskeln unter dem T-Shirt, das ansprechende Gesicht mit den hohen Wangenknochen und dem markanten Kinn, die blitzenden dunklen Augen. Ja, er hatte wirklich eine ziemlich tolle Figur.

Von diesem Tag an fiel er ihr überall auf. Er war einer von denen, die schon durch ihre bloße Anwesenheit Aufmerksamkeit erregen. Nicht nur wegen seines guten Aussehens, sondern auch wegen des Selbstbewusstseins, das er ausstrahlte. Es war, als bräuchte er einen Raum nur zu betreten, die Cafeteria nur zu durchqueren, um alle Blicke auf sich zu ziehen. Sie hatte ihn aus der Ferne beobachtet. Stets stand er im Mittelpunkt, war von Freunden und Bewunderern umgeben. Doch sie hatte sich ihm nie genähert. Typen wie Simon redeten nicht mit Mädchen wie ihr, so viel war klar.

Dann stand er eines Nachts plötzlich zusammengesunken in ihrem Studentenwohnheim und trug nichts anderes als Boxershorts und ein schiefes Grinsen im Gesicht. Sie verlagerte das Gewicht der Umhängetasche mit Büchern aus der Bücherei und sah ihn flüchtig von der Seite an, während sie ihren Schlüssel ins Schloss steckte. Er war offensichtlich total betrunken.

Sie hätte die Tür schließen und ihn sich selbst überlassen können, aber im letzten Moment bekam sie ein schlechtes Gewissen, steckte den Kopf erneut in den Flur. »Alles in Ordnung?«

»Klar«, sagte er leichthin. »Ich bereite mich nur seelisch auf meinen Spaziergang quer über den Campus vor.«

»In diesem Aufzug?«

»Sieht ganz so aus.«

In diesem Moment hörte sie das Weinen hinter der gegenüberliegenden Tür. »Amy?«, fragte sie und musterte ihn misstrauisch.

»Amy«, bestätigte er.

»Ist alles in Ordnung mit ihr?«

Er nickte. »Es geht ihr gut.« Er schien zu spüren, dass diese Erklärung nicht reichte. »Wir scheinen nur ziemlich unterschiedliche Auffassungen darüber zu haben, wie exklusiv unsere Beziehung ist.«

»Ah so.« Aus irgendeinem Grund merkte sie, wie sie rot wurde. »Verstehe.«

»Meine Klamotten sind da drin.« Er zeigte mit dem Kinn auf Amys Tür. »Aber da sie heute nicht gnädig gestimmt ist, werde ich wohl so nach Hause gehen müssen.« Er grinste erneut.

Kat kannte Amy kaum – ein großes, schlankes Mädchen mit einem Kleiderschrank voller Designerklamotten und identisch aussehenden Freundinnen. Kat hatte sich ihr am ersten Tag vorgestellt, danach hatte Amy sie kaum eines Blickes gewürdigt. Sie wusste, dass sie nicht Amys Typ war, konnte aber gut verstehen, warum es dieser Kerl sehr wohl war.

»Na dann«, sagte Kat und versuchte, sich so schnell wie möglich aus dieser Lage zu befreien. »Viel Glück … und gute Nacht.« Sie trat einen Schritt zurück in ihr Zimmer und machte die Tür mit einem leisen Klicken hinter sich zu. Anschließend lehnte sie sich dagegen und lauschte, ob er ging. Als er klopfte, vibrierte es heftig in ihrem Rücken.

»Hör mal«, rief er durch die geschlossene Tür, und sie zuckte zusammen. »Du könntest mir nicht zufällig ein T-Shirt leihen?«

Sie stand da wie gelähmt und brachte kein Wort hervor.

»Egal, was … Ich bin nicht wählerisch. Ehrlich gesagt komme ich mir ziemlich dämlich vor.«

Trotzdem rührte sie sich nicht von der Stelle.

»Ich kann’s dir morgen wiedergeben«, fuhr er fort.

Langsam drehte sie sich um und legte eine Hand auf den Türknauf.

»Bitte.«

Seufzend öffnete sie die Tür. »Ich glaube nicht, dass ich was in deiner Größe habe«, sagte sie und musterte seine glatten, breiten Schultern.

»Darf ich wenigstens kurz reinkommen?« Er fuhr sich über die nackte Brust und zitterte kurz. »Hier draußen zieht’s.«

Widerwillig hielt sie ihm die Tür auf. Er war der erste Mann, den sie in ihre Studentenbude ließ. Sie mochte es gar nicht, wie verlegen er sie in ihren eigenen vier Wänden machte. Wie unverfroren er ihre spärliche Habe musterte. »James Dean … Jim Morrison … Jimi Hendrix«, kommentierte er ihre Poster. »Du magst tragische Helden, was? Live fast, die young?«

Sie erwiderte nichts darauf, suchte stattdessen in einem Kleiderstapel nach etwas Passendem für ihn. »Ich weiß nicht, ob ich was Sauberes …«, murmelte sie.

»Schöne Teekanne.« Er ging zu ihrer Spüle und spielte mit dem blütenförmigen Deckel. »Echt originell.«

Sie sah ihn genervt an. »Soll ich dir jetzt helfen oder nicht?«

»Entschuldige.«

Ihre knallrosa Baumwollbluse war das Einzige, was ihm passen dürfte. Sie drehte sich um und hielt sie ihm hin. »Was anderes hab ich nicht.«

»Danke. Du bist meine Rettung.« Er streifte sie hastig über, knöpfte sie falsch zu und sah prüfend in den Spiegel. »Steht mir gut. Ich bring sie dir morgen zurück. Deine Zimmernummer?«

»Drei zwei vier.«

»Drei zwei vier. Okay, ich werd’s mir merken.«

So betrunken, wie er aussah, zweifelte sie ernsthaft daran.

»Ich heiße übrigens Simon«, sagte er auf dem Weg zur Tür. Sie sah ihm nach, mit einem seltsamen Flattern im Magen. »Danke«, rief er ihr zu und wankte durch den Flur. »Ich bin dir was schuldig.«

Sie hatte nicht damit gerechnet, ihn oder die Bluse wiederzusehen, doch am nächsten Nachmittag kam er wie versprochen vorbei. Zwar verkatert, aber er hatte Wort gehalten.

»Als kleines Dankeschön.« Er gab Kat ihre Bluse, die um eine Flasche Wein gewickelt war. Kat starrte auf das Geschenk, bedankte sich für die nette Geste und nahm ihm alles ab. Sie hatte noch nie zuvor Rotwein getrunken, war eher der Cidre-Typ. »Wo ich schon mal da bin, hättest du nicht zufällig eine Tasse Tee für mich?«, fragte er mit einem dreisten Grinsen. »Aus deiner originellen Teekanne?«

Sie musterte ihn kurz.

»Oder wir machen die hier auf? Nur ein kleiner Schluck gegen den Kater, während ich auf Amy warte …«

Unverschämter Mistkerl, dachte sie und merkte gleich, dass er gewohnt war zu bekommen, was er wollte.

»Na gut«, sagte sie. »Komm rein.«

Es war eine seltsame Freundschaft. Innerhalb eines Jahres wurden sie unzertrennlich, gingen gemeinsam in der Mensa zum Mittagessen, tranken etwas in der Studentenbar und plauderten bei unzähligen Tassen Tee über Musik und Politik, während sie dicht nebeneinander auf dem Bett in ihrem winzigen Zimmer hockten. Trotzdem war sie überrascht, als er sie am Ende des ersten Studienjahres bei einem Cidre fragte, ob sie mit ihm und ein paar Freunden zusammenziehen wollte. Sie starrte in seine dunklen Augen und spürte, dass ihr Herz wie ein Vogel im Käfig flatterte.

»Das Haus ist super«, sagte er und strahlte sie an. »Es hat vier Zimmer. Mein Schuldfreund Ben – wir waren zusammen auf dem Internat – wird sich das größte Zimmer mit seiner Freundin Carla teilen. Sie ist witzig, du wirst sie mögen.« Sie nickte, versuchte das breite Grinsen auf ihrem Gesicht zu verbergen. »Ich nehme das Zimmer direkt daneben«, fuhr er fort, »und du nimmst die Mansarde.« Sie nickte erneut. »Bleibt noch die Kammer. Die geben wir Mac.«

»Mac?«

»Ja.« Simon zuckte mit den Schultern. »Er ist ein bisschen schräg, Typ einsamer Wolf. Aber Ben meint, er kann uns gutes Dope besorgen. Da werden wir schon mit ihm klarkommen.« Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und sah sie kurz an. »Weißt du, was ich so an dir mag, Kat?« Er wartete ihre Antwort gar nicht erst ab. »Du bist eine der wenigen Frauen ohne Hintergedanken.« Er sah sie unter seinen langen Wimpern an. »Wir können richtig befreundet sein, wenn du weißt, was ich meine.«

»Ja.« Sie lächelte schwach. »Ich weiß.«

Natürlich hatte er recht behalten. Sie hatten eine Menge Spaß. Zwei fantastische Jahre lang lebten sie nun schon in ihrer runtergekommenen, feuchten und baufälligen Bude. Kat war noch nie so glücklich gewesen. Ihre neuen Freunde hüllten sie in Herzlichkeit und gute Laune. Sie gaben ihr das Gefühl dazuzugehören, etwas, das sie noch nie erlebt hatte. Lange hatte sie niemanden an sich herangelassen, sondern die Leute auf Distanz gehalten. Sie war stets ein Außenseiter geblieben, da sie schon früh schwer enttäuscht worden war. Vor Simon versuchte sie sich irgendwie immer noch zu schützen.

Sie bemühte sich sehr, sich nicht in ihn zu verlieben, aber während die Semester vergingen, merkte sie, dass sie zunehmend geschickter darin wurde, ihr gebrochenes Herz zu reparieren. Es kam ihr alles so sinnlos vor. Wie konnte man nur so heftige Gefühle für jemanden empfinden, ohne dass es zu irgendetwas führte? Was für eine Verschwendung an Gefühlen, aber auch an Energie. Ihr einziger Trost bestand darin, dass die anderen Mädchen kamen und gingen, sie aber eine feste Größe in Simons Leben blieb. Zwar nicht seine Freundin, aber Teil seiner Welt. Sie konnte die Hoffnung nicht unterdrücken, ihre Stunde würde noch schlagen und er begreifen, dass der Mensch, der zu ihm passte, längst an seiner Seite war.

Kat tritt Wasser und reckt das Gesicht zum Himmel empor, schließt die Augen vor der Sonne. Seit drei Jahren hofft sie nun schon, aber ihre Zeit ist beinahe um. Eine ungewisse Zukunft liegt vor ihr. In wenigen Tagen werden sie die Universität verlassen und getrennte Wege gehen. Kat gelangt zu der schmerzhaften Erkenntnis, dass weder warten noch wünschen etwas helfen oder dazu führen werden, dass Simon sich in sie verliebt.

Sie taucht zum Grund des Sees, schaut, wie tief er ist. Ihre Finger tasten lange ins Leere. Als sie endlich wieder auftaucht, bemerkt sie enttäuscht, dass Simon aufs Ufer zusteuert, meisterlich durchs Wasser krault. Sie sieht ihm nach. Drei Jahre – ganz schön lange für eine unerwiderte Liebe.

Ihre Hände sind verschrumpelt, ihre Haut ist himbeerrosa, als sie endlich aus dem See steigt und sich zu den anderen auf die karierte Picknickdecke legt. Sie trinken Bier im Schatten der Bäume. Kat legt sich auf den Boden, bettet den Kopf auf Carlas Oberschenkel und betrachtet den blauen Himmel durch das tanzende Gitternetz der Zweige. Wasser läuft aus ihrem Haar auf die sonnenverbrannten Schultern. Leises, einschläferndes Insektensummen umgibt sie.

»Wem gehört das denn, Mac?«, fragt Simon und schaut zu den geschwärzten Fenstern des alten Cottage empor. »Es ist doch verrückt, dass dieses Haus leer steht.«

Mac zuckt mit den Schultern. »Bestimmt hat es mal einem Schäfer gehört«, sagt er und schützt seine Augen vor der Sonne.

»Es sieht aus, als hätte man es vollkommen vergessen«, meint Ben und stößt eine Rauchwolke aus.

»Hat es einen Namen?«, fragt Carla.

Mac zuckt wieder mit den Schultern. »Keine Ahnung.«

»Wir sollten ihm einen Namen geben«, sagt Kat. »Es besetzen, für uns beanspruchen. Wir könnten einmal im Jahr hierherkommen.« Sie sieht Simon hoffnungsvoll an, aber der schaut nur in Richtung Cottage.

»Ich werde es mir mal aus der Nähe ansehen«, sagt er. »Wer kommt mit?«

Carla scheucht sie mit einer trägen Geste davon. Mac lehnt ebenfalls ab und gibt sich damit zufrieden, die Arme um die Knie zu schlingen und aufs Wasser zu starren. Bleiben Kat und Ben, die zusammen mit Simon auf das baufällige Cottage zugehen.

Aus der Ferne sah das alte Gebäude stabil und robust aus, aber im Näherkommen sieht Kat, dass die jahrelange Verwahrlosung Spuren hinterlassen hat. Die Sandsteinmauern sind von Flechten überwuchert, und auf dem Dach fehlen mehrere Schindeln. Die Regenrinnen stehen gefährlich weit ab. Unter der Dachtraufe befinden sich Vogelnester und Spinnweben. Vor beiden Fenstertüren, zwischen Löwenzahn und Brennnesseln, explodieren limettengrüne Rispen. Sie haben runde, flache Schötchen, die durchsichtig wie Papier sind. Eine verholzte Weinrebe klettert an einer Mauer empor, und neben der Haustür erinnert ein alter, geborstener leerer Tontopf an frühere Bewohner. Aus der Nähe betrachtet sind die Fenster schwarz vor Schmutz. Obwohl sie sich die Nasen an den Scheiben platt drücken, können sie nichts vom dunklen Innern erkennen.

Kat zögert, aber Simon steht schon vor der Haustür und klopft laut an. »Nur für den Fall.« Grinsend dreht er sich zu ihnen um, trotzdem halten alle die Luft an und hören auf das dumpfe Echo, das durchs Haus hallt. Zufrieden streckt er die Hand nach dem angelaufenen Türknauf aus. Er lässt sich nur um neunzig Grad drehen. »Abgeschlossen.«

»Na, das war’s dann wohl«, sagt Kat mit kaum verhohlener Erleichterung.

»Warte«, erwidert Simon und schiebt den Tontopf zur Seite.

Ben lacht. »Als ob uns jemand einen Schlüssel unter die Matte legen würde.«

Simon scharrt mit dem Fuß in der Erde, und im Schlamm, zwischen wuselnden Kellerasseln, glänzt etwas mattsilbern auf. Er dreht sich mit hochgezogenen Brauen zu ihnen um, bückt sich und nimmt es aus der Erde. Er wischt den Schlüssel an seinem Hemd ab und hält ihn mit einem teuflischen Grinsen hoch. Kat heuchelt Begeisterung, wird ihr ungutes Gefühl allerdings nicht los. Irgendwie fühlt es sich falsch an, wie unbefugtes Betreten.

Der Schlüssel dreht sich mühelos im Schloss, und die Tür geht quietschend auf. Die drei bleiben einen Moment in der dunklen Türöffnung stehen. »Meinst du wirklich, wir dürfen das?«, fragt Kat, aber Simon ist bereits über die Schwelle getreten.

»Komm«, sagt er, dreht sich um und fixiert sie mit seinem Blick. »Stell dich nicht so an. Das Haus gehört uns.«

Drinnen ist es deutlich kühler als draußen. Den dicken Steinmauern und hallenden Zimmern, die so lange verschlossen waren, scheint die Hitze des Tages nichts anhaben zu können. Die Luft ist abgestanden. Ein feuchter, modriger Geruch liegt über allem. Sonnenstrahlen fallen durch die verschmierten Fenster und fangen Staubpartikel ein, die durch ihr Eintreten aufgewirbelt wurden. Das Zimmer, in dem sie stehen, ist genauso breit wie das Cottage. Bis auf einen großen, niedrigen Kamin, ein durchgesessenes braunes Samtsofa unter dem Fenster, einen Sessel und eine steile Treppe zum Obergeschoss ist es leer. Alte verblichene Vorhänge hängen wie schäbige, graue Lumpen von Holzstangen.

Kat entdeckt Spinnweben zwischen den Balken und die Hinterlassenschaften eines unbekannten Tieres, die wie Kiesel über die staubigen Dielen verstreut sind. Sie achtet darauf, in Simons Nähe zu bleiben, als sie durch eine niedrige Türöffnung den zweiten Raum im hinteren Teil des Cottage betreten.

Das muss einmal die Küche gewesen sein. Es gibt einen weiteren Kamin, einen altmodischen Herd, einen Holztisch und zwei lange Bänke. Am Kamin hängen ein paar Kochutensilien an in den Stein gehauenen Nägeln. Kat identifiziert eine Pfanne mit schwarzem Boden, einen großen Kupferkessel und ein mit braunen Rostflecken übersätes Sieb. Am anderen Ende des Raumes dreht Simon an einem Hahn, und ein Wasserstrahl ergießt sich in das Steinbecken unter dem Fenster. »Es gibt fließend Wasser.«

Kat nickt und öffnet die Tür eines großen Küchenschranks, kreischt auf, als eine kleine graue Maus in Deckung geht.

»Meine Güte«, sagt Simon lachend. »Hast du mich erschreckt.«