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Elf Pilger treffen sich im Haus Arche in Einsiedeln. Ihr Gastgeber Meinrat, ein Wurmlochreisender, kommt aus seiner Klause in der Wüste bei Phoenix in den USA. Gemeinsam mit Hellwig, der schwangeren Äbtissin, lädt er sie ein, bedeutsame Geschichten aus ihrem Leben zu erzählen. Im Laufe von 24 Stunden erfahren sie, wie diese Geschichten nicht bloß unterhalten, sondern heilsam wirken. Für eine animalische Perspektive sorgen Meinrats Raben und die Wüstentiere aus ihrem Café, dem Mokka Real.
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Seitenzahl: 261
Veröffentlichungsjahr: 2018
E. T. von Euw
Pilgergeschichten von Amen bis Zen
Copyright: © 2018 E. T. von Euw
Umschlag-Illustration: Angelika Müller-Ruess
Lektorat: Hannelene Bärlocher, VnfdB
Umschlag & Satz: Erik Kinting – www.buchlektorat.net
978-3-7469-4898-0 (Paperback)
978-3-7469-4899-7 (Hardcover)
978-3-7469-4900-0 (e-Book)
Verlag und Druck:
tredition GmbH
Halenreie 40-44
22359 Hamburg
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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Die Ereignisse in den vorliegenden Geschichten basieren auf tatsächlichen Erlebnissen oder verlässlicher Überlieferung. Außer dem bislang bloß errechneten Phänomen der Wurmlochreisen. Waghalsig und frohgemut habe ich das Spektakel daher auf Samstag, den 08.08.2020 vorverlegt.
Die Personen sind erfunden und Ähnlichkeiten mit Lebenden und Toten, nun ja: sind Ähnlichkeiten. Das gilt für alle außer diese drei: Die sagenhafte Loreley ließ sich mit dem Codewort ›Anthropolyse‹ von ihrem Felsen im Rhein locken und wurde Teil der Pilgerrunde. Meinrat, der historische ›Meinrad von Einsiedeln‹, war in vertrauter Großzügigkeit bereit, die Rolle des Gastgebers zu übernehmen. Ich vermute, die Aussicht auf vierundzwanzig Stunden im erneuerten Pilgerhaus Arche reizte ihn zu einem Besuch in der alten Heimat. Und möglicherweise die anrührende Gesellschaft der Reisenden aus dem 21. Jahrhundert. Die Figur der Äbtissin Hellwig schließlich ist ein Echo meiner verstorbenen mystischen Mentorin Dina Rees.
Mit der Beschreibung von Örtlichkeiten habe ich mir bemerkenswerte Freiheiten erlaubt.
E.T. von Euw, im Sommer 2018
Für Urgroßmutter (1862-1904)
All My Relations!
Mit dem Erwachen
nutzt die Welt das Hirn
sich ein Bild zu machen,
von der Maus bis zum Gestirn.
Otto Lahm döst im Fahrersitz. Der Bildschirm über seinem Kopf wird mit einem Knistern hell. Otto blinzelt und erkennt eine Gestalt im Schatten eines – Kaktus? Im nächsten Moment füllt der Kopf die Bildfläche, und Otto ist wach. Den habe ich schon gesehen! Das Gesicht. Die Statue.
»Meinrat. Früher in Einsiedeln. Jetzt in Taliesin West«, sagt der Mann. Seine Stimme verklingt, die Lippen, zeitverzögert, formen ›west‹.
»Ich grüße Sie, Proll.«
Er kennt meinen Übernamen! Otto schluckt, greift nach dem Bildschirm und zieht ihn zu sich. Auge in Auge.
»Sie haben mein Login? Wir kennen uns? Was kann ich für Sie –?«
Otto bemerkt, wie seine Gedanken kreisen.
»In Ihrem Bus ist Platz für elf Personen?«
»Ja, fünfzehn Sitze.«
Otto fasst sich. Ein Auftrag! Pilger.
Bevor er weitersprechen kann, sagt Meinrat:
»Die elf kommen gegen Abend zur Bus-Sammelstelle in Marienfeld. Von dort der Transport nach Einsiedeln, zum Pilgerhaus Arche. Keine Rückfahrt. Ankunft morgen früh um vier Uhr? Ist das möglich?«
Otto räuspert sich. »Okay. Einen Augenblick, bitte.«
Er überprüft die Angaben auf der Anzeige. Dann schaut er zu Meinrat. Der steht gelassen wie zuvor und scheint die imposanten Stacheln in seinem Nacken nicht zu scheuen.
»Geht in Ordnung, übernehme ich gerne. Die Kosten –«
»Wird die Äbtissin begleichen.«
»Hellwig? Die Äbtissin? Die Freundin von –«
»Ja.«
Otto reibt sich den Nacken. Meinrat? Hellwig! Die Vertraute seiner Karoline. Wann lebte Meinrat? Er lebt? Also sind Hellwigs Geschichten wahr! Und dauern an? Aber wie ist sie selber –?
Der eingebaute Drucker beginnt zu surren. Otto greift nach dem Blatt mit der Liste seiner neuen Kunden. Er grunzt und starrt: Bis auf zwei ist er mit allen bekannt!
»Noch etwas zu den Pilgern«, sagt Meinrats Stimme.
Und Otto vernimmt zu jedem Namen eine kurze Geschichte. Keine hatte er zuvor gehört.
»So viel dazu«, schließt Meinrat trocken.
»Und wie werden die Reisenden mich finden?«
In Meinrats Gesicht erscheint ein Lächeln: »Proll, auf dem Bus, nicht? Ich danke Ihnen.«
Der Bildschirm wird blank.
Otto Lahm greift sich ein Getränk aus dem Eisschrank. Ein Auftrag aus dem Nichts! Wie hat er gewusst, dass ich Zeit habe? Nicht einmal Karoline –
Er schaut auf die Passagierliste. Fünf Frauen, sechs Männer, neun Bekannte.
Wer ist dieser Meinrat?
Meinrat macht sich bereit. Das Prickeln auf der Haut hat sich verstärkt. Summend bewegt er die Hände durch die Kaffeebohnen im Röstbecken vor ihm.
Sein Aufbruchritual.
Um die Klause weht die abendliche Brise mit dem Bonbongeruch der Sand-Verbenen.
Zum Vollmond hatte der Pflanzer wie gewohnt vierzig Pfund seiner besten Bohnen mitgebracht: gewaschen und roh. Der Einsiedler verwandelte den Stoff in die Droge mit der Kraft, die Nacht zu dehnen. Mit dem Zauber, Wüstentiere in ein Café zu locken.
Meine ›Finsterwald Röstung‹. Meinrat lacht in sich hinein, schaufelt ein paar Handvoll in einen abgenutzten Stoffsack und schnürt ihn zu. Es fühlt sich an wie – ein Kratzen an seiner Wade.
»Javelina!«
Das Schweinchen stupst ihn mit dem Rüssel.
»Ich lasse euch genug fürs Wochenende«, sagt Meinrat. »In vierundzwanzig Stunden bin ich zurück. Ein Pfund Bohnen für Shru, geht auf die Klause, mit Kompliment.«
Meinrat hängt den Stoffsack mit den Kaffeebohnen um Javelinas borstigen Hals. Der bittere Geruch der Röstung und die Körperausdünstung des Pekaris vermengen sich mit Salbei, einer Spur Fäulnis aus den Kakteen und einem Hauch von gebrühtem Kaffee.
Der kommt aus dem verlassenen Desert Shelter in einer benachbarten Kuhle, die nur dem kundigen Auge auffällt. Dort brummt Shrus Mokka Real, Treffpunkt aller Kleintiere im Umkreis von Meinrats Behausung.
Am nahen Horizont liegt Taliesin West, das Architekturlabor in der Wüste von Sonora und temporäre Wohnstätte für künftige Baumeister, die es wagen, einen Blick über den Rand der Welt zu werfen.
Der Einsiedler ist bereit: für einen Tag und eine Nacht zurück in eine längst vergangene Heimat. Alles erhellt im gerodeten Finsterwald. Einzig der Name des Pilgerhauses ist älter als er: Arche.
Die Äbtissin weilt bestimmt schon vor Ort. Woher ist sie angereist?
Meinrat schaut nach den beiden Raben: Pi und Qu warten bereits beim Wurmloch. Sie spähen vom Sahuaro Kaktus in die Tiefe, wo die Reise beginnt.
Qu schaudert. Sie verdreht den Kopf, rupft mit dem Schnabel im Gefieder. Ihr Krächzen lässt einen Wüstenhasen stocken.
Auch Pi trippelt nervös. Sie ratscht Zahlen, um sich zwischen den Stacheln ruhig zu halten:
»Eintausend. Einhundert. Sechzig. Winterfroste. Dreizehntausend. Neunhundert. Sechzehn. Mondkreise. Auf dem Strahl vom Tod ins Leben.«
»Wie oft sind wir schon durch den Spalt geflogen?«
Qu rückt näher an ihre Schwester.
Pi verliert Kot.
Die Raben registrieren, wie Meinrat sich der Kuhle unter ihnen nähert.
Vor einem Start ins Wurmloch steht er da, solide, das Gewicht auf den Fersen. Reckt Arme und Hände zum Himmel. Seine Finger bewegen sich in Wellen, Schmetterlingsflügel. Er atmet ein, aus; dann schließt er die Augen und legt sich rücklings in die Kuhle.
Das ist das Zeichen für die Raben. Sie sinken sachte in seine Achselhöhlen und werden zu glänzend schwarzen Federkugeln.
Es ist acht Uhr abends.
Und einen Augenblick später vier Uhr morgens.
In Einsiedeln.
Das Haus zum Rabenkind kennt jeder in Einsiedeln. Kaum jemand weiß, dass es einem entfernten Frauenkloster gehört. Niemand vermutet, dass derzeit eine Äbtissin im Dachstock residiert: Hellwig erwartet hier ihre Niederkunft.
Im Erdgeschoss lebt und wirkt seit über hundert Jahren eine Zuckerbäckerfamilie; es ist das Reich von Karoline Trümmel.
Das Haus aus altersschwarzen Planken hockt in der Mitte eines Gässchens zwischen den gemauerten Hinterteilen massiger Gebäude. Das Gässlein ist so eng, dass es nicht einmal ein Namensschild erhielt. Man sagt, das Rabenkind liege versteckt wie eine unverdaute Maus in der Schlange. Den Ausgang des Gässchens versperrt ein Klotz, fünf Stockwerke hoch. Wer sich auskennt, nutzt rechter Hand die unverschlossene Holztür, durch die man auf die belebte Tulipanstraße gelangt.
Und der Eingang?
»Immer der Nase nach.«
Das kam von Pi und Qu, die eine Duftspur in ihre Moleküle zerlegen. Raben!
Hellwig ist es gewohnt, auf Gerüche zu achten. Die Äbtissin riecht von der Sünde bis zur Empfängnis jedes Vergnügen und ist erleichtert, dass sie keine Beichte abnehmen muss; Männersache!
Um diese Zeit in der Frühe ist es ein Kinderspiel: Sie folgt dem Duft geschmolzener Schokolade, überquert die Hauptstraße, geht der Häuserzeile entlang, bis sie vor der Mauerspalte steht. Im Innern ist es dunkel.
Hellwig macht sich schmal. Die Spalte lässt sie passieren. Sie ruht still. Sie spreizt ihre Finger: kühler Stein zu beiden Seiten.
Das Rabenkind erhebt sich als schwarze Masse vor ihr, ein paar Atemzüge entfernt. Unser Haus seit je. Der Ort meiner Entbindung. Werde Karolinchen wissen lassen, dass es bald ihr gehört. Ahnt sie es inzwischen? Ihre Leidenschaft steigt mit Wohlgerüchen bis unters Dach. Jeden Morgen saugen die Wände eine köstliche Woge aus der Backstube ein. Die alten Planken knarren behaglich und ihre Ritzen glätten sich.
Meine Kleine und ich, wir ziehen weiter.
Kakao mit jedem Schnuppern. Hellwig sieht jetzt klarer. Das Haus klebt der Länge nach an einer Wand. Auf der Schmalseite zum Eingang des Gässchens sind ein paar Luken zur Lüftung. Aus ihnen quellen die Duftströme. Ah, die Schokolade und Hefe, Butter, Eier – Brioches! Hellwig ist im Himmel.
Dann steht sie vor dem Eingang des Rabenkinds. Über der Scheibe, die einen Einblick in die Backstube erlaubt, künden kaum lesbare Buchstaben aus alter Zeit: ›Zuckerbäcker‹. Auf Augenhöhe hebt sich ein Schriftzug von der Holzwand ab. Die Äbtissin liest mit den Fingern ›Chocolatière‹. Darunter prangt ein Medaillon, das sie jedes Mal zum Lächeln bringt. In Goldfarbe stolziert da ein Kater mit gefülltem Tablett vor dem Bauch. Über seinem Kopf steht in einer Sprechblase ›Phu’s Catering‹.
Hellwig öffnet eine unscheinbare Tür zur Rechten. Im Eingang bleibt sie stehen, atmet schwer. Werde mich umziehen. Bald Zeit für die Arche. Sie steigt hinauf in ihre Gemächer im Dachstock.
Und im Himmel über dem Haus zum Rabenkind drehen die zwei Raben ab und fliegen zum Kloster.
Bruder Hilarius verlässt seine Zelle im Klostergebäude. Während er durch den hohen Gang zur Kirche schreitet, stoppt ihn ein Geruch. Wie nach einem Gewitter? Der Himmel, sternenklar. Woher –?
Er öffnet eine Tür und steht im Raum der Stiftskirche. Die Gnadenkapelle Schritte entfernt. Er schnüffelt. Ein Hauch von Kaffeerost? Sonst fällt ihm nichts auf. Er hört nur den eigenen Atem, wie gewohnt um diese frühe Stunde. Am Vorabend hatte er die Schwarze Madonna in ihr Osterkleid gehüllt, seine Lieblingsrobe. Als er zu ihr aufsieht, überfällt ihn ein Schwindel. Er sinkt in den nächsten Chorstuhl.
»Mein Glückspilz«, vernimmt er ihre Stimme. »Wir bedanken uns. Du hast die Öffnung erwirkt. Fasse dich und sei der Gnade gewiss.«
Hilarius schwankt. Bin ich – zu alt dafür? Wie süß sie in mich dringt. Die Frucht deines Leibes. Er stöhnt, kneift seinen Nacken; ›die Öffnung erwirkt‹?
Er mustert die Madonna. Sie trägt den Oster-Ornat, der außerhalb jener Feiertage nur ein weiteres Mal zur Schau gestellt wird: Heute, am achten Achten. Am Tag der Todesmeditation von Abt Thomas, mit dem Übernamen ›Engelsbote‹. Der hatte das Kleid 1734 in Mailand in Auftrag gegeben. Auch das Gewand erhielt einen Beinamen: ›das Köstlichste‹.
Während dreißig Jahren war es durch Hilarius Hände geglitten. Der Brokat, die harten Nähte. Bestürzt bleibt sein Auge auf der dunklen Stelle zwischen ihren Beinen hängen: Da prangt das Füllhorn mit den quellenden Früchten, den gestickten Seidenblumen, doch in der silbernen Mitte klafft ein Spalt im Gefäß.
Es wirkt wie – aufgeschlitzt? Wie wenn eine Klinge den schweren Stoff –
Hilarius blinzelt, er spürt seinen Herzschlag, ihm wird übel. Er legt die Hände auf den Bauch und ergibt sich der Stille in der Gnadenkapelle.
Ein Glockenton, viermal. Schwindelnd steht er auf. Er stützt sich auf die geschnitzte Armlehne und starrt auf den Schlitz zwischen den Schenkeln der Madonna. Heilige Mutter Gottes! Wie konnte das geschehen?
Er will auf dem beweglichen Holztreppchen nochmals zu ihr hochsteigen, als ihn ihre Stimme zum zweiten Mal erreicht: »Ruh dich aus, mein Frohgemut. Es bleibt nichts zu tun. Keinerlei Schaden ist entstanden. Ruhe dich aus.«
Bruder Hilarius faltet die Hände und neigt seinen Kopf. Dann tappt er rückwärts aus dem geweihten Raum. Das geschmiedete Tor der Gnadenkapelle gleitet ins Schloss. Er folgt einer Spur von Räucherwerk im Kirchenraum und taumelt durch das Türchen hinter einem Altar. Er tastet sich dem Gemäuer entlang. Benommen erreicht er den Klostergarten.
Er setzt sich auf eine Bank und versucht zu beten, doch ein überwältigendes Licht füllt seinen Kopf. Er gerät außer Atem: Ich war fünf. Wir warteten auf die Rückkehr des Vaters. Wie kam es, dass ich allein auf dem Bahnsteig stand? Um uns noch Nacht. Aus dem Dunkel leuchtet der Zug. Die Lokomotive fährt direkt in mich hinein. Die Scheinwerfer! Hielt ich mir die Ohren zu? Es riecht nach Metall, Funken stieben von den Rädern. Die Türen der Wagen öffnen sich. Ich renne los. Keinerlei Schaden entstanden.
Hilarius weint und ist glücklich und versteht nichts mehr.
Als das Wurmloch sich öffnet, erschrecken zwei weitere Zeugen.
In Einsiedeln ist es eine Stute der Madonna. Das Brechen von Brokat lässt sie abrupt auf die Beine kommen. Ihre Box steht offen. Aus dem Horizont im Osten sickert Tageslicht. Der Kamm des Pferdes zittert. Sie trabt ins Freie. Und sieht nichts. Doch aus der Gnadenkapelle dringt ein verstörender Geruch. Die Stute bläst das Maul auf, schnobert verstimmt und scharrt in der Erinnerung. Dann hört sie ein Stimmchen und friert ein. Maus!
In der Wüste von Sonora, in Taliesin West, liegt Shru in ihrer Wanne voller Kaffeebohnen. Ihre Öhrchen sind auf Meinrats Klause gerichtet. Durch die Luke in den Planken strömt ein Geruch von Myrrhe und Harz und Asche. Die Abendsonne versinkt in der Hitze. Shru hüpft auf ihren Balkon. Im Mokka Real unter ihr ist es geruhsam. Das Mümmeln der beiden Jacks ist zu hören und ein gelegentliches Schlürfen aus den Mulden des Cafés.
Doch mit der Kuhle beim großen Kaktus in Meinrats Nachbarschaft stimmt etwas nicht. Shru fährt sich mit der Pfote über die Öhrchen. Da war ein bedrohliches Geräusch eben, das Schnauben eines Wesens, größer als alles, was in ihrer Umgebung atmet. Shru fiept.
Karoline Trümmel greift zum Telefon. Sie kommt nicht dazu, etwas zu sagen.
»Meinrat hier.«
»Herr Meinrat?« Karoline hört, wie ihre Stimme sich im Namensende verhakelt. Rat? grübelt sie; war nicht das Rad zuerst?
»Jaa.« Er dehnt das Wort wie ihr Kater Phu, wenn er sich streckt. Und spricht weiter, bevor sie –
»Hellwig meint, Sie würden uns das Catering anbieten. Es sei ausgemacht für vierundzwanzig Stunden. Ich bedanke mich.«
»Es ist mir ein Vergnügen! In der Küche der Arche steht alles bereit«, bestätigt Karoline und nickt. »Ab sechs Uhr gibt es Naschereien, Frühstück und Überraschungen.«
Meinrat brummt anerkennend. »Eine Bitte, Chocolatière.« Karoline reibt sich mit der freien Hand über die Wange, spürt, wie sie errötet. »Ihre Spezialität«, sagt Meinrat.
»Die Schoko-RIPs«, quittiert Karoline zufrieden.
»Schoko-RIPs«, Meinrats Stimme kratzt. »Zwei Dutzend? Um vier Uhr, was denken Sie?«
»Selbstverständlich.« Karoline streckt sich. »Ich bestätige Ihnen Ihre Bestellung: Zwei Dutzend Schoko-RIPs, geliefert ins Pilgerhaus Arche«, sie schaut auf die Uhr über dem Eingang, lacht. »In ein paar Minuten.«
»Gerne«, er dreht das Wort wie einen Napf, den Phu sauber leckt.
»Danke, bis gleich«, sagt Karoline und lässt das Telefon in die Brusttasche ihres Overalls gleiten. Ein Engländer, sie wiegt den Kopf, nein, Amerikaner. Schlagartig fühlt sie sich wie unter Wasser, schnappt nach Luft: Ihr Telefon! Es hatte nicht geklingelt.
Seine Stimme hatte sie gerufen: »Karoline«.
Sie steht im Lagerraum und greift sich eine Geschenkbox vom Wandregal. Mit dem Fuß öffnet sie die angelehnte Tür des Schranks. Sie klappt die Box auf und packt die Schoko-RIPs hinein.
Ihr Verkaufsschlager in den Geschäften am Ort. Auch bei den Pilgern, wenn sie denn hierher finden. Ein Spähen in die Konditorei genügt, und die Schoko-RIPs knacken jede fromme Enthaltsamkeit.
Auch Karoline ist mit der Geschichte aufgewachsen, die hier alle kennen: Wie der Alemanne Richard und der Rätier Peter den Einsiedler aufsuchen. Wie sie Wertsachen vermuten und nichts finden. Wie der Einsiedler sie durchschaut, bewirtet und segnet. Und wie die beiden ihn erschlagen. Ihm mit einem Knüppel den Schädel spalten. Am 21. Januar 861. An ihrem Geburtstag, unendlich lange vor ihrer Zeit.
Karoline, Einzelkind, erlernt den Familienberuf. Sie ist eine Trümmel der fünften Generation und wird zum ersten ›weiblichen Konditor‹ der Gemeinde.
Diese grammatische Frechheit in der amtlichen Bewilligung zur Berufsausübung beseitigt sie binnen Monatsfrist: Sie nennt sich Chocolatière.
Die Nischen mit Verkaufsschlagern sind von den beiden anderen Geschäften am Ort besetzt: Raben aus Schokolade und Schafböcke aus Lebkuchenteig.
An ihrem einundzwanzigsten Geburtstag hat Karoline, mittlerweile Waise, eine Vision. Die Mörder des Einsiedlers stehen in ihrer Backstube. Sie sehen zerschunden, ja zerstört aus. Gemeinsam halten sie sich an einer Keule fest, sagen nichts und mustern die Konditorin.
Als Karoline zu sich kommt, weiß sie, was Richard und Peter von ihr wollen: Die Chance, Sühne zu leisten. Am Tatort. Und, wenn möglich, vor die Madonna zu treten.
Der Chocolatière gelingt ein Meisterstück. Mit ihrer Erfahrung als Schöpferin von Osterhasen, die außerhalb der Verpackung keinen Tag überleben, schafft sie eine Nascherei, die im ersten Anlauf Erfolg hat: die Schoko-RIPs. Die gegossenen Mörder stehen Rücken an Rücken, überragt von der Tatwaffe. Auf dem dunkeln Torso Richards klebt hell seine Initiale. Auf der Milchbrust des Rätiers prangt ein schwarzes P. Von der Seite wirkt die Keule zwischen ihren Köpfen wie ein I.
Ohne Weiteres hatten die Einheimischen den frommen Wunsch erkannt, das allgegenwärtige Requiescat In Pace und gelacht: ›schon versucht, Karolines Schoko-RIP?‹ Die Bezeichnung saß.
Und Meinrats Mördern war es postum vergönnt, verschlungen, verspeichelt und halb verdaut in Pilgerbäuchen vor die Madonna zu treten, um im Abglanz ihres Gnadenblicks einer Erlösung anheimzufallen.
Karoline Trümmel schaut erneut auf die Uhr, verständnislos: Es ist unverändert viertel vor Vier. Sie atmet aus.
Dann ist die Geschenkbox hübsch eingebunden im Korb ihres Fahrrads. Zur Arche braucht sie nicht lange; jeder Ort von Bedeutung ist hier rasch erreichbar. Vierundzwanzig Schoko-RIPs, süß! Das erste Tageslicht öffnet Einsiedeln wie eine Blume.
Der warme Sommertag löst sich aus dem Dunkel der Verstörung, einer Vergangenheit, in der man Einsiedler totschlug. Wegen nichts.
Karoline Trümmel treibt ihr Rad voran wie ein Pony, es legt sich in die Kurve, und sie erreicht die Buchhändlerstraße. Links der Krippenpalast, noch verschlossen und vorne, schräg gegenüber, die Arche.
Karoline parkt ihr Rad am Mäuerchen, nickt der Katze zu, greift sich den Korb und steht mit ein paar Schritten vor dem Pilgerhaus. Ihr Herzschlag! Kaum hebt sie die Hand zur Klingel, schwingt die Tür nach innen.
Der Amerikaner. Mit dem Geruch aus einer Kaffeerösterei, gut, bitter. Er betrachtet mich wie wenn ich – wie war gleich sein Name? Sein Gesicht erscheint ihr unklar wie hinter dünnem Stoff.
»Ich grüße Sie.« Meinrats Stimme ist warm und raspelt. »Sie sind die Chocolatière.«
Karoline nickt und weiß nicht, warum ihre Stimme versagt. Wie ein Mädchen streckt sie ihm den Korb entgegen. Meinrat löst ihn aus ihrer Hand, sorgfältig und ernst.
»Schoko-RIPs.« Sein Ton ist liebenswürdig. »Richard und Peter; sie sollen in Frieden ruhen.« Er scheint belustigt. »Sie also sorgen bis morgen früh für Speis und Trank. Die Äbtissin und ich sind in Ihrer Schuld.«
Karoline nickt, schüttelt den Kopf. Sie überlässt ihm den Korb. Hole ich mir später, nimmt sie sich vor und: Ich muss los, Otto wird bald eintreffen. Endlich kann sie sprechen, sie hält die Hand vor ihren Mund; er hatte ihr doch am Telefon seinen Namen genannt? Tapfer sieht sie ihm ins Gesicht:
»Danke, Herr –«
»Meinrat.«
Der Schleier reißt vor ihren Augen. Du meine Güte! Wie auf dem Bild in der Kapelle. Meinrat. Mit Kleidern von heute. Und größer?
»Auf Wiedersehen, Chocolatière«, sagt er und verschwindet im Halbdunkel des Ganges wie ein Geist. Die Tür klackt.
Karoline rennt los. Otto!
Pilger können die Raben leicht unterscheiden. Wenn Meinrats fliegende Boten erscheinen, drehen sich die Köpfe. Pi verschafft sich Gehör, und Qu bannt das Auge.
So wird geratscht: Klatsch dreimal in die Hände; sie kreist dir um Kopf und Kragen, bis dir schwarz wird vor Augen von ihren Geschichten: Das ist Pi. Hört sie etwas, das einem Tanztakt nahekommt, kriegt sie den Schnabel nicht mehr zu. Sie tratscht dich durch Raumzeiten, bis dir schwindelt. Pi kennt keine Erschöpfung. Stottert ein Besucher Meinrats, legt sie nach der dritten Silbe los und legt nach, bis die Sonne sinkt.
Pi nährt sich von Begeisterung.
Erst die Dunkelheit schafft es, dass sie sich ein Weilchen im Schlaf wiegt. Wenn das Licht endet, öffnet sie ein Auge und prüft, ob sie der Sicht entzogen ist. Sie blinzelt und lässt sich fallen. Pi durchquert die Welten.
»Ich mach mich schlau. Menschen! Bedauerlich. Bodenkleber. Egal. Schmecken tot nicht schlecht. Aas bleibt Aas. Wir fressen uns; Leben will Futter. Das ist die Federseite, da sehe ich Überschneidungen. Doch auf der Flugseite: lauter Versager. Arme voller Angst.
Qu und ich sind vom gleichen Baum gefallen. Hatte uns ein Kuckuck aus dem Gelege geworfen? Wir vermissten keine Rabeneltern. Der Eremit erwies sich als gewogener Sperber. Er pickte uns aus dem Unheil, packte uns in sein Nest, zog uns auf; Findlinge.
Er ließ uns auf der Schwarzen Dame aufsetzen, sanft, ohne Schnabelwetzen; sie west in einem Stück Holz. Einmal zeigte er uns den Spalt, den sie öffnet, damit er auf Reisen geht.
Es dauerte, bis wir den Unterschied erkannten: Der Eremit und ein Mensch sind zweierlei Wesen.
Wenn du Gesellschaft magst und die Wahl hast, krall dir den einen: Folge dem Geruch der Furchtlosigkeit.
An einem Tag, als uns die Flügel klamm wurden vor Kälte, erschienen zwei Menschen. Sie brachen den Schädel des Eremiten auf; wir verhinderten, dass sie ihn fraßen. Sie flohen weit und schnell, nicht schnell genug für uns. Wir stellten sie in einer Gasse der Stadt am See. Dort ging man ihnen an die Kutteln. Am Ende wurden sie lebendig verbrannt. Es gab kaum Resten.
Meinrat kehrte vollständig zurück, kam heim durch den Spalt. Wir bleiben bei ihm, zu jeder Zeit. Zweieiige Zwillinge. Wir sind gewappnet.
Hellwig? Sie bringt uns zum Plaudern, zum Bracheln und Knarren. Es ist ein Frieden um sie. Uns entgeht nichts, das sich bewegt. Seitdem wir in der Wüste leben, verstehen wir Sprachen. Die Äbtissin nutzt alles, was wir wissen.«
Im Kontrast zur quasselnden Pi sind Qus Äußerungen rar. Qu wirkt wie Kohle vor dem Verglühen. Sie plustert sich so widersprüchlich, dass du niesen musst. Du streckst deine Hand aus, doch sie lässt sich nicht berühren. Du zuckst zurück, erschreckt vom ›Quetzal-Tod‹, obschon du keine Ahnung hast, wovor du dich da fürchtest. Du fängst dich ein, aber Qus Fokus zwingt dich, unverwandt hinzusehen. Sie spreizt ihre Federn zu einem Spiegel, doch darin erblickst du Pi in Kapriolen über deinem Kopf. Dein Hirn dreht durch: Wie berechne ich einen Querschnitt? Den Umfang? Was ist eine ganze Zahl?
Somit ist es Zeit, zu lächeln, Fältchen im Augenwinkel: Qu nährt sich von Erheiterung.
»Wir haben den Eremiten ringsum im Auge. Alles wird sanft und gurrend um ihn. Ein Weilchen vor dem Ereignis, ich saß auf seiner Schulter, fiel mir auf, dass in seiner Schädeldecke eine weiche Stelle entstand. Da, wo wir bei reglosen Menschen ein Loch hacken, um an ihre Delikatesse zu kommen.
Mit der Zeit begleiteten wir ihn, wenn er sich durch den Spalt fallen ließ und umherschweifte. Was für ein merkwürdiges Wesen! Unaufhaltsam suchen die Menschen seine Nähe.
Pi und ich sind immerdar bei ihm. Begegnen wir fremden Raben, fliegen sie einen Kreis und tauchen weg. Die Reisen verändern uns.«
»Heute ist Einsiedeln unser Revier. Schwesterchen Qu und ich sehen zu, dass nicht jeder Vernunftwurm untertaucht. Ich mache mich über niemanden lustig, doch die Spezies Mensch ist auffallend schrullig. Oder wie wir finden: schrecklich unbeholfen.
Wir verstehen warum: Ihr Verhältnis von Input und Verarbeitung ist grotesk. Das Bewusstsein des Homo sapiens ist praktisch bei null. Wenigstens diese Größe haben sie entdeckt.
Doch sonst! Menschen verpassen sogar ihren Lidschlag. Schließen sie die Lider, versiegt auch ihre Wahrnehmung. Unsereins hat dann Muße, Erkenntnisse zu gewinnen oder einem Unsinn nachzujagen. Ein Mensch kann mit den hundert Millisekunden rein gar nichts anfangen. Zehnmal pro Minute in die Erdgeschichte geblinzelt, nicht das Mindeste gesehen. So sieht es aus.«
Pi ruht auf der Brüstung des Nordturms der Kirche. Sie krallt sich in den bröckeligen Sandstein. Das Klostergebäude steht schwarz gegen die Dämmerung. Pi schüttelt sich. Sie schwankt nicht. Unter ihr duckt sich Einsiedeln vor dem Tag. Es ist windstill. Ein erster Vogelruf aus dem Friedhof, hinter ihr, dann ein Krächzen; das ist Qu. Zeit für das Pilgerhaus. Zeit für die Arche.
Das frühe Licht entblößt Umrisse von Dächern und Wipfeln. Pi blinzelt und stößt sich ab. Sie fällt weich und lautlos. Drei Flügelschläge, dann sinkt sie in einem Halbkreis zur Arche und setzt in der nahen Tanne auf.
Qu dreht den Kopf, trippelt, krallt. Der Ast gibt unter dem Gewicht der beiden Raben nach und federt zurück.
»Frühstück bei den ›Cavalli della Madonna?‹«, fragt Qu. »Pferdeäpfel im Marstall?«
»Das Wurmloch bleibt offen, Schwester«, sagt Pi leichthin. »Ich sah, wie der Kuttenmensch erschrak. Die Öffnung ist in der Robe, vorne, zwischen den Beinen der Schwarzen Dame.«
»Da sind wir durchgekommen?«
Qu plustert ihr Gefieder. Wie oft haben sie sich mit Meinrat verortet, sind durch Raumzeiten geflogen und an merkwürdigen Plätzen gelandet; Qu hat sich nie an diese Passagen gewöhnt. Jedes Mal hat sie einen Schnabelkrampf und schielt danach für einige Zeit. Sie rochelt.
Pi pult in ihrem Flügel. »Hör auf damit. Mit Zählen ist kein Ende. Und hier geht’s gleich los. Die Gäste sind da.«
Die Raben äugen auf die Buchhändlerstraße. Ein kleiner Bus biegt in den Südeingang, seine Scheinwerfer streifen den Krippenpalast zur Linken und heften sich dann ans Ende der Straße, geradeaus, auf die Kuppel der Hinrichtung. Mit einem Quietschen berühren die Reifen den Randstein. Das Summen des Motors verstummt.
Ein Schnurren beim Eingang zum Garten der Arche; da parkt ein Kleinbus, Sonderanfertigung. Erstklassig, für Ottos Elf. Sobald die Räder stehen und der Motor verstummt, rollt sich Lahm aus dem Fahrersitz, so geräuschlos und beweglich, dass die Katze auf dem nahen Mäuerchen einzig mit der Schwanzspitze zuckt. Er hat die Seitentür geöffnet und betrachtet seine Pilger im matten Licht. Alle Sitze sind besetzt oder mit einem Gepäckstück belegt.
Otto dehnt sich und holt Luft: »Wiewohl noch in der letzten Stunde dieser Nacht; Morgengruß, geschätzte Pilgersleut, liebe Fahrgäste! Das Pilgerhaus Arche heißt euch willkommen. Im Nu schlägt es vier.«
Stork, der nicht schläft, reckt sich. Ottos Stimme schält uns aus Träumen und der Trägheit nach langer Fahrt. Scharfe Klinge, schmerzfrei.
Purr erwacht, als Otto die Fahrgasttür zur Seite schiebt. Er tönt knusprig, wie wenn Mutter ein Brot in Scheiben schneidet. Sie rollt ihre Zunge und ist hungrig.
Natalie, die Lider gesenkt, schürzt die Lippen. Ein Klang wie eine Meereswelle, die du reiten willst. Sie öffnet die Augen: Ein Mann, dieser Otto!
Die Stimmfrequenz, kopiert von der Tourenzahl im sechsten Gang, errechnet Einsteinger, hat genügend Druck, um höher zu schalten. Er lässt die Fingergelenke schnappen und steht.
Katsuo hat sich mit dem ersten Ton aus Lahms Mund vom Sitz gelöst; er saß zuhinterst, in der Dreierreihe, mit Nura zur Linken, ihr Kopf im Schlaf an seiner Schulter und Ramsauer rechts, reglos in einem Traum. Ein Mann mit solidem Bauch, stellt Katsuo fest und betrachtet Otto mit Achtung. Hat seine Stimme mit dem Motor erhoben; das ist gut, um wach zu bleiben.
Nura döst und rollt ihre Zehen ein, streckt sie wieder, reibt ihre Fußsohlen aneinander. Wie er fährt, selbstverständlich und sicher, so tönt er auch. Prima Wahl. Oh, Katsi steht auf. Ihre Rechte greift nach unten und streift den Sicherheitsgurt von ihrer Brust.
Liu-Anns Mund ist ausgetrocknet. Gibt es heißes Wasser, ein kleines Glas, im Pilgerhaus? Der Fahrer tönt norddeutsch. Was steht auf dem Bus? ›Labenz‹! Gemütlich, ein Mann wie eine Seidendecke, kühl im Sommer.
Walker hatte geträumt, dass die Schwarze Madonna den Bus mit einem unmerklichen Anheben ihres Kinns zum Stillstand brachte. Dann erreicht ihn Ottos Morgengruß, und Walker schreckt auf. Wie war das? Die letzte Stunde dieser Nacht? Ach, Ottos Stimme!
Jetzt ist Ramsauer bei sich. Durch die Scheibe erkennt er das Logo: die Arche. Das hatte Otto gemeint; sie waren beim Pilgerhaus angekommen. Ramsauer schüttelt eine vertraute Melancholie ab und steigt aus.
Wax Richter, im breiteren Sitz mit Sicht durch die Frontscheibe, reibt sich den Schädel und brummt, klopft mit dem Finger dagegen: Sicherheitsglas. Er hebt anerkennend seine Pranke, und Otto Lahm winkt zurück. Wax gleitet ins Freie.
Loreley löst das Tuch um ihren Kopf. Es ist wie jedes Mal; sobald sie neben dem Bus steht, gerät sie für einen Augenschein in den Mittelpunkt. Sie atmet aus, und die Reglosigkeit der Gruppe löst sich. Otto Lahm hebt grüßend die Hände.
Während die Arche die Pilger verschluckt, überlässt sich Otto dem wohligen Schauer, der ihn überkommt, wenn er bei seinem fahrtwarmen Wagen steht. Gut gewählt, die Beschriftung! Er nickt bestätigend: P.R.O.L.L. in Orange auf der Hickory-Lackierung. Darunter in scheinbarer Handschrift: Pilgerreisen Otto Lahm, Labenz.
»Nicht, Pi!« Qu mag Otto.
Pi lässt eine grünweiße Linie auf den Asphalt fallen. Der perfekte Kotkreis ist nahezu trocken, als die Raben über das Panoramadach des Busses ziehen und zu einem der offenen Fenster in der Arche steigen.
Otto fährt los. Karoline!
Im Haus zum Rabenkind schiebt die Chocolatière ein Blech mit Baguettes in den Ofen. Befriedigt schließt sie die Klappe. Alles geschafft in ihrer Backstube. Alles bereit für die Arche.
Da geht die Tür einen Spalt weit auf, und Ottos Mondgesicht lächelt sie an. Dann füllt die Gestalt ihres Geliebten den Türrahmen. Er bewegt sich auf sie zu, geräuschlos und weich. »Linchen!«
»Otto! So früh? Wie schön! Erzähl! Stell’ dir vor, wer mir vorhin die Tür der Arche öffnete: Meinrat! Er nennt sich ›Meinrat‹, Otto! Ich bin immer noch verwirrt. Er sieht aus wie unser Heiliger in der Kapelle oben. Unglaublich ähnlich – und so lebendig! Was meinst du? Roch nach Kaffeebohnen und hat einen amerikanischen Akzent. Wie ist das möglich? Jetzt lass mich nicht zappeln, rede. Die Pilger, was sind das für Leute? Ich werde sie verpflegen. Erzähle mir alles über deine Passagiere. Wie freue ich mich, dass du hier bist!«
Otto Lahm hat sich in den einzigen Sessel im Raum fallen lassen. Er betrachtet sie, lächelt, und wie gewohnt wackeln dabei seine Ohren. Sein Mund ist voll. Er kaut genießerisch.
»Wo lag das denn?«, ruft sie neckend.
»Hat noch mehr davon, schmecken prima.«