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Julie kann es nicht fassen: Nach über zwanzig glücklichen Ehejahren eröffnet ihr ihr Mann, dass er sie verlassen wird. Julies Welt bricht zusammen. Alles, was ihr bleibt, sind geplatzte Träume – und die größte Chance auf einen Neuanfang. Spontan kauft sie ein heruntergekommenes Strandhaus auf einer winzigen Insel und beginnt, sich ein neues Leben aufzubauen. Als dann nicht nur Dawson, ihr hilfsbereiter Nachbar, sondern auch ihre verhasste Schwester plötzlich vor ihrer Tür auftauchen, steht ihre Welt erneut Kopf. Doch in ihrem kleinen Haus am Strand lernt Julie Schritt für Schritt ihrem Herz zu folgen und erkennt, dass immer noch alles möglich ist. Sogar die ganz große Liebe.
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Seitenzahl: 228
Veröffentlichungsjahr: 2025
Rachel Hanna
Roman
Cornelia Röser
Sie stand an der Frühstückstheke und sah sich in ihrem Zuhause um, das jetzt so leer war wie noch nie zuvor. Ein weiterer Abschnitt ihres Lebens lag hinter ihr: die Tage, in denen überall kleine Kinder herumkrabbelten, die Tage mit Softballturnieren an jedem Wochenende, die Tage der ersten Dates – sie waren gekommen und wieder gegangen. Jetzt waren die Kinder groß und aus dem Haus, ihr Mann und sie allein im leeren Nest.
»Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Miss Julie?«, fragte Agnes, die Haushälterin. Sie hatte schon bei ihnen geputzt, als die Kinder noch mit der Trommel um den Weihnachtsbaum gerannt waren, wie ihre Großmutter gesagt hätte.
»Nein, vielen Dank, Aggie. Geh ruhig nach Hause und leg die Füße hoch.«
Mit einem dankbaren Lächeln nahm Agnes den Umschlag entgegen, der ihren letzten Gehaltsscheck samt einem kleinen Extra enthielt.
»Ich wünschte, du könntest mit uns kommen. Aber das neue Haus am Strand ist nicht so groß, dass wir eine Haushälterin bräuchten. Ich werde wohl lernen müssen, alles selbst zu erledigen.« Julie lachte traurig. Dies war wirklich das Ende einer Ära.
»Das Haus wird bestimmt ein wundervolles Heim für eine andere Familie.« Agnes sah sich um. Julie hoffte, dass die ältere Frau sich nun endlich zur Ruhe setzen würde, auch wenn diese immer sagte, Putzen sei ihr Hobby und dafür könne sie sich genauso gut bezahlen lassen.
Jeder Winkel hier steckte voller Erinnerungen, von der Stelle, an der sie immer den Weihnachtsbaum aufstellten, bis zu der Macke in der Tapete, wo ihre Deutsche Dogge auf der Jagd nach einem Ball über den Parkettboden geschlittert und gegen die Wand gekracht war.
Erinnerungen hatten ihre guten und schlechten Seiten. Julie schämte sich für die Tränen, die ihr in die Augen stiegen, und sie wechselte schnell das Thema.
»Danke, dass du hier so gründlich sauber gemacht hast. Unsere Maklerin hat schon drei Interessenten, ich glaube, wir müssen nicht mal ein Schild im Vorgarten aufstellen. Einer hat sogar schon ein Angebot gemacht.«
Agnes lächelte. »Sie werden mir fehlen. Sagen Sie den Mädchen bitte, dass ich sie lieb habe, und sie sollen mir mal eine Postkarte schreiben, ja?«
Julie umarmte sie. »Du weißt, dass sie dich lieben wie eine Großmutter, Aggie. Sie werden in Kontakt bleiben, versprochen.«
Julie war so stolz auf ihre Töchter. Die beiden waren inzwischen erwachsen und eroberten die Welt im Sturm. Meg war neunzehn und verbrachte ein Studienjahr in Frankreich, und Colleen mit ihren zwanzig Jahren studierte am anderen Ende Nordamerikas in Kalifornien und absolvierte gerade ein hochkarätiges Praktikum in einer Anwaltskanzlei, weshalb sie nur selten zu Besuch kam.
Blieben also nur noch Julie und ihr Mann Michael, mit dem sie seit einundzwanzig Jahren verheiratet war. Solange sie zurückdenken konnte, hatte sie davon geträumt, ein Haus an der Küste von South Carolina zu kaufen und das Leben zu genießen, wenn die Kinder aus dem Haus waren, sie selbst aber noch jung.
Mit gerade mal dreiundvierzig fühlte Julie sich noch nicht reif für den Ruhestand. Ganz im Gegenteil. Sie führte eine erfolgreiche Online-Boutique, die sie auch von ihrem neuen Strandhaus aus betreiben wollte. Tatsächlich hatten Michael und sie vor einem Monat den Kaufvertrag für ein Haus unterschrieben, und die wunderbaren Verkäufer waren bereit gewesen, abzuwarten, bis das alte Haus verkauft und ihre anderen Angelegenheiten geregelt waren. Der Vertragsabschluss stand in wenigen Wochen bevor, und Michael blieb gerade noch genug Zeit für eine letzte Geschäftsreise, bevor er seine Arbeit im Vertrieb offiziell aufgab.
Nach dem Umzug würde auch er sich selbstständig machen, und endlich sollte sich ihr Traum erfüllen, in ihren Vierzigern in einem Haus am Strand zu leben. Sie konnte es kaum erwarten.
Am Meer hatte sie stets ihr größtes Glück gefunden. Das stetige Auf und Ab der Wellen vermittelte ihr eine Ruhe, die sie nicht in Worte fassen konnte. Und das Haus, das sie kauften, stand direkt am Strand. Wie oft hatte sie sich ausgemalt, beim Morgenkaffee die vorbeiziehenden Delfine zu beobachten. Und schon bald würde dieser Traum wahr werden. Sie konnte ihre Vorfreude kaum noch bremsen.
Michael war kein so großer Strandfan wie sie, hatte ihr aber immer ihre Träume gelassen und war ihren Wünschen gefolgt. Sie war es, die nach den Sternen griff, während er eher eine Arbeitsbiene war und seine Träume kaum je über den gegenwärtigen Augenblick hinausreichten. Trotzdem war er so erfolgreich in seinem Job, dass sie ein ziemlich luxuriöses Leben führen konnten, und dafür war Julie dankbar. Denn ihre Boutique brachte zwar Geld ein, doch ohne Michaels Einkommen hätten sie nicht davon leben können.
Das erste Jahr nach dem Auszug der Töchter war ein richtiger Schock für sie gewesen. Mit einem Mal war es so still im Haus. Vorbei die Zeiten, in denen sich an den Wochenenden Dutzende Kinder in ihr Wohnzimmer quetschten, lautstark Pyjamapartys feierten oder bis drei Uhr früh tanzten.
Damals hatten sie über den Lärm geklagt, doch als er nicht mehr da war, kam ihnen die Stille ohrenbetäubend laut vor. Es dauerte mehrere Monate, bis sie sich daran gewöhnt hatten, vor allem für Michael. Sie legten sich neue Gewohnheiten zu, zum Beispiel frühstückten sie morgens nun immer gemeinsam auf der Terrasse, bevor Michael zur Arbeit fuhr. Und die ganze Zeit über hatte Agnes weiterhin das Haus sauber gehalten, obwohl kaum noch jemand da war, der es hätte schmutzig machen können.
Nun blickte Julie durch das große Fenster in die Auffahrt und sah Agnes nach, die ihren Kleinwagen zurücksetzte und die Tore ihres wohlhabenden Wohnviertels passierte. Ja, in den vergangenen Jahren war es ihnen finanziell sehr gut gegangen, aber nun waren sie auf andere Art gesegnet: mit Liebe. Mit einer starken Ehe, die den Prüfungen der Zeit standgehalten hatte. Mit einem Neuanfang an einem neuen Ort, fernab vom hektischen Treiben der Vororte Atlantas.
Bei diesem Gedanken lächelte Julie. Jetzt würden all ihre Träume in Erfüllung gehen.
Es war fast sieben Uhr, und Michael war noch nicht zu Hause. Sein Flugzeug war um vier angekommen, sie hatte sogar im Internet nachgeschaut, ob er auch sicher gelandet war. Dann hatte sie seinen Kollegen angerufen, der zusammen mit ihm auf dieser Geschäftsreise gewesen war, aber Marc war trotz des furchtbar dichten Verkehrs in der Stadt schon seit über einer Stunde zu Hause.
Wo war Michael?
Sie hatte ihm geschrieben, aber keine Antwort bekommen. Anrufe landeten direkt auf der Mailbox. Von Minute zu Minute wurde sie unruhiger. Sollte sie die Polizei einschalten? Oder reagierte sie über?
Als sie gerade den Notruf wählen wollte, hörte sie, wie das Garagentor geöffnet wurde. Durchs Fenster sah sie das Heck seines schwarzen BMW in die Garage rollen. Eine Mischung aus Erleichterung und Wut durchflutete sie. Warum kam er so spät, und warum hatte er auf keine ihrer Nachrichten und Anrufe reagiert?
»Gott sei Dank, dir geht’s gut!«, sagte sie, als er endlich zur Tür hereinkam. Er trug keinen seiner üblichen Anzüge, sondern Khaki-Shorts, ein rosa Poloshirt und Segelschuhe. So etwas trug er auf Geschäftsreisen nie, nicht einmal auf dem Rückflug.
»Warum sollte es mir nicht gut gehen?«, fragte er, sein Ton eine Spur gereizt. Ohne sie anzusehen, trat er in den Flur und stellte seinen Rollkoffer in der Ecke ab.
»Dein Flugzeug ist schon vor Stunden gelandet, und ich habe dir geschrieben. Und dich angerufen. Warum hast du dich nicht gemeldet?«
»Du übertreibst, Julie. Ich war im Auto. Du weißt, dass ich nicht ans Handy gehe, wenn ich fahre. Denk doch an Kit.«
Er erinnerte in solchen Situationen gern an seinen alten Freund Kit, der vor vielen Jahren wegen eines abgelenkten Teenagers bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war. Trotzdem brauchte Michael normalerweise keine drei Stunden vom Flughafen nach Hause.
»War viel Verkehr auf den Straßen? Marc war nämlich schon vor einer Stunde zu Hause.« Seine Antworten kamen ihr immer dubioser vor, und noch immer wich er ihrem Blick aus.
Jetzt sah er sie an, sein Gesicht zornesrot. »Du hast ernsthaft Marc angerufen? Willst du mich bei der Arbeit als Idioten dastehen lassen?«
»Michael, ich habe mir Sorgen gemacht! Ich war kurz davor, die Polizei zu rufen.«
»Meine Güte, reiß dich mal zusammen, Julie. Ich bin ein bisschen spät dran, davon geht doch die Welt nicht unter, okay?« Er stürmte ins Schlafzimmer, setzte sich auf einen Stuhl und zog seine Schuhe aus.
Irgendetwas stimmte nicht. So hatte er sich noch nie aufgeführt. Michael wurde sonst nicht mal laut, weshalb die Rolle der strengen Erzieherin immer Julie zugefallen war. Sie war die »Böse«, während er den »lieben Daddy« spielen durfte.
»Und warum interessiert es dich, was Marc oder deine Kollegen denken? Das war doch deine letzte Geschäftsreise, oder? In ein paar Wochen ziehen wir an den Strand …«
Er verharrte mitten in der Bewegung. Die Stille im Raum war überwältigend, und für einen Moment glaubte sie, ihre Ohren hätten den Dienst quittiert. Er sah sie nicht an.
»Michael? Ist etwas passiert?«
»Bitte nicht heute Abend, Julie. Ich bin müde und habe einen langen Flug hinter mir.« Er stand auf, trat vor den Kleiderschrank und betrachtete sich eine Weile von der Seite, bevor er sich wieder Julie zuwandte.
»Was ist? Du machst mir Angst. Sag mir doch, was los ist, Schatz. Ich kann dir helfen.« Sie berührte ihn an der Schulter. Er wich zurück.
»Ich ziehe aus.«
»Ja. Wir ziehen in unser neues Haus am Strand. Alles wird wunderbar werden.«
»Nein, Julie. Du verstehst nicht. Ich … ich verlasse dich.«
Ihr stockte der Atem. Ihr Herzschlag dröhnte wie ein Presslufthammer in ihrem Kopf. Das Zimmer begann sich langsam zu drehen. Sie hielt sich an der Schranktür fest und atmete tief durch.
»Was?«
»Es gibt da … eine andere.«
Eine andere? Wie war das möglich? Sie führten doch eine gute Ehe. Hatten ein glückliches Leben. Zwei Töchter, eine Haushälterin, ein neues Haus am Strand. War er etwa betrunken? Oder hatte ihm jemand im Flugzeug Drogen in den Drink gemischt?
»Das darf nicht wahr sein«, stammelte sie. »Wer? Warum?«
Michael seufzte. »Spielt das eine Rolle, Jules?«
»Erstens: Nenn mich nicht so! Betrüger dürfen diesen Namen nicht benutzen.« Jetzt wurde sie wütend. Sie trat mit vorgerecktem Zeigefinger auf ihn zu, die Wut peitschte durch ihre Adern wie Wellen nach einem Sturm. »Und zweitens: Ja, es spielt eine Rolle! Ich will wissen, wer dieses Miststück ist, das unsere Familie kaputt gemacht hat.«
Er setzte sich wieder auf den Stuhl, schlug die Hände vors Gesicht und lehnte sich zurück. »Bitte nicht heute Abend«, sagte er noch einmal.
Sie folgte ihm und trat vor den Stuhl. »Ach, entschuldige. Du bist bestimmt müde. Möchtest du mir lieber morgen das Herz brechen und meine Träume zerstören? Für wie viel Uhr soll ich mir im Kalender notieren, dass du ein untreuer Riesenarsch bist? Würde dir gegen Mittag passen? Nein? Das könnte dir auf den Magen schlagen? Du kriegst ja so leicht Verstopfung … Hast du deinem kleinen Flittchen dieses hübsche Detail über dich erzählt?«
»Es reicht, Julie! Ich habe nicht gewollt, dass es dazu kommt.« Er stand auf. »Es ist einfach …«
»Passiert? Oh ja, das sagen sie alle, diese ganzen untreuen Mistkerle in den Nachmittagstalkshows. Aber das ist Quatsch, Michael, das weißt du! Du hast eine Entscheidung getroffen, und du könntest wenigstens so viel Respekt zeigen, mir zu sagen, wer sie ist … und wie es dazu gekommen ist.«
Er holte scharf Luft und setzte sich wieder. Julie beruhigte sich so weit, dass sie sich ein Stück von ihm entfernt aufs Bett setzen konnte, wo sie sich nun dafür wappnete, sich die widerwärtigen Einzelheiten anzuhören, mit denen sie nie im Leben gerechnet hätte.
»Victoria. Sie wohnt in Boston.«
Die ganzen Geschäftsreisen nach Boston. Jetzt ergab das alles Sinn.
»Dann waren deine Reisen also gar nicht geschäftlich?« Ihr Herz tat weh, und gegen ihren Willen liefen ihr die ersten Tränen übers Gesicht.
»Nicht alle. Anfangs bin ich wirklich dorthin geflogen, um unsere neue Niederlassung aufzubauen. Eines Abends, nach einem besonders schlimmen Meeting, ging ich in ein Restaurant. Weil es keinen Tisch für eine Person gab, setzte ich mich an die Bar. Und dann kam diese Frau herein …«
»Meine Güte, das ist unglaublich.«
»Man sucht sich nicht aus, in wen man sich verliebt, Julie.«
Sie stand vom Bett auf. »Ernsthaft? Du solltest in mich verliebt sein, Michael! In mich! Deine Frau, mit der du seit einundzwanzig Jahren verheiratet bist! Die Mutter deiner beiden Töchter. War das auch alles eine Lüge?«
»Natürlich nicht! Ich habe dich geliebt.«
»Vergangenheitsform? Ehrlich?«
Wieder seufzte er. »Victoria versteht mich einfach. Und da ist noch etwas …«
»Da ist noch mehr? Wie reizend.«
»Wir haben einen sechs Monate alten Sohn. Charlie.«
Wieder blieb ihr die Luft weg. Michael hatte sich immer einen Sohn gewünscht, aber nach zwei schwierigen Schwangerschaften hatte Julie keine weiteren Kinder gewollt. Das hatte jahrelang eine Kluft zwischen sie gerissen, schließlich waren sie aber darüber hinweggekommen. Jetzt hatte er seinen Sohn und seine Seelenverwandte mit den strammen Brüsten. Julie wollte sich am liebsten übergeben.
»Wie konntest du nur! Du hast also ein Doppelleben geführt und bist jeden Monat ein paar Mal nach Boston geflogen, um Zeit mit deiner anderen Familie zu verbringen? Mein Gott, was sollen Meg und Colleen denken?«
»Du darfst es ihnen nicht sagen.«
»Tickst du noch ganz richtig? Die beiden müssen wissen, dass sie einen Bruder haben.«
»Ich meine nur, lass mich es ihnen selbst sagen. Bitte.«
Sie setzte sich und schluckte ihre Tränen hinunter. »Also gut. Dreh es meinetwegen so, wie du willst. Aber deine Töchter sind nicht so blöd wie ich, die riechen deine Lügen zehn Meilen gegen den Wind.«
»Julie, ich wollte dir nie wehtun. Aber das Leben ist kurz, und ich möchte wieder glücklich sein.«
»Und ich blöde Kuh dachte die ganzen Jahre, ich würde dich glücklich machen.«
»Das hast du auch … viele Jahre lang.«
»Wow. Tja, tut mir leid, dass ich für deine zweite Lebenshälfte nicht gut genug bin. Wahrscheinlich bin ich dir nicht mehr jung und sexy genug.«
»Julie, sie ist nur ein Jahr jünger als du. Es ist nicht so, wie du denkst.«
Wow, das war ein Schlag in die Magengrube. Sie konnte die Schuld nicht einmal auf die Jugend und den Sexappeal der anderen Frau schieben. Oh nein. Sie selbst war einfach nicht gut genug.
»Ich habe für morgen einen Flug gebucht, und nächste Woche kommt ein Umzugsunternehmen. Gestern habe ich mit dem Makler gesprochen. Die Käufer haben unser Gegenangebot angenommen und werden in drei Wochen unterschreiben.«
»Und wo soll ich hin, Michael?«
»Ich hatte nicht vor, dich im Stich zu lassen. Du hältst mich jetzt wahrscheinlich für einen furchtbaren Menschen. Und ehrlich gesagt, ich selbst tue das auch.«
»Aber du gehst trotzdem.«
»Ich muss. Mein Sohn ist dort, und es wäre nicht gut für seine Entwicklung, ohne mich aufzuwachsen.«
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Das kommt mir vor wie ein schlechter Film.«
»Hier.« Er zog einen Schlüsselbund aus der Tasche und reichte ihn ihr.
»Was ist das?«
»Die gehören zu einer Suite in einem Hotel in Davenport.«
»Ein Hotel? Ernsthaft?«
»Ich habe einen Aufenthalt von sechs Wochen ab dem Verkauf des Hauses für dich gebucht, damit du Zeit hast, wieder auf die Füße zu kommen.«
Stumm vor Entsetzen stand Julie da. Das war nicht der Mann, den sie kannte. Der Mann, der sie vor vier Jahren nach einer schweren Grippe gesund gepflegt hatte. Der Mann, der sie während der Schwangerschaft mit Colleen eifrig zu jeder einzelnen Geburtsvorbereitungsstunde begleitet hatte. Und ganz sicher nicht der Mann, der noch vor wenigen Jahren vor ihr gestanden und sein Ehegelübde erneuert hatte. Diesen Mann hier kannte sie nicht.
»Ich kann das einfach nicht glauben.«
»Ich muss dir auch noch sagen, dass das mit dem Strandhaus nicht klappt.«
»Sag bloß.«
»Es tut mir ehrlich leid, dass ich deinen Traum von einem Leben dort zerstören muss.«
»Ich dachte, das wäre unser Traum?«, sagte sie leise und konnte die Tränen nicht länger zurückhalten.
»Mein Traum war das nie, Julie. Du hast gewusst, dass ich nur dir zuliebe mitspiele.«
»Und was ist dein Traum, Michael?«
»Mein Traum ist Boston.«
In diesem Moment zersplitterte ihr Herz in eine Million Stücke und verteilte sich überall auf dem Boden ihres Zuhauses, in dem es früher nur kostbare Erinnerungen gegeben hatte.
Die folgenden Wochen erlebte sie wie im Nebel. Michael war am nächsten Tag wie angekündigt abgereist. Er war schon fort gewesen, als sie aufwachte. Julie war in der Nacht leise weinend durchs Haus gewandert. Im Schlafzimmer hatte sie mit angezogenen Knien auf ihrer Bettseite gehockt und sich hin- und hergewiegt, und dabei so leise geschluchzt, wie sie nur konnte.
Michael schlief im Gästezimmer im ersten Stock – wo er vermutlich seiner geliebten, nur geringfügig jüngeren Freundin Nachrichten schrieb. Von dem Gedanken wurde ihr übel.
Dann ging sie ins Bad und setzte sich auf den Rand der großen freistehenden Badewanne. Ihre Gedanken wanderten zu ihrem letzten Hochzeitstag, sie hatte mit ihm baden wollen, mit angeschalteten Massagedüsen und einer schönen Flasche Wein. Doch Michael hatte gesagt, er sei müde, und war früh zu Bett gegangen. Damals hatte sie ihm geglaubt, doch jetzt wusste sie es besser. Er hatte ein schlechtes Gewissen gehabt, weil seine Freundin zu dieser Zeit schwanger irgendwo in Boston saß und sich fragte, wann er wieder zu ihr käme.
Schließlich schlüpfte sie nach draußen auf die Terrasse und starrte in den dunklen Nachthimmel, der von einem grauen Wolkenschleier überzogen war – fast so wie ihre Zukunft. Sie dachte darüber nach, wie es im Leben manchmal geschah, dass man etwas zum letzten Mal erlebte, ohne zu wissen, dass es das letzte Mal war.
Wie ihr gemeinsames Frühstück auf der Terrasse. Letzte Woche hatte sie nicht gewusst, dass es das letzte Mal sein würde. Er schon. Das machte sie verrückt. Warum hatte sie die Zeichen nicht gesehen?
Als er am nächsten Morgen fort war – ohne ein einziges Wort oder auch nur einen letzten Blick –, war Julie durch das jetzt sehr leere Haus gegeistert und hatte sich ihren nächsten Schritt überlegt. Die meiste Zeit spielte sie mit den Schlüsseln zu ihrer Hotelsuite und dachte darüber nach, wie sich ihr Traum vom Haus am Strand vor ihren Augen in Luft auflöste. Ein Leben ohne Michael hatte sie sich noch nie vorgestellt. Eine Ehe sollte etwas Dauerhaftes sein. Etwas für die Ewigkeit. Sie hatte geglaubt, er sähe das genauso.
Auf Social Media spähte sie sämtliche Victorias in Boston aus. Wach gehalten von starkem Kaffee und dem einen oder anderen Glas Wein, saß sie eines Nachts stundenlang vor dem Bildschirm. Bis ein Blick in den Spiegel ihr bewusst machte, dass das in keine gute Richtung ging. Sie klappte den Laptop zu.
Und dann kam der Tag, an dem Meg aus Europa anrief, mit zittrig klingender Stimme und verstopfter Nase, und Julie hoffte, es wäre nur eine Erkältung, obwohl sie es besser wusste.
»Daddy hat mich angerufen.« Mehr brachte sie nicht heraus, bevor sie in Tränen ausbrach.
»Es tut mir so leid, mein Schatz.«
»Wie konnte er uns das antun?«
»Ich weiß es nicht. Ich hatte keine Ahnung.«
»Ich komme nach Hause.«
»Nein, Meggy, das geht nicht.«
»Wenigstens eine von uns muss jetzt bei dir sein, und Colleen hat gerade ihr wichtiges Praktikum. Ich kann ein Semester aussetzen und …«
»Nein! Und damit basta. Sicher, es wird eine harte Zeit, aber ich schaffe das schon, versprochen.«
»Bist du sicher? Du warst doch noch nie allein.«
»Ganz sicher. Ich arbeite und suche mir eine neue Wohnung und werde mich an das Leben als Single gewöhnen. Wir stehen das schon durch, Meg.«
Meg zog die Nase hoch. »Ich weiß. Hab dich lieb.«
»Ich hab dich auch lieb.«
Das Telefonat mit Meg war schon schwer gewesen, aber das mit Colleen wurde beinahe unerträglich. Zu Beginn verlief alles sehr ähnlich, doch Colleen war direkter als ihre Schwester und außerdem stur. Sie weinte nicht. Sie war stinksauer, und Julie konnte quer über den ganzen Kontinent hören, wie sie vor Wut kochte.
»Was ist bloß ihn Dad gefahren?! Ihr wart immer der Inbegriff der perfekten Ehe.«
»Keine Ehe ist perfekt, Colleen.«
»Ich rede nicht mehr mit ihm. Ich will ihn nicht mehr sehen. Und seine bescheuerte Verlobte will ich erst recht nicht sehen!«
»Moment – Verlobte?«
Colleen schwieg einen Moment. »Das wusstest du nicht?«
»Nein.« Julies Gesicht fühlte sich tiefrot an, als von neuem die Wut in ihr aufstieg. »Wir sind noch nicht mal geschieden.«
»Das habe ich auch gesagt, aber anscheinend sind die Papiere so gut wie fertig. Du solltest dich wohl darauf gefasst machen.«
»Ich werde jetzt nicht aussprechen, was mir gerade auf der Zunge liegt, er ist schließlich dein Vater.«
»Mom, ich kann nach Hause kommen. Ich kann mir ein Praktikum in der Nähe von Atlanta besorgen, dann bin ich wenigstens nicht mehr so weit weg.«
»Nein, das habe ich deiner Schwester auch schon gesagt: Im Moment brauche ich Zeit für mich. Ich komme schon zurecht. Ich will einfach nur die Scheidung hinter mich bringen, mich in einem neuen Haus einrichten und dann neue Erinnerungen schaffen.«
»Was ist mit Tante Janine? Sie würde sich bestimmt freuen, von dir zu hören.«
»Es reicht, Colleen. Du weißt, dass ich keinen Kontakt zu meiner Schwester habe. Wir reden nicht mehr miteinander, seit du auf der Highschool warst, und ich werde jetzt nicht wieder damit anfangen.«
Julie wurde schon übel, wenn sie nur den Namen ihrer großen Schwester hörte. Als Kinder hatten sie sich sehr nahegestanden, ganz ähnlich wie Meg und Colleen. Doch mit der Zeit schienen sie sich immer weiter voneinander zu entfernen. Janine, die ewige Weltenbummlerin, das Möchtegern-Blumenkind, hatte mit Unverständnis reagiert, als Julie direkt nach dem College mit Michael zusammenzog. Sie hielt ihn für einen Langweiler, und vielleicht hatte sie damit recht. Aber sogar jetzt fühlte Julie sich noch verpflichtet, seine Ehre zu verteidigen.
Als die Kinder auf der Highschool waren, kam es zwischen ihr und Janine schließlich zu einem so schlimmen Streit, dass ihre Beziehung irreparabel zerbrach. Manchmal war Blut eben doch nicht dicker als Wasser, und das Letzte, was Julie jetzt gebrauchen konnte, war, dass ihre flatterhafte, ihr völlig fremd gewordene Schwester bei ihr aufschlug und ihr Leben noch mehr ruinierte.
Im Laufe der Jahre hatte Janine mehrfach versucht, wieder Kontakt aufzunehmen. Sie hatte einige Zeit als Yogalehrerin in einem Retreat in Indonesien verbracht, in einer Region, die Julie nicht einmal aussprechen konnte. Sie hatte ihr Postkarten und Briefe von praktisch überall auf der Welt geschickt, in denen sie davon faselte, auf welche verrückten Pfade das Leben sie gerade führte. Und die ganze Zeit saß Julie als brave Ehefrau und Mutter, als verantwortungsvolle Mitbürgerin, die sie immer gewesen war, zu Hause.
Um ganz ehrlich zu sein, war womöglich ein wenig Eifersucht im Spiel. Schon in ihrer Kindheit war Janine bei allen beliebt gewesen. Sie war laut und lustig und sprach stets aus, was alle dachten, sich aber nicht zu sagen trauten. Aber sie war auch verantwortungslos und ständig auf dem Sprung, und man konnte sich nicht auf sie verlassen.
So viele gemeinsame Oster- und Weihnachtsfeste und Geburtstage der Mädchen hatte sie versäumt, weil sie ja unbedingt durch die ganze Welt gondeln musste. Von den vielen Männern mal ganz zu schweigen. Es schien fast, als wären die für sie beliebig austauschbar.
Julie verstand ihre Schwester nicht und würde es auch nie. Sie wollte lieber allein sein, als noch einmal etwas mit Janine zu tun zu haben. Das war den Stress einfach nicht wert – und Stress hatte sie im Moment wirklich schon genug.
»Okay. Ich wollte nur helfen, Mom. Du sollst nicht einsam sein.«
»Süße, einsam sein und allein sein sind zwei verschiedene Dinge. Allein zu sein, ist nicht unbedingt etwas Schlechtes.«
Noch während sie das sagte, wusste sie, dass es nicht stimmte. Sie wollte keine neuen Erinnerungen schaffen, sie wollte ihre alten behalten. Sie wollte den Mann zurück, den sie zu kennen geglaubt hatte. Sie wollte die Zeit zurückdrehen und Michael anflehen, gar nicht erst nach Boston zu fliegen. Sie wollte eine zweite Chance.
Die Tage vergingen, und ihr Gefühl von Verlust und Selbstmitleid wich einer Wut auf Michael und schließlich der Wut auf sich selbst, weil er ihr noch immer etwas bedeutete. Dabei sollte er ihr doch egal sein, sie wollte sein Gesicht aus ihrer Erinnerung löschen.
Jetzt kam ihr jede Sekunde in diesem Haus, in dem sie so lange gemeinsam gelebt hatten, wie eine Ewigkeit vor. Sie wollte nur noch zum Notar und die Papiere unterschreiben und das alles hinter sich bringen.
»Mrs Pike? Bitte hier entlang. Die Vertragsunterzeichnung findet in unserem Konferenzraum statt.« Die Frau führte sie durch einen Flur mit klobigen Mahagonimöbeln und überladenen Gemälden. Julie war wie immer zu früh dran, und der Raum war noch leer. »Kann ich Ihnen einen Kaffee oder Tee anbieten?«
»Nein danke.«
»Möchten Sie die Unterlagen vor der Unterschrift durchsehen? Ich kann Ihnen die Akte …«
»Nein danke.«
»In Ordnung. Die anderen Parteien müssten bald hier sein.«
Julie nickte.
In der Mitte des langen Mahagoni-Tisches stand eine große Schale Pralinen. Vor lauter Stress hätte Julie sich am liebsten ihre Handtasche mit den Dingern vollgestopft, doch ehe sie zugreifen konnte, betrat der Notar den Raum.
»Mrs Pike?« Er reichte ihr die Hand.
»Das bin ich.« Sie erhob sich leicht von ihrem Stuhl und schüttelte ihm die Hand. Kurz dachte sie über ihren Namen nach. Würde sie jetzt wieder ihren Mädchennamen annehmen? Wie lief das normalerweise? Über solche Dinge hatte sie sich noch nie Gedanken gemacht.
»Die Käufer müssen jede Minute hier sein. Möchten Sie einen Kaffee? Meine Sekretärin kann Ihnen …«
»Nein danke. Ich möchte nur so schnell wie möglich die Papiere unter…«
Julie sah auf, als Michael den Raum betrat. Gott sei Dank war er allein. Sie verspürte nicht das geringste Bedürfnis, seine neue Verlobte kennenzulernen.
»Hey«, sagte er mit gedämpfter Stimme und setzte sich neben sie.
»Hallo.« Sie dachte daran, dass sie jetzt zum letzten Mal etwas gemeinsam als Paar unterschrieben. Also, bis auf die Scheidungspapiere, aber dafür würden sie nicht nebeneinandersitzen müssen.
»Wie geht’s dir?«, fragte er leise, als die Käufer ins Zimmer kamen und sich mit dem Notar unterhielten.
»Tu doch bitte nicht so, als ob dich das interessiert, Michael.«
»Natürlich interessiert es mich, Jules … Ich meine, Julie.«
Sie konnte ihn nicht ansehen. Da saß der Mann, den sie ihr Leben lang geliebt hatte, und nun bereitete ihr seine Nähe Übelkeit. Er hatte sie angelogen und darüber hinaus fast zwei Jahre lang mit einer anderen Frau das Bett geteilt. Wie hatte sie das nicht bemerken können?
»Also gut, ich denke, wir können beginnen. Dieser Papierstapel wirkt ziemlich einschüchternd, aber darunter sind eine Menge Offenlegungen und solche Dinge. Insgesamt sollten wir nicht länger als zwanzig Minuten brauchen. Das meiste richtet sich an die Käufer, fangen wir also auf dieser Seite des Tisches an …«
Die meiste Zeit starrte Julie ins Leere und wurde nur aufmerksam, wenn der Notar sich an ihre Seite des Tisches wandte. Sie fühlte sich unendlich einsam und allein, obwohl ihr Mann direkt neben ihr saß. Der Mann, dessen Hand sie mehr als zwanzig Jahre lang gehalten hatte, war ihr so nah, und gleichzeitig unerreichbar weit weg. Ihr Herz hing noch an seinem, doch seins war bereits mit einer anderen verbunden. Alles war kalt und fremd und traurig.