Das Kaff der guten Hoffnung – Ganz oder gar nicht! - Kai Lüftner - E-Book

Das Kaff der guten Hoffnung – Ganz oder gar nicht! E-Book

Kai Lüftner

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Beschreibung

Das zweite völlig verrückte Abenteuer aus dem Kaff der guten HoffnungKaum hat Kalle drei neue Freunde fürs Leben gefunden, gerät auch schon der erste von ihnen in Gefahr: Der kleine Theobald wird von Graf Arg von Hinterlist und seinen Leibwächtern entführt. Keine Frage, dass die Freunde ihn retten und den Grafen endlich zur Strecke bringen müssen – ganz oder gar nicht!Der zweite Teil der turbulenten Geschichte über Freundschaft und Zusammenhalt – von Dominik Rupp mit vielen Bildern kongenial in Szene gesetzt!

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Seitenzahl: 138

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Kai Lüftner

Das Kaff der guten Hoffnung – Ganz oder gar nicht!

Mit Bildern von Dominik Rupp

FISCHER E-Books

Inhalt

Ein Bonbon mit Stiel [...]VorwortKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Nachwortdas nur den Kindern gewidmet ist, eine letzte wichtige Frage klärt und nicht als Kapitel zähltDanksagung

Ein Bonbon mit Stiel ist ein Lutscher.

Ein Bonbon ohne Stiel ist einfach ein Bonbon.

Ein Stiel ohne Bonbon ist blöd.

 

Edgar Lüftner, 2012

(3 Jahre alt)

Vorwort

In einem Vorwort stehen normalerweise unglaublich wichtige Dinge, die beispielsweise dem Verständnis einer Geschichte dienen. Oder Fakten, die man angeblich dringend wissen muss, um sich in einem Mehrteiler zurechtzufinden. Normalerweise.

In diesem Vorwort stehen einfach ein paar ermunternde Worte. Zum Beispiel: AUFSTEHEN! (das ist ein sehr ermunterndes Wort) oder KALTE DUSCHE! (ebenfalls sehr ermunternd).

Sonst findet sich in diesem Vorwort eigentlich nichts, was in irgendeiner Hinsicht von Bedeutung wäre.

Aber das ist auch gut so. Viel zu oft werden in Vorworten Erwartungen geschürt, die dann doch nicht eingehalten werden. Das soll hier nicht geschehen. Versprochen, keine Erwartungen!

Ich mache einfach von Anfang an klar, dass euch hier absolut nichts erwartet. Gar nichts! Alles wurde schon geschrieben. Jede nur (er)denkbare Geschichte wurde bereits tausendfach ausgewalzt und dem arglosen Leser als etwas völlig Neues und Einzigartiges verkauft. Nein, vergesst es! Hier wird mit offenen Karten gespielt.

Keine Erwartungen!

Kauft euch lieber eine wetterfeste Jacke oder eine neue Luftpumpe fürs Fahrrad. Oder beides! Ehrlich, das macht mehr Sinn, als dieses Buch zu lesen.

Außerdem ist das Vorwort jetzt sowieso schon zu Ende.

 

Liebe und vollkommen erwartungsfreie Grüße,

Kai

Kapitel 1

Es war ein Tag für die Tonne.

Vor den verschmierten Fenstern des Unterrichtsraums im Kinderheim »Zur guten Hoffnung« ballten sich graue Wolken zu einem Unwetter. Die Scheiben bebten und zitterten unter dem nicht nachlassenden Donnergetöse, und das auf- und abebbende Rauschen der Regenmassen bildete eine Klangkulisse, die jedem Gruselfilm zur Ehre gereicht hätte.

Nur mühsam konnte sich die tranige Stimme von Herrn Galgenstrick, dem Geschichtslehrer, gegen den Lärm der Naturgewalten durchsetzen. Sie schlingerte durch das Tosen wie ein winziges Faltboot durch die haushohen Wellen des offenen Meeres, chancenlos und unbeachtet. Dem Untergang geweiht.

Hätte sie etwas zu sagen gehabt, die Stimme, hätte man vielleicht versucht, sie vor dem Ertrinken zu retten. So aber waren die Kinder im Raum mit anderen Dingen beschäftigt. Mit Schlafen zum Beispiel, mit dem Schreiben von Briefchen, mit dem Schnipsen von Papierkügelchen – oder mit Starren.

Seit zwanzig Minuten bereits starrte Kalle durch die verschmierten Fenster nach draußen und beobachtete die Tropfen, die sich, vom Sturm gepeitscht, miteinander verbanden, voneinander lösten und zu raufen schienen im willkürlichen Tanz der Elemente.

In seinem Inneren sah es nicht besser aus als da draußen. Hier tobte auch ein Unwetter.

Er saß wie gelähmt zwischen diesen beiden Unwettern. Alles in und um ihn tauchte seine Traurigkeit in Schreckschraubgrau, einen von Professorprofessor Dr. Gagga patentierten, vollkommen hoffnungslosen Farbton, mit dem man üblicherweise Wörter wie Hoffnungslosigkeit, sinnlos oder Ende schreibt.

Jeder andere Mensch wäre an diesem furchtbaren Gefühl in Schreckschraubgrau mit Sicherheit zerbrochen, nicht aber Kalle, der Junge mit dem stärksten Willen, der jemals in einem Kind gelebt hatte.

Er seufzte tief, riss sich aus seinen Gedanken und schaute nach rechts. Zwei Tische weiter saß Theobald Zuppel, ein mickriger Junge mit riesiger Zahnspange, und bohrte sich derart versunken und inbrünstig in der Nase, dass man meinen konnte, er hätte vollkommen vergessen, wo er war. Zwei andere Kinder aus der Kategorie der Stinknormalen hier im Waisenhaus schnippten ihm Papierkügelchen an den Hinterkopf, ohne dass er es bemerkte.

Eine Bank vor Theobald saß Magda Burschikowska, pardon, lag Magda Burschikowska und schnarchte so laut, als würde sie versuchen, das Getöse vor dem Fenster zu übertönen. Was ihr genaugenommen auch mühelos gelang. Sie füllte mit ihrem massigen Körper die gesamte Tischplatte aus, und ihre Arme hingen, dicken Tauen gleich, auf der anderen Seite herunter.

Ganz hinten, in der letzten Ecke, grummelte Röschen La Damm vor sich hin, das schönste Mädchen, das Kalle jemals gesehen hatte. Hinter ihrem Ohr klemmte ein Stift. Das Kinn hatte sie zwischen beide Fäuste gepresst, und ihr schwarzes Notizbuch lag neben dem Ellbogen. Obwohl Kalle ihren Blick nicht einfangen konnte, sah er sehr wohl, dass ihr mindestens so trostlos zumute war wie ihm selbst. Nein, nur fast.

Immerhin hatte sie nicht ihren großen Bruder gefunden – und gleich wieder verloren.

Was war geschehen? – Hatten er und seine neuen Freunde, die sogenannten Makel-Kids, die Unvermittelbaren, nicht gerade erst vor drei Wochen glücklich verhindert, dass sich dieser seltsame Graf Arg von Hinterlist das Heim und das Fulminantolaboratorium von Professorprofessor Dr. Gunnar Gabriel Gagga unter den Nagel riss und ein Wellness-Hotel daraus machte? Hatten sie nicht ganz Klein-Kalabrien vor der feindlichen Übernahme durch einen größenwahnsinnigen Adligen und seine Handlanger gerettet? Hatten sie mit ihrem letzten Abenteuer nicht ein ganzes Buch gefüllt und waren sie nicht eigentlich Helden, die stolz auf sich sein konnten?

Und wieso war Kalle jetzt überhaupt noch hier und nicht bei Georgie, seinem großen Bruder, den er nach einer wahren Odyssee durch 113 Kinderheime und Waisenhäuser endlich wiedergefunden hatte?

Warum? Wie kann der Autor, der sich diese Geschichte ausgedacht hat, nur so fies und hinterhältig sein? Mag er etwa keine Kinder?

Kalle meinte, jemand müsse das Fenster aufgerissen und das Unwetter hereingelassen haben, denn plötzlich spürte er Wasser auf seinem Gesicht. Es dauerte ein Weilchen, bis er bemerkte, dass das Wasser aus seinen Augen kam und salzig schmeckte. Und es dauerte noch ein bisschen länger, bis er kapierte, dass es Tränen waren.

Beschämt wischte er sie weg. In letzter Zeit passierte ihm das häufiger mit dem Heulen. Peinlich!

Als er kurz den Kopf drehte, sah er, dass Röschen ihn fixierte. Wenn ihn nicht alles täuschte, wischte sie sich ebenfalls über die Augen. Aber er konnte sich auch irren, denn als sich ihre Blicke trafen, schaute sie gewohnt miesepetrig. Seltsamerweise beruhigte das Kalle sofort. Er lächelte Röschen an, die gleich noch miesepetriger schaute. Dann aber fand ein Kampf in ihrem Gesicht statt und (mit viel Phantasie!) schummelte sich ein winziges Grinsen auf ihre Lippen.

Wenn das Grinsen auch eine optische Täuschung sein konnte, der knallrote Kopf gleich darauf war es nicht. Sie tat so, als würde sie nicht bemerken, wie sie glühte, und spielte stattdessen an dem Geschenk herum, das sie von Professorprofessor Dr. Gagga bekommen hatte. Na ja, genaugenommen hatte Georgie, Kalles großer Bruder, es ihr im Auftrag des Professorprofessors ausgehändigt, denn der war ja in den Tiefen seines Fulminantolaboratoriums verschwunden.

Kalle spürte, wie das Schreckschraubgrau beim Gedanken an Georgie eine klitzekleine Spur heller wurde. Er spürte, wie die Gefühle in seinem Inneren miteinander rangen. Die Traurigkeit packte mit ihren eisernen Händen die Zuversicht und würgte sie, wurde dann aber von der Freude, dass er Georgie gefunden hatte, in den Schwitzkasten genommen und gekonnt auf den Rücken geworfen. Da lag sie dann und atmete schwer, ziemlich am Ende.

Auch die Traurigkeit ist irgendwie besiegbar.

Kalles unbeugsamer Wille saß am Mattenrand und gab Anweisungen. Er hatte alles im Griff.

Und dann klingelte es zur Pause.

Kapitel 2

Balduin Sesselfurz war genervt, was sich besonders durch die pochende Halsschlagader und einen Schweißausbruch unter seinem blondierten Toupet bemerkbar machte.

Der Bürgermeister von Klein-Kalabrien stand vor seinem Schreibtisch und wühlte sich ohne Sinn und Verstand durch Stapel von Beschwerdebriefen, Formblättern, Anträgen und anderem Schriftkram. Nur um diese dann auf weitere Stapel zu legen und erneut zu durchwühlen.

Selbst ein ungeübtes Auge, ohne jedes Wissen um die täglichen Aufgaben eines Bürgermeisters, konnte erkennen, dass hier jemand herumfuhrwerkte, der gnadenlos überfordert war.

Immer wieder fiel sein Blick durch die offene Tür in das Vorzimmer seines Büros, aber da war niemand, den er hätte anbrüllen können. Niemand, der ihm diese lästige Arbeit abnahm, mit der er sich hier herumschlagen musste. Niemand, der ihm einen Kaffee kochte und ihm sagte, wie großartig ihm sein neues Toupet stand.

Ja, er musste sich eingestehen, dass es möglicherweise ein Fehler gewesen war, seiner langjährigen Sekretärin Fräulein Brenner zu kündigen.

Es schüttelte ihn, als er den Hals der leeren Flasche Haselwerder Rachenputzer im übervollen Papierkorb entdeckte. Auch dieser war in den letzten drei Wochen nicht geleert worden.

Mit einer Handbewegung wischte er die Papierstapel von der Schreibtischplatte, wobei sein Toupet einen hektischen Ruck auf die Stirn machte und ihm die Sicht nahm. Schnaubend schob der Herr Bürgermeister das Toupet wieder zurecht und ließ sich seufzend in seinen Schreibtischsessel fallen.

Drei Sekretärinnen hatte er in den letzten drei Wochen verschlissen. Die erste war vielversprechend gewesen, hatte sich aber seine Annäherungsversuche verbeten: Gefeuert! Die zweite war auf den zweiten Blick zu alt und in den Augen des Bürgermeisters nicht vorzeigbar gewesen: Gefeuert! Die dritte war nach zwei Tagen einfach nicht mehr zur Arbeit erschienen. Wahrscheinlich war sie mit dem Kasernenton des Bürgermeisters nicht klargekommen. Sehr wahrscheinlich sogar.

Und nun saß er hier, in seiner Amtskaserne, allein gelassen mit diesem heillosen Durcheinander. Er zog die Mittelschublade seines Schreibtisches auf und fingerte einen braunen Umschlag heraus. In diesem befand sich das Tonband des Telefonats, das Fräulein Brenner aufgenommen hatte. Auf dem Graf Arg von Hinterlist sich in aller Ausführlichkeit als Erzbösewicht mit Allmachtsphantasien entpuppt und es gewagt hatte, ihn – den Bürgermeister! – als einen Volltrottel, Hornochsen und Schlimmeres zu betiteln.

Balduin Sesselfurz musste das Tonband einfach wieder und wieder anhören. Er konnte nicht glauben, dass er auf das falsche Spiel dieses Mannes hereingefallen war. Wieder fiel sein Blick auf die Flasche Haselwerder Rachenputzer, und ein schmerzhaftes Stechen hinter seiner Stirn ließ ihn zusammenzucken.

Er hatte sich erpressen lassen und war in die Klauen eines skrupellosen Verbrechers geraten, der – so denn die Gerüchte stimmten – auf der Flucht, vielleicht sogar verschollen war.

Balduin Sesselfurz verspürte Genugtuung und war sich doch nicht sicher, ob es vielleicht nur ein nagendes Hungergefühl war. Oder vielleicht so was wie Schuldbewusstsein? Nein, Professor Doktor Balduin Sesselfurz, erster Mann von Klein-Kalabrien, kannte kein Schuldbewusstsein! Er war Balduin Sesselfurz, Bürgermeister, der wichtigste Mann der ganzen Stadt. Er hatte das Vertrauen seiner Wähler und Verantwortung für die Menschen.

Und er hatte Kaffeedurst – aber niemanden, der ihm eine Tasse zubereitete.

Da klopfte es, und diesmal rutschte das blondierte Toupet von der Glatze bis auf die Nase, weil der Herr Bürgermeister erschrocken aufsprang.

Kapitel 3

Die vier Unvermittelbaren saßen neuerdings gemeinsam mit den anderen Kindern nicht nur im Unterricht, sondern auch im Speisesaal. Noch vor drei Wochen hatte die zeitgleiche Anwesenheit der Unvermittelbaren mit den Kindern der anderen Kategorien hier im Waisenhaus zu tumultartigen Zuständen geführt.

Frau Galgenstrick, die Heimleiterin, hatte letzte Woche diese Neuregelung höchstpersönlich eingeführt. Sie hatte jedoch offengelassen, ob sie damit ihre bisherige Meinung korrigiert hatte, wonach Unvermittelbarkeit und Makel ansteckend seien und deshalb bislang die übrigen Kinder von den Makel-Kids getrennt essen und unterrichtet werden mussten.

So oder so konnte man feststellen, dass sich mit Kalles Eintreffen im Heim »Zur guten Hoffnung« einiges geändert hatte – und immer noch änderte.

Eine neue Zeitrechnung war angebrochen.

Die Unvermittelbaren hausten jedoch nach wie vor in ihrem feuchten Kellerzimmer. Das Personal des Heims war bis zum letzten Mann und die letzte Frau eine Zumutung. Und das Heim selbst war ein trister Haufen bröckeligen Mauerwerks voller trostloser Menschen mit trostlosen Gedanken.

Die Behauptung also, im Heim »Zur guten Hoffnung« sei plötzlich alles toll und liebenswert, würde es vermutlich aus dem Stand in die Top Ten der Übertreibungen des Jahrhunderts schaffen. Allein am Geschmack des Essens ließ sich feststellen, dass mehr beim Alten geblieben war, als dass es echte, spürbare Verbesserungen gegeben hätte.

Magda rührte leidenschaftslos in ihrer Hafergrütze oder ihrem Graupenmus oder was auch immer da in der Schüssel vor ihr Blasen schlug. Und Theobald bohrte immer noch – oder schon wieder? – in der Nase und schien sich auf diese Art und Weise mehr schlecht als recht zu ernähren.

Röschen (die sich neben Kalle gesetzt hatte und so tat, als sei dies aus Versehen passiert) spielte immer noch mit dem Geschenk von Dr. Gagga. Es war der Zwickel, den der Professorprofessor bei ihrem ersten Treffen auf der Nase gehabt und die ganze Zeit nicht abgelegt hatte. Der Zwickel mit den verschiedenfarbigen Gläsern und den Verstell-Rädchen an beiden Seiten des Gestells.

Röschen hatte mittlerweile herausgefunden, dass es 333 verschiedene Farbkombinationen gab. Im Moment schillerten beide Gläser in Rosarot, und Röschen sah aus wie die schräge Sängerin einer Hippie-Band.

»Irgendwie voll albern, oder?«, fragte sie und schrieb etwas in ihr Notizbuch. Sie fixierte Kalle, der ihr fasziniert zuschaute und hoffte, er würde sie nicht zu sehr anschmachten. (Was er allerdings absolut unübersehbar tat!)

Das linke Glas wurde jetzt so schmierpopelgrün wie das Dach des Kinderheims, was Röschen mit einem »Ah!« quittierte. Sie schwenkte den Kopf hin und her, als verfolgte sie eine verrückt gewordene Fliege vor ihrer Nase, und schmunzelte Kalle an: »Sag mal was!«

»Irgendwie voll albern!«, sagte Kalle und probierte noch mal einen Löffel des Etwas vor ihm auf dem Teller. Es schmeckte wie immer nach aufgeweichter Pappe und roch nach alter Schuhsohle von unten.

Röschen schrieb wieder etwas in ihr Notizbuch. Diesmal etwas Längeres. Sie hatte offenbar alles um sich herum vergessen. Zumindest so lange, bis Magda mit ihrer brummigen Stimme in die Stille fragte: »Warum hat er das gemacht?«

Alle hielten mit dem inne, was sie gerade taten, was zur Folge hatte, dass Theobald nicht wusste, ob er den gerade ergatterten Popel nun am Finger lassen oder essen sollte. Er entschied sich für Letzteres und grinste unbeholfen, als alle angewidert die Gesichter verzogen.

Magdas Frage kam unvermittelt und irgendwie aus dem Zusammenhang gerissen, und doch wussten alle, wer und was gemeint war. Kalle spürte sofort wieder das schreckschraubgraue Loch in seinem Magen. Er fiel nur nicht hinein, weil Röschen ihm die Hand auf den Arm legte. Als Theobald ihm auch die Hand auf den Arm legen wollte, zuckte Kalle zurück, weil es die Popelhand war.

Röschen schlug das Notizbuch zu und maßregelte Magda mit einem bösen Blick. Die ließ sich aber nicht abschrecken und fragte erneut: »Warum hat er das gemacht?«

»Er«war Kalles großer Bruder Georgie, »das«war sein Verschwinden und »warum«konnte sich keiner erklären. Kalle am allerwenigsten. Also schüttelte er kraftlos den Kopf und versuchte, in der Pampe auf seinem Teller eine Antwort auf Magdas Frage zu finden. Aber da blubberte es nur übelriechend vor sich hin.

Kalle hatte seinen Bruder mindestens eine Stunde lang nicht mehr losgelassen, als er vor gerade mal drei Wochen wie aus dem Nichts im Fulminantolaboratorium aufgetaucht war. Wie eine Fata Morgana oder Bruder Morgana, die ihm so unwahrscheinlich vorkam, dass er Georgie immer wieder an sich drückte, um sich davon zu überzeugen, dass er kein Trugbild war.

In seiner Erinnerung war Georgie viel jünger gewesen – noch der Junge, nicht der Fast-Mann mit dem unrasierten Gesicht und den viel zu kleinen und verschlissenen Klamotten und der tiefen Stimme, der nun vor ihm stand.

Georgie hatte nach Abenteuer gerochen, Leben in der Wildnis, Gefahr, Einsamkeit und – Familie!

Sie hatten geweint und gelacht, während die anderen Makel-Kids mitgeweint und mitgelacht hatten. Alle auf ihre jeweilige Art und Weise überfordert von den eigenen Gefühlen und denen der anderen. Ein magischer Moment, der niemals aufhören sollte, aber schneller vorbeiging, als ihnen allen lieb war.

Wie es ursprünglich überhaupt zur Trennung der beiden Brüder gekommen war?

In der Kurzform: Georgie hatte Kalle vor knapp drei Jahren in einem Kinderheim zurückgelassen, weil er eine Mission erfüllen musste. Doch wer ihm diese Mission erteilt hatte, worin diese Mission bestand, warum er Kalle, seinen kleinen Bruder, einfach im Stich gelassen hatte – diese und andere Fragen beantwortete Georgie bei ihrem Wiedersehen vor drei Wochen lediglich mit einem traurigen Kopfschütteln. Kalles Enttäuschung darüber in Worte zu fassen ist mir, dem Autor dieser Geschichte, nicht möglich. Ich müsste die Tastatur meines Computers dazu so sehr drangsalieren, dass sie vermutlich, nein, ziemlich sicher kaputtgehen würde.

Anderes konnte und wollte Georgie erklären. Zum Beispiel, dass er das letzte Jahr mitten im Fulminantolaboratorium in einem geheimen Zimmer (das angeblich im Stamm einer gigantischen breitblättrigen Brunzenbrötl verborgen war) gelebt und sich von den Dingen, die hier wuchsen, kreuchten und fleuchten, ernährt hatte.