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Lucy kehrt nach ihrem Studium auf die Kamelieninsel in der Bretagne zurück, wo sie in die Kosmetikfirma ihrer Mutter Sylvia einsteigen soll. Aber es ist nicht so einfach, sich wieder in den Ort ihrer Kindheit einzufinden. Als eine Reise nach Japan zu einer Kamelienölmanufaktur ansteht, ist Lucy darüber mehr als erfreut, zumal sie unterwegs den attraktiven Finn kennenlernt und mit ihm einen zauberhaften Tag in Tokio verbringt. Doch ist Finn wirklich der, den sie in ihm sieht? Und kann sie ihre Mission für die Kosmetikfirma ihrer Familie erfüllen? Denn die Manufaktur steht durch den Tod ihres Inhabers kurz vor dem Aus und Lucys Zeit in Japan verläuft völlig anders als geplant ...
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Seitenzahl: 500
Veröffentlichungsjahr: 2025
Lucy kehrt nach ihrem Studium auf die Kamelieninsel in der Bretagne zurück, wo sie in die Kosmetikfirma ihrer Mutter Sylvia einsteigen soll. Aber es ist nicht so einfach, sich wieder in den Ort ihrer Kindheit einzufinden. Als eine Reise nach Japan zu einer Kamelienölmanufaktur ansteht, ist Lucy darüber mehr als erfreut, zumal sie unterwegs den attraktiven Finn kennenlernt und mit ihm einen zauberhaften Tag in Tokio verbringt. Doch ist Finn wirklich der, den sie in ihm sieht? Und kann sie ihre Mission für die Kosmetikfirma ihrer Familie erfüllen? Denn die Manufaktur steht durch den Tod ihres Inhabers kurz vor dem Aus und Lucys Zeit in Japan verläuft völlig anders als geplant …
Tabea Bach war Operndramaturgin, bevor sie sich dem Schreiben widmete. Sie wuchs in Süddeutschland und Frankreich auf. Ihr Studium führte sie nach München und Florenz. Heute lebt sie mit ihrem Mann in einem idyllischen Dorf im Schwarzwald. Ihre Romane sind Bestseller und in mehrere Sprachen übersetzt. In jeder Romanreihe führt sie ihre Leserinnen an einen wunderschönen Schauplatz, vor dessen Kulisse sie eine fesselnde Geschichte entfaltet.
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Copyright © 2025 byBastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln, Deutschland
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten. Die Verwendung des Werkes oder Teilen davon zum Training künstlicher Intelligenz-Technologien oder -Systeme ist untersagt.
Textredaktion: Marion Labonte, Labontext
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
Einband-/Umschlagmotiv: © www.buerosued.de
Illustration: © shutterstock: Suwi19
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-8408-5
luebbe.de
lesejury.de
26 Jahre sind vergangen seit dem glücklichen Ende von HEIMKEHRAUFDIEKAMELIEN-INSEL. Nun folgen wir der nächsten Generation auf ihrem Weg durchs Leben und nach Japan …
Die Kamelienhaus-Reihe baut auf der Kamelieninsel-Saga auf, ist aber völlig unabhängig davon lesbar.
Ein Tor zum Glück oder Unglück gibt es nicht;beide kommen, wenn du sie einlädst.
Japanische Weisheit
Endlich ist es so weit … Eine neue Ära bricht an.
Von meinem Lieblingsplatz auf der Galerie des Ti Bag schaue ich aus dem Fenster und über das Meer zum Festland. In diesen Stunden ist meine Tochter auf dem Weg zurück nach Hause, und alle hier auf der Kamelieninsel sind von einer glücklichen Aufregung erfasst, wie Kinder vor dem Weihnachtsfest. Maël und ich sind unsagbar stolz auf unser Kind, falls man überhaupt noch »Kind« sagen darf, schließlich ist Lucinde längst erwachsen.
Wenn ich zurückblicke auf die sechsundzwanzig Jahre seit Lucys Geburt, kann ich nicht anders als staunen. Vor allem darüber, wie schnell sie vergangen sind. Manches hat sich verändert, vieles ist gleich geblieben. Das Leben hat es gut mit uns gemeint. Maël und ich sind in die Jahre gekommen – unserer Liebe tut das keinen Abbruch. Meine Kosmetikmanufaktur Fleur de Camélia hat sich über die Jahre fantastisch entwickelt. Alles ist gut.
Und doch weiß ich aus Erfahrung, dass solche glücklichen Tage, wie wir sie jetzt gerade erleben, jederzeit enden können. So wie der Wind hier in der Bretagne am Mittag noch sanft über unsere Wangen streicht, um sich am Abend in einen tosenden Sturm zu verwandeln. Das Leben ist ein beständiges Auf und Ab. Aber wenn ich eines gelernt habe, dann, dass wir in der Lage sind, auch die schlimmsten Stürme zu überstehen. Wenn wir nur zusammenhalten. Und in Liebe miteinander verbunden bleiben.
Die Kamelieninsel hüllte sich in einen rotgoldenen Schleier, als Lucinde Riwall an diesem Herbstabend die bretonische Küste erreichte. Im Westen war gerade die Sonne untergegangen und ließ den Himmel in spektakulären Farben erglühen. Lucy, wie sie von allen genannt wurde, steuerte ihren Peugeot über die vertraute, mit uralten Platanen gesäumte Allee und betrachtete fasziniert, wie sich mit jedem Augenblick das Spiel von Licht und Schatten veränderte, bis das Rot verblasste und sich ein lavendelfarbenes Blau, schimmernd wie Glas, über die Landschaft legte, in der die Insel in der Ferne zu schweben schien.
Lucy öffnete das Fenster und sog tief die Luft ein. Es roch nach Meer und Kindheit. Hier war sie aufgewachsen, inmitten dieses beständigen Wechsels der Gezeiten und der Wetterlagen, vertraut mit Sturm und Wind, Sonne und Regen, Nebel und funkelnden Tagen unter einem leuchtend blauen Himmel. Und sie fühlte ganz deutlich, dass ein Teil von ihr an diesem Ort fest verwurzelt war, so wie die uralten Kamelienbäume im Garten ihres Vaters, auch wenn sie dies während ihrer Zeit in Paris mitunter vergessen hatte. Doch was war mit dem anderen Teil in ihr? Wohin zog sie der?
Die ersten schiefergrauen Häuser des Küstenstädtchens kamen in Sicht, gespannt hielt Lucy nach Veränderungen Ausschau, seit sie im Sommer das letzte Mal hier gewesen war. Die kleine Ferienanlage mit den zehn Wohnungen, über die es so viele Diskussionen gegeben hatte, war inzwischen fertig, sicher würden an Weihnachten die ersten Gäste darin schon ihre Ferien verbringen. Lucy fand, dass sich die Aufregung der Anwohner nicht gelohnt hatte: Die Anlage war im Stil der traditionellen bretonischen Häuser aus dem grauen Stein der Gegend erbaut worden und fügte sich angenehm ins Ortsbild ein. Wenn in den Grünflächen um die Gebäude erst einmal die Kamelien größer geworden waren, die aus der Gärtnerei von Lucys Vater stammten, würde das Ganze noch viel unauffälliger wirken.
Der Ort selbst erschien ihr nach ihren Jahren in London und Paris wie eine Ansammlung von Puppenstuben. Hier die Bäckerei, dort die Apotheke und etwas erhöht die graue, trutzige Kirche. Die Reifen des Peugeots rumpelten über das Kopfsteinpflaster, vorbei an Maylis’ Crêperie – und schon hatte Lucy den Hafen erreicht. Sie parkte vor dem Bistro und stieg aus. Wie so oft, wenn sie hier ankam, schlug ihr eine heftige Böe zur Begrüßung die langen Haare um den Kopf, sodass sie einen Moment lang nichts sehen konnte. Sie kramte in ihrer Handtasche nach einer Spange und stellte sich mit dem Gesicht in den Wind, um ihre goldblonde Mähne zu bändigen.
»Salut, Lucy«, hörte sie eine Stimme hinter sich. »Wie war die Fahrt?«
Mit großen Schritten kam ein junger Mann auf sie zu, er strahlte über das ganze Gesicht.
»Salut, Gaël!«, rief Lucy freudig und umarmte ihn. »Wie schön, dass du mich abholst! Ich hoffe, du hast nicht allzu lange warten müssen?«
»Pas de problème«, antwortete Gaël. »Kein Problem, ich hab mich drinnen gut unterhalten. Du weißt ja, bei Tanguy erfährt man immer das Neueste. Im Moment ist das Inseljubiläum im nächsten Frühjahr Gesprächsthema Nummer eins.« Er lachte. »Möchtest du noch auf einen Schluck reingehen oder sollen wir gleich los?«
Lucy sah auf ihre Armbanduhr. Es war kurz vor sieben. »Auf der Insel warten bestimmt alle schon.« Fröstelnd schlang sie die Arme um ihren Oberkörper. Natürlich war es hier Ende Oktober viel frischer als in Paris, und langsam senkte sich die Dämmerung über Land und See.
»Du hast recht. Gleich ist Zeit fürs Abendessen. Rate mal, was es gibt.« Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu.
»Womöglich eine godaille?«, fragte Lucy gespannt.
»Ganz genau! Elise hat noch mal selbst Hand angelegt, damit sie wirklich gelingt. Und sogar Solenn hat ihre Kommentare dazu abgegeben. Da kannst du dir vorstellen, wie begeistert Yvonne war.« Er lachte leise in sich hinein und hob Lucys Gepäck aus dem Kofferraum.
»Die Ärmste!« Auch Lucy musste lachen bei dem Gedanken, wie die beiden alten Damen der Haushälterin in die Kochtöpfe schauten. »Das ist sicher nicht immer einfach für sie.« Rasch schlüpfte sie in eine winddichte Jacke, nahm ihren Rucksack aus dem Wagen und folgte Gaël hinaus auf den Anlegesteg zu seinem Boot.
»Na, Hauptsache, sie verderben alle miteinander nicht den guten Fisch«, meinte Gaël und half ihr an Bord der Laouen, was auf bretonisch »freudig« bedeutete. »Iven hat einen super Fang von einem seiner Fischerfreunde besorgt.«
Lucy lief das Wasser im Mund zusammen. Ihr Magen knurrte vernehmlich, seit dem belegten Baguette vor ihrer Abfahrt hatte sie nichts mehr gegessen, und den bretonischen Fischeintopf aß sie für ihr Leben gern.
Sie warf einen prüfenden Blick auf den Atlantik.
»Ziemlich ruhig heute«, sagte Gaël mit verständnisvollem Grinsen und half ihr an Bord. Verlegen verstaute Lucy ihr Gepäck und zurrte zum Schutz vor dem unvermeidlichen Spritzwasser eine Plastikplane darüber, holte die Rettungsweste aus ihrem Klappfach und legte sie an. Jeder hier an der Küste wusste, dass Lucy bei der Schaukelei während der Überfahrt hin und wieder übel wurde, ganz besonders Gaël, der sie kannte wie ein Bruder seine Schwester, denn als Sohn von Coco und Gurvan, den Mitarbeitern von Lucys Vater, waren sie gemeinsam auf der Kamelieninsel aufgewachsen. »Alles klar?«, fragte er, und als sie nickte, löste er die Leinen und startete den Motor.
Umsichtig steuerte er die Laouen aus dem Hafen. Sogleich griffen die Wellen nach dem Boot, und Lucy hielt sich an der Reling fest, konzentrierte sich darauf, im Rhythmus des Seegangs zu atmen. Eine Weile folgten sie der Uferlinie des Festlands, und Lucy reckte den Hals, um einen Blick auf das Kamelienhaus zu erhaschen, den Sitz der Kosmetikmanufaktur ihrer Mutter. In der aufwendig restaurierten historischen Konservenfabrik waren außerdem eine ganze Reihe von Geschäften und ein Café untergebracht. Die unzähligen Fenster in der Backstein-Fassade blitzten im letzten Abendschimmer kurz auf, dann änderte Gaël den Kurs in Richtung offene See, und das Gebäude versank hinter ihnen im Dunst.
Sie fuhren durch die anbrechende Nacht, und Lucy gewöhnte sich an das harte Auf und Ab des Bootes, wenn es die Wellen schnitt. Schließlich erkannte sie zwei wohlvertraute Erhebungen, die wie die ungleichen Höcker eines Kamels aus dem Wasser ragten. Möwen kreisten darüber und verjagten sich gegenseitig mit lautem Kreischen von diesen Schlafplätzen. Lucys Mutter hatte erzählt, dass dies die Überreste einer Landbrücke waren, mit der die Insel vor langer Zeit mit dem Städtchen verbunden gewesen war. Während eines schweren Sturms hatte der Atlantik diesen Fahrdamm unwiederbringlich zerstört. Das war kurz vor Lucys Geburt geschehen, deshalb kannte sie die abenteuerliche Straße, die mitten durchs Meer verlaufen und ausschließlich bei Ebbe passierbar gewesen war, nur von Fotografien und Erzählungen, genau wie Gaël, der ein halbes Jahr jünger war als sie.
Vor ihnen tauchten die spärlichen Lichter der Insel auf, die Positionslaternen der Anlegebucht und darüber der warme Schein aus den erleuchteten Fenstern des großen Herrenhauses. Zwei Lampen erhellten die vielen steinernen Stufen, die von dem kleinen Naturhafen die Steilküste hinauf zum Anwesen führten – ansonsten war die Insel nachts in Dunkelheit gehüllt, was sie zu einem Paradies für seltene Vogelarten machte, über das sich die Besucher im Naturschutzzentrum informieren konnten. Denn außer den Vögeln lebten hier nur Lucys Familie und die Mitarbeiter der Gärtnerei des auf der ganzen Welt für seine erlesenen Züchtungen berühmten Jardin aux Camélias.
Von der Küste zurückgeworfen, bäumten sich die Wellen noch höher auf als auf offener See. Vorsichtig lenkte Gaël die Laouen gegen die Brecher in die enge Bucht. Das war überhaupt nicht einfach, und Lucy erinnerte sich mit Schaudern daran, wie lange sie gebraucht hatte, um dieses Manöver einigermaßen zu beherrschen, ohne dass ein Boot Schaden nahm, und es gelang ihr auch heute nur bei ruhigem Seegang. Was dies anbelangte, schlug sie kein bisschen nach ihrer Mutter, an der ein zweiter Seemann verloren gegangen war, wie Pierrick immer gesagt hatte, der ihr das alles beigebracht hatte. Wehmütig dachte sie an diesen großartigen alten Mann, der die gute Seele der Gemeinschaft gewesen und leider vor einigen Jahren hochbetagt gestorben war. Inzwischen hatte Tristan seine Aufgaben übernommen, kümmerte sich um die Instandhaltung der Gebäude, um die Boote und was sonst so anfiel. Und wenn Tristan seine Arbeit auch ausgezeichnet versah, so vermissten doch alle Pierrick, der schon auf der Insel gelebt hatte, lange bevor Solenn und Lucys Großtante sie gekauft und den Jardin aux Camélias gegründet hatten. Denn Pierrick ersetzen – das konnte keiner.
Gaël sprang aus dem Boot und vertäute sorgfältig die Leinen. Lucy reichte ihm das Gepäck und stieg selbst an Land. Kaum spürte sie den Fels unter ihren Sohlen, hatte sie das Gefühl, eine andere Welt zu betreten, die heile Welt ihrer Kindheit.
Der Weg hinauf zum Haus war steil und beschwerlich, und Lucy fragte sich, wie Solenn, die im kommenden Frühjahr ihren neunzigsten Geburtstag feiern würde, es immer noch schaffte, diese unregelmäßigen Steinstufen zu meistern, denn keiner konnte sie davon überzeugen, ihr geliebtes Boot Sirène aufzugeben und nicht mehr mit ihm, wann immer es ihr in den Sinn kam, ans Festland zu fahren. Ihretwegen hatte Tristan an vielen Stellen Haltegriffe aus Metall in den Fels getrieben, was auch Lucy in der nun immer dichter werdenden Dunkelheit hilfreich fand. Kurz hielt sie inne und sah hinab in die Bucht, wo die Laouen neben den anderen Booten in der Dünung schaukelte. Der Wind trug feine Wölkchen aus Gischt zu ihr empor, sie schmeckte Salz auf ihren Lippen und fühlte die vertraute, leicht klebrige Feuchtigkeit auf ihrer Haut.
Dann waren sie oben angekommen, ein mächtiger Felsblock markierte das Ende der Natursteintreppe. Auf dem Parkplatz vor der hohen Mauer, die das Anwesen vor den heftigen Winden schützte, standen die Fahrzeuge der Kameliengärtnerei, doch der Jeep von Lucys Vater fehlte.
Das große Tor, über dem das Schild mit der Aufschrift: Jardin aux Camélias. Bienvenus! hing, flog auf, und Sylvia Riwall erschien in der Türöffnung. »Lucy!«, rief sie.
»Maman!«
»Willkommen zu Hause!« Lucys Mutter schloss ihre Tochter fest in ihre Arme. »So schön, dass du wieder da bist!«
»Woher hast du gewusst, dass ich gerade jetzt …« Lucy schmiegte ihre Wange an die ihrer Mutter und sog tief das vertraute Aroma nach Damaszenerrose und Duftkamelien ein, das Sylvia nach langem Experimentieren ihrer Kosmetik beifügte.
»Ach, ich hatte einfach so ein Gefühl«, antwortete Sylvia und strich Lucy liebevoll eine Strähne aus der Stirn, die der Wind aus der Spange gezerrt hatte. »Ich wollte gerade hinunter zur Anlegestelle, aber ihr seid ja schon da. Vielen Dank, Gaël, dass du Lucy abgeholt hast.«
In der Küche des Herrenhauses wurden sie mit Jubel empfangen.
»Da ist sie ja endlich, la petite.« Solenn zog Lucy fest an sich. Die Bretonin war einen Kopf kleiner als sie, und Lucy musste jedes Mal lachen, wenn Solenn sie »die Kleine« nannte. Sie nahm es der alten Dame keineswegs übel, Solenn war für Lucy eine Art Großmutter, so wie sie einst für ihren Vater Maël die Mutterrolle übernommen hatte, als er vor langer Zeit als Halbwüchsiger auf der Insel aufgetaucht war. Damals hatte er hier ein Zuhause und in den Kamelien seine Bestimmung gefunden. »Bald bleibst du für immer hier, n’est-ce pas, chérie?«, fügte Solenn hinzu.
»Für immer sind große Worte, Solenn«, gab Lucy ernst zurück. »Wo ist denn papa?«
»Na, wo soll er schon sein?« Solenn zog eine kleine Grimasse. »In seinem Labor natürlich.«
»Coco und Gurvan sind auch noch nicht da«, beschwerte sich Elise, eine Freundin des Hauses, die früher den umfangreichen Haushalt der Familie samt Angestellten geführt hatte, ehe sie in den verdienten Ruhestand getreten war und Yvonne diese Aufgabe übernommen hatte. »Genau wie Tristan. Immer muss man auf sie warten. Dabei ist die godaille so gut wie fertig.«
»Sie kommen bestimmt gleich«, versuchte Sylvia, die aufgeregten alten Damen zu beruhigen. Und tatsächlich, von draußen hörte man Schritte und Stimmen. Kurz darauf flog die Tür auf, und Maël Riwall stand auf der Schwelle.
»Papa!« Lucy eilte auf ihn zu.
»Ah, da bist du ja!« Ihr Vater schloss sie fest in seine Arme. »Geht es dir gut? Wie war die Reise? Hoffentlich ist dir bei der Überfahrt nicht schlecht geworden?«
»Nein, alles bestens«, beeilte Lucy sich zu beteuern, denn hinter ihrem Vater sah sie die amüsierten Gesichter von Coco und Gurvan, Gaëls Eltern, gefolgt von Tristan und Iven. Ein einziges Mal hatte sie sich nämlich in Gaëls Boot übergeben müssen, und wenn das auch schon Jahre her war, so wurde sie damit immer wieder aufgezogen. Das blieb ihr heute wohl erspart.
»Bienvenue«, begrüßte Coco sie herzlich und küsste sie auf beide Wangen, Gurvan schlug ihr freundschaftlich auf die Schulter.
»À table!« Yvonne stellte energisch den Topf mit der herrlich duftenden godaille auf den Tisch. »Die Suppe ist fertig, und wenn wir auch nur noch fünf Minuten länger warten, zerfällt der Fisch, und Elise reißt mir den Kopf ab.«
Das ließ sich keiner zweimal sagen. Lucy nahm ihren angestammten Platz zwischen Gaël und ihrem Vater ein, der am Kopfende des Tisches thronte, gegenüber von Solenn. Yvonne tat allen Fisch, Gemüse und Brühe auf.
»Was machen die Vorbereitungen für das große Fest?«, fragte Lucy gespannt in die Runde.
»Deine Mutter hat alles im Griff«, erklärte Maël, und seine meerblauen Augen blitzten.
»Wenn du mich fragst«, warf Solenn ein, »macht ihr viel zu viel Tamtam.«
»Der Meinung bin ich nicht«, entgegnete Sylvia mit einem Lächeln. »Schließlich haben wir einiges zu feiern. Du wirst neunzig …«
»Wahrlich kein Grund, so ein Getöse zu machen«, erwiderte Solenn.
»… und vor fünfundfünfzig Jahren hast du gemeinsam mit Tante Lucie die Insel gekauft und die Gärtnerei gegründet.«
»Das hätten wir besser vor fünf Jahren gefeiert«, gab Elise zu bedenken.
»Da war uns nicht zum Feiern«, entgegnete Sylvia ernst.
»Vor fünf Jahren ist Aaltje gestorben«, erklärte Solenn Elise ungerührt, die hin und wieder etwas vergesslich geworden war. »Da hat keiner von uns an so was wie Jahrestage gedacht.«
»Und deshalb holen wir das im Frühjahr nach«, lenkte Sylvia geschickt die Aufmerksamkeit von dem traurigen Ereignis, als Solenns Lebensgefährtin gestorben war, auf die Gegenwart. »Außerdem haben wir im nächsten Frühjahr vor genau fünfundzwanzig Jahren unsere Kosmetikmanufaktur gegründet und das Kamelienhaus eröffnet.«
»Mon Dieu«, warf Elise mit einem Seufzen ein. »Wie die Zeit vergeht!«
»Ja, das stimmt.« Sylvia lächelte ihre Tochter an. »Mir kommt das auch vor wie gestern. Und nun wirst du das alles bald übernehmen.«
»Genau!« Was dies anbelangte, war Solenn mit Sylvia vollkommen einer Meinung. »Zeit, dass die nächste Generation zum Zuge kommt. Nicht wahr, Maël? Auch du hast dich endlich entschlossen, in die zweite Reihe zurückzutreten.«
Lucy sah überrascht zu ihrem Vater. »Stimmt das, papa?«
Maël nickte wortlos.
»Coco und Gurvan übernehmen zum Jahresbeginn die Leitung der Gärtnerei«, erklärte Sylvia an seiner Stelle. »Es ist schon alles geregelt.« Sie nickte den beiden dankbar zu. »Im Grunde schmeißt ihr den Laden schon seit ein paar Jahren. Jetzt wird es offiziell.«
»Willst du denn gar nicht mehr arbeiten?«, fragte Lucy ihren Vater, der noch immer seine Suppe löffelte, als ginge ihn das nichts an.
»Wir wollen beide ein bisschen kürzertreten«, warf Sylvia ein.
»Kürzertreten?« Solenn kniff die Augen zusammen und musterte Sylvia skeptisch. »Ausgerechnet du?«
»Nun, was die Kamelienzucht anbelangt, gibt es für mich weiterhin noch genug zu tun«, ließ sich nun Maël vernehmen, da Sylvia Solenns Bemerkung geflissentlich überhörte. »Wenn alles gut läuft, kommen wir im nächsten Jahr gleich mit drei neuen Varietäten auf den Markt, und ich kann dir sagen, Lucy, die werden Furore machen.« Seine Augen leuchteten, und Lucy wurde es warm ums Herz.
Sie erwiderte sein Lächeln. »Ich kann es kaum erwarten, sie zu sehen.« Wenn es um andere Dinge ging, mochte ihr Vater einsilbig bis schweigsam sein. Nur seine geliebten Kamelien konnten ihn mitunter redselig machen.
»Komm zur Gärtnerei«, schlug er vor. »Dann zeig ich sie dir.«
»Iven hat daran auch seinen Anteil, n’est-ce pas?« Sylvia schenkte dem jüngsten der Gärtner ein Lächeln.
»Das stimmt«, räumte Maël ein und nickte Iven zu, der vor Freude errötete. »Ohne Iven hätten wir vieles nicht erreicht. Ich kann von Glück reden, so ein fantastisches Team zu haben. Aber erzähl mal du, Lucy. Bleibst du jetzt hier und unterstützt deine Mutter im Kamelienhaus?«
»Ja«, antwortete Lucy. »Endlich ist es so weit.«
Schon von klein auf war dies ihr Wunsch gewesen – eines Tages würde sie die Kosmetikfirma ihrer Mutter Fleur de Camélia übernehmen. Im Gegensatz zu vielen ihrer Schulfreundinnen hier in dem Küstenstädtchen und später im Internat in England war ihr immer klar gewesen, was sie einmal machen wollte, wenn sie erwachsen war: genau wie ihre Mutter die Geschicke des Kamelienhauses leiten. Und natürlich hatte sie ihr Studium darauf ausgerichtet. Mit sechzehn hatte sie ein Stipendium für ein Jahr nach Tokio auf eine Elite-Schule geführt, sodass sie außer Französisch, Englisch und Deutsch, Sylvias Muttersprache, auch Japanisch beherrschte. Danach hatte sie in London und auf der International Business School in St. Gallen mit einer Arbeit über das Vorgehen internationaler Konsortien, die sich in der Manier von Heuschreckenschwärmen vielversprechende Kleinbetriebe einverleibten, um danach deren Grundlage zu zerstören, ihren Master abgelegt und alles mit Bravour bestanden. Schon während des Studiums und gleich danach hatte sie erste berufliche Erfahrungen gesammelt und die letzten sechs Monate bei einem großen Kosmetikunternehmen in Paris gearbeitet. Und nun würde sie, so wie es auch ihre Mutter wünschte, die erfolgreiche Kosmetikmanufaktur Fleur de Camélia übernehmen und gründlich umstrukturieren. In ihren gemeinsamen Gesprächen im Sommer mit Muriel, die das Labor der Manufaktur leitete, war klar geworden, dass es höchste Zeit wurde, die Firma ein Vierteljahrhundert nach der Gründung an die neuen Zeiten anzupassen.
»Und wann genau übernimmst du die ganze Leitung?«, wollte Coco wissen.
»Darüber sprechen wir in aller Ruhe«, warf Sylvia rasch ein. »Lucy braucht natürlich eine gewisse Zeit, um sich einzuarbeiten.«
»Klar«, beeilte Lucy sich zu sagen. Sie wusste, dass es ihrer Mutter nicht leichtfallen würde, sich aus dem Geschäft zurückzuziehen. Und damit hatte es auch gar keine Eile. Selbst wenn Sylvia sie fast dazu gedrängt hatte, bald zurückzukommen – wer konnte sich ihre fabelhafte Mutter im Ruhestand vorstellen?
Lucy und ihre Eltern verabschiedeten sich bald und machten sich auf den Weg durch die parkähnliche Anlage des Jardin aux Camélias mit seinen uralten Bäumen zum Ti Bag, das sich ganz am unteren Ende des durch die hohe Mauer geschützten Anwesens befand. Ti Bag bedeutete »Bootshaus«, und da es deutlich tiefer lag als das Herrenhaus, hatte die Fischerfamilie, der die Insel einst gehört hatte, das Gebäude auch so genutzt und darin ihre Kutter repariert. Maël hatte es vor vielen Jahren zu einem großzügigen und gemütlichen Wohnhaus umgebaut, in dem Lucy ihre Kindheit verbracht hatte. Gemeinsam mit Gaël war sie Tag für Tag mit dem Boot ans Festland gebracht worden, um dort zur Schule zu gehen, bis sie im Alter von vierzehn Jahren auf das Internat in England gewechselt war, das auch ihr Halbbruder Noah besucht hatte. Sie hatte sich dort genauso wohlgefühlt wie er, vor allem, weil auch Lili, ihre beste Freundin, dort die letzten beiden Schuljahre hatte verbringen können. Dennoch hatte Lucy während ihrer Internatszeit und auch im Studium jede Gelegenheit genutzt, um auf die Insel zurückzukehren.
Im Schein des Mondes schimmerten die Blüten der Kamelienbäume wie Seide. Ein Nachtvogel schrie, ansonsten war nur das Knirschen des Kieses unter ihren Füßen zu hören, und wenn man ganz genau hinhörte, das Rauschen der Brandung jenseits der Mauer. Die Luft war erfüllt von dem zarten moschusartigen Duft der japanischen Kamelie Shôwa-no-sakae, die gerade in voller Blüte stand, und den würzigen Aromen der See. Es war vorgekommen, dass Lucy mitten in Paris von solchen Dingen geträumt hatte, und wenn sie dann erwacht war, hatte sie sich erst wieder zurechtfinden müssen. Seltsam, dachte sie. Wenn sie in der Stadt war, sehnte sie sich nach der Kamelieninsel. Hielt sie sich allerdings lange genug in der Bretagne auf, hatte sie irgendwann das Gefühl, dass die Winde sie riefen und von unbekannten Welten erzählten. Würde sich das irgendwann legen? Bestimmt.
Sie gingen schweigend, Maël vorneweg mit dem Gepäck seiner Tochter, Sylvia an ihrer Seite. Lucy betrachtete den Rücken ihres Vaters, die leicht nach vorne gekrümmten Schultern vom vielen Sitzen vor dem Mikroskop und am Computer und von der gebeugten Haltung, mit der er all die Jahre Setzlinge und Jungpflanzen begutachtet hatte. Er war Gärtner mit Leib und Seele, außerdem Wissenschaftler und ein Züchter von Weltrang. Maël Riwall machte davon kein Aufhebens, er war »ein stilles, aber tiefes Wasser«, wie Solenn es einmal ausgedrückt hatte, und das traf es genau. Lucys Mutter dagegen war ganz anders. Sylvia steckte voller Unternehmungslust und besaß die Gabe, Menschen zusammenzubringen, um gemeinsam mit ihnen etwas Wunderbares und Neues zu erschaffen. So wie sie nach der großen Sturmflut nicht nur die verwüstete Insel wirtschaftlich wieder auf die Beine gebracht, sondern auch noch auf dem Festland das Kamelienhaus gegründet hatte. Was ihre Mutter in die Hand nahm, gelang. Dass sie im April vierundsechzig Jahre alt wurde, merkte man ihr kein bisschen an.
Sie erreichten das Ende des Parks. Durch das dichte Laub der immergrünen Kamelienbäume sah Lucy das schiefergedeckte Dach des Ti Bag wie altes Silber glänzen. Hier war das Geräusch der an das felsige Ufer schlagenden Wellen deutlicher zu hören, denn direkt hinter der Mauer lag ar meurvor atlantel, wie die Bretonen den Atlantik nannten. Lucy sog tief den Duft ein, den die letzten Blüten der Kletterrose Ghislaine de Féligonde an der Fassade des Ti Bag verströmten. Dann folgte sie ihren Eltern ins Haus.
»Lust auf einen lambig?«, fragte Maël, während Sylvia es sich bereits in ihrem Schaukelstuhl gemütlich machte. Er nahm eine Flasche ohne Etikett aus dem Schrank und hielt sie ins Licht des flackernden Kaminfeuers. Die bretonische Variante des Calvados schimmerte wie flüssiger Bernstein. »Schau mal, was Brioc mir neulich gebracht hat. Den hat er zwanzig Jahre lang im Eichenfass reifen lassen.«
»Zwanzig Jahre?« Lucy war beeindruckt. »Klar möchte ich den probieren. Bist du auch dabei, maman?«
Lucy ließ sich wohlig in dem Sessel neben ihrer Mutter nieder und reckte ihre Füße in Richtung des Feuers, das im Kamin prasselte. »Ach, es ist einfach herrlich, wieder zu Hause zu sein.«
»Ja, nicht wahr?« Maël holte drei Gläser aus einer Vitrine und begann, ihnen einzuschenken.
»Wie war dein Abschied in Paris?«, erkundigte sich Sylvia.
»Du meinst von der Konkurrenz?« Lucy lachte. »Sehr nett. Man hat mir eine Stelle angeboten.« Als sie bemerkte, wie ihre Mutter erschrak, sagte sie rasch: »Natürlich habe ich abgelehnt. Und sie haben mir ein ausgezeichnetes Zeugnis ausgestellt. Möchtest du es sehen?«
Sylvia lachte erleichtert auf. »Willst du dich etwa bei mir bewerben?«, fragte sie amüsiert zurück. »Das ist nicht nötig, wir stellen dich auch so ein.«
Sie nahmen die Gläser entgegen, die ihr Vater ihnen reichte, und stießen miteinander an. »Hmm«, machte Lucy, nachdem sie probiert hatte. Der lambig schmeckte köstlich, frisch und gleichzeitig mild, irgendwie nach Apfelmus und Karamell. Und nach zu Hause. »Erzähl mir von dem Fest«, bat sie ihre Mutter. »Wie kann ich dir bei der Organisation helfen?«
»Na, na«, warf Maël ein. »Du bist ja gerade angekommen! Das Fest ist erst im Frühjahr.«
»So viel Zeit ist gar nicht mehr«, wandte Sylvia ein. »Viele Dinge müssen frühzeitig erledigt werden. Die Musikgruppen, die auftreten werden, habe ich zum Beispiel schon vor Monaten gebucht. Übrigens konnte ich eine fabelhafte Cellistin aus dem Tessin überreden, bei uns mit einem ganz besonderen Instrument ein Konzert zu geben. Es heißt Campanula.« Sie nahm einen Schnellhefter zur Hand, der neben ihr auf einem Tischchen lag, und zog einen Prospekt daraus hervor. »Hier, sieh mal. Sie heißt Elisa Maria Eschbach.« Lucy nahm den Prospekt und studierte ihn interessiert. »Außerdem werden noch Musiker und Musikerinnen hier aus der Gegend spielen«, fuhr Sylvia fort. Ihre Wangen hatten einen leicht rosafarbenen Schimmer angenommen, wie immer, wenn sie begeistert von etwas war. »Und da du fragst – ja, ich habe sogar schon eine Liste gemacht. Meinst du, du könntest dich darum kümmern?« Sie nahm ein paar zusammengetackerte Blätter aus dem Hefter. »Hier hab ich alles aufgeschrieben«, sagte sie und reichte sie ihrer Tochter.
»Jetzt überroll Lucy doch nicht gleich am ersten Abend mit Aufgaben«, mahnte Maël liebevoll.
»Du musst das nicht heute durchsehen«, erklärte Sylvia schnell. »Viel wichtiger ist ja auch unsere Teilhaberversammlung. Ich habe sie auf den kommenden Donnerstag gelegt.«
»Das heißt, Veronika kommt zu uns? Wie schön!« Lucy mochte die beste Freundin ihrer Mutter, die heute in Le Mans lebte. Die beiden Frauen standen sich seit ihrer Jugend in München nah. Außerdem war Veronika Lilis Mutter, die für Lucy fast wie eine Schwester war.
»Und Chloé natürlich.« Sylvia hob vielsagend die Brauen. Keiner auf der Insel war besonders begeistert, wenn Noahs Mutter sich ansagte, die durch eine Investition ihres Vaters minimal an den Erträgen der Kosmetikmanufaktur beteiligt war. Lucy grinste. »Außerdem möchte ich Arlette einladen. Unsere Bilanzen können sich sehen lassen, und es ist kein Fehler, wenn die hiesige Bankdirektorin das weiß. Was meinst du?«
»Gute Idee.« Lucy schlug die Beine unter. »Es ist sowieso immer viel lustiger, wenn Arlette dabei ist. Und sie bremst Chloé so schön aus, wenn die wieder mal komische Vorschläge hat, wie wir alles noch viel besser machen könnten.«
Sylvia lächelte. »Ich hab die Bilanzen übrigens hier, falls du einen Blick …«
»Sylvie«, mahnte Maël liebevoll. »Macht das doch morgen.«
»Du hast recht.« Sylvia legte ihren Hefter beiseite. »Morgen ist auch noch ein Tag.«
»Wegen der Dinge, die ich für das Fest erledigen werde – wie machen wir das mit den Überfahrten? Willst du mir dafür womöglich deine Espérance anvertrauen?«
»Die Espérance? Nein, ich …«, gab Sylvia überrascht zurück und brach dann ab.
»Deine Mutter hat Angst, du machst Kleinholz aus ihrem geliebten Boot«, scherzte Maël, der sich neben seine Frau gesetzt hatte und nun nach ihrer Hand griff.
»Du übertreibst«, entgegnete Sylvia gespielt empört. »Lucy weiß genau, dass das nicht stimmt. Allerdings brauche ich mein Boot ja selbst. Jetzt im Ernst, Lucy. Was ist dir lieber? Sollen wir ein Boot für dich kaufen oder möchtest du, dass sich Ronan um deine Fahrten kümmert? Er hat mir angeboten, einen Fahrdienst für dich bereitzustellen.«
»Quasi dein persönlicher Chauffeur. Nur eben in einem Boot«, erklärte Maël.
»Genau.« Sylvia nickte. »Dein persönlicher Fährmann. Ist das nicht eine gute Idee? Du musst ihn jeweils nur anrufen und ihn für eine bestimmte Zeit buchen.«
»Wow«, machte Lucy beeindruckt.
»Ja, nicht wahr«, warf ihr Vater ein. »Du bist hier also keineswegs von der Außenwelt abgeschnitten. Dank deiner Mutter funktioniert der Fährbetrieb sowieso ausgezeichnet.«
»Das haben wir Ronan zu verdanken«, wiegelte Sylvia bescheiden ab. »Und es stimmt. Seit er das Wassertaxi-Unternehmen zu seiner Haupteinnahmequelle gemacht hat, kommen wieder mehr Touristen auf die Insel.«
»Aber … sagt mal, ist das nicht ein bisschen peinlich?«, wandte Lucy ein. »Ich meine, jeder hier fährt mit seinem eigenen Boot und braucht niemanden, der ihn chauffiert.«
Sylvia und Maël wechselten einen Blick.
»Wenn du wirklich möchtest, finden wir bestimmt ein schönes Boot für dich«, sagte Maël schließlich. »Es ist nur so …« Er zögerte.
»Ihr traut mir das nicht zu, oder?« Lucy fühlte, wie ihre Wangen vor Verlegenheit rot wurden.
»Ehrlich gesagt machen wir uns ein bisschen Sorgen«, räumte Maël ein.
»Wir können ja ein paarmal miteinander üben«, schlug Sylvia liebevoll vor. »Oder du nimmst noch mal richtig Unterricht bei Ronan oder einem seiner Brüder. Vielleicht hat ja auch Noah Zeit …«
»Auf alle Fälle solltest du den Bootsführerschein ablegen, finde ich«, ergänzte ihr Vater ernst. »Mit ar meurvor atlantel ist nicht zu spaßen. Du wärst nicht die Erste, die in die nördliche Strömung gerät und auf Nimmerwiedersehen verschwindet. Selbst Noah ist das fast mal passiert.«
»Nun gut, damals war er noch ein Kind«, beschwichtigte Sylvia ihn. »Dein Vater hat trotzdem recht«, sagte sie zu Lucy. »Wir müssen das allerdings nicht heute Abend entscheiden. Zur Arbeit aufs Festland werden wir zunächst ohnehin zusammen fahren, oder?«
»Und wie gesagt kannst du jederzeit Ronans Wassertaxi-Service nutzen«, warf Maël eilig ein. »Damit du unabhängig bist. Schließlich wird Lucy ja auch mal ohne dich ausgehen wollen, Sylvie.«
»Ihr seid so lieb.« Gerührt hatte Lucy den Wortwechsel ihrer Eltern angehört. Wie sehr sie sich bemühten, ihr das Leben hier am Ende der Welt so angenehm wie möglich zu gestalten! Wie viele Gedanken sie sich um sie machten. »Maman hat recht«, sagte sie schließlich. »Zunächst wohne ich hier, und wir pendeln gemeinsam zum Kamelienhaus. Alles andere wird sich ergeben.«
Ihre Mutter hatte sie ins Dachgeschoss begleitet, sich davon überzeugt, dass auch wirklich alles vorhanden war, was sie brauchte, sie noch einmal umarmt und ihr versichert, wie froh sie waren, sie wieder bei sich zu haben. Und dann war Lucy allein in ihrem ehemaligen Kinderreich.
Sie ließ sich auf ihr Bett fallen, ihr Blick wanderte durch das Zimmer. Das einzige Fenster am Giebel war groß und oval, über die Wipfel der Kamelienbäume hinweg sah man von hier den Atlantik und in der Ferne die Küste. Unter der Dachschräge hatte ihr Vater Schränke und Regale eingepasst für ihre Bücher und all die Schätze ihrer Kindheit: den ersten Milchzahn, in einer Petrischale aus dem Labor ihres Vaters. Den prächtigen Seestern, Pierricks Geschenk zu ihrem zehnten Geburtstag. Die Trophäe in Form eines Buches, die man ihr als die beste Absolventin der École Élémentaire verliehen hatte. Die große Muschel aus rosafarbenem Perlmutt, die rauschte, wenn man sie ans Ohr hielt – Noah hatte sie ihr mitgebracht, als sie mit zwölf noch spät an den Masern erkrankt war. Daneben verstaubte die getrocknete dunkelrote Rose aus dem Strauß eines jugendlichen Verehrers, mit dem sie einen Tanzkurs gemacht hatte – es wurde wirklich Zeit, sie endlich wegzuwerfen. Und schließlich waren da noch die gerahmten Fotografien aus ihrer Zeit im Internat – die meisten zeigten sie gemeinsam mit Lili – und natürlich die von der Abschlussfeier der Universität, die sie in toque et toge zeigten, dem traditionellen Talar mit dem Barett auf dem Kopf.
Sie lauschte. Avel, der allgegenwärtige Wind, pfiff ums Haus. Von unten hörte sie, wie ihr Vater die Fensterläden schloss, bestimmt hatte er auch das Funkenschutzgitter vor den Kamin gestellt, denn man wusste nie, ob nicht eine unberechenbare Böe in den Kamin fahren und die Glut ins Zimmer wehen würde. Das Leben auf der Insel war rau, aber einzigartig.
Lucy stand auf und ging zum Fenster. Wolkenberge trieben über den Himmel, verdeckten den Mond und ließen ihn wieder frei, damit er auf den geriffelten Spiegel der See zitternde und sich stets verändernde Linien aus Licht werfen und den Garten mit seinem Silberschein verzaubern konnte. In solchen Momenten verblasste das leuchtende Perlenband der Küste, bis die graphitfarbenen Wolken den Mond endgültig verhüllten.
Endlich riss Lucy sich von dem Naturschauspiel los und zog sich aus, ging hinüber in das Badezimmer, das sie sich mit Noah teilte, wenn er denn da war, duschte lange und putzte sich die Zähne. Dann schlüpfte sie unter die duftende Decke, gewiss hatte Yvonne sie in einer sonnigen halben Stunde im Freien trocknen lassen, sodass sie die gesamten Aromen des Kameliengartens in sich trug. Erst jetzt merkte Lucy, wie müde sie war. Und doch fand sie keine Ruhe.
Nun war es also so weit. So viele Jahre hatte sie sich vorgestellt, wie es sein würde, hierher zurückzukehren und in die Fußstapfen ihrer Mutter zu treten. Sie hatte Sylvia immer um ihre Gelassenheit bewundert, um die Fähigkeit, stets die richtigen Entscheidungen zu treffen. Ihre Mutter war klug und großzügig, jeder hier wusste, dass alles, was sie in die Hand nahm, ein gutes Ende fand. Deshalb wandten sich auch die Einwohner des Städtchens häufig an sie und nicht an den Bürgermeister, wenn sie ein Problem hatten. »Sylvia kann aus Stroh Gold spinnen«, hatte Yvonne einmal gesagt, als Lucy noch sehr klein gewesen war, und das hatte sie tief beeindruckt.
Sie drehte sich auf die andere Seite und unweigerlich wanderten ihre Gedanken zu Frederick, mit dem sie fünf Jahre lang zusammen gewesen war. Frederick, von dem sie überzeugt gewesen war, dass sie ihn eines Tages heiraten würde und mit dem sie gehofft hatte, ebenso glücklich zu werden wie Sylvia mit Maël. Doch dann hatte er ihr mitten in ihrem Freudentaumel über ihr hervorragendes Ergebnis an der Business-School in St. Gallen erklärt, dass es besser sei, sich zu trennen. Er, der eine internationale Karriere als Wirtschaftsjurist anstrebte, könne es sich nicht vorstellen, sein Leben in der Bretagne zu verbringen, und eine Fernbeziehung sei nichts für ihn, die hätten sie nun schon viel zu lange geführt. Das war ein Schock für Lucy gewesen. Schließlich hatte sie ihm von Anfang an von ihren Plänen erzählt. Jeder, der sie kannte, wusste, dass sie einmal auf die Kamelieninsel zurückkehren würde. Und tatsächlich fand sie wenig später heraus, dass Frederick eine andere Frau kennengelernt hatte, eine Fremdsprachensekretärin, die nur zu gerne ihren Beruf aufgeben wollte, um ihm überallhin zu folgen, und die er wenige Monate später auch geheiratet hatte, weil sie bereits von ihm schwanger geworden war. Erst vor einer Woche hatte er Lucy in der Annahme, sie hätten sich als »Freunde« getrennt, ein Foto seines neugeborenen Sohns geschickt.
Der Wind heulte um das Haus, und Lucy stand auf, um ein paar Schlucke Wasser zu trinken. Würde sie jemals einen Mann finden, der bereit war, mit ihr hier zu leben? Jemanden, der sich auch über ihre beruflichen Erfolge freuen würde, so wie ihr Vater stolz auf ihre Mutter war und nicht von ihr forderte, ihre Ziele den seinen unterzuordnen?
Es war nicht das erste Mal, dass sie trotz großer Müdigkeit nicht schlafen konnte und sich fragte, ob es die richtige Entscheidung war, sich für immer auf der Kamelieninsel niederzulassen. Diese Zweifel hatte Frederick in ihr Herz gesät. Bei hellem Tageslicht verstummten sie und schienen ihr absurd. In den dunklen Stunden der Nacht allerdings wurden sie wieder laut.
Lucy wälzte sich in ihrem Bett hin und her und fand keinen Schlaf. Avel heulte ums Haus, zerraufte die Kronen der Bäume und riss ihnen das trockene Laub und welke Blüten von den Zweigen, wehte seine Beute über die Mauer hinab ins Meer – Lucy sah das alles im Halbschlaf, als schwebte sie mit ihm dahin. Irgendwann legte sich der Wind, und sie musste für kurze Zeit weggedämmert sein, denn als sie aufschreckte, zeigte ihr Wecker 05:10 an.
Sie stand auf und trank Wasser, doch als sie sich erneut hinlegte, war an Schlaf erst recht nicht mehr zu denken. Eine Weile versuchte sie es noch mit entspannenden Atemübungen, die ihr jemand empfohlen hatte, dann kapitulierte sie. Im Kleiderschrank suchte sie ihre wärmsten Sachen heraus, zog sich an, schnappte sich ihre Taschenlampe. Leise schlich sie die Stufen hinunter, um ihre Eltern nicht zu wecken, öffnete die unscheinbare Tür gleich hinter der Treppe und schlüpfte hinaus.
Nach wenigen Schritten gelangte sie zu dem schlichten Eisentor hinter dem Haus, öffnete es leise und war froh, dass es nicht quietschte. Dann schlug sie den Pfad ein, der an der Steilküste entlang in Richtung Westen führte, und erreichte eine Viertelstunde später jene Klippen, auf denen sich zwischen zwei markanten Felsen ein windgeschütztes Plätzchen befand. Hier würde sie den Morgen heraufziehen sehen, schon war die Nacht nicht mehr ganz so tiefschwarz wie noch vor einer Stunde, und wenn sie Glück hatte, würde sie mit einem Sonnenaufgang belohnt werden.
Sie setzte sich auf den steinernen Thron, wie sie seit ihrer Kindheit den glatten, abgerundeten Felsen nannte, der auf drei Seiten von aufragenden Menhiren umrahmt war und den Blick über den Atlantik freiließ. Noah hatte ihr einst diesen Platz gezeigt, seither war er einer ihrer Lieblingsorte auf der Insel. Wie eine Königin hatte sie sich hier immer gefühlt, die weite Welt zu ihren Füßen. Auch an diesem Tag schienen ihr die sie umgebenden Felsen Kraft zu schenken und Ruhe. Und wie früher, wenn sie Kummer gehabt hatte, suchte sie sich einen flachen Stein. Sie ritzte mit einem anderen ein F auf seine Oberfläche und hielt ihn eine Weile fest in ihrer Hand. Es wurde Zeit, sich von Frederick und dem Schmerz, den er ihr bereitet hatte, zu lösen. Sie spürte die Härte des Steins in ihrer Hand und ließ ihren Blick über den Atlantik gleiten, der mit seinem beständigen Auf und Ab der Wellen wie ein lebendiges, atmendes Wesen unter ihr lag und sich in weiter Ferne irgendwo im Dunkelviolett des Horizonts verlor. Tatsächlich tat der Gedanke an Frederick, seine Frau und das Baby schon gar nicht mehr so weh. Sie atmete ein paarmal tief durch. Im werdenden Licht schimmerte das Meer nun wie Kupfer und begann, mehr und mehr zu leuchten. Soll er ruhig glücklich sein, dachte sie. Auch sie würde irgendwann die große Liebe finden, das fühlte sie in diesem Augenblick ganz deutlich. Einen Mann, der sie zum Lachen bringen würde und zum Dahinschmelzen, jemanden, der sich von ihren Qualifikationen und Fähigkeiten nicht eingeschüchtert fühlte, sondern ihr auf Augenhöhe begegnen und sie mit seiner Liebe einhüllen und beglücken würde. Und auch wenn ihre Freundin Lili mitunter behauptete, dass es solche Männer nicht mehr gebe und dass das ganze Gerede von der großen Liebe nur Unsinn sei, so war Lucy vom Gegenteil überzeugt. Auch Lili würde das eines Tages einsehen.
Inzwischen hatte der Stein ihre Körperwärme angenommen, sie öffnete ihre Hand und betrachtete ihn genau. »Ich lasse dich jetzt los«, sagte sie leise. Dann holte sie weit aus und warf den Stein hinaus aufs Meer. Die Klippe war viel zu hoch, als dass sie im Brausen der an Land schlagenden Wellen seinen Aufprall hätte hören können. Doch das war auch nicht nötig. Lucy fühlte sich, als hätte sie nicht nur einen kleinen flachen Stein losgelassen, sondern ein mittelgroßes Gebirge, das ihr Herz so lange belastet hatte.
»Werde glücklich!«, rief sie gegen den Wind. Und dabei meinte sie vor allem sich selbst.
Nach dem gemeinsamen Frühstück setzten Lucy und Sylvia mit der Espérance zum Festland über. Ihr Vater hatte den Tisch liebevoll gedeckt und sogar daran gedacht, die crème caramel zu besorgen, die Lucy so liebte.
»Du siehst irgendwie erleichtert aus«, hatte Sylvia zu ihr gesagt und sie aufmerksam gemustert. »Aber du hast dunkle Ringe unter den Augen. Hast du denn nicht gut geschlafen?«
Lucy hatte überrascht getan und weder etwas von ihrer Schlaflosigkeit noch von ihrem kleinen Abschiedsritual bei ihrem Lieblingsplatz erzählt. Ihre Eltern würden sich Sorgen um sie machen, wenn sie wüssten, wie lange sie Frederick nachgetrauert hatte. Lucy hatte von ihrem Kummer nur Lili erzählt, ihren Eltern hatte sie gesagt, dass sie es gewesen sei, die die Beziehung beendet hatte, warum, das war ihr selbst nicht ganz klar. Dass man ihr nun die Erleichterung ansah, machte sie froh. Und es stimmte. Ihr war tatsächlich, als hätte sie nicht nur einen Stein ins Meer geworfen, sondern diese ganze unselige Geschichte.
Das Meer war ruhig an diesem Morgen, doch Lucy wusste, dass ihre Mutter dennoch hoch konzentriert war, als sie in ihrem Ölzeug am Steuer ihres Bootes stand, mit jenem besonderen, hellwachen Blick, den sie immer hatte, wenn sie auf dem Wasser unterwegs war. Lucy war sich darüber im Klaren, dass man bei der Überfahrt zum Festland auf viele Dinge achten musste, auf die Dünung, die jeden Tag wechselte, auf die Unterwasserströmungen, deren Kraft man der Wasseroberfläche kaum ansah, und nicht zuletzt auf das, was Pierrick die aktuelle »Laune« von armeurvor atlantel genannt hatte. Es ist wie ein Dialog zwischen dem Meer und dir, hatte er zu ihr gesagt, als er ihr bereits vor ihrer Abreise ins Internat versucht hatte, das Navigieren beizubringen. Und wenn du das Meer verstehst, dann lässt es dich auf ihm reiten wie ein Pferd seinen Jockey. Ach, Pierrick, dachte Lucy wehmütig. Wäre sie nicht schon mit vierzehn weggegangen, er hätte sicher auch ihr alles beigebracht. Soviel sie draußen in der Welt gelernt hatte – sie hatte eine Menge versäumt in ihrer Abwesenheit.
Lucy wandte ihren Blick in Richtung Festland, wo im morgendlichen Gegenlicht die Silhouette der ehemaligen Konservenfabrik immer deutlicher zu erkennen war. Denn sie steuerten nicht den städtischen Hafen an, sondern hielten direkt auf den firmeneigenen Werksanleger zu, dessen Baugenehmigung Sylvia vor einigen Jahren endlich bewilligt bekommen hatte. Die natürlichen Gegebenheiten waren für eine Landestelle wie geschaffen, hier hatten auch in früheren Zeiten die Fischkutter ihren Fang gelöscht. Als Lucys Mutter das Gelände übernommen hatte, war die ursprüngliche Konstruktion jedoch weitgehend zerstört gewesen, und es hatte eine beträchtliche Investition gekostet, sie wieder instand zu setzen. Die Mühe hatte sich gelohnt. Das Kamelienhaus samt seinem neuen Werkshafen mit dem geschmackvoll gestalteten Verladeplatz hatte sogar nach seiner Fertigstellung einen Architekturpreis für die vorbildliche Rekonstruktion dieses historischen Industriedenkmals erhalten. Mit einer Leichtigkeit, die Lucy allen Respekt abrang, manövrierte Sylvia nun die Espérance zu ihrem Anlegeplatz.
»Jetzt ist es also so weit«, sagte Sylvia fast schon feierlich, während sie den Vorplatz überquerten. »Du weißt gar nicht, wie sehr ich mich freue.«
Auf einmal fühlte Lucy ein unbestimmtes Flattern in der Magengegend. War sie etwa aufgeregt? Ja, tatsächlich, sie musste selbst über sich grinsen. Und doch, war das nicht ganz natürlich? Auch wenn sie das Kamelienhaus und alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter darin längst kannte und schon in weit größeren Unternehmen gearbeitet hatte – noch nie zuvor war sie als angehende Chefin angetreten, und nun fühlte sie die Verantwortung, die eine solche Position mit sich brachte.
»Fünf Autos«, sagte ihre Mutter, und Lucy folgte ihrem Blick in Richtung des Besucherparkplatzes. »Nicht schlecht für die Jahreszeit. Wollen wir raten, in welchem der Läden diese Kunden gerade sind?«
Das war ein altes Spiel zwischen ihnen, schon als Lucy noch ein kleines Mädchen gewesen war, hatte ihre Mutter sie das vor dem Betreten des Kamelienhauses gefragt.
»Einer ist bei Fleurette und lässt sich die Haare machen«, antwortete Lucy wie aus der Pistole geschossen. »Nummer zwei lässt sich bei Michelle verschönern. Zwei oder drei Leute sind bestimmt getrennt gekommen und frühstücken zusammen im Café. Und die Menschen aus Nummer fünf …«
»… kaufen hoffentlich kräftig im Inselshop ein«, vermutete Sylvia.
In der Tat hatte sich das Kamelienhaus zu einem Anziehungspunkt für Touristen entwickelt, seit in einigen Bretagne-Reiseführern stand, dass man hier im Erdgeschoss nicht nur einen Blick auf die »gläserne Manufaktur« der beliebten Kosmetikmarke Fleur de Camélia werfen und in dem gemütlichen Café mit Terrasse am Meer Kaffee und Kuchen genießen konnte. Nein, im ersten Obergeschoss befand sich außerdem eine wahre Beauty-Oase. In ihrem Schönheitsstudio behandelten Michelle und Léa die Kundinnen und Kunden mit den hauseigenen Produkten, und nebenan kümmerte sich Fleurette in ihrem Frisiersalon um die Haare. Außerdem gab es neben dem Shop mit verschiedenen Produkten aus der Gegend natürlich einen Blumenladen, in dem die Besucher neben frischen Schnittblumen auch seltene Kameliensorten als Topfware kaufen konnten. Und genau hier entdeckte Lucy durch die Glasfront ein Touristenpaar, das sich über eine jener Züchtungen beugte, die Maël im vergangenen Jahr auf den Markt gebracht hatte. Alis erklärte ihnen offenbar gerade, welche Bedingungen die Pflanze brauchte, während ihre Zwillingsschwester Kaoura für eine weitere Kundin einen wunderschönen Strauß aus Herbstastern in verschiedenen Rottönen band. Oder war es umgekehrt? Lucy konnte die beiden Töchter von Yvonne und Tristan nur aus der Nähe auseinanderhalten, so ähnlich sahen sie sich.
»Tiens!«, sagte Sylvia verwundert. »Heute Morgen sind sie alle beide hier?«
»Stimmt«, gab Lucy zurück. »Normalerweise wechseln sie sich ab, oder?«
Sylvia nickte und winkte den beiden durch die Glasscheibe zu. »Sie werden schon einen Grund haben«, sagte sie und wandte sich dem Aufzug zu, um ins Dachgeschoss zu gelangen, wo sich ihr Büro befand.
Oben trafen sie Juna am Kopierer im Korridor an, die gerade ein paar Dokumente vervielfältigte. Sylvias Assistentin strahlte über das ganze Gesicht, als sie Sylvia und Lucy bemerkte. »Guten Morgen, ihr beiden!«, rief sie. »So schön, dass du endlich da bist, Lucy! Wie war die Reise?« Schwungvoll öffnete sie die Tür zu Sylvias Büro.
Gerührt sah Lucy, dass der alte Behelfsschreibtisch, den sie bislang in den Ferien genutzt hatte, einem neuen Modell gewichen war, der dem ihrer Mutter glich.
»Ich hab mir gedacht, dass es schön ist, wenn wir uns gegenübersitzen«, erklärte Sylvia. »So können wir uns am besten austauschen. Was meinst du?«
»Das ist perfekt!« Lucy trat näher. »Der neue Computer ist auch schon da?«
»Natürlich!« Sylvia lächelte zufrieden. »Es soll alles so sein, wie du es brauchst.«
»Sag einfach Bescheid, wenn noch etwas fehlt«, ergänzte Juna. »Ich besorge es dir sofort.« Ihr hübsches Gesicht mit den Sommersprossen leuchtete vor Eifer. »Pas de problème. Und jetzt lass ich euch allein.«
»Vielen Dank, Juna!«
Kurz schien die junge Frau zu zögern, so als wollte sie noch etwas sagen, dann schloss sie mit einem verschmitzten Lächeln die Tür hinter sich.
»Dies ist mit Abstand der schönste Arbeitsplatz, den ich je hatte«, erklärte Lucy und ging zur Fenstergaube. Von hier oben hatte man einen fantastischen Blick über den Atlantik bis zur Kamelieninsel. Die Sonne schickte ihre ersten Strahlen durch die Wolkendecke, wie goldene Finger trafen sie auf das Herrenhaus.
»Da bin ich froh! Sieh mal, was ich für dich vorbereitet habe.« Sylvia öffnete ihre Schreibtischschublade. Sie entnahm ihr einen hübschen kleinen Behälter aus Plexiglas und reichte ihn ihrer Tochter. Lucy öffnete ihn.
»Visitenkarten!« Überrascht zog sie eine heraus. Ihr Name war in Gold auf ein edles Papier gedruckt, die Stärke war genau richtig. Und darunter stand: Junior Executive Manager. In der rechten oberen Ecke befand sich die stilisierte Kamelienblüte, das Logo des Betriebs.
»Gefallen sie dir?«
Lucy fühlte Sylvias Blick auf sich gerichtet und schluckte kurz. Eigentlich hatte sie als einen der ersten Vorschläge einbringen wollen, nicht nur das Logo, sondern den gesamten Werbeauftritt der Firma zu überarbeiten, er erschien ihr ein wenig in die Jahre gekommen. Doch wie es aussah, hatte ihre Mutter bereits eine größere Menge Karten drucken lassen. »Sie sind schön«, sagte sie und schenkte ihrer Mutter ein Lächeln.
»Danke!«
Sie würde das Thema in den nächsten Wochen ansprechen und ermahnte sich, geduldig zu sein und alles langsam anzugehen. Ihre Neuerungen sollten unmerklich in die Abläufe einfließen, das hatte sie bei einem Seminar zum Thema Generationenwechsel in Firmen gelernt. Fehlte nur noch, dass sie das auch wirklich verinnerlichte. »Was meinst du«, wechselte sie das Thema. »Wollen wir erst einen Rundgang durch den Betrieb machen, damit ich alle begrüßen kann?«
»Gerade wollte ich dasselbe vorschlagen«, antwortete ihre Mutter strahlend. »Beginnen wir bei Muriel.«
Lucy stimmte ihr zu. Muriel war die Laborleiterin, und die Produkte von Fleur de Camélia wären ohne ihre großartigen Rezepturen vermutlich niemals so erfolgreich geworden. Sie hatte nur eine Schwäche – sie fühlte sich leicht übergangen und konnte dann sehr empfindlich reagieren.
»Lass uns gleich zu ihr gehen.«
Sie trafen Muriel im Bereich der »gläsernen Produktion« an, der für die Besucherinnen und Besucher durch eine Fensterwand einsichtig war. Hier wurden unter sterilen Bedingungen einige der Hautcremes abgefüllt und verschlossen. Die anderen, komplizierteren Produktionsschritte fanden im Labor dahinter statt. Als Muriel sie sah, winkte sie ihnen freudig und machte Zeichen, dass sie zu ihnen herauskommen würde.
»Degemer mat«, hieß sie Lucy herzlich auf Bretonisch willkommen und schloss sie in die Arme. »Wollen wir rüber zu René gehen und einen Kaffee trinken?«
»Gerne«, antwortete Sylvia. »Aber nur kurz. Oben wartet eine Menge Arbeit auf uns.«
Um Muriels Mund lag ein feines Lächeln, als sie den Flur überquerten und die Glastür zum Café gegenüber öffneten. Offenbar freute sich die Laborleiterin aufrichtig, dass Lucy nun bei ihnen war. Gerade wollte Lucy Muriel fragen, wie es ihrer Tochter Anouk ging, die in Paris Chemie studierte und früher oder später ebenfalls bei ihnen einsteigen wollte, doch auf einmal hielt sie überrascht inne. Das Café hing voller Girlanden und alle Mitarbeiterinnen waren darin versammelt. Als sie eintrat, brach ein ungeheurer Jubel los. »Bienvenue!«, riefen sie und drängten sich um Lucy, um sie zu umarmen: vorneweg Fleurette, gefolgt von Suzanne, die den Shop führte, danach ließ es sich René nicht nehmen, Lucy in seine kunstvoll tätowierten Arme zu schließen und ihr bisous auf die Wangen zu drücken. Am wildesten kreischten allerdings les jeunes, wie Fleurette die jüngere Generation stets nannte: ihre Tochter Armelle, die wie ihre Mutter das Friseurhandwerk erlernt hatte, Muriels Tochter Léa, die bei ihrer Tante Michelle im Kosmetikstudio mitarbeitete, und Alis und Kaoura aus dem Blumengeschäft. Jetzt wurde Lucy klar, warum an diesem Morgen alle beide gekommen waren, und sie drückte die jungen Frauen herzlich an sich. Gleich darauf Juna, mit ihren dreißig Jahren die Älteste dieser Gruppe, und Lucy verstand auf einmal, warum sie vorhin so verschmitzt gelächelt hatte.
»Wir freuen uns alle so sehr, dass du nun endlich richtig zu uns gehörst«, rief Armelle und hängte Lucy eine Kette aus Kamelienblüten um den Hals.
René ließ den Korken aus einer Cidre-Flasche knallen und schenkte ihnen allen ein.
»Wie war die Fahrt?«, wollte Michelle wissen. »Ist doch ganz schön weit von Paris hierher.«
»Alles bestens«, antwortete Lucy.
»Wirst du eigentlich auf der Insel wohnen oder ziehst du zu uns ins Städtchen?«, wollte Léa wissen.
»Zunächst bleibe ich auf der Insel«, gab Lucy zurück, amüsiert von dem Trubel ihrer Kameradinnen aus der Kindheit.
»Mein Elternhaus steht übrigens zum Verkauf«, erzählte Fleurette. »Vielleicht nehm ich es zurück und mache Ferienwohnungen daraus. Außer du möchtest es, Lucy, das wäre genau das Richtige für dich.«
»Dieser parigot will viel zu viel Geld dafür«, wandte Michelle ein. Parigot war der bretonische Spottname für jemanden aus Paris. »Da musst du lange an Feriengäste vermieten, bis du das wieder verdient hast. Lucy findet bestimmt etwas Günstigeres.«
»Du könntest in unsere WG einziehen«, schlug Alis vor, und ihre Zwillingsschwester nickte eifrig. »Annie zieht nächsten Monat aus, ihr Zimmer wird frei. Sie hat eine Stelle in Rennes gefunden.«
»Sicher würde sich auch deine Tante freuen, wenn du ihr Gesellschaft leistest«, meinte Muriel. »Das schöne Haus ist doch viel zu groß für Rozenn, seit sie nicht mehr an Touristen vermietet.«
»Das wird sich alles finden«, versuchte Sylvia, das Thema zu beenden.
»Ich danke euch allen für diesen umwerfenden Empfang«, rief Lucy über das Stimmengewirr hinweg. »So begrüßt zu werden ist einfach wunderbar!« Auf einmal wurde es ganz still, und Lucy begriff, dass man mehr von ihr erwartete. »Ich bin so froh, endlich bei euch zu sein. Ihr wisst, dass ich mir schon als kleines Mädchen gewünscht habe, eines Tages hier zu arbeiten und in die Fußstapfen meiner Mutter zu treten. Was keine leichte Aufgabe sein wird, denn Sylvia Riwall ist jetzt schon eine Legende hier an der Küste.«
»Du übertreibst«, warf ihre Mutter ein, und zu Lucys Entzücken errötete sie ein wenig. Auch das liebte sie an ihrer Mutter – ihre Bescheidenheit bei allem Selbstbewusstsein.
»Nein, ich glaube nicht, dass ich übertreibe«, fuhr sie lächelnd fort. »Jedenfalls verspreche ich euch, dass ich mein Bestes geben werde. Unsere Gemeinschaft hier im Kamelienhaus ist einzigartig, das habe ich festgestellt, nachdem ich ein paar Einblicke in die Geschäftswelt anderswo gewonnen habe. Unsere Solidarität, die Freundschaft, die uns verbindet, und das gemeinsame Ziel, diesen Ort zu einem besonderen zu machen. Das zeichnet uns aus und wird uns weiterhin zum Erfolg führen. Und das schaffen wir nur zusammen. Danke, dass ihr mich so herzlich willkommen heißt!«
Spontaner Applaus erhob sich.
»Wir sind eben alle sehr froh, dich bei uns zu haben«, sagte Muriel herzlich. »Seht mal, was unser famoser René für uns vorbereitet hat!«
Wie ein Zauberkünstler zog René ein weißes Tuch von einem Tisch, und zum Vorschein kamen winzige gefüllte Crêpes-Röllchen und geröstete Baguette-Scheiben mit Fischcreme. Unter vielen Aaahs und Ooohs langten alle kräftig zu und stießen mit ihren Cidre-Gläsern an.
Unterdessen erzählten die jungen Frauen Lucy den neuesten Klatsch des Dorfes. Léa zeigte stolz ihren Verlobungsring, den ihre Freundinnen neidvoll betrachteten, die Hochzeit mit Jules sollte im kommenden Herbst stattfinden.
»Und ich möchte, dass ihr alle meine Brautjungfern seid«, verkündete sie übermütig.
»Wie sieht es denn bei dir aus?« Alis betrachtete Lucy neugierig. »Hattest du nicht einen Freund? Frederick oder so?«
Lucy schüttelte den Kopf. »Von ihm habe ich mich schon lange getrennt«, antwortete sie und schämte sich ein wenig dafür, dass sie es noch immer nicht fertigbrachte, bei der Wahrheit zu bleiben.
»Ich fürchte, Lucy hatte keine Zeit für romantische Treffen«, kam Sylvia ihr zu Hilfe. »Sie hat all ihre Energie in ihre Ausbildung gesteckt. Anders kann man sich ihre fabelhaften Abschlüsse ja gar nicht erklären.«
»Hier gibt es auch tolle Männer.« René grinste von einem Ohr zum anderen. »Wir Bretonen sind keineswegs zu verachten.«
»Mon Dieu«, rief Michelle und wies auf ihre Armbanduhr, »meine nächste Kundin wartet sicher schon.« Und schon stürmte sie aus dem Café.
Auch Fleurette hatte es auf einmal eilig. »Sie hat recht. Ich sollte deine Schwiegermutter endlich von ihrer Trockenhaube befreien, Muriel«, erklärte sie lachend. Sie gab Lucy ein weiteres Mal Wangenküsschen und eilte davon.
»Und ich muss zum Zoll«, seufzte Juna bedauernd. »Eine Sendung abholen.«
»Besser, wir gehen jetzt alle wieder an unsere Arbeit«, mahnte Muriel. »Tiens! Im Blumengeschäft sehen sich gerade drei Besucher ganz alleine um!«
»Heute Abend wollen wir nach Quimper«, sagte Kaoura zu Lucy, während ihre Schwester bereits ins Blumengeschäft lief, um die Kunden zu bedienen. »René kommt auch mit.«
»Wir starten hier um halb neun.« René strahlte Lucy mit erwartungsvollen Augen an. Er war ein Jahr älter als sie und der beste Konditor weit und breit. Erst im vergangenen Jahr hatte er das Café übernommen, und seine Torten hatten sich bald als Geheimtipp herumgesprochen. »Du kannst gern bei mir mitfahren.«
»Das klingt toll«, erwiderte Lucy. »Aber ich weiß nicht so recht. Ich bin ja gestern Abend erst angekommen.«
»Es ist ein neuer Club«, setzte Armelle begeistert nach. »Er hat erst vor ein paar Tagen eröffnet, und der erste Cocktail ist umsonst.«
»Du kannst es dir ja noch überlegen«, schlug René vor, als Lucy zögerte. »Wir dachten nur, das sei eine schöne Art, deine Rückkehr zu feiern.«
»Okay, schon überzeugt«, antwortete Lucy lachend.
»À tout à l’heure«, riefen Armelle und Kaoura ihr zu und beeilten sich, zu ihrer Arbeit zurückzukehren, und René wandte sich einer Gruppe von Gästen zu, die soeben die Terrasse betraten und unschlüssig wirkten, ob sie draußen in der Morgensonne Platz nehmen sollten oder lieber drinnen.
Der Vormittag verging wie im Flug. Sylvia brachte ihre Tochter auf den neuesten Stand, und gemeinsam klärten sie, welche Aufgabenbereiche Lucy übernehmen sollte. Nach einem kurzen Imbiss am Mittag bat Muriel Lucy, ihr einige Proben zeigen zu dürfen, die sie auf ihre Anregung im Sommer erarbeitet hatte. Es ging um eine neue Linie für junge Kundinnen, denn Lucy wollte das Spektrum der Firma, deren Zielgruppe bislang Frauen über dreißig gewesen war, erweitern und auch Käuferinnen ab zwanzig Jahren erreichen.
»Wir brauchen unbedingt bald eine neue Lieferung von Kamelienöl«, sagte Muriel, als sie zufrieden ihre Notizen durchsah, die sie sich im Laufe des Gesprächs gemacht hatte.
Lucy horchte auf. Ein wichtiger Bestandteil ihrer Kosmetiklinie, die sie aus der großen Masse der Konkurrenz hervorhob, war reines Kamelienöl, ein natürliches Schönheitsmittel ohnegleichen. Schon vor langer Zeit hatten Lucys Eltern damit begonnen, die Sorte Camellia oleifera in großem Stil anzupflanzen, deren Samen das kostbare Öl in großen Mengen enthielt, und glücklicherweise waren diese Felder während der großen Sturmflut vor sechsundzwanzig Jahren auch nicht zerstört worden. Dennoch reichte der Ertrag inzwischen längst nicht mehr aus, um den Bedarf der Manufaktur zu decken. Lucys Mutter hatte lange nach einem Lieferanten gesucht, der ihren hohen Qualitätsansprüchen entsprach.
»Beziehen wir unser Kamelienöl noch immer aus Japan?«, erkundigte sich Lucy.
»Ja, von der Insel Soshima«, antwortete Muriel.
Sylvia hatte vor einigen Jahren eine Kooperative auf dieser kleinen Insel mitten im Pazifischen Ozean ausfindig gemacht, wo tsubaki-Öl, wie es auf Japanisch hieß, seit Generationen auf ökologische Weise und in hervorragender Qualität gewonnen wurde.
»Und was genau ist das Problem?«, hakte Lucy nach.
»Irgendetwas scheint dort vorgefallen zu sein«, gab Muriel zurück. »Am besten fragst du deine Mutter. Tatsache ist, dass wir schon seit ungefähr einem Monat auf die neue Lieferung warten. Und langsam wird es wirklich eng.«
Nachdenklich verließ Lucy das Labor und nahm die Treppen hinauf ins Dachgeschoss. »Muriel hat mir von dem Lieferengpass beim Kamelienöl erzählt«, begann sie.
Sylvia sah von ihrer Arbeit auf. Seit einigen Jahren trug sie eine Brille, wenn sie am Computer saß, die ihr fantastisch stand, sie und Lucy hatten sie gemeinsam ausgesucht. »Das stimmt«, sagte sie und nahm die Brille ab. »Deshalb werde ich nächste Woche hinfliegen. Das hätte ich sowieso schon längst mal tun sollen, in Japan ist es wichtig, sich persönlich vorzustellen … na ja, wem erzähl ich das, du warst ja selbst dort.«
»Du wirst nach Japan fliegen?«, fragte Lucy überrascht.
