Das Jahr der wundersamen Begegnungen - Sarah Winman - E-Book

Das Jahr der wundersamen Begegnungen E-Book

Sarah Winman

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Beschreibung

Manchmal schenkt einem das Leben eine unerwartete Freundschaft

Cornwall, 1947. Marvellous Ways und Freddie Drake könnten unterschiedlicher nicht sein. Doch das Schicksal führt die neunzigjährige Frau und den jungen Soldaten zusammen, denn Freddy, der einem im Sterben liegenden Freund versprochen hat, dessen Vater einen letzten Brief nach Cornwall zu bringen, landet unversehens bei Marvellous in ihrer selbsterwählten Einsamkeit. Sie nimmt den körperlich wie seelisch gebrochenen Mann bei sich auf, und eine unerwartete Freundschaft nimmt ihren Anfang. Wird Freddy Marvellous das geben können, was sie braucht, um dieser Welt auf Wiedersehen zu sagen? Und kann sie ihm geben, was er braucht, um weiterzumachen?

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Inhalt

Cornwall, 1947. Marvellous Ways und Freddie Drake könnten unterschiedlicher nicht sein. Doch das Schicksal führt die neunzigjährige Frau und den jungen Soldaten zusammen, denn Freddy, der einem im Sterben liegenden Freund versprochen hat, dessen Vater einen letzten Brief nach Cornwall zu bringen, landet unversehens bei Marvellous in ihrer selbsterwählten Einsamkeit. Sie nimmt den körperlich wie seelisch gebrochenen Mann bei sich auf, und eine unerwartete Freundschaft nimmt ihren Anfang. Wird Freddy Marvellous das geben können, was sie braucht, um dieser Welt auf Wiedersehen zu sagen? Und kann sie ihm geben, was er braucht, um weiterzumachen?

Autorin

Sarah Winman ist in der Grafschaft Essex aufgewachsen und lebt heute in London. Hauptberuflich ist sie Schauspielerin. Nach ihrer Ausbildung trat sie vornehmlich im Theater auf, spielte jedoch auch in zahlreichen Filmen und Fernsehproduktionen mit. Nach Als Gott ein Kaninchen war ist Das Jahr der wundersamen Begegnungen ihr zweiter Roman.

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Sarah Winman

Deutsch von Marion Hertle

Die Originalausgabe erschien 2015

unter dem Titel »A Year of Marvellous Ways« bei Headline Publishing Group, an Hachette UK Company, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage

Copyright der Originalausgabe © 2015 by Sarah Winman

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2016 by Limes Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Angela Troni

Umschlaggestaltung und -illustration: www.buerosued.de

LH · Herstellung: kw

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-17687-7V001

www.limes-verlag.de

Für Patsy

Wir sterben mit den Sterbenden:

Sieh, sie scheiden, und wir gehen mit ihnen.

Wir werden mit den Toten geboren:

Sieh, sie kehren wieder und bringen uns mit.

T. S. ELIOT, »LITTLE GIDDING«

I

1

Hier stand sie also, wartend am Straßenrand. Sie war alt geworden.

Seit ihr neunzigstes Lebensjahr angebrochen war, verbrachte Marvellous Ways einen Großteil ihrer Zeit wartend – wenn auch nicht auf den Tod, wie man angesichts ihres Alters meinen könnte. Vielmehr wusste sie nicht genau, worauf sie wartete, denn das Bild war noch nicht vollständig. Es war lediglich ein vages Gefühl, etwas, das ihr zugeflogen war wie der letzte Flügelschlag aus einem Traum, einer von Paper Jacks – Gott hab ihn selig – Träumen, der über die Schlaflandschaft geflogen war, kurz bevor es dämmerte. Sie hatte es nicht geschafft, die Feder zu erhaschen, ehe sie hinter dem Horizont verschwand und sich in der Hitze der aufgehenden Sonne auflöste. Aber sie hatte die Botschaft verstanden: Warte, denn etwas wird kommen.

Sie rückte den Gummi an ihrer großen Brille zurecht und schob sie hinauf. Die dicken Gläser vergrößerten ihre Augen um das Zehnfache und ließen sie so blau und unstet wirken wie das Meer. Sie blickte die Straße hinauf und hinab, die einst den großspurigen Namen High Road getragen hatte und inzwischen nur noch als Abkürzung für schwere Landwirtschaftsfahrzeuge auf dem Weg nach Truro diente. Die vertrauten Cottages aus Granit – zehn an der Zahl und vor einem Jahrhundert erbaut, um die Arbeiter für die Höfe und Gärten des riesigen Anwesens zu beherbergen – waren vernagelt und heruntergekommen, bewohnt nur noch von gespenstischen Ginsterbüschen und Brombeersträuchern, die wie Gerüchte aus der Ferne herbeigeweht waren.

Sie bezeichneten es als Dorf, doch St. Ophere war höchstens ein Weiler. Die Kirche, die dieser Ansammlung von Behausungen ihren Namen gegeben hatte, lag an dem kleinen Fluss, an dem Marvellous wohnte. Nicht mal eine Schule gab es hier, die befand sich zwei Meilen weiter westlich in dem Küstendörfchen Washaway. Der Ort hatte seinem Namen schon alle Ehre gemacht, als es vor Jahren nach einem Schneesturm zu einem verheerenden Hochwasser gekommen war. Dafür aber gab es in St. Ophere eine Backstube.

Früher hatten die Leute aus der Gegend den Ort oft »Backstube« genannt, anstatt den Heiligennamen zu verwenden, denn die Inhaberin Mrs. Hard hatte in großen rosa Lettern das Wort BACKSTUBE auf das graue Schieferdach gemalt – ein eleganter Kontrast zu den einst weißen Steinmauern.

Jeden Morgen, sobald der Ofen heiß war, läutete Mrs. Hard die Glocke, und ihre Kundschaft kam in Bewegung – ebenso wie jeder ertrunkene Seemann von der Lizard-Halbinsel bis zu The Scillies, was sie jedoch nicht wusste. Die Glocke war nämlich aus einem geborgenen Wrack entwendet worden. Die Frauen aus dem Dorf kamen mit ihren rohen Kuchen, Pasteten und Brotlaiben und schoben sie in die brennende Glut. Mrs. Hard bezeichnete den Ofen gerne als »kleine Hölle«, und wenn jemand seinen Kuchen falsch platzierte und den eines anderen mitnahm, dann wanderte er auf direktem Weg dorthin. Zumindest trichterte sie das den Kindern ein, die kamen, um die Backwaren ihrer Mütter abzuholen, und sorgte damit für so manche schlaflose Nacht. Die Ärmsten glühten vor Angst und fragten sich, was wohl passieren würde, wenn sie doch einmal einen falschen Kuchen erwischten.

Vor einiger Zeit war der Ort wegen des Brotes sogar zum Ausflugsziel avanciert. Heute, im Jahr 1947, war er jedoch kaum mehr als ein trauriges Mahnmal dafür, wie unerbittlich die Zeit voranschreitet.

Eine Brise fuhr in das Haar der alten Frau und hob es an. Sie blickte zum Himmel auf. Er war fliedergrau, die Wolken hingen tief, schwer vom Regen, aber Marvellous bezweifelte, dass es regnen würde. »Zieht weiter«, flüsterte sie ihnen zu. Sie überquerte die Straße, blieb vor der Backstube stehen, stellte ihre Lampe auf die Stufe und drückte die Handflächen gegen die verwitterte Tür.

»Misses Hard?«, flüsterte sie.

Die Inhaberin der Backstube hatte Marvellous einst gesagt, dass ihr Leben von positiven Erlebnissen erfüllt sein werde, weil sie so geduldig warten könne.

»Patience, so hätte dein Vater dich nennen sollen«, sagte sie. »Die Geduldige.«

»Aber ich bin gar nicht geduldig«, sagte Marvellous, »ich bin gewissenhaft.«

Daraufhin hatte Mrs. Hard auf das barfüßige Mädchen mit den zerlumpten Kleidern und der feinen Ausdrucksweise hinabgeblickt und gedacht, wie unmenschlich es doch war, ein Kind in den Wäldern großzuziehen, wo es wild und frei herumlief wie ein Cornwallschwein. Das Mädchen brauchte eine Mutter.

»Du brauchst eine Mutter«, sagte Mrs. Hard.

»Ich hatte eine Mutter«, gab Marvellous zurück.

»Nein, du hattest ein Etwas«, sagte Mrs. Hard. »Ich könnte deine Mutter sein.«

Sie wartete auf eine Antwort, aber aus dem Mund des entsetzten Kindes kam kein Wort. Mrs. Hard schüttelte den Kopf und sagte: »Denk daran, Geduld ist eine Tugend, und sie ist göttlich.«

Mrs. Hard mochte das Wort »göttlich«, und sie mochte Gott. Als ihr Mann im Jahr 1857, vom Versprechen auf Reichtum geködert, zu den südafrikanischen Minen auswanderte, zogen Jesus und der bei allen beliebte Reverend bei ihr ein. Der Übergang verlief nahtlos, genau wie die erste Goldmine, zu der sich ihr Mann aufmachte. Der arme Kerl zog bald von Grube zu Grube, nur um ein paar Rand zu verdienen, bis er in der düsteren Fremde elend starb, weil er einen Blick auf den goldenen Schlüssel erhaschen wollte – jenen Schlüssel, der in das Schloss zu einem besseren Leben passte.

»Breathe on me, Breath of God, Fill me with life anew – Ich will einen Odem in Euch bringen, auf dass Ihr lebendig werdet.«

Diesen Satz hatte Mrs. Hard über die Tür der Backstube gepinselt, nachdem sie vom Tod ihres Mannes erfahren hatte. Später hatte jemand – die alte Marvellous lächelte, weil die verblichenen bräunlichen Buchstaben noch zu erkennen waren – »breath« in »bread«, also »Odem« in »Brot« geändert, aber Mrs. Hard hatte es nie bemerkt, denn sie hob kaum je den Blick.

»Die Erlösung kommt für mich aus dem Staub«, hatte sie damals zu Marvellous gesagt.

»Wie eine Kartoffel?«, hatte das Kind gefragt.

Die Wetterfahne quietschte über ihr. Die Dämmerung senkte sich im Oktober so schnell über das Dörfchen wie die Krähen über die Toten der Nacht. Muss fast November sein, dachte Marvellous. Lichter glommen auf in den fernen Dörfern, eine feierliche Mahnung an die Vergänglichkeit dieses Ortes. Sie zog eine Streichholzschachtel hervor und zündete die Öllampe an. Mitten auf der Straße hob sie die Lampe in Richtung der Hügel dahinter. »Ich bin immer noch hier«, sollte die Geste bedeuten.

Ein gelber Lichtschein fiel auf die Hecke, hinter der sich ein Kreuz aus Granit aus einem flachen Primelfeld erhob. Marvellous hatte das Kreuz immer für einen Nachtrag gehalten, hastig nach dem Ersten Weltkrieg errichtet, wie sie ihn jetzt nennen konnte. »1914–1918« stand über den Namen der Gefallenen, deren Gesichter längst verblichen waren. Ein Name, den sie kannte, stand jedoch nicht auf der Liste: Simeon Rundle war nicht aufgeführt.

Damals, 1914, als die Kriegsflut an die nichtsahnende Küste rollte, war das Dorfleben plötzlich zum Erliegen gekommen. Von einem Tag auf den anderen gab es keine Messen mehr und auch keine Tanzabende oder Regatten. Die Männer mussten fort, und das Leben fror ein zu einem dauerhaften Warten. Ein Ort ohne Männer stirbt, sagte Marvellous, und das Dorf starb tatsächlich langsam. Der allseits beliebte Reverend wurde zu einer Gemeinde in London berufen, und kurz darauf erreichte Mrs. Hard die Nachricht, dass er bei einem Zeppelin-Luftangriff ums Leben gekommen war. Sie legte sich ans Ufer des »kleinen Jordans«, wie sie den Fluss nannte, und wünschte sich, dass ihr Leben endete. Es gehorchte auf der Stelle, so groß war die Kraft ihres Willens. Der Ofen der Backstube erlosch, und Gott räumte das Feld. Die Zurückgebliebenen beteten ständig für den Frieden, aber die Gebete kamen mit einem Unzustellbar-Vermerk zurück. Nur der Zählappell der Toten wurde immer länger.

Eines milden Maimorgens kam er dann doch noch, der Frieden, denn so lautete der Name des Kindes, das sechs Monate vor Ende der Kämpfe das Licht der Welt erblickt hatte: Peace. Überfällig war es, das Kind, es hatte sich geweigert, auf die Welt zu kommen, bis die Gewehre stillstanden, bis der Wahnsinn vorüber war. Die Mutter konnte so viel pressen, schieben und drängen, wie sie wollte, und selbst die Helfer schafften es zunächst nicht, die kleine Peace in die zerstörte Welt zu befördern. Selbst als sie endlich herauskam, geschah es mit großem Widerwillen, so als wüsste sie über alles Bescheid. Sie kam mit den Füßen zuerst, der Kopf wollte partout nicht heraus. Alles war durcheinander, die Füße, die Hände, die Beine, die Nabelschnur. Wie ein neugeborenes Kalb.

»Der Kopf wird von der Last des Namens niedergedrückt«, flüsterte Marvellous, als sie das Kind drehte und aus dem Mutterleib herausholte.

Peace. Doch so einfach ist es nicht – und war es auch damals nicht.

Die Bräuche von früher kehren nicht zurück, wenn es die alten Leben nicht tun. Einzig Simeon Rundle kam eines Tages zu seiner Schwester Peace nach Hause, einen ganzen Sack an Traumata im Gepäck. Eines Morgens fanden ihn die Dorfbewohner unten am Fluss, wo er bis zum Hals in Flussschlamm und seinen eigenen Exkrementen steckte und mit einem weißen Taschentuch einem großen Einsiedlerkrebs zuwinkte. Seine geschwollene Zunge hing wie eine alte Socke aus dem Mund, als er »Iff ergebe miff, iff ergebe miff, iff ergebe miff« rief, bevor er die Flinte seines Vaters hob und sich ganz gezielt das Herz aus der Brust schoss. So hieß es zumindest.

Die Augenzeugen keuchten auf, und zwei von ihnen fielen in Ohnmacht, als Simeons Herz gegen das Kirchentor klatschte wie ein verschlungener roter Türklopfer. Der neue Laienpriester stürzte heraus und erklärte die Tat auf der Stelle zu einem Werk des Teufels.

Unglücklicherweise wird eine derart unbedachte Äußerung schnell auf den eifrigen Schwingen des Gerüchts davongetragen, daher dauerte es nicht lange, bis dem Dörfchen St. Ophere ein Makel anhaftete, den noch nicht einmal die willkommene Errungenschaft im Jahr 1936 völlig auslöschen konnte, als sie elektrisches Licht bekamen.

Es war nicht so, dass mit dem Ort etwas nicht gestimmt hätte, allerdings bekam die Richtigkeit einen Knacks. Die Gezeiten wirkten stärker als früher, die Nebel dichter, und die Vegetation wuchs schneller, als gäbe sich die Natur alle Mühe, den Makel auszugleichen oder zumindest zu überdecken. Die Aura eines Unglücksortes blieb, und so zogen die Menschen nach und nach weg. Es folgte ein beständiger Strom von Abschieden, wie Bingokugeln, die eine nach der anderen gezogen werden. Die Leute zogen in die umliegenden Dörfer, deren Lichter noch immer unter dem düsteren Herbsthimmel flimmerten.

Marvellous blickte ein letztes Mal die High Road hinauf und hinab, um sich zu vergewissern, dass das, worauf sie wartete, nicht gekommen war. Der Wind hatte aufgefrischt, die Wolken zogen schnell dahin. Sie hielt ihre Lampe in die Höhe, ging über die Straße zu dem Denkmal mit dem Steigrohr daneben und dann weiter über die Wiese, auf der sie einst eine Kuh gehalten hatte. Die Temperatur sank, das Gras unter ihren Füßen war feucht, und sie dachte, dass der frühe Morgen den ersten Frost mit sich bringen würde. Sie konnte den Wald vor sich sehen und bereitete sich auf den leichten Anstieg vor, auf die vorsichtigen Schritte durch die Ahorn-, Haselnuss- und Edelkastanienbäume Richtung Fluss. Es war Ebbe. Sie konnte den salzigen Schlamm riechen, ihr Lieblingsgeruch, den Geruch ihres Blutes, wie sie glaubte. Sie würde sich Muscheln in einer Pfanne über dem Feuer dämpfen, und das Feuer würde ein winziges Loch in die Nacht brennen. Bei dem Gedanken lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Als sie stolperte und neben einen Schlehenbusch stürzte, nutzte sie das Missgeschick, um zwei Taschen voller Beeren zu pflücken. Vor ihr schimmerte das Licht ihres Wohnwagens, und sie fühlte sich – seltsamerweise – einsam. Niemals alt werden, flüsterte sie sich zu.

Es war spät. Eine Eule rief, und die dunklen Augen der Nacht blickten unverwandt zum Horizont. Da Marvellous nicht schlafen konnte, setzte sie sich ans Ufer und leistete dem Mond Gesellschaft, ein Häufchen leerer Muschelschalen zu ihren Füßen. Sie kauerte sich zur Wärme des Feuers, ihre gelbe Regenjacke schimmerte hell, roch und fühlte sich heiß an. Die Sterne sahen blass aus in der Ferne, aber das konnte auch an ihren Augen liegen. Früher hatte sie ein Fernglas benutzt, inzwischen sah sie durch ein Teleskop; bald würde die Nacht den Tag vollständig vertreiben. Ihr altes Krebsfischerboot wirkte tröstlich, wie es sanft auf den Wellen schaukelte. Das vertraute Knarzen des Seils am Holz klang angenehm in der wogenden nächtlichen Stille.

Fast ihr ganzes Leben hatte sie in dieser Bucht verbracht und war hier glücklich gewesen – so gut wie immer. Wie eine Insel ragte die kleine Kirche auf, die einst eine Kapelle gewesen und inzwischen nur noch eine Ruine war. Solange sie denken konnte, hatten die Gezeiten die Kirche umspült und isoliert, bis sie den Menschen weggebrochen war. Oder waren die Menschen der Kirche weggebrochen? Das alles war so lange her, dass Marvellous sich nicht mehr erinnerte, in welcher Reihenfolge es passiert war. Aber die Strömung hatte sich stetig ihren Weg gebahnt, bis die Kirche, die Grabsteine und der Glaube der Menschen überall verstreut waren. Der Sonntagsgottesdienst wurde immer dann abgehalten, wenn der Wasserstand seinen Tiefpunkt erreicht hatte, sei es bei Tagesanbruch oder in der Abenddämmerung. Einmal, so erinnerte sie sich, fand er sogar mitten in der Nacht statt. Die Laternen tragenden Gläubigen liefen singend am Flussufer entlang wie Pilger auf dem Weg nach Galiläa.

Ja, wir versammeln uns am Fluss,

Dem schönen, schönen Fluss;

Treffen auf die Heiligen am Fluss

Der bis zum Throne Gottes fließt.

Sie nippte an der Flasche mit dem Schlehenschnaps, dem Nektar der Götter, der zum Throne Gottes floss. Amen. Das Licht der Altarkerze schlich sich aus der Kirche und bestäubte die Spitzen jener Grabsteine, die die Gezeiten gnädig verschont hatten. Sie ist ihr eigener Stern, dachte Marvellous. Jede Nacht zündete sie diese Kerze an, schon seit Jahren. Im Grunde war sie eine Leuchtturmwärterin. Wiehießernoch hatte es damals während des Krieges an ihre Ufer geholt. Das – und die Musik natürlich.

Wiehießernoch. Der Amerikaner. Sie hatte beobachtet, wie er als Schatten in die Kirche geschlüpft und als ebensolcher wieder herausgekommen war. Dunkle Malventöne entströmten seiner schwarzen Haut, und an seinem Mund pulsierte die brennende Spitze einer Zigarette wie das Herz eines Nachtinsekts. Er ging über das trockene Flussbett, angelockt von der Musik, und als er die Uferböschung erklomm, entdeckte er das Radio in dem ramponierten Kinderwagen unter dem Baum.

»Louis Armstrong«, sagte er.

Darauf erwiderte sie: »Marvellous Ways. Schön, Sie endlich kennenzulernen.«

Er lachte, und sie hatte noch nie so ein Lachen gehört, in ihrem ganzen Leben nicht. Seine Augen leuchteten so hell wie Lichtstrahlen. Er setzte sich zu ihr, und der Tisch wackelte und der Fluss plätscherte, als Bomber über sie hinwegflogen, die Sirenen schrillten und Bomben auf den großen Hafen und Truro fielen. Sperrballone warfen große Schatten über ihnen, während Louis Armstrong von Lippen, Armen und Herzen sang, Fliegerabwehrkanonen in den indigofarbenen Himmel feuerten und zwei Fremde still nebeneinander unter einem Baum saßen, der das alles schon einmal gesehen hatte.

Er erzählte von seinem Großvater zu Hause in South Carolina im Low Country, von Angelausflügen im sumpfigen Moor und davon, dass der Geruch von Schlamm und Salz nach Heimat duftete. Darauf sagte Marvellous: »Ich weiß, was du meinst.« Er erzählte von den Gerüstbrücken, die in der Dämmerung rosa schimmerten, von Zedern in den saftigen Feuchtgebieten und dem schweren Duft von süßen Blüten und Jasmin, der ihn an seine verstorbene Mutter erinnerte. Er sagte, er würde so gerne mal wieder Katzenfisch essen, und Marvellous meinte: »Ich auch«, obwohl sie nur Doggenhai kannte. Mit ihren Bechern stießen sie auf das Leben an und taten so, als wären sie weit, weit weg.

Danach besuchte er sie häufiger. Brachte ihr Donuts von der amerikanischen Donut Factory am Union Square mit, die sie zu starkem schwarzem Tee aßen, obwohl er Kaffee lieber mochte. Sie hörten sich den Rhythm Club im Radio an und wippten im Jitterbug-Takt mit den Füßen. Manchmal brachte er auch Dosenfleisch oder Corned Beef mit und sorgte dafür, dass sie nie hungern musste. Einmal schenkte er ihr ein Poster von einem Film, den sie ein paar Jahre zuvor gesehen hatte. Er war sehr aufmerksam.

Ein paar Tage vor der geplanten Invasion in Frankreich bat er sie um einen Glücksbringer.

»Ein Glücksbringer?«, fragte sie.

»Ja, damit ich gesund wiederkomme«, sagte er.

Sie sah ihm in die Augen und erwiderte: »So etwas mache ich nicht. Ich habe noch nie einen Glücksbringer gemacht.«

»Oh, die Leute behaupten aber, dass du so etwas tust.«

Das hatten sie tatsächlich schon immer gesagt. Stattdessen hielt Marvellous seine Hand, denn das war der einzige Zauber, den sie hatte, und er wirkte.

Im Juni 1944 folgte dann der große Abschied, als die amerikanischen Soldaten eingeschifft wurden. Pfeifend stolzierte er mit seinen Gabardinehosen und dem Hawaiihemd hinüber. Ach, er sah ja so schick aus. Er gab ihr alles, was er noch besaß: Schokolade, Zigaretten, Strümpfe. Sie setzten sich unter den Baum, tranken Tee und hörten Armstrong und Teagarden, auch Bechet und noch jemanden, der nie so berühmt werden würde wie die anderen. Marvellous beobachtete den jungen Mann, wie er den Takt auf den Knien mitklopfte, wie sein Mund zur Klarinette wurde. In diesem Augenblick sah sie, wie die beiden Möglichkeiten seines weiteren Lebens miteinander wetteiferten. Einmal lag er ruhig am Omaha Beach, ein anderes Mal saß er still da, den Kopf in ein Buch gesteckt, und versuchte etwas aus sich zu machen in einem vom Hass gezeichneten Land.

Als er aufstand, um sich auf den Weg zu machen, sagte sie: »Geh links.«

»Was?«, fragte er.

Sie antwortete: »Keine Ahnung, was es bedeutet, aber du wirst es wissen, wenn es so weit ist. Du musst auf jeden Fall nach links gehen.«

»Bis dann, Marvellous.« Er winkte.

»Bis dann, Henry Manfred Gladstone der Zweite.« Auch sie winkte.

Henry Manfred Gladstone II. Das war also sein Name.

»Es war mir ein Vergnügen«, sagte er.

Die Nacht war voller Bewegung. Frachtkähne legten ab, Tausende Männer schifften sich vom Pier und den Stränden aus ein, und es herrschte ein unglaubliches Durcheinander. Trotzdem war am nächsten Morgen alles still. Der Geruch nach Diesel verzog sich, die Amerikaner waren weg und hatten romantische Geschichten und ungeborene Kinder zurückgelassen – und so viel Freude. Am Ende weinten die Frauen, weil sie es immer taten.

»Bis dann, Henry Manfred Gladstone II.«, flüsterte Marvellous. »Es war mir ein Vergnügen.«

2

Wie Marvellous vorhergesehen hatte, war das Tal um den Fluss am nächsten Morgen mit einer dicken Schicht Raureif überzogen. Ein Brachvogel rief unablässig von der Bucht herauf, bis irgendwann eine Rauchwolke vom Zigeunerwohnwagen aufstieg. Einen Augenblick später öffnete Marvellous die Schiebetür und stieg vorsichtig die eisglitzernden Stufen hinab. Während die Erde unter ihren Füßen vernehmbar knackte, streckte sie die Arme in Richtung der Baumkronen, dann zu ihren Zehen und wieder zu den Bäumen. Für jemanden, der so klein war, nahm sie recht viel Platz ein.

Sie folgte dem abfallenden Weg bis zum Ufer hinab, wo die Glut des Lagerfeuers noch zaghaft vor sich hin kokelte. Schwer ließ sie sich auf den Ankerstein sinken und horchte in sich hinein, um ihre Stimmung zu ergründen, so wie sie es jeden Tag auch mit der Strömung des Flusses machte. Sie war besorgt und hatte schlecht geschlafen. Ein Traum hatte sie aufgeschreckt – wieder ein blinder Traum – einer der Worte, nicht der Bilder. Öffne das Bootshaus, hatte ihr der Traum befohlen. »Auf keinen Fall«, hatte Marvellous heftig widersprochen, aber Träume streiten nicht.

Sie stand auf und wartete, bis der Wasserstand seinen höchsten Punkt erreicht hatte, jenen Augenblick, wenn der Fluss kurz stillstand. Sie streifte die gelbe Regenjacke und die abgetragenen Stiefel ab und schauderte, als der frostige Schlamm zwischen ihren Zehen hindurchquoll. Sie löste ihr Haar, und die weißen Locken fielen ihr über die Schultern bis zur Hüfte, die einst schmal und fest gewesen war. Erst ein Knopf, dann ein zweiter. Ihre Finger waren nicht mehr sehr geschickt, und es dauerte einen Augenblick, bis die schwere Filzhose zu Boden fiel. Dann zog sie den Wollpullover über den Kopf, ihre Brüste sanken weich herab, und die kühle Morgenluft bescherte ihr eine Gänsehaut. Sie nahm die Kette mit der Muscheldose ab und legte sie vorsichtig auf den alten Stein neben ihr. Schließlich schlüpfte sie aus der langen Unterhose. Früher hatten sich ihre Oberschenkel nur ganz oben berührt, inzwischen überall, aber in einer Minute würde sich sowieso alles anders anfühlen. Im Fluss fühlte es sich immer anders an, das wusste sie, weil sie schon so lange alt war.

Nachdem sie ihre Brille abgenommen hatte, trat sie vorsichtig ans Ufer, tastete mit den Zehen nach dem Rand. Der Geruch der Flut hing schwer in der Luft. Sie hob die Arme über den Kopf, woraufhin der Wind unter ihren Achseln entlangstrich, ebenso am Übergang zu den Schenkeln.

Jetzt.

Sie beugte die Knie, sprang ins Wasser und kam zwei Meter vom Ufer entfernt wieder an die Oberfläche. Sie schwamm flussabwärts mit den Meeräschen und beobachtete einen Reiher, der tief und unbemerkt dahinflog und in dem schummrigen Licht leichte Beute hatte. Sie genoss das kalte Wasser zwischen ihren Beinen, wenn sie sich beim Schwimmen öffneten.

Auf Höhe des Bootshauses zog sich ihr der Magen zusammen, als ihr Blick auf die Steine und Schindeln fiel. Mit Reif überzogen wirkte es majestätisch und heiter, wie das Symbol für Liebe und Hingabe, das es einst gewesen war, als ihr Vater es vor so vielen Jahren erbaut hatte. Damals strahlend weiß, war es mittlerweile grün vor Moos geworden, lange schon von dem riesigen Schlund ihrer Vergangenheit verschluckt. Vor fünfundzwanzig Jahren hatte Marvellous die Tür verriegelt und alles eingeschlossen, was sich darin befunden hatte, genau wie mit ihrem Herzen. Die salzverkrusteten Fenster schienen sie anzuflehen, als sie daran vorbeischwamm. Öffne uns, flüsterten sie. »Unsinn«, sagte sie, tauchte erneut unter und ließ sich mit dem Seegras treiben. Sie blieb unter Wasser, so lange sie konnte, und kam flussaufwärts im Schatten des Ankersteins atemlos wieder nach oben. Sie kämpfte sich die Flussböschung hinauf und wickelte sich in ihre Regenjacke. Dann wandte sie sich zum Bootshaus.

»Du kannst nicht sprechen«, sagte sie.

»Nein, kann ich nicht«, erwiderte es.

»Dann ist es ja in Ordnung«, sagte sie und stapfte zu ihrem Wohnwagen zurück, in einer Stimmung, so schwer wie der Schlamm unter ihren Füßen.

Am Nachmittag schnurrte der Motor, während das Krebsfischerboot auf den abnehmenden Fluten in Richtung der seichten Sandbank fuhr, die die ungebetene Welt von der Bucht fernhielt. Auf der Sandbank lag das Wrack der Deliverance, das Fischerboot ihres alten Freundes Cundy. Bei Ebbe neigte sich das Boot nach backbord und offenbarte die Wunde, von der es sich nicht mehr erholt hatte. Bei Flut lag das Heck so tief im Wasser, dass man hätte meinen können, der Name des Boots wäre Deliver.

Hinter der Sandbank war das weite Gebiet der Carrick Roads zu sehen, Sonnenstrahlen funkelten auf der wogenden grauen Schiffsstraße. Ein Schuss hallte hinter den Feldern wider. Marvellous blieb stehen und lauschte. Fernes Hundegebell war zu hören. Ein Schwarm Möwen erhob sich, flog auf die tief stehende weiße Sonne zu und überzog das Tal mit flüchtigen, kaum wahrnehmbaren Schatten. Marvellous spähte durch das Teleskop und verfolgte ihren Flug, suchte nach ungewöhnlichen Anzeichen, aber es war nichts zu erkennen. Sie entdeckte eine Seeschwalbe, die sich dem Strom hingab und sich auf dem schnell dahinfließenden Wasser fröhlich rückwärts treiben ließ.

Marvellous senkte das Teleskop und nahm die Brille ab. Mittlerweile war sie sich ziemlich sicher, dass das, worauf sie wartete, nicht über das Wasser kommen würde. Das Wasser gab Zeichen, unverkennbare Zeichen, wie damals in jener unvergesslichen Nacht, als zweitausend Seesterne mit den Gezeiten ans Ufer gekrochen waren.

Sie war fast ein ganzes Leben her, jene Nacht, als die Einsamkeit sie zu früh ins Bett geführt hatte. Marvellous hatte wach gelegen und unbedingt gewollt, dass sich ihr Leben änderte, wie es bei jungen Frauen häufiger vorkommt, als sie plötzlich spürte, dass draußen etwas angeschlichen kam. Sie stand auf, und als sie die schimmernden orangefarbenen Sterne sah, dachte sie, die Welt stehe kopf und der Himmel sei nun endlich zum Greifen nah. Auf gewisse Weise war es auch so, denn am nächsten Tag watete Paper Jack durch das seichte Wasser und schlug einen Pfad durch fünfzehn Jahre dornige Stille.

Er kam mit Blauglöckchen hinter den Ohren und Bärlauchstielen im Mund, im Gefolge liebeskranke Bienen, die wussten, wie ein guter Mann riecht. Mit weit ausgebreiteten Armen blieb er vor dem Wohnwagen stehen und rief, was die Kinder immer gerufen hatten:

»Marvellous Ways! Marvellous Ways!

Ist sie gut, oder rastet sie aus?

Sie verzaubert dich und macht dich gesund,

Sie verzaubert dich, und du landest im Höllenschlund.

Marvellous trat an diesem Tag so gleichgültig wie selten aus ihrem Wohnwagen und meinte nur: »Du wieder!«

Da sagte er: »Ich wieder!«

»Was willst du? Gesund sein oder im Höllenschlund?

Ganz ruhig erwiderte er: »Du sein.«

Darauf sie: »Hier gibt’s keinen Dusen.«

Darauf er: »Verdammt noch mal, Frau, du hast immer noch dieselbe große Klappe! Jetzt komm endlich von der Treppe runter und lass dich in den Arm nehmen.«

Sie hielten sich umschlungen, bis die »alte Zeit« zwischen sie kroch und sie schüchtern werden ließ. Paper Jack wich zurück und grinste sie an, dabei strahlte er wie ein Frühlingsmorgen und schmolz den langen Winter in ihrem Herzen weg.

Natürlich hieß er damals noch nicht Paper Jack, der Name kam erst viel später auf, wie es mit Namen oft so geht. Er hieß damals nur Jack oder Singer Jack, war still und aufmerksam und beobachtete alles und jeden wie das Wetter. Im Streit nannte er Marvellous mal eine »Hochdruckfront«, und ein andermal, als sein Bruder Jimmy nicht da war, bezeichnete er sie als »frostigen Tagesanbruch«. Jack mochte Marvellous, seit er sie an Jimmys Seite gesehen hatte. Er mochte Marvellous mehr als jede andere Frau, die er je gesehen hatte. Als er einmal betrunken und sie alleine war, sagte er ihr, dass er auf sie warten würde, denn sie sei es wert, wie »das erste Sichten von Sardinen an einem frühen Sommermorgen«.

Zum ersten Mal kam er 1900 zurück. Marvellous war damals zweiundvierzig Jahre alt und Jack sechsunddreißig. Beide waren vom Leben gezeichnet und einen Zentimeter kleiner als bei ihrem letzten Treffen. Marvellous entfachte draußen ein Feuer und kochte die Krabben, die sie am Vortag gefangen hatte. Sie tranken die Gegenwart des anderen mit Bier und Rum und wurden so schüchtern, dass selbst die Blätter erröteten.

»Hast du dir keinen Mann gesucht?«, fragte Jack.

»Nichts auf Dauer«, erwiderte Marvellous.

Halb glücklich und halb eifersüchtig sagte Jack: »Eine Frau wie du braucht einen Mann …«

»Ist das so?«

»Denn eine Frau wie du braucht ein Kind«, fügte er hinzu.

»Dafür ist es zu spät«, meinte Marvellous leise und begann die stinkenden Schalen wegzuräumen. Vierhundertsiebzehn Kinder hatte sie bis dahin auf die Welt gebracht, doch nicht ein eigenes. Sie blieb stehen und sagte: »Ich wollte ein Kind von dir, Jack. Ich wollte dein Kind lieben und großziehen.« Dann kniete sie sich hin und wusch sich die Hände in einem Eimer mit Flusswasser.

Schweigend saß er da und beobachtete sie schuldbewusst, während er der Nachtigall in den Ästen der Eiche über ihm lauschte. Als Marvellous fertig war, stand er auf und zog sie an sich. Sie wiegten sich zum Gesang der Nachtigall, und als sie sich küssten, wünschte sie, sie hätten es nicht getan, denn sie konnte die Traurigkeit in seinem Atem schmecken. Sie schmeckte sein anderes Leben und die anderen Frauen, und ihr war klar, dass er wieder gehen würde.

»Ich werde nicht bleiben«, flüsterte er.

»Ich weiß«, sagte Marvellous.

»Ich werde es wiedergutmachen. Danach komme ich zurück und hole dich.«

»Ich werde warten«, sagte Marvellous, weil sie so geduldig war.

»Du warst immer das einzige Mädchen für mich.«

»Ich bin kein Mädchen mehr, Jack, und die Zeit wird knapp.«

»Du warst nie schöner.«

»Wo haben sich diese Worte versteckt?«

»Ich habe Jahre gebraucht, um dich zu finden.«

»Ich war nie weit weg.«

Vogelschreie durchbrachen die Stille.

Sie strich ihm mit den Händen übers Gesicht. »Wo bist du die ganze Zeit gewesen?«

»In Australien.«

»Dacht ich’s mir doch, dass ich da eine andere Sonne auf deiner Haut sehe.«

»Ich bin im Süden gelandet, bei den Kupferminen. Ein Ort namens Moonta – Little Cornwall haben sie es genannt, weil es dort Cornish Pasties und Methodisten gibt.«

»Nahrung für den Kopf«, sagte Marvellous. »Für die Seele.«

»Ein paar Schwarze gab es auch, die das Land kannten und das Meer. Ich bin immer zur Bay runtergegangen und habe zugesehen, wie sie mit Rochenstacheln die Fische aufspießten wie mit Harpunen. Einer der Schwarzen, Bob, nannte mich einen Weißen. Kannst du dir das vorstellen? Ich habe nie darüber nachgedacht, dass ich ein Weißer bin, nicht bis zu dem Augenblick, als ich an diesem fremden Ufer stand, den größten, den blauesten Himmel aller Zeiten sah und beobachtete, wie ein Schwarzer Fische für sein Abendessen aufspießt.«

Marvellous lächelte. Dann nahm sie seine Hände und küsste sie.

Er wollte ihr sagen, dass das der Beginn von Heimweh war: dieser überwältigende Himmel und diese dürren Schwarzen. Er wollte ihr sagen, dass sich nichts richtig angefühlt und er sein Zuhause vermisst hatte, denn wie hätte er sich in einem Land einrichten sollen, dass wütende Worte flüsterte? In einem Land, in dem es mehr Fliegen gab als Menschen, in dem die Hitze von der roten, ausgetrockneten Erde so glühend heiß aufstieg wie in einem Brennholzofen? Wie hätte er sich ein Zuhause schaffen sollen in einem Land, in dem sie nicht war? Er hatte geweint an dem fernen Strand und so getan, als reize die brennende Mittagssonne seine Augen. Als Bob zu ihm herübersah, lachte der Schwarze und rief: »Was sind das für dämliche Tränen, Kumpel?«

»Was ist denn?«, fragte Marvellous und holte ihn aus seinen Gedanken.

Jack wurde still. Er zog eine schwere goldene Taschenuhr hervor und legte sie ihr in die Hände. »Siehst du, ich bin als reicher Mann zurückgekommen.«

»Du bist als Gentleman gekommen.«

»Ja. Könntest du einen Gentleman lieben?«

»Ein Seemann ohne Geld wäre mir lieber.«

Jack lachte. »Woher weißt du das?«

»Weil ich dich kenne, Jack Francis. Ich kann dein Leben an deinen Händen riechen.« Marvellous schenkte ihm aus der Flasche nach.

»Es hat unter Tage noch einen Unfall gegeben, da habe ich die Nerven verloren, Marve. Konnte danach nicht mehr runter. Musste immerzu an Jimmy denken. Denkst du noch an ihn?«

»Hin und wieder. Aber öfter an dich.«

»Liebst du mich mehr als ihn?«

»Ja. Denn ich habe inzwischen mehr Liebe zu geben.«

Er griff nach seinem Bier. »Ich trage immer noch die Schuld in mir«, sagte er.

»Die Zeit hat meine verschluckt.«

»Du Glückliche.«

»Ich bin vor allem müde, sehr müde«, sagte Marvellous.

»Ich werde nicht mehr unter Tage gehen«, entgegnete Jack. »Für mich gibt’s nur noch die See. Ich werde mein Glück auf den Wellen versuchen.«

»Lass uns ins Wasser gehen«, schlug Marvellous vor.

»Ich kann nicht schwimmen, kenne keinen Seemann, der das kann.«

»Keine Sorge, wir bleiben im Flachen, und ich halte dich.«

»Da gibt es aber ziemlich viel zu halten.«

»Ich bin ein guter Anker.«

Sie standen im Mondlicht beim Ankerstein, zogen sich gegenseitig aus und betrachteten sich von oben bis unten. Ihre Augen wurden zu Händen, ihr Verlangen kräuselte den Fluss, und als sie sich nicht mehr weiter ansehen konnten, führte sie ihn zum kalten Wasser. Ihm wurde dabei so schwindlig, dass er Mühe hatte, die Füße auf dem Boden zu lassen.

Während er sich nach dem Bad wieder anzog, packte sie ihm Schlehenschnaps, eingelegte Napfschnecken und Safranbrötchen in die Tasche. Ein Päckchen mit getrockneten Maronen und Schwarzwurzelblättern legte sie auch dazu, gegen den rasselnden Atem und die Luftnot, die er zu verstecken versuchte.

In dieser Nacht bat sie ihn, mit ihr zu schlafen, bevor er ging. Sie sprach es direkt aus. Sagte, dass sie schon genug Zeit vertan hätten und sie sich danach verzehrte, ganz ehrlich. Vom Alkohol erregt, folgte er ihr in das Bootshaus, und im goldenen Kerzenlicht machte die Hitze des Tages Platz für den Schweiß der Nacht. Sie zog ihre Bluse über den Kopf, und er berührte ihre Brüste, küsste sie, fuhr ihr unter den Rock, wo seine Hände auf nichts weiter als ihre Gänsehaut stießen. Er knöpfte sich die Hose auf, während sie einmal mehr sein Herz aufknöpfte. Schüchtern waren sie nun nicht mehr.

Sie klammerten sich aneinander und liebten sich, als wäre es ihre letzte Chance auf Liebe, und wo er in sie eindrang, verschwand er nie wieder. In jener Nacht begannen sie ihre Träume zu teilen, was immer dann geschieht, wenn beide um das Gewicht der Seele des anderen wissen.

Jack wartete, bis sie schlief, ehe er im Morgengrauen verschwand. Lautlos schlich er davon, indem er seine Lungen wie Ballone füllte und den Atem so stark anhielt, dass sie ihn vom Boden hoben. Während er zwischen den Bäumen hindurchglitt, drang ihre Stimme durch die Traumlandschaft und sagte: »Ich werde hier sein, wenn du zurückkehrst. Beeil dich, Liebster. Ich werde auf dich warten.«

Er war alles andere als schnell, trotzdem wartete sie auf ihn, zwanzig Jahre lang. Als er zurückkehrte, wies ihm kein goldener Pfad aus schimmernden Seesternen den Weg zu ihrer Tür. Nur das unverkennbare Geräusch von Gerüchten.

3

Ein Feuerwerk riss Marvellous aus einem traumlosen Schlaf. Ihr erster Gedanke war: Krieg, aber es war Frieden, als sie aus ihrem Wohnwagen taumelte und das Ende des Spektakels mitverfolgte. Das durchweichte Sprudeln, als die weißen, grünen und roten Funken hinter den Bäumen verschwanden, die Bucht in eine sanfte, milchige Stille tauchten und nur die Sterne zurückließen, unendlich viele.

Sie stand allein am Ufer, verwirrt und zerzaust, und der weite, dunkle Himmel Cornwalls drückte sie nieder. Lag es daran, dass ihre Hand vor den sich dicht an dicht drängenden Sternen so alt aussah, oder daran, dass sie nicht wusste, wem oder was genau sie in diesem perfekten Nachthimmel zuwinkte? Jedenfalls wurden ihre Augen feucht.

Sie taumelte zu ihrem Boot hinunter, halb Frau, halb Kind, und keine Hälfte wusste mit der anderen etwas anzufangen. Dort angekommen, zündete sie eine Lampe an, stieg ein und schob sich vom Ufer weg. Das Boot und ihr Geist trieben dahin. Und wieder herrschte Stille. Keine Geräusche von Flugzeugen oder Generatoren, auch nicht von Sirenen oder Bomben. Weder ein Möwenkrächzen noch ein Tröpfeln von feuchten Ästen. Nur gedämpfte Stille, die wie Strandgut an die Ufer ihres Wesens schlug.

Das Boot hob und senkte sich sanft. Bald war sie nur noch wenige Meter von der Deliverance entfernt, und der Anblick der zerborstenen Hülle stimmte sie traurig, denn an manchen Tagen dachte sie, ihr Kopf sei ebenfalls eine zerborstene Hülle. Sie spürte das Leck direkt über den Augen, hatte das Gefühl, dass die Ebbe sämtliche Augenblicke aus ihr herausschwemmte, und fragte sich, ob ihr Kopf irgendwann so leer sein würde wie das Bootswrack. Sie konnte nur eines denken, nämlich dass die Leere in ihrem Leben ein sehr einsamer Ort sein müsse, denn es war niemand mehr da, der sie daran erinnern konnte, was sie in ihrem Leben alles getan hatte und was sie einst gewesen war: nämlich jung.

Was wäre an den ruhigen Nachmittagen, an denen sie gerne dasaß und über ihr Leben nachsann, was wäre, wenn sie sich dann nicht mehr an Jack oder Jimmy erinnern könnte oder an den Leuchtturmwärter, der ihr das Lieben beigebracht hatte? Was, wenn sie sich nicht mehr an den Rausch der Sonne über den Mooren oder den Klang der Kirchenlieder entsinnen könnte, die an Weihnachten aus den Minen heraufdrangen? Was, wenn sie den Austernfang vergäße, der ihr Blasen an den Händen beschert hatte, oder den Anblick der rahgetakelten Schiffe, die am Horizont vorüberfuhren, immer auf die Sonne zu, während zu Hause noch der Mond am Himmel stand? Was, wenn aus dem Bild ihres Vaters ein Fremder würde und eine Eule nicht länger eine Eule wäre, sondern ihr Zweck unbekannt? Was, wenn ein Kirchturm elf Uhr schlüge und es nichts weiter als ein Geräusch wäre? Was, wenn alles sie verließe? Wenn die Nacht hereinbräche und sie nicht wüsste, dass es Nacht war? Oder wenn ein Wasserläufer riefe, eine Meeräsche über die Wasseroberfläche spränge oder ein Tölpel tauchte und sie ihre Namen verlegte wie die Münzen hinter den Sessellehnen? Was, wenn sie sich eine Muschel ans Ohr hielte und keine Worte mehr hätte, um das Geräusch zu beschreiben? Eine Napfschnecke, das wäre sie dann. Zu nichts nutze, außer sich festzuklammern.

Marvellous machte an dem Wrack fest, und die beiden Boote stupsten sich an wie alte Freunde, was sie ja tatsächlich waren. Sie fand ein Stück Lebkuchen in ihrer Tasche, der Geruch hatte sich verändert von dem schweren Gestank nach Tang und Schlamm. Sofort spürte sie, dass ihr Magen sich wärmte, und spürte, dass die kühle Feuchtigkeit der Sorge trocknete. Mit der Hand strich sie über die bemooste Flanke der Deliverance, und nachdem der Wind sich beruhigt und das Schaukeln nachgelassen hatten, beugte sie sich vor und begann dem Boot die Geschichte des zerschellten Boots zu erzählen.

Das Licht knabberte bereits am Fuß des Himmels, als sie mit ihrer Erzählung fertig war. Der Wind hatte aufgefrischt, dunstiger Nebel stieg verstohlen von der Erde auf. Der Fluss rührte sich, begann sich zu leeren. Marvellous legte ein Ohr an das feuchte Holz und hörte etwas, das sie noch nie vernommen hatte. Hätte sie an der Brust eines Menschen gelauscht, hätte sie es Herzschlag genannt. Aber es handelte sich um ein Boot, und sie kannte kein Wort dafür.

Die Leuchtturmglocke läutete und kündigte den einziehenden Nebel an. Große Schwaden krochen auf Marvellous zu, verfingen sich in den Bäumen wie Dschungelmoos und überzogen die Rhododendronblätter und die Spitzen der Palmen mit Salz. Sie ängstigte sich. Alt und ängstlich war sie. Sie zog die Decke höher und kauerte sich auf die Bodenbretter. Mach das Bootshaus auf, hatte der Traum gesagt. Sie blickte zurück zu dem traurigen weißen Schuppen und sah ihr Leben vor sich wie ein Fluginsekt, das in seiner Bernsteinvergangenheit gefangen war. Die Dämmerung senkte sich mit einem Flüstern über sie. Ihrem Mund entwich ein Seufzen.

Als der Nebel sich gelichtet und die Sonne übernommen hatte, legte sie am Ankerstein an und taumelte zu ihrem Wohnwagen, ehe der Tag sie umzustimmen versuchte. Außen hing wie ein Windspiel ein Bund mit unterschiedlich großen Schlüsseln, sie gehörten zu Booten, zu Häuschen, zu unbekannten Schlössern. Auch ein Schlüssel zum Verständnis war darunter, ein winziger Schlüssel an einer aquamarinfarbenen Schnur. Warum sie ihn so getauft hatte, wusste sie jedoch nicht mehr. Sie beugte sich vor und suchte nach dem unverwechselbar geformten Schlüssel zum Bootshaus, den sie zuletzt vor fünfundzwanzig Jahren in der Hand gehalten hatte. Da war er! So eindeutig wie ein vertrautes Gesicht aus alten Zeiten. Sie machte ihn vom Bund ab und marschierte zurück zu der moosbefleckten Tür, den Schlüssel triumphierend in der ausgestreckten Hand.

Er passte perfekt. Sie nahm das Vorhängeschloss ab und drückte die Tür mit der ihr verbliebenen Kraft auf. Sie hörte ein Stöhnen, das letzte Jahr mit Paper Jack rauschte auf sie zu und warf sie zu Boden. Es ließ nicht von ihr ab, bis sie es wieder spürte, bis sie sich wieder daran erinnerte. Ein riesiges Durcheinander, das war es, Trauer und Freude und ein großer Berg von Schmerz.

Marvellous kämpfte sich frei und atmete durch, ohne den Blick auch nur einen Moment von der Tür des Bootshauses abzuwenden. Sie schwang hin und her. Wandte den Blick kein einziges Mal ab, denn es wehte kein Wind mehr, alles war still. Ein Pendel der verlorenen Zeit, das hin- und herschwang, obwohl es windstill war.

Im Inneren irritierte sie der Gestank von längst vergangenen Jahren und salziger Feuchtigkeit. Feine Spinnweben verbanden die Wände mit dem Boden, grüne Schimmelsporen tratschten, küssten und vermehrten sich vor ihren Augen. Ein Geräusch wie ausströmendes Gas oder Darmwinde oder ein tiefes Seufzen war zu hören, vermutlich die abgestandene Luft, die aus diesem Grabmal für zwei entwich. Marvellous öffnete die Balkontüren, die Meeresluft drang herein, das Licht glitt durch den Spalt herein, fiel auf die Wände und das feuchte, unbenutzte Bett. An der Wand darüber hing der Seestern, orange wie eh und je. Sie nahm ihn ab, wiegte ihn in der Hand, und die Frau, die sie einst gewesen war, setzte sich zu ihr aufs Bett und tröstete sie. Fünfundzwanzig Jahre lebte sie nun schon ohne diesen Mann. Früher war schon ein Tag ohne ihn unerträglich gewesen.

»Fünfundzwanzig Jahre!«, sagte sie laut. »Hörst du das, du dummer Mann?«

Sie hörte sein Keuchen. Hörte ihn sagen: »Wir waren jung. Zumindest das hatten wir.«

»Jung«, spottete Marvellous. »Wir waren nie jung!«

»Du hast nie schöner ausgesehen«, hörte sie Jack sagen.

»Das ist doch alles Unsinn.«

»Dafür liebst du mich.«

»Ja, das tue ich.«

»Hast du gut auf dich achtgegeben, Marvellous?«

»Wenn ich daran gedacht habe, ja. Wie ist es mit dir?«

»Der Husten ist weg. Meine Kraft ist zurück. Hast du meine Träume bekommen?«

»Natürlich. Sie waren allerdings ziemlich undeutlich.«

»Ich gebe mir beim nächsten Mal mehr Mühe.«

»Das würde mir helfen. Worum geht es hier, Jack? Auf was warte ich?«

»Du weißt, dass es so nicht funktioniert, Marve.«

»Wirst du diesmal bleiben? Ist das der Grund, warum ich hier aufgeschlossen habe?«

»Noch nicht. Aber ich komme zurück.«

»Das alte Lied.«

»Sei lieb, mein Schatz.«

»Ich habe mich verändert. Vielleicht warte ich nicht mehr, weißt du? Ich bin um einiges älter … und weiser.«

»Oh, du wirst warten«, hörte sie ihn sagen. »Du kannst nämlich nicht genug von mir kriegen. Ich mache dich ganz wild.«

»Du machst mich wahnsinnig. Schon immer.«

»Wahnsinnig und wild. Du wirst auf mich warten.«

»Vielleicht auch nicht!«, rief sie. »Dummer, alter Narr!« Sie schnalzte laut und höhnisch mit der Zunge.

Danach konnte sie ihn nicht mehr hören, da waren nur noch die Wellen des Flusses, das Rauschen der Bäume und, seltsamerweise, das Rauschen der Angst. Eine Eule schrie. Marvellous spähte hinaus und sah, wie sie hinabschwebte und eine Maus zum Frühstück verspeiste.

Sie steckte den Seestern in ihre Tasche, zog die Tür des Bootshauses zu und machte sich auf die Suche nach Seife, einer Bürste und einem Eimer Wasser. Sie würde das Bootshaus wieder zum Leben erwecken, und zwar zu einem sauberen. Sie würde Feuer im Kamin machen, Tag und Nacht Holzscheite verbrennen und so die Feuchtigkeit vertreiben, bis der Dampf aus allen Ritzen stieg und nur noch getrocknete Salzkristalle auf den Fenstersimsen glitzerten.

Stunden später lag sie erschöpft im Bett. Ihre Hände waren rot und rau, die Arme zu schwach, um die Brille abzunehmen. Sie lauschte dem fernen Rufen eines Brachvogels, volltönend gegen das widerhallende Klagen der Nebelglocke – jenem einen Fixpunkt ihrer veränderlichen, wirbelnden undeutlichen Welt. Sie fror. Selbst die Schieferkacheln, die sie im Herd erwärmt hatte, erwiesen sich als nutzlos gegen die klamme Kälte. Sie schob eine Kachel auf ihre Brust, und irgendwann geleiteten das Gewicht und die Wärme sie in den Schlaf.

Gerade als sich ihre Lider schlossen, baute sich ein Traum auf, um in ihren Schlaf zu fliegen und die beiden Bilder in ihrem Geist zu verankern: ein Flachsfinke, flink und frei, der aus voller Kehle singend über die Themse flog. Dazu ein junger Mann mit Blick auf den Horizont, der überhaupt nichts versprach.

Und mittendrin klagte die Nebelglocke.

II

4

Hier stand er also, spuckte sich die Seele aus dem Leib und verpasste darüber den Augenblick, als an dem grauen Oktobernachmittag die weißen Klippen von Dover in Sicht kamen.

Während der Überfahrt war das Meer relativ ruhig gewesen, nicht mehr als ein leicht wogender Seegang, aber der hatte genügt, um die Reste seines Frühstücks – ein ergötzliches Mahl aus œ