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Madrid im Sommer 2012: Krass zeigen sich in der Hauptstadt die Auswirkungen der jüngsten Wirtschaftskrise. Die junge Anita gehört zur »verlorenen Generation«, der jede Möglichkeit einer selbstbestimmten Existenz genommen wurde: Aus Not ist sie in ihr altes Kinderzimmer zurückgezogen. Halt geben ihr neben der Familie nur ihre Freunde, die das Schicksal der Dauerarbeitslosigkeit mit ihr teilen. Doch alles Schlimme lässt sich noch steigern:
Eines Tages liegen Anitas Eltern tot in der gemeinsamen Wohnung. Unversehens rutscht sie in das Leben der Mutter hinein. Anita muss nur eines ihrer Kleider überstreifen, schon halten sie alle für Blanca. Und deren Alltag ist viel aufregender, als Anita sich hätte träumen lassen. Am Ende scheinen fast alle Fäden bei einem geheimnisumwitterten Schriftsteller zusammenzulaufen, dem man nachsagt, über Leichen zu gehen. Doch vielleicht ist auch das eine Täuschung …
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Seitenzahl: 424
Veröffentlichungsjahr: 2016
Madrid im Sommer 2012: Krass zeigen sich in der Hauptstadt die Auswirkungen der jüngsten Wirtschaftskrise. Die junge Ana María, genannt Anita, gehört zur »verlorenen Generation«. Ihr Bruder, ein promovierter Germanist, hat sich bereits nach Berlin abgesetzt, um auf dem Bau sein Geld zu verdienen. Aus der Not heraus ist Anita zurück in ihr altes Kinderzimmer gezogen. Halt geben ihr neben der Familie nur ihre Freunde, die das Schicksal der Dauerarbeitslosigkeit mit ihr teilen, und die Demonstrationen im Herzen der überhitzten Metropole. Doch alles Schlimme lässt sich noch steigern: Eines Tages liegen ihr Vater Oscar und ihre Mutter Blanca tot in der gemeinsamen Wohnung. Unversehens rutscht Anita in das Leben der Mutter hinein: Sie muss nur eines ihrer Kleider überstreifen, schon halten sie alle für Blanca. Und deren Alltag ist viel aufregender, als die Tochter sich je hätte träumen lassen.
Unerschrocken nimmt Anna Katharina Hahn in ihrem dritten Roman die drängendsten Probleme der Gegenwart ins Visier: Das Kleid meiner Mutter ist ein phantastischer Generationen- und Liebesroman aus den Zeiten der Eurokrise und zugleich ein poetisches Welttheater zwischen Madrid, Berlin und Stuttgart. Am Ende scheinen fast alle Fäden bei einem geheimnisumwitterten Schriftsteller zusammenzulaufen, dem man nachsagt, über Leichen zu gehen. Doch vielleicht ist auch das eine Täuschung.
Anna Katharina Hahn, geboren 1970, lebt in Stuttgart. 2009 erschien ihr Longseller Kürzere Tage (st 4158). Ihr Roman Am Schwarzen Berg stand 2012 auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse und auf Platz 1 der SWR-Bestenliste. Anna Katharina Hahn gilt als eine der wichtigsten Erzählerinnen ihrer Generation und wurde für ihre Romane u.a. mit dem Roswitha-Preis der Stadt Gandersheim und dem Heimito von Doderer-Literaturpreis ausgezeichnet.
Anna Katharina HahnDas Kleid meiner Mutter
Roman
Für Carmen, mein kleines Spanien, und für Jan.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2016.
© Suhrkamp Verlag Berlin 2016
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Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn
Umschlaggestaltung: Lisa Neuhalfen
Umschlagabbildung: Felice Casorati, Junges Mädchen auf rotem Teppich, 1912, Museum voor Schone Kunsten, Gent, © VG Bild-Kunst, Bonn 2015, Foto: Bridgeman Images
SamstagAn einem Samstagmorgen im August machten meine Eltern einen Spaziergang durch den Jardín Botánico. Als sie nach Hause zurückkehrten, legten sie sich krank ins Bett. Meine Mutter bat mich, für Papa einen Lindenblütentee zu kochen. Sie selbst wollte nur ein Glas Wasser, außerdem sollte ich die Klappläden im Schlafzimmer einen Spalt weit öffnen, damit wenigstens ein Lufthauch hineinkam, selbst wenn er heiß und staubig war. Draußen herrschten knapp vierzig Grad. Viele Städter waren in die Berge geflohen, wo es etwas kühler war. Auch meine Eltern besaßen ein Ferienhaus in V. V., unsere Familienabkürzung für das Dorf Viejo Verde in der Sierra de Guadarrama, etwa eine Autostunde von Madrid. Der Peñalara überragt das Kaff mit seinem schneebedeckten Gipfel.
Eigentlich wollten wir alle an diesem Vormittag aufbrechen, um den Rest des Wochenendes in V. V. zu verbringen. Im Nachhinein erscheint es mir geschmacklos und grausam, aber ich war wirklich froh über ihre Unpässlichkeit, weil sie verhinderte, dass ich Madrid verlassen musste, um in dem winzigen, mit Büchern und Schallplatten vollgestopften Haus auf einer Klappcouch zu schlafen, ohne Fernseher, ohne WiFi, umtost von Knisterklängen aus dem Plattenspieler meines Vaters.
Er hörte in V. V. immer seine todtraurige deutsche Musik, am liebsten ›Die Winterreise‹. Die Platte hatte ihm eine gewisse Carmen geschenkt, sie habe Deutsch gekonnt »wie Goethe« und sei später Übersetzerin geworden. Meiner Mutter schien das egal zu sein. Auch sie mochte das depressive Gesinge und summte oft mit, während draußen im Garten die Luft vom elektrischen Schaben der Zikaden vibrierte.
Meine Eltern liebten alles an V. V.: die mageren Bäume, sinnlos in alle vier Ecken des Grundstücks gepflanzt, die Grasfläche in der Mitte, die auf diese Weise keinen Schatten bekam und im Laufe der Jahre so rissig und trocken geworden war wie ein Stück Land in der Sahelzone. In den Stühlen auf der Terrasse hatten sie mit ihren Freunden gesessen, über Politik gejammert, sich betrunken und peinliche Schlager gesungen: ›Rocío, ay mi Rocío‹ oder ›Piel canela‹. Im Ginstergebüsch an der Westseite des Hauses war das Versteck, in dem mein Bruder und ich tote Vögel begruben, Schlammklößchen formten, Magdalenas aßen und uns unterhielten, bis es Zeit war, wieder zurück in die Stadt zu fahren. Der Durchschlupf ins Innere des Gestrüpps war so schmal, dass kein Erwachsener dort eindringen konnte, um uns herauszuholen. Wir nutzten das aus, um uns vor Gartenarbeit und einmal sogar vor der Heimfahrt zu drücken. Meine Mutter konnte nicht auf den Ginster blicken, ohne mit dieser Geschichte anzufangen.
Das Häuschen in V. V. war, um meinen Vater zu zitieren, »ein Begeisterungskauf aus eurer Kleinkinderzeit, als Spanien das Land in Europa war, in dem man am schnellsten zu Geld kommen und es ebenso schnell wieder ausgeben konnte«. Mein Bruder und ich sollten »wenigstens an den Wochenenden und in den Ferien in frischer Luft und ohne den Gestank dieser verrückten Stadt aufwachsen, unter dem majestätischen Angesicht der Berge, frei wie die Greifvögel«.
Genauigkeit ist nicht gerade meine Stärke. Das meinten schon die Lehrer in der Schule und später an der Uni. Aber während ich die Sätze hier schreibe, denke ich, dass ich besonders meinem Papa, einem extrem peniblen Menschen, schuldig bin, diese Geschichte nicht schlampig zu erzählen. Es ist gut, seine Gedanken zu ordnen. Das tue ich für mich selbst, denn im Augenblick bin ich nicht nur der einsamste Mensch in Madrid, sondern auch der verwirrteste.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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