Das Jahr der Wunder - Amy Hatvany - E-Book

Das Jahr der Wunder E-Book

Amy Hatvany

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Beschreibung

Zwei Mütter. Zwei Töchter. Und ein geschenktes Leben.

Hannah Scotts Welt zerbrach an dem Tag, als ihre Tochter Emily bei einem tragischen Unfall ums Leben kam. Nun, ein Jahr später, begegnet Hannah unerwartet der fünfzehnjährigen Maddie Bell, der Emilys Organspende das Leben rettete …

Die Familie Bell jedoch hat ganz eigene Probleme. Maddies Mutter Olivia wird von ihrem Ehemann unterdrückt – doch wenn sie ihn verließe, würde sie ihre Tochter nie wiedersehen. Maddie wiederum sehnt sich nach Normalität. Gemeinsam erkennen die völlig unterschiedlichen Frauen, dass das Leben zwar voller Komplikationen steckt, manchmal aber auch voller Wunder …

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AMY HATVANY

ROMAN

Aus dem Amerikanischen

von Alexandra Kranefeld

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel

Safe With Me bei Washington Square Press,

A Division of Simon & Schuster, Inc., New York

1. Auflage

© 2014 by Amy Hatvany

All rights reserved

© der deutschsprachigen Ausgabe 2014

by Blanvalet Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung und -motiv: www.buerosued.de

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-16597-0

www.blanvalet.de

Für Tina, meine beste Freundin und erste Leserin.

Ich weiß, dass all meine Geheimnisse bei dir bestens aufgehoben sind.

Ein unsichtbarer roter Faden verbindet uns zu allen Zeiten und jeglichen Widrigkeiten zum Trotz mit jenen, denen zu begegnen uns vorherbestimmt ist. Der Faden kann sich spannen, sich verknoten und verwirren, doch reißen wird er nie.

Chinesisches Sprichwort

Hannah

Zuerst hört Hannah Emilys markerschütternden Schrei; dann das Kreischen von Bremsen, gefolgt von einem dumpfen Aufprall und dem Knirschen von Metall, das sich in Metall frisst. Die Geräusche dringen wie in Zeitlupe zu ihr, als akustische Standbilder, zusammenhanglose Klangfetzen. Dann plötzlich, mit einem Schlag, fügen sie sich zu einer Sequenz zusammen, einer grausamen Wahrheit, die ihr den Atem stocken lässt.

Oh nein, bitte nicht …

Nein, das darf nicht wahr sein!

Sie springt vom Schreibtisch auf, rast die Treppe hinunter und zur Tür hinaus. Mit panischem Blick schaut sie auf die Straße: Da ist der Wagen, den sie gehört hat, ein rotes Mustang-Cabrio mit offenem Verdeck und noch laufendem Motor. Davor, auf dem Asphalt, das Fahrrad ihrer Tochter, ein Wrack aus lila glitzerndem Metall. Der Lenker ist verbogen, die schwarzen Reifen von den Felgen gerissen. Wieder hört Hannah einen gellenden Schrei, und diesmal braucht sie einen Moment, bis ihr bewusst wird, dass er von ihr kommt. Wie ein rotierendes Sägeblatt schraubt der Laut sich aus ihr heraus, droht ihr die Kehle zu zerfetzen, während sie zu Emily rennt, die von der Wucht des Aufpralls von ihrem Zehngangrad gerissen und ein Stück weit durch die Luft geschleudert wurde. Hannah sieht ihre zwölfjährige Tochter reglos auf der Straße liegen, Arme und Beine in einem seltsamen Winkel vom schmalen Körper gestreckt. Aus einer Kopfwunde rinnt Blut über ihre Stirn. Der Mund steht offen, die Augen sind geschlossen.

Sie hat ihren Helm nicht getragen. Oh lieber Gott, nein … sie hat ihren Helm nicht getragen!

»Wir brauchen einen Arzt!«, schreit Hannah. »Schnell, so rufen Sie doch endlich einen Krankenwagen!« Wie durch einen Nebel nimmt sie wahr, dass auch einige der Nachbarn aus ihren Häusern geeilt sind.

»Ich habe sie nicht gesehen!«, ruft eine Frau verzweifelt. Es ist die Fahrerin des roten Cabrios; sie steht neben ihrem Wagen und hat die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. »Sie kam plötzlich aus der Einfahrt geschossen! Einfach so. Ich konnte nicht mehr anhalten!« Sie wirkt völlig aufgelöst und heult hysterisch, doch Hannah nimmt sie kaum wahr. Der Asphalt schürft ihr die Knöchel auf, als sie sich neben Emily auf den Boden fallen lässt und die Hände unter ihren Körper schiebt, um ihre Tochter an sich zu ziehen, sie an ihrer Brust zu halten, wie damals, als Emily noch ein Baby war und ihre Herzen in stillem Gleichklang schlugen.

»Mama ist ja da«, flüstert Hannah in das dunkle, leicht verschwitzte Haar ihrer Tochter. »Alles ist gut. Mama ist jetzt bei dir.« Emily liegt schlaff in ihren Armen und rührt sich nicht.

Immer mehr Leute kommen herbei, scharen sich wie ein Schutzwall um sie beide. Es ist ein heißer, sonniger Samstag Ende Juli. Der perfekte Tag für Barbecues und Picknicks, für Eis und Limonade, Lagerfeuer und geröstete Marshmallows. Sag, dass es nicht wahr ist. Es darf nicht sein. Sie ist alles, was ich habe. Sie ist alles, was zählt. Nur sie.

Ihr Nachbar von gegenüber, Mr. Blake, lässt sich neben Hannah auf die Knie sinken und legt ihr den Arm um die Schultern. »Der Krankenwagen ist schon unterwegs«, sagt er. »Wahrscheinlich wäre es besser, wenn wir sie so lange nicht bewegen.«

Hannah hört es, doch sie hört nicht auf ihn. »Alles ist gut. Sie kommt wieder in Ordnung. Sie muss wieder in Ordnung kommen«, murmelt sie und zieht Emily noch fester an sich.

Nach wenigen Minuten, die ihr jedoch wie Stunden scheinen, wie Jahre, ist von fern ein Martinshorn zu hören, das stetig lauter wird, je näher der Wagen kommt. Doch es dauert, es dauert viel zu lang! Mr. Blake streckt die Hand nach Emily aus, legt ihr zwei knorrige Finger an den Hals. Hannahs erster Impuls ist, seine Hand wegzuschlagen, ihre Tochter vor möglichem weiteren Schaden zu bewahren, dann geht ihr auf, dass er einfach nur ihren Puls fühlen will.

»Ich kann ihren Puls spüren«, sagt er denn auch. »Er ist schwach, aber doch, hier, ich kann ihn spüren.«

Hannah nickt nur und presst die Lippen so fest zusammen, dass jegliches Gefühl daraus schwindet. Sie fühlt überhaupt nichts mehr. In ihrem Kopf summt es wie in einem Bienenstock. Sie kann keinen einzigen Gedanken fassen. Da ist nur dieses eine Wort, das ihr wieder und wieder durch den Kopf geht, wie eine stumme Beschwörung, ein stilles Gebet: Bitte. Bitte, bitte, bitte.

Hannah wartet. Sie sitzt in der Notaufnahme des Krankenhauses, klammert sich, die Arme fest durchgedrückt, an die Kante ihres Stuhls und wiegt sich mit kleinen, kaum merklichen Bewegungen vor und zurück, vor und zurück. Um sie herum herrscht hektische Betriebsamkeit: Krankenschwestern in bunten Kitteln und praktischen weißen Schuhen eilen über die Gänge, ein Pfleger rollt eine leere Transportliege vorbei. Die von Angst, Schweiß und Desinfektionsmitteln gesättigte Luft verursacht Hannah Übelkeit; einen Moment fürchtet sie, sich übergeben zu müssen. Patienten stöhnen, Angehörige schluchzen, andauernd klingeln Telefone, Ärzte werden angepiept. Eine Geräuschkulisse, die sich wie tausend Nadelstiche unter ihre Haut gräbt.

Nach einer Weile wagt sie einen kurzen Blick auf die anderen Wartenden. Ein alter Mann mit tief zerfurchtem Gesicht und weißem Haarschopf sitzt ebenfalls allein. Mit zitternden Fingern bearbeitet er die Krempe eines Strohhuts, den er im Schoß hält. Eines seiner Beine wippt nervös auf und ab. Seine karierten Shorts lassen knorpelige Knie sehen und dünne, mit dicken blauen Krampfadern überzogene Waden. Aus irgendeinem Grund findet Hannah den Anblick seltsam obszön, und sie wendet sich rasch ab. Auf der anderen Seite sitzt ein Paar in mittleren Jahren, das einander bei den Händen hält. Der Frau laufen stumme Tränen über die Wangen, und sie schaut Hannah mit einer verstörenden Mischung aus Verzweiflung und tief empfundenem Mitgefühl an. Hannah erwidert ihren Blick einen Moment, dann schlägt sie die Augen nieder und starrt weiter vor sich auf den kalten, kahlen Boden. Sie erträgt es nicht, so viel nackte Seelenqual mit anzusehen. Es tut zu weh, dieses Leid, es erscheint ihr unmenschlich. Zu hart, zu grausam. Vor allem ist es zu dicht an ihrer eigenen Realität.

Die Ärzte kämpfen um Emilys Leben. Als die Sanitäter sie in der Notaufnahme des Krankenhauses einlieferten, wurde sie fast umgehend in den OP verlegt. »AB negativ«, riefen sie, kaum dass sie durch die Tür waren. Hannah wollte sichergehen, dass man Bescheid wusste, darum hatte sie es extra gesagt. Es ist die mit Abstand seltenste Blutgruppe, die nicht einmal sie selbst mit ihrer Tochter teilt. Wie in Trance unterschrieb sie, was man ihr vorlegte, erteilte den Ärzten ihr Einverständnis, alles zu tun, was nötig wäre, um ihre Tochter zu retten.

»Bitte«, flehte Hannah den Chirurgen an, der Emily kurz untersuchte, ehe sie in den OP kam. »Helfen Sie ihr.« Auf dem weißen Laken stach ihr dunkles Haar wie ein schwarzer Tintenstreif hervor. Ihre Haut war blass und wirkte durch das dunkel gerinnende Blut noch bleicher, fast wächsern. Noch immer hatte sie keine einzige Regung gezeigt.

»Wir tun alles, was in unserer Macht steht«, versicherte ihr der Arzt und drückte kurz ihren Arm, ehe er mit ihrem Kind – ihrem einzigen Kind! – durch eine graue Schwingtür verschwand.

Nun, zwei Stunden später, tritt eine Schwester zu Hannah in den Wartebereich. »Soll ich Ihnen irgendetwas bringen? Ein Wasser vielleicht?«, fragt sie. »Oder möchten Sie jemanden anrufen?«

Hannah schüttelt nur den Kopf. Noch nicht. Sie will ihre Eltern erst dann anrufen, wenn sie Genaueres über Emilys Zustand weiß. Wenn sie ihnen guten Gewissens sagen kann, dass mit ihrer Enkelin wieder alles in Ordnung kommt und sie sich keine Sorgen mehr zu machen brauchen. Mr. Blake hat ihr zwar angeboten, sie zu begleiten, als sie zu ihrer Tochter in den Krankenwagen gestiegen ist, aber sie hat sein gut gemeintes Angebot abgelehnt.

Vor dreizehn Jahren, mit einunddreißig, beschloss Hannah, Mutter zu werden; sie tat es in dem vollen Bewusstsein, das Ganze mit allen Höhen und Tiefen allein durchzustehen. Ihr Wunsch nach einem Kind war einfach größer als ihre Bereitschaft, auf den passenden Mann zu warten. Zumal, wenn man bedachte, wie gering ihre Chancen waren, in absehbarer Zeit jemanden zu finden, der – anders als Devin, mit dem sie in ihren späten Zwanzigern zwei Jahre verlobt gewesen war – nicht permanent hinter ihrem Rücken herumvögelte.

Also ging sie die Sache ganz pragmatisch an, mit Samenspender Nr. 4873, einem dreiundzwanzigjährigen Medizinstudenten mit dunklem Haar und keinen nennenswerten Erkrankungen in der Familiengeschichte. »Da schau an«, meinte sie scherzhaft zu Sophie, ihrer Geschäftspartnerin und besten Freundin. »Jetzt habe ich mir doch noch einen jungen Kerl an Land gezogen.« Neun Monate nach dem Eingriff hielt Hannah ein rotgesichtiges, kräftig brüllendes Baby in den Armen. Emily.

Während sie wartet, kehren Hannahs Gedanken zurück zu den ersten Tagen und vor allem den Nächten, die sie mit Emily verbrachte – Nächten, in denen Emily partout nicht schlafen wollte und sich nur beruhigen ließ, wenn Hannah sie wieder auf den Arm nahm und stundenlang mit ihr im Haus auf und ab ging.

»Du bist mein Ein und Alles«, flüsterte Hannah in Emilys winziges, muschelförmiges Ohr. »Mein kleiner Engel … mein süßes, perfektes Töchterchen.« Wenn Emily sie dann aus großen blauen Kulleraugen anschaute, meinte Hannah, dass ihre Tochter sie ganz genau verstand, dass diese unbändige Liebe, die sie für Emily empfand, eine Sprache war, die nur sie beide sprachen. Eine Sprache, die ganz ohne Worte auskam.

Natürlich war sie nicht ganz auf sich allein gestellt. In den ersten Jahren nach Emilys Geburt erledigte Sophie fast den gesamten Papierkram für den Salon, und Hannah arbeitete nur als Friseurin. Als Emily vier Monate alt war, stellte Hannah eine Nanny ein; Jill kümmerte sich um ihre Tochter, während Hannah ihren Kunden die Haare machte. Da ihre Eltern in Boise, im Mittleren Westen, lebten, konnten sie ihr zwar unmittelbar keine große Hilfe sein, doch kamen die beiden sie mindestens einmal im Jahr in Seattle besuchen, und Hannah versuchte, alle großen Feiertage und Familienfeste mit Emily auf der Farm ihrer Eltern zu verbringen. Die Erinnerung daran, wie die zweijährige Emily in heller Freude über den Hof der Großeltern gerannt war und eine kleine Schar gackernder, flatternder Hühner vor sich hergescheucht hatte, zauberte Hannah auch Jahre danach ein Lächeln auf die Lippen. Und dass Emily selbst dann noch ihrem geliebten Grandpa auf den Schoß kletterte und sich von ihm knuddeln ließ, als sie schon fast ein Teenager war, ließ Hannah jedes Mal das Herz aufgehen.

Erst vor ein paar Wochen sind sie noch dort gewesen, über das lange Wochenende zum vierten Juli, als ihre Mutter ihre berühmten Brathähnchen gemacht hat und den cremigen Kartoffelsalat mit frischem Dill und Sellerie, der so lecker war, dass ihr Vater und Emily jedes Mal darum wetteten, wer am Schluss die Schüssel auskratzen durfte. Emily sonnte sich in der Aufmerksamkeit ihrer Großeltern und genoss sichtlich die Rolle als ihr einziges Enkelkind. Aber ihren Onkel Isaac hat sie trotzdem vermisst. »Warum ist er nicht gekommen?«, wollte sie wissen, als sie auf der Veranda standen, den Kopf fragend zur Seite geneigt und die Hand in die Hüfte gestemmt. »Er hätte doch das Feuerwerk anzünden sollen – so wie jedes Jahr.«

»Er wäre wirklich gern gekommen, mein Schatz, aber er musste geschäftlich ins Ausland«, sagte Hannah. Fast fünfundzwanzig Jahre war es her, dass ihr Bruder eines der begehrten Vollstipendien der University of Washington ergattert hatte und nach Seattle gezogen war, um dort Bautechnik zu studieren. Anderthalb Jahre später war Hannah ihm an die Westküste gefolgt, um eine Kosmetikfachschule zu besuchen. Ihre Eltern hatten sich nur deshalb damit einverstanden erklärt, dass nun auch noch ihre Tochter aus Boise fortzog, weil immerhin ihr großer Bruder in der Nähe wäre und ein Auge auf sie haben könnte. Damals hatte Hannah das ziemlich nervig gefunden, denn welche Achtzehnjährige will schon, dass ihr großer Bruder ständig auf sie aufpasst? Aber später, vor allem seit Emily geboren war, war sie umso dankbarer, ihren Bruder in der Nähe zu wissen. Isaac war mit Leib und Seele Onkel und mindestens genauso vernarrt in Emily wie ihre Großeltern. Er konnte zwar den fehlenden Vater nicht ersetzen, war aber ein positiver männlicher Einfluss im Leben ihrer Tochter. Er brachte ihr Fahrradfahren bei und reparierte Spielzeug, das Hannah sonst einfach weggeschmissen hätte. Er spielte Fangen mit Emily und tobte und tollte mit ihr herum, wie Männer das eben so machen. Weil er beruflich viel reisen musste, dauerten seine Beziehungen selten länger als ein paar Wochen oder Monate, womit Fragen der Familienplanung sich in aller Regel gar nicht erst stellten. Sämtliche Vatergefühle kamen somit seiner Nichte zugute. Er kümmerte sich rührend um sie beide, und es war gut zu wissen, dass er für sie da war.

Emilys Miene verdüsterte sich, als sie einen Moment über Hannahs Erklärung für die Abwesenheit ihres Onkels nachdachte. »Schön blöd«, meinte sie dann und trollte sich, um eines der Pferde zu streicheln, das seinen Kopf über den Bretterzaun streckte. Sie vergötterte Isaac ebenso sehr wie er sie, und dass er dieses Jahr nicht gekommen war, empfand sie als eine herbe Enttäuschung.

»Sie ähnelt dir immer mehr«, bemerkte Hannahs Mutter, die den kleinen Wortwechsel mit angehört hatte.

Mit ihren langen schwarzen Haaren und dem schmalen Gesicht sah Emily ihr zwar tatsächlich sehr ähnlich, aber Hannah hatte den Eindruck, als habe ihre Mutter nicht von Äußerlichkeiten gesprochen. »Inwiefern?«, fragte sie.

»Nun, sie macht sich so ihre Gedanken.« Ihre Mutter trat zu ihr und sah Hannah vielsagend an. »Und sie scheut sich nicht, sie auszusprechen.«

Damit, dachte Hannah, könnte ihre Mutter durchaus recht haben. Nach den ersten unruhigen Tagen war Emily ein geradezu vorbildliches Baby gewesen, ein stilles und ernstes Kind, das die Welt um sich herum wie ein Schwamm in sich aufzusaugen schien, das alles beobachtete, dem nichts entging. Sie war ein Kind, dem man nichts vormachen konnte und das schon als Baby den Eindruck erweckte, als würde es die Menschen aufgrund ihres Verhaltens in Kategorien einteilen – in solche, die seiner Aufmerksamkeit würdig waren, und jene, die es nicht waren. Ihr helles, glucksendes Lachen ließ sie so selten hören, dass Hannah es jedes Mal als echtes Erfolgserlebnis empfand, wenn sie es ihrer Tochter entlocken konnte. Dabei war Emily weder schüchtern noch in sich zurückgezogen. Sie war einfach nur ein nachdenkliches Kind. Schon früh hatte sie ihren eigenen Kopf und beharrte trotzig darauf, selbst zu entscheiden, was sie anziehen oder was sie essen wollte. Bei jeder Gelegenheit versuchte sie, ihren Willen durchzusetzen, weshalb es immer wieder zu kleineren oder größeren Machtkämpfen kam – so auch in der Frage des Fahrradhelms. Hannah bestand darauf, dass Emily ihn jedes Mal trug, wenn sie sich aufs Rad setzte; Emily hielt dagegen, dass sie ihn nicht aufzusetzen brauchte, wenn sie einfach nur ein bisschen vor dem Haus herumfuhr. »Wenn du stürzt, macht es keinen Unterschied, ob du dir den Schädel auf dem Gehweg oder auf der Straße aufschlägst«, hat Hannah sie mehr als einmal ermahnt.

Ein Frösteln überläuft sie, wenn sie daran denkt, wie oft sie diese fast schon prophetischen Worte ausgesprochen hat. Warum war Emily bis auf die Straße gefahren, wo sie doch ganz genau wusste, dass Hannah es ihr verboten hatte? War sie wütend, weil Hannah ihr gesagt hatte, sie müsse am Nachmittag mit in den Salon kommen, da Jill sich am Morgen krankgemeldet hatte? War es ein stiller Akt des Aufbegehrens, der dann in die Katastrophe gemündet ist? Was, wenn Hannah ihre Termine für den Nachmittag einfach abgesagt und die Zeit stattdessen mit ihrer Tochter verbracht hätte? Was, wenn Emily sich vor den Fernseher gesetzt hätte, statt sich zur Hintertür hinauszuschleichen und ihr Rad aus der Garage zu holen? Was, wenn sie nicht einfach blindlings aus der Einfahrt gerast wäre? Oder wenn das Auto nicht just in diesem Moment gekommen wäre? Was wenn, was wenn, was wenn.

Hannah schließt die Augen, presst die Lippen zusammen und versucht, den unablässigen Lärm um sie herum auszublenden. Wieder steigt Übelkeit in ihr auf und hinterlässt einen bitteren Geschmack in ihrem Mund. Sie versucht, sich zu beruhigen, sich ganz auf ihre Tochter zu konzentrieren, stumme Gebete an einen Gott zu schicken, von dem sie nicht einmal sicher ist, dass es ihn gibt. Bitte.

Ihr Telefon vibriert in ihrer Tasche; hastig geht sie dran, fast dankbar um die Ablenkung. »Hannah?«, trällert Sophies vertraute Stimme mit dem charmanten französischen Akzent. Als Sophie vierzehn war, ließen ihre Eltern sich scheiden, und sie zog mit ihrer Mutter zu Verwandten in die Staaten. Obwohl beide fließend Englisch sprechen, hat Sophie sich ihren melodischen Tonfall und einige französische Manierismen bewahrt. »Wo steckst du, chérie? Du hast gerade deinen Drei-Uhr-Termin mit Mrs. Clark platzen lassen. Sie war ziemlich sauer, kann ich dir sagen.«

Hannahs Kinn beginnt zu zittern, und sie hat das Gefühl, kaum noch Luft zu bekommen. »Ich bin im Swedish Hospital, in der Notaufnahme. Emily wird gerade operiert.«

»Was?! Oh mein Gott. Was ist denn passiert?«

Hannah erzählt Sophie von dem roten Cabrio, von Emilys zu Schrott gefahrenem Rad. »Und sie hat ihren Helm nicht getragen! Wie oft habe ich ihr gesagt, sie soll dieses verdammte Ding aufsetzen, egal, wie es aussieht oder wie sehr sie darunter schwitzt. Warum konnte sie nicht einmal auf mich hören?« Tränen schnüren ihr den Hals zu, als sie weiterspricht. »Oh mein Gott, Sophie, ich habe solche Angst!«

»Ich bin gleich da.«

»Nein, das brauchst du nicht …«, setzt Hannah an, doch da hat Sophie schon aufgelegt. Wahrscheinlich ist das auch das Geheimnis ihres Erfolgs: Mit einem Nein hat Sophie sich noch nie zufriedengegeben. Wäre ihre Freundin nicht so beharrlich gewesen, hätte Hannah sich niemals selbstständig gemacht, oder zumindest nicht so früh; jetzt ist sie Miteigentümerin eines Haarstudios, und sie hat ihre Entscheidung noch keinen einzigen Tag bereut.

Vor fast zwanzig Jahren fingen sie und Sophie bei einer großen Friseurkette an, wo es weniger um Qualität ging als darum, an einem Tag möglichst viele Kunden abzufertigen. Nach ein paar Jahren monotoner Fließbandarbeit und eines dank geschwätziger, intriganter Kollegen miesen Betriebsklimas überredete Sophie sie dazu, gemeinsam einen kleinen Geschäftskredit aufzunehmen und ihr eigenes Studio zu eröffnen. Mittlerweile läuft das Geschäft so gut, dass sie vor Kurzem eine charmante kleine Stadtvilla im Geschäftsviertel von Bellevue erworben haben, die sie zu einer zweiten Filiale ihres Salons »Ciseaux« ausbauen wollen.

»Ms. Scott?« Ein Arzt in blauer OP-Kleidung tritt auf Hannah zu und reißt sie aus ihren Gedanken. Er ist bedeutend älter als sein Kollege, mit dem sie vorhin gesprochen hat, was sie seltsam beruhigend findet, als könnten seine in langen Jahren erworbene Erfahrung und seine altersweise Abgeklärtheit diesem Moment etwas von seiner Bedrohlichkeit nehmen. Die grauen Haare kleben ihm feucht in der Stirn, in der einen Hand hält er noch seine OP-Haube. »Ich bin Dr. Wilder. Ich habe gerade Ihre Tochter operiert.«

Das Telefon noch in der Hand, springt Hannah auf. Ihr Herz rast, sie wagt kaum zu atmen. »Und?«, fragt sie. »Wie geht es ihr? Kann ich schon zu ihr?«

»Gleich.« Dr. Wilder tritt näher und bedeutet ihr, sich wieder zu setzen. Sie lässt sich zurück auf den Stuhl sinken, steckt das Telefon weg; dass sie es überhaupt dabeihat, verdankt sie allein einer Nachbarin, die es ihr noch schnell aus dem Haus geholt hatte, ehe sich die Türen des Krankenwagens hinter ihr schlossen. Der Arzt setzt sich neben sie und nimmt ihre Hand in seine. Seine Finger fühlen sich weich und warm, aber kräftig an. Fähige Chirurgenhände. Hannah klammert sich an diesen Gedanken, nimmt ihn als einen Beweis, dass es Emily dank seiner Hilfe gut geht.

»Ihre Tochter hat lebensbedrohliche Verletzungen davongetragen«, sagt er. Seine Stimme klingt ruhig und tief, seine grauen Augen geben nichts preis. »Als sie mit dem Kopf auf den Asphalt schlug, hat bei ihr eine Gehirnblutung eingesetzt.« Hannah nickt, und das Kinn zittert ihr so heftig, dass sie die Zähne ganz fest zusammenbeißen muss, damit es aufhört. Dr. Wilder zieht die buschigen weißen Brauen zusammen, ehe er fortfährt. »Wir konnten die Blutung stoppen, doch der Schaden war bereits erheblich.«

»Was heißt das genau?«, fragt Hannah. Ihr Herz schlägt so heftig, dass sie meint, es müsse jeden Augenblick ihre Rippen sprengen.

»Das heißt, dass Ihre Tochter lebt – allerdings nur, weil wir sie künstlich beatmen.« Er wartet einen Moment. »Wir sprechen von einem Ausfall der Hirnfunktion. Seit ihrer Einlieferung hatten wir keine einzige Reaktion.«

Das Summen in Hannahs Kopf wird wieder stärker, raubt ihr jeden Gedanken, der Raum beginnt sich um sie zu drehen. Sie schließt die Augen. »Sie liegt also im Koma?«, bringt sie schließlich flüsternd hervor. »Wird sie wieder aufwachen?«

Dr. Wilder drückt ihre Hand. »So leid es mir tut, nein«, sagt er. »Es gibt keine Aktivität mehr im Hirnstamm. Würden wir die lebenserhaltenden Maßnahmen einstellen, könnte Ihre Tochter nicht überleben. Es tut mir sehr leid, Ihnen das mitteilen zu müssen, aber es besteht keine Aussicht auf Besserung ihres Zustands.«

Hannah reißt die Augen auf. »Was?! Oh Gott … nein!«, stöhnt sie, ein tiefer, schaudernder Laut, von dem sie kaum glauben kann, dass er von ihr kommt. Sie zieht ihre Hand zurück, schlingt die Arme um sich und kauert sich zusammen. Tränen strömen über ihre Wangen, während sie wieder anfängt, sich vor und zurück zu wiegen, vor und zurück. »Sind Sie sicher? Sind Sie sich ganz sicher?«, fragt sie und spürt die Blicke des anderen Paars auf sich. Der alte Mann steht auf und schlurft davon, als könne ihn die räumliche Distanz zu ihr vor einem ähnlichen Schicksal bewahren.

»Ja«, sagt der Arzt, »ganz sicher. Es tut mir leid.« Er wartet schweigend, bis Hannah sich beruhigt.

Als sie sich wieder einigermaßen im Griff hat, schaut sie ihn mit verquollenen Augen und tränennassen, geröteten Wangen an. »Sie hätte den verdammten Helm tragen sollen«, stößt sie mit bebenden Lippen hervor.

»Das hätte keinen Unterschied gemacht«, erwidert er ruhig. »Die Wucht des Aufpralls war zu stark.«

Als Hannah das hört, empfindet sie den Bruchteil einer Sekunde so etwas wie Erleichterung. »Können Sie denn gar nichts mehr für sie tun?«, fragt sie dann. »Sie noch einmal operieren? Irgendetwas?« Dr. Wilder schüttelt nur bedauernd den Kopf. Hannahs Hals ist wie zugeschnürt. Sie hat das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, und einen Moment bringt sie keinen Laut heraus. Die Wände scheinen sich immer enger um sie zu schließen, ihr die Luft zum Atmen zu nehmen. Sie versucht, tief durchzuatmen, sich auf jeden Atemzug zu konzentrieren. »Ich möchte sie sehen«, sagt sie schließlich mit heiserer Stimme, die ihr fremd in den Ohren klingt. Auch ihr Körper fühlt sich fremd an, seltsam leicht und schwebend und dabei so zerbrechlich, als könne er jeden Moment, bei der kleinsten Berührung, in Stücke brechen.

Dr. Wilder nickt. »Natürlich«, sagt er und zögert einen Moment, ehe er fortfährt. »Verzeihen Sie mir bitte die Frage, aber ich muss sie Ihnen stellen: Ist Ihre Tochter Organspenderin?«

»Was?«, fragt Hannah irritiert. Sie hat seine Worte gehört, kann sie aber nicht begreifen. Will sie nicht begreifen. Wie aus weiter Ferne dringen sie zu ihr, seltsam gedämpft, als würden sie dieses Gespräch unter Wasser führen.

»Ihre Blutgruppe ist sehr selten«, hört sie ihn sagen. »Sollte sie Spenderin sein, könnte sie im Falle ihres Todes andere Leben retten.«

Im Falle ihres Todes? Der Gedanke will Hannah nicht in den Kopf. Ich würde alles tun, wirklich alles, wenn das nur nicht wahr ist. Ich verkaufe den Laden und ziehe zurück nach Idaho zu meinen Eltern, so, wie sie es sich immer gewünscht haben. Ich lasse Emily in der Beschaulichkeit des Landlebens aufwachsen, gönne ihr eine Kindheit, wie ich sie hatte, lasse sie mit den Ziegen herumtollen, die Kühe melken und barfuß durch die Wiesen streifen. Es war so egoistisch von mir, sie in der Stadt großzuziehen. Ich würde alles für sie aufgeben, alles anders machen, wenn sie nur bei mir bleibt.

Hannah schüttelt den Kopf. »Ich weiß nicht … Ich … Nein, das kann ich jetzt nicht entscheiden.«

»Ich verstehe, wie schwer diese Entscheidung für Sie ist«, sagt der Arzt. »Aber ich frage Sie jetzt, weil jede Verschlechterung ihres Zustands ihre Organe in Mitleidenschaft zieht. Je eher wir wissen, ob sie als Spenderin infrage käme, desto mehr Leben könnten wir retten.« Dann steht er auf und bedeutet ihr, ihm zu folgen.

Hannah ist fassungslos. Einen Moment überlegt sie, einfach sitzen zu bleiben und sich der Realität zu verschließen. Aber würde das irgendetwas ändern? Wenn sie doch nur alles ungeschehen machen, die Zeit zurückdrehen könnte, noch einmal zurück auf Start gehen und den Tag neu beginnen, alles anders – besser – machen dürfte, damit dieses Grauen erst gar nicht geschehen würde.

Doch Dr. Wilder schaut sie nur an, und Hannah hat das Gefühl, als zöge sein Blick sie mit sich. Nachdem sie einmal tief Luft geholt hat, folgt sie ihm den langen Gang hinab – einer Entscheidung entgegen, die man keiner Mutter jemals wünschen würde.

Olivia

Wir haben eine Leber in Aussicht«, verkündet Dr. Steele, als er in Maddies Krankenzimmer kommt. Er ist ein großer Mann mit athletischem Körperbau und langen, sehnigen Fingern – ein Mann, den man eher auf dem Basketballplatz als in einem Krankenhaus vermuten würde. Aber nach acht Jahren als Maddies behandelnder Hepatologe hat er sich Olivias uneingeschränktes Vertrauen erworben.

»Und die Blutgruppe stimmt auch überein?«, fragt sie und lässt den Roman zufallen, den sie seit drei Stunden vergeblich zu lesen versucht hat. Plötzlich hellwach, stemmt sie sich aus dem Liegesessel empor, der in einer Ecke des Zimmers steht. Das Herz schlägt ihr bis zum Hals. Maddie hat AB negativ, was die Suche nach einem Spender im richtigen Alter und einer entsprechenden Lebergröße noch zusätzlich erschwert. Dabei haben Maddies sich rapide verschlechternde Laborwerte sie schon in Statusgruppe 1 des UNOS-Vergabesystems befördert, was heißt, sobald ein passendes Transplantat verfügbar ist, bekommt sie den Zuschlag.

Dr. Steele nickt zuversichtlich. »Zwölfjähriges Mädchen, vom Auto angefahren – hirntot. Ihre Mutter muss noch unterschreiben, aber das sollte eine reine Formalität sein. Die Kollegen sind bereits verständigt und prüfen die Kompatibilität. Unsere Chancen stehen gut.«

»Wann werden wir es genau wissen?«, fragt Olivia und legt das Buch hinter sich auf den Sessel. Sie empfindet eine bodenlose Erleichterung, dass ihre Tochter entgegen aller Prognosen doch noch eine Chance hat zu überleben. Gleichzeitig setzt ihr der Gedanke an die andere Mutter zu, deren Kind – mit all seinen Möglichkeiten, all seinen Träumen und Hoffnungen, seiner einmaligen Schönheit – so plötzlich und tragisch aus dem Leben gerissen wurde. Sie kann sich das Leid dieser Frau gar nicht vorstellen, die Ungerechtigkeit all dessen. Ein Leben gegen ein anderes. Es macht sie krank, wenn sie nur daran denkt, wie oft und wie inständig sie darauf gehofft hat, dass genau das eintreten würde – dass ein anderes Kind sterben würde, um ihres zu retten.

»Im Laufe der nächsten Stunde, schätze ich.« Dr. Steele lächelt, wodurch seine tiefbraunen Augen auf einmal warm und freundlich wirken. Das ist Olivia bislang nie aufgefallen, war er doch sonst eher der Überbringer schlechter Nachrichten für sie.

»Haben Sie vielen Dank«, sagt sie zu Dr. Steele, der nur kurz nickt und seinen Blick etwas länger als sonst auf Olivia ruhen lässt. Sie ist solche Blicke von Männern gewohnt, Blicke der Bewunderung, in die sich manchmal auch ein bisschen Verlangen mischt. Sie ist es gewohnt, aber im Grunde ist es ihr unangenehm. Vor allem jetzt, wo ihre schulterlangen Haare, die sie blond und glatt frisiert trägt, völlig wirr sein müssen. Im schwülen Sommerwetter krausen sie sich ohnehin leicht, und ihr gestern Nachmittag aufgelegtes Make-up dürfte jetzt, nach einer unruhigen Nacht im Liegesessel, um die Augen herum verschmiert sein.

»Sie haben Tigeraugen«, meinte James an jenem ersten Tag zu ihr, als sie sich am Empfang der Kanzlei begegneten, in der sie als Rechtsanwaltsgehilfin arbeitete. »Heißt das, Sie könnten mir gefährlich werden?«

Die damals zweiundzwanzigjährige Olivia schüttelte den Kopf und errötete, leise verwundert, dass dieser überaus gut aussehende, gewandte Geschäftsmann mit dem schwarzen Haar und den strahlend grünen Augen ihr überhaupt Beachtung schenkte. Er musste mindestens zehn Jahre älter sein als sie, legte aber zugleich das Imponiergehabe eines viel jüngeren Mannes an den Tag. »Ich weiß nicht«, sagte sie und zog kühl eine Augenbraue hoch. »Sollte ich die Frage nicht besser Ihnen stellen?« Dass sie so unerschrocken mit ihm flirtete, überraschte sie selbst; es war sonst gar nicht ihre Art. Aber es war etwas an James, das sie anzog. Sie fühlte sich wie ein Kätzchen, clever und kokett, wollte sich leise schnurrend an ihn schmiegen.

James warf den Kopf zurück und lachte, ein tiefer, klangvoller Laut, der Olivias Haut prickeln ließ. Dann beugte er sich über ihren Schreibtisch und küsste ihr galant die Hand. »Wenn ich Sie heute Abend zum Essen ausführen darf, können Sie es selbst herausfinden«, sagte er. Sie nahm seine Einladung an und ließ sich von ihm in eines der teuersten französischen Restaurants in Tampa ausführen, wo er sich für einige Tage geschäftlich aufhielt.

»Bitte«, sagte er, als sie sich gesetzt hatten, und nahm die Speisekarte zur Hand. »Darf ich für uns beide bestellen? Ich würde Sie gern auf den Geschmack bringen.« Sie ließ ihn bestellen; sie ließ sich darin unterweisen, ihren Merlot im Glas kreisen zu lassen, um in den vollen Genuss des Buketts zu kommen. Er zeigte ihr, welche Gabel sie nehmen sollte, und ermutigte sie, von den Schnecken zumindest zu kosten. Um ihn nicht vor den Kopf zu stoßen, brachte sie tatsächlich einen Bissen herunter, fand aber insgeheim, wer Schnecken für eine Delikatesse hielt, könne nicht ganz richtig im Kopf sein.

»Wie schön du bist, mit deinen ungezähmten braunen Locken«, sagte James nach dem Essen und lehnte sich zu ihr vor, streckte die Hand nach ihr aus und strich leicht über ihr Haar. »Aber als Blondine könntest du jede Frau in ganz Florida in den Schatten stellen.«

Olivia war etwas irritiert, weil sie nicht wusste, ob seine Worte ein Kompliment oder eine Beleidigung waren. Aber weil sie ihm gefallen wollte, ließ sie ihn nach zwei Monaten und etlichen weiteren Bemerkungen, die alle in dieselbe Richtung zielten, einen Termin für sie im besten Salon der Stadt machen und sich in eine Blondine verwandeln. Ein halbes Jahr später machte James ihr einen Heiratsantrag und bat sie, zu ihm nach Seattle zu ziehen. »Aber was ist mit meinem Job?«, fragte sie. »Und mit meiner Mutter?«

»Um die kümmere ich mich«, versprach James. »Ich besorge ihr eine Vollzeit-Pflegekraft und eine passende Wohnung.« Er wusste, wie nah Olivia ihrer Mutter stand, die an einer so schweren Arthritis litt, dass sie gezwungen war, von einer Erwerbsunfähigkeitsrente zu leben. Olivia teilte sich eine kleine Wohnung mit ihr, die ihre Mutter sich aber ganz unmöglich allein würde leisten können.

»Das würdest du wirklich tun?«

James nickte. »Aber natürlich. Schließlich gehört sie jetzt zur Familie.« Überwältigt von so viel Großzügigkeit, nahm Olivia den makellos schönen Drei-Karat-Diamantring an, mit dem er um ihre Hand anhielt. James kaufte ihrer Mutter wie versprochen eine vornehme Dreizimmerwohnung in Strandnähe und kümmerte sich um den Umzug. Er half Olivia, eine wunderbar warmherzige jamaikanische Pflegerin namens Tanesa zu finden, die bei ihrer Mutter leben und sie rund um die Uhr betreuen würde. Einen Monat später waren sie verheiratet und verließen Florida, wohin sie nur noch zweimal zurückkehren sollten: das erste Mal kurz nach Maddies Geburt und drei Jahre danach, als Olivias Mutter einem Herzinfarkt erlag.

Nun, sechzehn Jahre später, steht Olivia dem Arzt ihrer Tochter gegenüber, streicht ihre schlichte graue Strickjacke glatt und fragt sich, was James wohl denken würde, wenn er jetzt hereinkäme und Zeuge dieser kleinen Episode zwischen ihr und Dr. Steele würde. Welche Mutmaßungen er anstellen würde. Allein bei der Vorstellung steigt Panik in ihr auf; sie muss schwer schlucken, um sie wieder zu vertreiben.

»Ich halte Sie auf dem Laufenden«, sagt Dr. Steele. »Die Sozialarbeiterin müsste auch bald kommen. Keine Sorge, ich habe diesmal eine jüngere Kollegin gefunden, die eher auf derselben Wellenlänge Ihrer Tochter sein dürfte.«

Ungeachtet der ernsten Lage muss Olivia lächeln, wenn sie an letzte Woche denkt, als eine verhuschte ältere Frau mit mausbraunen Haaren und orthopädischen Schuhen Olivia dazu zu bewegen versuchte, über ihre mit einer Transplantation verbundenen Ängste und Befürchtungen zu sprechen. Maddie legte den Kopf schräg und schaute sie eine Weile an. »Hm, ja«, meinte sie dann, ohne auch nur eine Miene zu verziehen. »Meine größte Sorge ist natürlich, dass die Seele des Toten von mir Besitz ergreift.«

»Maddie«, sagte Olivia warnend, da sie genau wusste, dass ihre Tochter die arme Frau nur auf die Probe stellen wollte. Da Maddie nicht wie der typische Teenager rebellieren konnte – abends zu spät nach Hause kommen oder hinter der Sporthalle mit Jungs knutschen –, ließ sie ihre pubertären Launen am Krankenhauspersonal aus.

»Was, Mom?«, fragte Maddie unschuldig. »Das meine ich jetzt wirklich ernst.«

Obwohl Olivia wiederholt versuchte einzuschreiten, war die Sozialarbeiterin kaum zu bremsen. Fast eine halbe Stunde lang wollte sie Maddie überzeugen, dass es noch keinen einzigen dokumentierten Fall einer solchen Besessenheit gäbe und sie nicht alles glauben solle, was sie höre. Es wäre noch endlos so weitergegangen, hätte Maddie sich nicht irgendwann ein Grinsen nicht mehr verkneifen können. »Sie glauben auch echt alles«, kicherte sie, worauf die Frau errötend nach Luft schnappte und eilends das Zimmer verließ.

Olivia bedankt sich noch einmal bei Dr. Steele und sieht ihm nach, wie er zur Tür hinaus- und den Gang hinabgeht. Dann richtet sie ihren Blick auf Maddie. Für ihre fünfzehn Jahre ist ihre Tochter ausgesprochen klein und zierlich, allerdings unnatürlich aufgedunsen, vor allem der Bauch. Sie ist an Maschinen angeschlossen, die ihr Medikamente durch den Körper pumpen, ohne die sie nicht mehr leben würde. Ihr Kopf ist zur Seite gedreht, ihr dunkelblondes Haar ist strähnig und dünn, ihre Lider – darunter wunderschöne hellbraune Augen – flattern leise, sind aber geschlossen.

Wie immer krampft sich Olivias Herz zusammen, wenn sie ihre Tochter so elend, so krank sieht. Seit sie sieben ist, leidet sie an einer seltenen Form von Typ-2-Autoimmunhepatitis. Als die Immunsuppressiva, die Maddies Krankheit in Schach hielten, vor ein paar Monaten aufhörten zu wirken, färbten ihre Haut und ihre Augen sich gelb, und ihr Bauch blähte sich von den Flüssigkeitsansammlungen auf, die von ihrer kranken Leber nicht mehr abgebaut werden konnten. Die Fibrose ist bereits so weit fortgeschritten, das Lebergewebe derart vernarbt, dass nur noch eine Transplantation ihre Tochter retten kann. Sollte sich keine passende Leber finden, wird Maddie vermutlich im Lauf der nächsten Wochen sterben. Olivia darf gar nicht daran denken. Die letzten acht Jahre waren extrem anstrengend, und Maddie hat mehr Zeit im Krankenhaus als zu Hause verbracht. Ihre Gesundheit war seitdem so angeschlagen, dass sie, aus Sorge, sie könne sich eine Infektion einfangen, weder zur Schule gehen noch mit anderen Kindern spielen konnte. Alles, was sich Olivia für ihre Tochter wünscht, ist, dass sie ein ganz normales Leben führen kann. Und eine Transplantation ist die einzige Hoffnung, die ihr noch bleibt.

Olivia beugt sich über das Bett und streicht Maddie eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Alles wird gut, meine Kleine«, flüstert sie leise, wobei sie nicht weiß, wem sie mehr Mut machen will – sich oder ihrer Tochter. Ich kann … ich darf sie nicht verlieren. Ich könnte es nicht ertragen. »Wir bekommen dich schon wieder gesund.«

Maddie beginnt sich zu regen, ihren Kopf auf dem Kissen zu wälzen. »Mommy?«, murmelt sie, und Olivia wird ganz weh ums Herz. Meist nennt Maddie sie Mom oder Mutter, manchmal auch Olivia oder bisweilen Mrs. Bell, das aber nur, wenn sie unverschämt sein will. Mommy ist ein Relikt aus frühen Kindertagen, eine Koseform, die erst nach Maddies Diagnose wieder Verwendung fand.

»Ich bin hier, mein Schatz«, sagt Olivia und berührt Maddies dünnen Arm sacht mit den Fingerspitzen, wobei sie sorgsam darauf achtet, nur ja nicht gegen die Kanüle am Handrücken zu stoßen. Maddies Venen sind von den vielen Punktionen derart erschöpft, dass sie sich tief unter die Hautoberfläche zurückgezogen haben. Als sie diesmal stationär aufgenommen wurde, brauchte die Schwester fast eine Stunde, um eine geeignete Vene zu finden und einen Zugang zu legen.

»Wo ist Dad?«, fragt Maddie und schlägt die Augen auf. Als sie das erste Mal im Spiegel sah, dass das Weiße ihrer Augäpfel leuchtend gelb war, weinte sie so verzweifelt, dass es Olivia schier das Herz zerrissen hatte. Sie betonte Maddie gegenüber, dass sie das Gelb gar nicht wahrnehme. Sie würde immer nur ihre Tochter sehen, ihre schöne, schlaue Tochter. Und das tut sie auch jetzt.

»Im Büro«, erwidert Olivia. »Möchtest du mit ihm sprechen?«

Maddie schüttelt den Kopf. »Kann ich meinen Laptop haben?« Ihre Stimme klingt schwer, benommen, was zum Teil an den Medikamenten liegt, vor allem aber am Flüssigkeitsmangel.

Mit einem besorgten Stirnrunzeln greift Olivia nach dem Wasserkrug auf Maddies Nachttisch und gießt ihr ein Glas ein. Den Computer hat James vor ein paar Jahren für Maddie gekauft, damit sie sich nicht so langweilt. Mittlerweile findet Olivia, dass ihre Tochter viel zu viel Zeit online verbringt, aber sie wüsste nicht, wie sie ihr etwas verwehren sollte, das ihr so viel Spaß macht – und eine der wenigen ihr verbliebenen Freuden ist. Dennoch zögert sie. »Meinst du, das schaffst du?«, fragt sie. »Vielleicht solltest du dich lieber noch ein bisschen ausruhen.«

»Schon wieder? Ich ruhe mich doch nur noch aus«, erwidert Maddie gereizt. Sie nippt an ihrem Wasser und stellt das Glas wieder weg. »Bitte, Mom.«

Mit einem resignierten Seufzer holt Olivia den Laptop aus der Nachttischschublade und stellt ihn vorsichtig, um das Wasserglas nicht umzustoßen, auf den Schwenktisch. »Ich rufe kurz deinen Vater an«, sagt sie, während Maddie den Computer einschaltet. Sie muss James Bescheid sagen, dass eine reelle Chance auf eine Transplantation besteht, will aber nicht, dass Maddie davon erfährt, ehe sie wirklich Gewissheit haben. Wozu ihrer Tochter unnötige Hoffnungen machen? Womöglich wird sich die Mutter des anderen Mädchens doch noch gegen eine Spende entscheiden. Wenn sie versucht, sich vorzustellen, was diese Frau gerade durchmachen muss, vor welcher Entscheidung sie steht, krampft sich Olivias Magen zusammen. Könnte sie eine solche Entscheidung treffen? Könnte sie das Leben ihres eigenen Kindes beenden, wenn sie wüsste, dass sich dadurch ein anderes retten ließe? Sie weiß es nicht. Es besteht immer noch die Möglichkeit, dass sie einfach Nein sagt.

Maddie nickt nur und winkt Olivia fort; die Finger schon auf der Tastatur, den Blick am Bildschirm, während sie darauf wartet, dass der Rechner hochfährt. Als Maddie vor drei Wochen ins Krankenhaus kam, hat Olivia ihrem Mann gegenüber ganz beiläufig erwähnt, dass ihre Tochter vielleicht gern eine Zimmernachbarin hätte, mit der sie sich ein bisschen unterhalten könnte. Schließlich ist sie während der letzten acht Jahre wegen ihrer Krankheit schon viel zu oft allein gewesen. Statt Schule hat es Hauslehrer gegeben, um sie daheim zu unterrichten, und während wochenlanger Krankenhausaufenthalte in exklusiven Einzelzimmern hat sie sich die Langeweile hauptsächlich damit vertrieben, Filme zu gucken oder auf YouTube alberne Videos anzuklicken. Aber Olivias Ehemann bestand auf Maddies Privatsphäre, weshalb es auch diesmal wieder die Suite mit dem breiten, komfortablen Bett und dem riesigen Flachbildfernseher sein musste, die normalerweise den Kindern von Politikern und sonstiger Prominenz vorbehalten ist. Als Inhaber und CEO einer der größten Investmentfirmen der Westküste ist Geld für James kein Thema. Und das unheilvolle Funkeln seiner grünen Augen hat Olivia schnell klargemacht, dass es keinen Sinn hat, weiter darauf zu beharren.

Draußen auf dem Gang ruft sie ihn auf seinem Handy an. Ihr Atem geht schnell und flach, während das Telefon klingelt … viermal … fünfmal … sechsmal. Nach dem achten Klingeln, das weiß sie, darauf hofft sie, würde sie auf die Mailbox weitergeleitet, ein elektronischer Puffer, der es ihr ersparen würde, direkt mit ihm zu sprechen. Sie brauchte sich vorerst keine Sorgen zu machen, die richtigen Worte zu finden oder genau den richtigen Ton zu treffen. James kann in jede unerwartete Gesprächspause ein bedeutungsvolles Schweigen hineindeuten, für das er sie noch Wochen später bestrafen würde.

»Was«, lautet seine Begrüßung – keine Frage, eher eine Kampfansage, weil sie es wagt, seinen Tagesablauf zu stören. Olivia muss schlucken, um nicht in Tränen auszubrechen, als sie ihm von der Zwölfjährigen erzählt, die künstlich am Leben erhalten wird und die vielleicht die Spenderin für ihre eigene Tochter werden könnte. Schweigend hört er ihr zu, lässt seine Ungeduld über die Leitung unsichtbare Funken sprühen. »Aha«, meint er dann. »Es ist also möglich, aber die Mutter hat noch nicht unterschrieben?«

»Genau.« Olivia weiß, dass ihre Stimme jetzt fest und klar klingen muss. »Ich dachte nur, du würdest gern schon mal Bescheid wissen und vielleicht vorbeikommen wollen.« Deine Tochter braucht dich, du Wichser. Worte, die sie im Laufe der letzten acht Jahre oft genug gedacht hat, aber niemals, unter gar keinen Umständen, laut aussprechen würde. James hat es weitestgehend Olivia überlassen, sich um Maddie zu kümmern; er zahlt die Rechnungen und hat dem Krankenhaus einen kurzen Besuch abgestattet, um alles zu regeln, als Maddie aufgenommen wurde – aber Olivia ist es, die jede Nacht bei ihrer Tochter verbringt.

»Liv, ich stehe hier kurz vor einem wichtigen Vertragsabschluss. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich dir das heute Morgen gesagt, oder etwa nicht? Hörst du mir überhaupt zu?« Seine Worte treffen sie wie harte kleine Fäuste. Olivia stellt ihn sich vor, wie er an seinem wuchtigen Schreibtisch steht, ein erfolgreicher, gut aussehender Mann, der jünger wirkt als seine fünfzig Jahre. Mit einer Körpergröße von eins dreiundneunzig und seiner breitschultrigen Statur gibt er eine stattliche Figur ab, die alles und jeden einzuschüchtern vermag. Seine Anzüge sind maßgeschneidert und sitzen stets perfekt, die Farben seiner Hemden sind sorgfältig auf den leicht gebräunten Ton seiner Haut und das grau melierte Haar abgestimmt. Es heißt, sie würden ein schönes Paar abgeben. Oberflächlich betrachtet mag das stimmen, denkt Olivia.

»Ja, das hast du.« Sie beißt sich in die Wangen, um nicht versehentlich noch mehr zu sagen.

»Sowie wir es sicher wissen, bin ich sofort da, aber bis dahin muss ich arbeiten. Ruf mich an, wenn sie unterschrieben hat.« Nach einer kurzen Pause fügt er mit erstaunlich weicher Stimme hinzu: »Gib Maddie einen Kuss von mir.« Er legt auf, ohne sich zu verabschieden; Olivia hält sich das Telefon noch eine Minute ans Ohr und denkt an ihre Tochter, die der einzige Grund ist, warum sie James nicht schon vor acht Jahren verlassen hat.

Sie hatte einen Plan; von dem großzügigen Taschengeld, das James ihr jeden Monat zahlt, hat sie genügend zurückgelegt, um sich und Maddie mindestens ein Jahr durchzubringen. Der Plan war, sich einen Job zu suchen, nach Möglichkeit einen, der sich zeitlich so einrichten ließe, dass sie arbeiten könnte, während Maddie in der Schule wäre. Wenn es sein müsste, würden sie unter anderem Namen leben. Sich die Haare färben und farbige Kontaktlinsen tragen. Noch einmal ganz von vorn anfangen, irgendwo. Doch dann, kurz bevor Maddie in die dritte Klasse kam, wurde sie krank, und Olivia wusste, allein könnte sie sich niemals die Behandlungen leisten, die aufgrund der Krankheit ihrer Tochter nötig wären. Sie konnte nicht arbeiten und gleichzeitig Maddies zahlreiche Arzttermine bewältigen. Sie hatte nie wirklich damit gedroht, ihn zu verlassen, denn sie hatte viel zu viel Angst davor, was er ihr dann antun könnte, aber sie war sich sicher, dass James, sollte sie ihn denn verlassen, alles daransetzen würde, sie vor Gericht als schlechte Mutter darzustellen, komplett ungeeignet, für ein krankes Kind zu sorgen, wozu ihr die Mittel und die Möglichkeiten fehlten. Und eher würde es in der Hölle frieren, als dass Olivia ihm das alleinige Sorgerecht für ihre Tochter überließe. Also hat sie sich damit abgefunden, dass sie, solange Maddie krank war, bei James würde bleiben müssen.

Aber jetzt haben sie eine Leber in Aussicht. Und bis dahin, bis es so weit ist, sagt sich Olivia, die es jetzt schon so lange mit James ausgehalten, das Leben an seiner Seite immer irgendwie überstanden hat, kann sie es auch noch ein bisschen länger aushalten. Während Maddies Genesung will Olivia sich einen neuen Plan zurechtlegen. Und dann, endlich, wird sie den Mut aufbringen, ihrer Ehe zu entkommen.

Maddie

Ich warte, bis Mom aus dem Zimmer ist, ehe ich mich in meinen E-Mail-Account einlogge – den, der mit meinem Facebookprofil verlinkt ist, von dem meine Eltern nichts wissen. Das Profil, das ich angelegt habe, um wenigstens so zu tun, als hätte ich noch ein Leben.

Vor ungefähr sechs Monaten bin ich, als ich mal wieder Zeit im Internet totgeschlagen habe, auf das Facebookprofil einer zweiundzwanzigjährigen Tiffani aus Austin, Texas gestoßen, die absolut umwerfend aussah, aber dumm genug war, keinerlei Sicherheitseinstellungen auf ihrer Seite zu benutzen. (Und ich meine wirklich keine, nicht eine einzige. Ganz ehrlich – wie blöd kann man sein?) Aber als ich mich dann durch ihre Bilder klickte, dachte ich, okay, sie scheint dumm zu sein und hat von Datenschutz keine Ahnung, aber ich würde trotzdem gern mit ihr tauschen. Ich will sie sein. Sie ist alles, was ich nicht bin – groß und dünn mit Brüsten wie Melonen und einem glitzernden Nabelpiercing. Sie hat lange schwarze, wellige Haare, seidig schimmernde gebräunte Haut und Beine, die definitiv doppelt so lang wie ihr Oberkörper sind. Sie datet heiße Typen, die aussehen wie »Abercrombie & Fitch«-Models, und kommt durch ihren Job als Hostess bei Automessen ziemlich viel rum. Und dann dachte ich: Warum kann ich nicht sie sein? Es ist ja nicht so, dass ich damit jemandem schaden würde – ich würde weder ihre Sozialversicherungsnummer benutzen noch die Passwörter ihrer Bankkonten. Ich würde weder ihre Flugmeilen verbrauchen noch mit ihrer Kreditkarte bei Victoria’s Secret shoppen. Ich würde mir einfach nur ihre Bilder runterziehen. Ihre Bilder in meinen Online-Profilen zu verwenden wäre doch eine nette Abwechslung, ein kleiner Kurzurlaub von Pillen, Blutabnehmen und Infusionen. Ich könnte endlich mal was anderes als krank sein.

Allerdings stellte ich schnell fest, dass ich ihre Bilder zwar übernehmen konnte, ganz unmöglich aber ihre Statusmeldungen, die vor allem aus Ausrufezeichen bestanden: »Wochenende!!! Jungs und Party!!! LOL!!!« (Ich mag ja erst fünfzehn sein, aber so war ich nicht mal mit zehn drauf.) Also habe ich »Sierras« (sprich: mein) Profil gründlich aufgepimpt, indem ich lauter coole Sache likte, die ich mir von anderen Seiten zusammengesucht habe. Dabei blieb ich so nah wie möglich an der Wahrheit und gab meine Musikinteressen als ihre aus (Coldplay, Fiona Apple, Nirvana), ließ sie Bücher lesen, die ich toll finde (Die Tribute von Panem, Anna Karenina, Die Tagebücher einer Nanny), und likte ein paar trendige Seiten wie »Bacon« und »George Takei«. Ich änderte ihren/meinen Namen (von Tiffani Myers zu Sierra Stone), ihr College (von Fehlanzeige zur Washington State University) und ihren Job (von Model/Messehostess zu angehender Grafikdesignerin). Ich kopierte ihr Profilbild und ein paar Schnappschüsse aus ihren Fotoalben und speicherte alles auf meiner Festplatte, damit ich die Bilder auch für meine Avatare in Chatrooms und beim Onlinespielen benutzen konnte. (Ich musste mich echt beherrschen, um Tiffani keine gut gemeinte anonyme Nachricht zu schicken: »Dir ist schon klar, dass das Internet nie vergisst? Dieses Bild, wo du dich im roten Bikini auf einem BMW räkelst und die Männer Schlange stehen, um sich mit dir ablichten zu lassen – das können sich noch deine Enkel ansehen, und sie werden sooo stolz auf dich sein.«) Ich nahm Freundschaftsanfragen von allen möglichen Leuten an (vorausgesetzt, sie waren noch nicht mit Tiffani befreundet) und staunte nicht schlecht, wie viele wildfremde Typen mit Sierra »befreundet« sein wollten – einfach nur, weil sie so toll aussieht.

Als ich jetzt in meinem Krankenhausbett liege und Sierra nur wieder ein paar notgeile Freundschaftsanfragen, aber keine einzige Nachricht in ihrem Postfach hat, spiele ich kurz mit dem Gedanken, noch ein Profil von mir zu erstellen – so, wie ich wirklich bin: ein fünfzehnjähriges Mädchen mit einer kaputten Leber, einem gefühlskalten Vater und einer lieben, aber überbehütenden Mutter. Ein Mädchen, das null Freunde hat, das noch nie tanzen war oder auch nur ansatzweise von einem Jungen geküsst worden ist. Ein Mädchen, das sterben wird, wenn es nicht bald eine neue Leber bekommt.

Ich bohre mir die Fingernägel in die Handflächen, bis es wehtut, und schlucke meine Tränen herunter. Meistens kann ich die Realität, wie schlimm es wirklich um mich steht, ziemlich gut verdrängen. Ich bin mir meines Zustands bewusst und kann ihn gleichzeitig ausblenden, so tun, als wäre ich Sierra und nicht Maddie. Ich kann über den Dingen schweben, die sich nicht gut anfühlen, das drohende Unheil an mir vorbeirauschen lassen. Aber meistens schlafe ich einfach nur. Essen kann ich schon eine Weile nichts mehr, und den ernsten bis verzweifelten Mienen von Dr. Steele und meiner Mutter nach zu schließen, geht es auch nicht wirklich aufwärts mit mir. Eher im Gegenteil – und das ziemlich rasant.

Damals, als alles anfing mit meiner Krankheit, war ich mir gar nicht darüber im Klaren, was genau da auf mich zukommt. Ich hatte mich nicht gut gefühlt, war andauernd müde und hatte keinen Appetit mehr, aber das war eigentlich nichts Neues. Als ich sechs war, wurde bei mir Zöliakie festgestellt, also eine Glutenunverträglichkeit, wegen der mein Darm bestimmte Getreidesorten wie Weizen nicht verarbeiten kann. Wenn ich was mit Gluten drin esse, fängt mein ganzer Körper an wehzutun, und mir wird furchtbar schlecht. Nach einem Jahr wurde es immer schlimmer. Am Anfang dachte ich, es läge daran, dass ich mir immer mal wieder heimlich ein paar Scheiben von Dads Mehrkornbrot einverleibte, aber als es nach ein paar brav-brotfreien Wochen nicht besser wurde, schleppte Mom mich zum Kinderarzt. Während er meinen Bauch abtastete, stellte er fest, dass meine Leber vergrößert war. Etliche Blutproben und Arztbesuche später hatte mein Problem einen Namen: Typ-2-Hepatitis, eine Art Leberentzündung, für die junge Mädchen, die bereits eine Autoimmunstörung wie Zöliakie haben, anscheinend besonders anfällig sind. Muss nicht sein, kann aber vorkommen. Dumm gelaufen.

»Das lässt sich aber behandeln«, versicherte Dr. Steele uns. Am Anfang verschrieb er mir hochdosiertes Prednison und passte die Dosis allmählich an, um mein Immunsystem langfristig unter Kontrolle zu halten. Was zunächst auch prima funktionierte. Ich konnte weiter zur Schule gehen, auch wenn ich nicht mehr so belastbar war oder so schnell rennen konnte wie die anderen in meiner Klasse. Aber dann, ich war gerade in die dritte Klasse gekommen, wachte ich morgens mit fiesen Schmerzen und Krämpfen auf und lag klatschnass geschwitzt in meinem Bett. »Mama«, schrie ich, »ich kann nicht aufstehen. Hilf mir!« Ich kann mich noch genau an meine Angst erinnern, an die mörderischen Schmerzen am ganzen Körper. Ich kann mich erinnern, dass ich so heftig erbrechen musste, dass ich kleine rote Blutfäden in der Kloschüssel schwimmen sah. Ich weiß noch, wie mein Hals zuschwoll und ich Angst hatte zu ersticken. Ich kam ins Krankenhaus und blieb gleich mehrere Wochen.

»Ösophagitis«, erklärte Dr. Steele meinen Eltern, als er zu uns in die Notaufnahme kam. »Wenn das Narbengewebe auf Maddies Leber den Blutkreislauf blockiert, staut sich das Blut in anderen Gefäßen – meistens im Bauch und in der Speiseröhre, was hier der Fall zu sein scheint.«

ENDE DER LESEPROBE