Das Leben ist keine Kunst - Wladimir Kaminer - E-Book

Das Leben ist keine Kunst E-Book

Wladimir Kaminer

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Beschreibung

Was verbindet eine Putzfrau mit einem abgehalfterten Superstar, einem Kneipenwirt, einem Regenmacher, einem Maler oder Wladimir Kaminers Mutter? Wie all die anderen unvergesslichen Menschen in diesem Buch zeigen sie, wie sich das Leben und die Kunst zu hinreißenden Geschichten verbinden. Geschichten von höchster Komik, aber auch von grandiosem Scheitern. Was übrigens die Putzfrau betrifft: Ihr Fazit einer Don-Carlos-Premiere an der Berliner Staatsoper ist so unvergesslich wie die Oper selbst: „Eine schöne Aufführung, wenn auch unaufgeräumt, die Kostüme der Sänger ungebügelt, die Dekoration staubig und das Theater im Ganzen schlecht geputzt …“

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Seitenzahl: 263

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Buch

Lebenskünstler stürzen sich mit Herz, Fantasie und mitunter einem Schuss Versponnenheit ins Dasein. Wenn sie mit dem Leben zusammenprallen, entsteht immer eine Geschichte: ob von der Toilettenfrau in der ostdeutschen Provinz, die bei der Arbeit auf einen Superstar trifft, von dem Verfasser einfühlsamer Absageschreiben in einem kleinen Verlag oder von der Berliner Theatertruppe, die in Omsk für Heiterkeit sorgt, weil sie die russische Übersetzung ihres Stückes vom Band auswendig gelernt hat – einschließlich des Sprachfehlers der Tonbandstimme. In diesem hinreißend komischen Buch erzählt Wladimir Kaminer von Menschen, die mit Talent an ihre Arbeit gehen, aber deren wahres Genie in ihrem Umgang mit dem Leben liegt – egal, ob sie dabei triumphieren oder grandios scheitern.

Weitere Informationen zu Wladimir Kaminer sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches sowie unter www.russendisko.de

WLADIMIR

KAMINER

Das Leben ist (k)eine Kunst

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Manhattan Bücher erscheinen imWilhelm Goldmann Verlag, München,einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Copyright © 2015 by Wladimir KaminerCopyright © dieser Ausgabe 2015by Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.Die Nutzung des Labels Manhattan erfolgt mit freundlicher Genehmigungdes Hans-im-Glück-Verlags, MünchenUmschlaggestaltung und Konzeption:Buxdesign · München,unter Verwendung von Autorenfotos vonBoris Breuer © 2015Satz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-15046-4V003
www.manhattan-verlag.de

versinkt die roteSonnehinter demHumboldthainBald schenkt ihmniemand mehr– reinenWein ein(außer Uschi)

H.H.

Inhalt

Madonna

50 Cent und die Toilettenfrau

Die Schlüssel zur Wahrheit

Das Geheimnis des Regenmachens

Die Spuren des Hasen im Schnee

Der Goldgräber Suschin und die Kulturwissenschaftler

Pariser Patience

Zu blöd für Heiner Müller

Schriftsteller Calpirowski

Oboe und Fagott

Die ewigen Spinner

Gaddafis letzter Moskaubesuch

Für Elise

Modern Talking

Der traurige Clown Kowalew

Udo

Der Tag der Schildkröte im Jahr der Kartoffel

Der Dokumentarfilmer

Der Bücherwurm

Homer

Kapitän No More

Einmannstück

Trr cha cha

Fischmalerei

Die Unaufgeforderten

Heideggers Gänseblümchen

Warum die Maler malen

Der Zauberer und der Wissenschaftler

Unser Karlsson, vom Dach gefallen

Die Opfer der Kunst

Zauberhaftes Russland

Rasputin

Don Carlos

Zehn Bücher, die mein Leben ruiniert haben

Jede Ewigkeit ist schnell vorbei

Madonna

Jürgen las die Nachricht wieder und wieder. Zuerst dachte er, einer von seinen Mitarbeitern wolle ihn auf den Arm nehmen. In der E-Mail stand, dass die weltberühmte Sängerin Madonna, die einen Film über Osteuropa mitproduziert hatte, die Berlinale besuchen würde und ihre Premierenparty in seiner Kneipe Ostbär feiern wolle – und zwar übermorgen. Das Management von Madonna würde die Party vorbereiten und frage nun an, ob der Laden am Samstag zu mieten wäre. Er solle, falls Interesse bestünde, so schnell wie möglich beim Management anrufen.

Jürgen lachte und schüttelte ungläubig den Kopf. Madonna? In seinem Laden? Aber warum eigentlich nicht? Er schaute im Internet nach: Tatsächlich war Madonna in der Stadt, und den Film, den sie angeblich mitproduziert hatte, gab es wirklich. Es ging darin um die Reise eines jungen Amerikaners in die Ukraine oder so ähnlich. Allerdings war der Film nicht gerade neu, er lief in Amerika bereits im Kino und wurde deswegen auf der Berlinale nicht im Wettbewerb, sondern in einem Rahmenprogramm gezeigt, das Filmen über Osteuropa gewidmet war. Jürgen hatte den Film nicht gesehen, er hatte ehrlich gesagt auch Madonna noch nie gehört. Zu Hause hörte er Rock – Punkrock. Er hatte alle CDs von Den Ärzten, und einige Platten von AC/DC.

Auch für Filme über Osteuropa hatte er sich nie interessiert, er wohnte in Osteuropa. In einer Berliner Vorstadt geboren und aufgewachsen, merkte er auch nach Jahrzehnten im Kapitalismus, dass der Osten zwar vom Westen unterwandert, besetzt, aber nicht aufgelöst worden war. Die Bewohner des Ostens waren in der Konsumgesellschaft angekommen, aber geistig und kulturell hatten sie ihre Eigenständigkeit bewahrt, ihre karge Sprache und ihr in den sozialistischen Jahren errungenes Recht auf Faulheit. Alles Eigenschaften, die jeden Wessi auf die Palme brachten. Der Widerstand des Ostens war nicht gebrochen. Die kapitalistischen Geschenke wurden hier zwar gerne angenommen, die Billigwaren wortlos konsumiert, die verführerischen Fernsehshows und amerikanischen Serien, die ganze dekadente Belustigungspalette mit höflichem Interesse wahrgenommen. Doch wenn es darum ging, die Ärmel hochzukrempeln und sich endlich richtig ausbeuten zu lassen, den eigenen Sklavenbeitrag auf den Baustellen des Kapitalismus zu leisten, dann schrieb sich der Osten krank, beschwerte sich über unerträgliche Rückenschmerzen und nahm dem Ausbeuter gegenüber die bekannte Straußenpose ein: den Kopf in den (märkischen) Sand gesteckt, den Hintern zum Feind gerichtet.

Viele Wessis, die nach der Wende mit großen Plänen in den Osten gekommen waren, scheiterten mit ihren »Projekten«. Daran konnte auch Madonna, dieses MTV-Flittchen mit ihren Filmen, nichts ändern, dachte Jürgen. Oder war alles doch bloß ein dummer Witz? Ohne lange zu überlegen, wählte Jürgen die Nummer von Madonnas Management.

»Hallo!«, sagte eine Frauenstimme.

Madonna!, dachte Jürgen, und sein Herz hörte für eine halbe Sekunde auf zu schlagen.

Eine angenehme Stimme bestätigte den Auftrag und fragte nach, ob es möglich wäre, jetzt gleich eine Bestätigung für die Feier zu bekommen. Außerdem sei es wichtig, die Höhe des Mietpreises zu klären.

»Ich muss mich zuerst mit meinen Partnern darüber beraten, ich rufe Sie in fünf Minuten wieder an«, log Jürgen und legte auf.

In Wirklichkeit hatte er gar keine Partner. Die Kneipe mit unvergesslichem Ostberliner Charme made in DDR mit Originaltapete von damals und einer sozialistischen Preistafel aus der Zeit, als ein Bier noch 1,30 Mark gekostet hatte, gehörte ihm allein. Mehrmals in den letzten Jahren hatte er hier Menschen mit Kameras zu Besuch gehabt, ein Mal, zum Mauerjubiläum, waren sogar Schweden gekommen, japanische Touristen kamen ebenfalls, und irgendwann geriet seine Kneipe in die Berlin-Reiseführer als ein Ort, an dem »der Schweiß des Mauerbaus noch an den Tapeten klebte«. Jürgen und seine Freunde hatten damals über diesen Satz sehr lachen müssen. Es war eigentlich kein Wunder, dass Madonna seinen Laden ausgewählt hatte. Es gab gar nicht so viele Orte, die ihre Vergangenheit mit einer solch hartnäckigen Nachhaltigkeit pflegten wie der Ostbär.

Je länger Jürgen darüber nachdachte, umso unvermeidlicher erschien ihm diese Begegnung. Madonna und er, ihre Wege mussten sich früher oder später kreuzen, wenn sie sich tatsächlich für den Osten interessierte. Nur in einem Punkt hatte er noch keine Klarheit. Was sollte er von Madonna für diesen Abend verlangen? Bei den wenigen Vermietungen, die er pro Jahr hatte, nahm er in der Regel zwischen 300 und 500 Euro pro Abend, ohne Essen und Getränke. Einmal, als ein ehemaliger Mitarbeiter seinen Geburtstag feiern und die ganze Kneipe nur für sich und seine Gäste haben wollte, nahm er sogar nur einen Hunderter von ihm. Ein andermal, als eine Firma, die Druckerpatronen produzierte, ihre Weihnachtsfeier in seiner Kneipe abhalten wollte, nahm er dafür 1000 Euro. Aber was war ein Tausender für Madonna? So viel gab sie wahrscheinlich pro Tag für Lippenstifte aus.

Jürgen überlegte und überlegte und war sich doch unsicher. Er wollte nicht zu wenig verlangen, hatte gleichzeitig aber Angst, Madonna abzuschrecken, wenn er zu viel fordern würde. Er rief Markus, seinen Geschäftsführer, an und schilderte ihm kurz das Problem.

»Was soll ich von Madonna für einen Abend verlangen?«, fragte er ihn.

»Verlangen? Bist du vollkommen übergeschnappt?«, schrie Markus in den Hörer. »Du darfst nichts von Madonna verlangen, du musst froh sein und dich glücklich schätzen, dass dir so etwas Großartiges überhaupt passiert. Madonna kommt in deinen Laden! Einfach so! Andere Länder zahlen Millionen, um sie einzuladen, damit sie ihnen aus sicherer Entfernung ein bisschen was vorsingt.«

»Ich möchte aber nicht, dass sie singt«, erwiderte Jürgen. »Ich habe sie auch gar nicht eingeladen, sie ist von alleine gekommen. Ich nehme 2500 Euro, ich glaube, das ist okay.«

»Du bist ein verrückter Hund!«, japste Markus. »Wetten wir, dass sie nicht zahlt?«

»Wir wetten!«, sagte Jürgen, legte auf und wählte sogleich die Nummer von Madonnas Management.

»Tach, Ostbär hier«, sagte er. »Meine Partner und ich, wir sind bereit, Ihnen den Laden zu vermieten – für 2500 Euro. Sagen Sie genau, was Sie brauchen, wie viele Gäste werden erwartet, wie viel Personal muss ich bestellen, welche Getränke besorgen, möglicherweise brauchen Sie einen DJ …«

»2500 Euro ist etwas teuer«, sagte die Frau nachdenklich. »Ginge es auch für rund 2000?«

Natürlich ginge es für 2000!, schrie alles in Jürgen. Er ließ sich aber nichts anmerken und sagte nein, das ginge leider nicht, er müsse ja schließlich die Kneipe für einen ganzen Abend komplett schließen und das an einem Samstag, dem umsatzstärksten Tag in der Woche.

»Am Samstag machen wir das Hauptgeschäft, verdienen das meiste Geld«, sagte Jürgen zu der Frau am anderen Ende der Leitung. »Ich bin Ihnen sowieso schon freundschaftlich entgegengekommen«, meinte er etwas pampig und hörte, wie die Frau am anderen Ende auflachte.

»Gut, wenn dem so ist – wir zahlen den von Ihnen verlangten Preis. Über das Personal und die Sicherheit brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, wir bringen unsere eigenen Leute mit. Wir sind sehr daran interessiert, dass sich an diesem Abend kein Fremder, also kein von uns nicht eingeladener Gast, im Raum aufhält, auch nicht Ihre Freunde oder Mitarbeiter.«

Jürgen verschlug es beinahe die Stimme – diese Arschlöcher!

»Das geht nicht, ich habe eine sehr sensible Zapfanlage, nur meine Leute können mit ihr richtig umgehen«, sagte er.

»Wir brauchen Ihre Zapfanlage nicht, wir bringen eigene Getränke mit«, sagte die Sprecherin des Madonna-Managements. »Das Einzige, was wir von Ihnen brauchen, sind die Schlüssel. Können wir morgen gegen 18.30 Uhr kommen? Und ich möchte Sie auch noch bitten, den Inhalt unseres Gesprächs nach Möglichkeit diskret zu behandeln, auch die Tatsache, dass unser Filmteam und Frau Ciccone am Samstag im Ostbär feiern.«

Jürgen legte auf und atmete erst einmal tief durch. Trotz des hohen Preises fühlte er sich von Madonna angepisst. Diese Hochnäsigkeit und dieses Misstrauen. Es gab Frauen, die sich von Anfang an für etwas Besseres hielten, im Mann nur eine Art Haustier oder Zimmerpflanze sahen, keinen gleichberechtigten Partner, keinen Freund, sondern jemanden, den man entweder begießen muss wie einen Baum oder melken wie eine Kuh. Seine Ex war auch eine solche Frau. Während er sich um ihre gemeinsame Zukunft gekümmert und ihre Existenzsicherung betrieben hatte, die leere heruntergekommene Kneipe übernommen und sie mit Schweiß und Blut zu einem gut gehenden Geschäft ausgebaut hatte, dafür manchmal Tage und Nächte in der Kneipe verbringen musste, schloss sie ihr BWL-Studium ab, wurde selbstständig, eröffnete eine eigene Fahrschule und brannte schließlich mit einem ihrer Fahrlehrer durch. Sie war Madonna nicht unähnlich, hatte auf jeden Fall die gleiche Frisur.

Zwei Mal hatte sich Jürgen auf langfristige Beziehungen eingelassen, und beide Male waren sie zerbrochen. Seine zweite Freundin, eine professionelle Sportlerin, hatte ihn wegen eines Skilehrers sitzenlassen, den sie während ihres einzigen Skiurlaubs in den Bergen kennengelernt hatte – nach drei Jahren Zusammenleben. Und trotzdem zog es ihn immer wieder zu solchen selbstbewussten, selbstständigen Frauen wie einen Spieler an den Pokertisch.

In Vorbereitung auf den Samstagabend hatte Jürgen über Madonna weiter im Internet recherchiert. Er hatte unter anderem in Wikipedia Näheres über sie erfahren und dabei nach und nach Ähnlichkeiten zwischen seinem und Madonnas Leben entdeckt. Auch sie bevorzugte selbstbewusste Partner, auch sie wurde von ihren Partnern mehrmals enttäuscht, auch sie war mit einem Sportler, einem Fitnesstrainer, liiert gewesen. Genau wie Jürgen schien Madonna ein Arbeitsfreak zu sein, eine Workaholicerin, die ihr Leben vor allem als Arbeitseinsatz verstand. Auf den meisten Fotos sah sie hübsch aus, große Augen, blonde Haare und ein frisches freches Lächeln, als wäre sie nicht vor einem halben Jahrhundert, sondern erst vor zwanzig Jahren auf die Welt gekommen. Je länger sich Jürgen mit Madonna beschäftigte, desto mehr gefiel sie ihm. Er fand sie nett. Ihr einziger Nachteil war – sie sang. Sie tat es mit großer Hingabe und war bestimmt bei allen Fans der Popmusik zu Recht beliebt. Leider mochte Jürgen Popmusik nicht, sie ging ihm auf die Nerven. Aber was soll’s, sagte er sich, nobody is perfect.

Er bereitete sich innerlich auf das Treffen mit Madonna vor, frischte seine mangelnden Englischkenntnisse auf und stellte sich immer wieder vor, was er zu Madonna sagen, wie er sich vorstellen würde. Er hatte einiges erlebt in der DDR, wovon Madonna nicht einmal träumte, er könnte ihr viel erzählen – nicht nur über Osteuropa.

Die Zeit verstrich schnell. Noch zwei Mal meldete sich ihr Management, und Markus rief ebenfalls an, um zu fragen, ob er am Samstag kommen dürfe.

»Du darfst leider nicht«, wimmelte Jürgen ihn ab.

Einmal rief die Bild-Zeitung an: »Verehrter Herr Jürgen, unserer Zeitung liegen Informationen vor, wonach Madonna morgen in Ihrer Kneipe Ostbär ihre Filmparty feiern soll. Können Sie uns diese Information bestätigen?«

Woher haben die bloß meine Nummer?, überlegte Jürgen und weigerte sich, die Nachricht zu bestätigen, er dementierte sie aber auch nicht. Wie viele andere verachtete er die Bild-Zeitung, blätterte sie jedoch ab und zu durch und war in gewissem Maß durch diesen Anruf geschmeichelt. Es gefiel ihm, dass die größte Boulevardzeitung Deutschlands sich für sie beide interessierte: für ihn und Madonna. Der Ostberliner und die Italoamerikanerin – »Madonna hat einen neuen Lover in Berlin gefunden«, so stellte sich Jürgen in der Fantasie die Titelseite der Bild-Zeitung vor. Was für ein Quatsch!

Natürlich war das Quatsch. Andererseits merkte er überdeutlich, dass etwas geschah, etwas veränderte sich in seinem Leben. Die Grenze zwischen Zufall und Schicksal war hauchdünn, und vielleicht war sein vorheriges Leben bloß eine Ouvertüre gewesen, das Vorspiel zu einem anderen, zum wahren Leben – als Mann an Madonnas Seite zum Beispiel. Eines stand fest, sie waren beide Singles.

Die Zeitungsfuzzis riefen noch einmal und dann noch einmal an, sie verhandelten immer frecher mit ihm und bestanden quasi darauf, dass er irgendwelche Berichterstatter durch die Hintertür in seine Kneipe einschleuste. Es war nicht mehr lustig, und Jürgen warnte sie ganz direkt, ihn nicht weiter mit Anrufen zu belästigen. Es half nicht. Am Samstag rief die Bild-Zeitung beinahe alle zehn Minuten bei ihm an, immer andere Stimmen, die ihm die Ohren zerkauten. Schließlich schaltete er das Handy einfach aus. Seine Mitarbeiter bekamen frei. Sie alle wussten Bescheid, was im Laden los sein würde, auch bei ihnen hatte die Zeitung wahrscheinlich schon angerufen. Vielleicht hatte auch Markus sofort alles weitergetratscht. Dieser Wichtigtuer. Alle waren sauer, dass man sie derart ausschloss.

Jürgen bereitete sich zu Hause auf den Abend vor, ein wenig war ihm mulmig ums Herz: Was sollte er anziehen, was sagen? Nach langem Überlegen entschied er sich gegen Lederhose und T-Shirt und für seinen Anzug. Doch der Anzug war alt, er hatte ihn das letzte Mal zur Beerdigung seines Vaters zwei Jahre zuvor getragen. Also entschied er sich dann doch für Jeans und ein schwarzes Hemd.

»Sie und ich, wir könnten einander einiges erzählen« – das wäre zum Beispiel ein Satz für den Einstieg.

Aber zu lange Geschichten konnte er nicht bringen, dazu reichten seine Sprachkenntnisse nicht aus. Und was sollte sie ihm schon erzählen? Vielleicht andersrum: »Kommen Sie, ich zeige Ihnen meine Kneipe.«

Was interessierte sie seine Kneipe?

»Ich mag Ihren Gesang und Ihren Tanz!«

Gott, war das schwer.

Jürgen schaute in den Spiegel und fand sich hässlich. Daraufhin zog er doch den alten Anzug an, setzte sich vor die Glotze und machte ein Bier auf. Es war erst halb acht, die Party sollte kurz vor Mitternacht losgehen.

»Sie und ich, wir haben uns einiges zu sagen.«

Nein: »Wir haben uns viel zu sagen …«

Es war halb fünf, als er aufwachte. Jürgen schaute auf die Uhr, ins flimmernde Fernsehen, wieder auf die Uhr und traute seinen Augen nicht. Wie konnte das passieren? Er lief runter und über die Straße zu seiner Kneipe, machte die Tür auf – es war niemand drinnen. Aber überall auf dem Boden lagen Flaschen, Gläser und Essensreste, Häppchen mit undefinierbarem Zeug, Ananasscheiben vergammelten auf einem langen Tisch, eine schmutzige Krawatte lag auf dem Tresen und mit Lippenstift verschmutzte Servietten. Sein Telefon war ausgeschaltet. Er machte es wieder an und wählte die Nummer von Markus.

»Du hast geschlafen? Du hast Madonna verschlafen? Ich glaub’ es einfach nicht«, lachte Markus in den Hörer.

Jürgen versprach Markus eindringlich, ihm unheimliche Schmerzen zuzufügen, wenn nur eine Menschenseele etwas davon erfahren würde.

»Ich war da«, sagte Jürgen. »Wir waren die ganze Nacht mit Madonna zusammen, und wir haben getanzt. Sie ist eine Klassefrau und menschlich in Ordnung. Wehe, du sagst irgendetwas anderes.«

Doch schon am nächsten Tag wussten alle Bescheid. Natürlich sprach in seiner Gegenwart niemand darüber, die Menschen hängen immerhin ein bisschen an ihrem Arbeitsplatz. Doch hinter vorgehaltener Hand wurde Jürgen als der Mann bezeichnet, der Madonna verschlafen hatte.

50 Cent und die Toilettenfrau

Menschen handeln häufig nach Gefühl, aus dem Bauch heraus. Sie können sich dabei einbilden, streng nach Vernunft, gar nach Kalkül, vorzugehen. Sie glauben, alles durchgerechnet und im Griff zu haben. Doch hinter jedem Kalkül steckt immer eine Illusion, ein Traum, ein Missverständnis. Aufgrund von solchen Illusionen werden Kriege geführt, Friedensverträge geschlossen, die UNO trommelt ihre Blauhelme zusammen, Menschen treffen sich, Menschen verlieren sich. Und wer bringt alles wieder in Ordnung? Wer biegt den gekrümmten Stahl gerade? Wer näht die Löcher wieder zu? Jemand, den wir nicht kennen. Ich sage nur, im Hintergrund jedes Weltgeschehens steckt immer irgendeine bescheidene Person. Zum Beispiel eine Toilettenfrau aus Sachsen, die alle Strippen in der Hand hält.

Hierzu ein Beispiel: Mein alter Freund Tony gehört zu der kleinen Gruppe der ehemaligen Bürger der DDR, die von der Wende profitiert haben. In seinem früheren Leben kellnerte Tony in seiner Heimatstadt in einem sozialistischen Restaurant. 1990 fing er als Erster an, Bier und Würstchen im Stadion zu verkaufen. Damit zog er durch Sachsen und Thüringen und das mit großem Erfolg. Tony hatte die brillante Idee, seine Würstchen in »Hot Dogs« umzutaufen. In Sachsen hatte es zwar schon immer gute Würste gegeben, aber keine »Hot Dogs«. Tony wurden die Dinger buchstäblich aus der Hand gerissen. Er stellte mehrere Imbissbuden quer durch die neuen Bundesländer auf, eröffnete das erste Irish Pub, das erste Steakrestaurant, mehrere Cocktailbars und zuletzt einen großen Club mit eigener Brauerei.

Er war erst 35, aber manchmal überfiel ihn schon die Langeweile. Er suchte neue Herausforderungen und Abenteuer. Er flog für drei Tage nach Afrika auf Safari, dann nach Rio zum Karneval, wo er eine Brasilianerin kennenlernte, die er nach Sachsen abschleppte. Die Brasilianerin hörte auf den Namen Sabine, war zwei Meter groß, sachsenfeindlich und eifersüchtig wie ein Othello auf Speed. Sabine beschwerte sich bei jeder Gelegenheit über das schlechte Wetter und die langweiligen Männer in Deutschland. Im Jahr darauf packte sie all seine Geschenke zusammen und flog nach Brasilien zurück. Für Tony war das ein harter Schlag. Er gab seiner Stadt und seinen muffigen Mitbürgern die Schuld an Sabines Rückzug. Er hatte die Nase gestrichen voll davon, in einem Provinznest zu leben, aber umziehen wollte er auch nicht. Tony beschloss, seiner Heimatstadt ein neues Image zu verpassen, Weltstars einzuladen, große Konzerte zu veranstalten, die Jugendkultur voranzutreiben, es richtig krachen zu lassen und dann vielleicht noch einmal Sabine einzuladen.

Als Erstes lud er den amerikanischen Rapper 50 Cent ein, der gerade eine Tour durch Europa plante. Es war ein glücklicher Zufall. Für 50 Cent ging in Amerika die Sonne des Erfolgs langsam unter, er kam in den zahlreichen Hitparaden nicht mehr vor, galt aber noch immer als Superstar. Es war für ihn genau die richtige Zeit, Europa zu entdecken. Aus dem Vertrag mit 50 Cent, in dem allein die »Bedürfnisse des Künstlers« drei Seiten lang waren, ging deutlich hervor, dass Bescheidenheit nicht zu dessen Tugenden zählte. Zu den Bedürfnissen des Rappers gehörten eine weiße Limousine, fünf Kisten Champagner und 200 000 Dollar bar auf die Hand. Gebongt, schrieb Tony an die Agentur des Rappers und bekam damit die Ehre, als erster Veranstalter von 50 Cent in Sachsen in die Annalen der Musikgeschichte einzugehen.

Finanziell war dieses Konzert ein absehbares Desaster, das wusste mein Freund von Anfang an. Die Sachsen sind sowieso keine Rapper, die Revolution liegt ihnen nicht im Blut. Sie mögen eher Kuschelrock mit ostdeutschem Hintergrund. Doch selbst wenn die Puhdys spielten, kamen gerade mal tausend Leute in der Sportarena zusammen. Aller Anfang ist schwer, dachte Tony. Er besorgte das Bargeld und die Limousine, gewann sogar »Rotkäppchen Sekt« als Partner. Die Firma wollte bei den jungen Leuten für ihre prickelnden Produkte Werbung machen und sponserte für die Veranstaltung zehn Kisten »Käppchen Lux Superior«, das Edelste, was sie anzubieten hatte. Dazu noch zehn Kisten des Mixgetränks »Rotkäppchen vs. Wolf«, eine Mischung aus Sekt und Tequila. Das Teufelszeug sollte als Begrüßungsdrink verteilt werden.

Tony war mit der Vorbereitung des Konzerts voll ausgelastet. Vor lauter Aufregung hatte er Sabine schon fast vergessen. Zum verabredeten Termin landete 50 Cent mit einer gecharterten Maschine in Tonys Heimatstadt und trat in der Sportarena auf. Das Konzert war besser besucht als eines der Puhdys, obwohl auch nicht ausverkauft. Tony steckte dem Rapper noch 2000 Euro in die Tasche, damit er nach dem Konzert zu der eigens für ihn arrangierten Afterwork-Party in Tonys Club käme. Dort stellte er dem Rapper sein Team vor – den Programmdirektor, den Finanzdirektor, den Gastronomen, den Sicherheitschef … Alle schüttelten dem Musiker die Hand und wollten sich mit ihm fotografieren.

Nichts davon wusste Susi, die Toilettenfrau, die in der unteren Etage mit ihrem Tellerchen und kleinem Fernsehgerät im Durchgang zu den Toiletten saß. Susi hatte ein Glasauge und war in der Stadt eine Legende – auf jeden Fall viel bekannter als der amerikanische Gast. Nicht jeder traute sich, in Tonys Club auf die Toilette zu gehen, denn Susi war eine überaus gewissenhafte Toilettenfrau. Sie liebte Ordnung und Sauberkeit und forderte dasselbe auch von ihren Besuchern. Wenn sich jemand ihrer Meinung nach falsch benahm, zum Beispiel absichtlich danebenpinkelte, dann verpasste Susi ihm schon mal locker einen Tritt in den Hintern. Sie hatte einmal bei einer Harley-Davidson-Party einem Rocker die Lederjacke mit einer Schere auf dem Rücken zerschnitten, als er sie umarmen wollte, und einen schwäbischen Geschäftsmann biss sie in den Finger, als er ihr aus Spaß das Kleingeld vom Teller klauen wollte. Manche Gäste hatten im Laden sogar Toilettenverbot. Die Teenies hatten bei ihren Partys Angst aufs Klo zu gehen, sie pinkelten sich lieber in die Hose, als sich von dem »Glasauge« erwischen zu lassen.

Für viele im Club war es ein Rätsel, warum Tony diese völlig durchgeknallte Rentnerin überhaupt beschäftigte. Nur die wenigen Eingeweihten wussten Bescheid. Im früheren Leben in der sozialistischen DDR, als Tony noch kein cooler Clubbesitzer war, sondern ein kleiner Junge mit einem Schlüsselbund um den Hals, der bei seiner Mutter lebte, wohnte Susi ihnen gegenüber auf demselben Flur im Erdgeschoss eines großen Mehrfamilienhauses. Tonys Mutter arbeitete in der Kantine eines Betriebes, und oft, wenn die Leitung des Betriebes etwas zu feiern hatte, musste sie Überstunden machen. Tony hatte keine Lust, währenddessen allein in der Wohnung zu sitzen, und ging zu Susi. Sie hatte bei einem Betriebsunfall ein Auge verloren, bekam eine Invalidenrente, sah nicht schön aus und hatte deswegen nie einen Mann abbekommen. Tony und Susi aßen zusammen und spielten zusammen Lotto. Susi kuckte sogar das Sandmännchen mit, aber nur wenn Tony seine Hausaufgaben erledigt hatte, denn Ordnung musste sein, und Susi war eine sehr gewissenhafte Frau.

Dann kamen die neuen Zeiten, Tonys Mutter starb, und er wurde zum obercoolen Clubbesitzer. Susi langweilte sich zu Hause, bat Tony um eine Anstellung und bekam von ihm diese Arbeitsstelle vor der Toilettentür seines Clubs zugewiesen. Susi erledigte ihren Job mit großer Hingabe und genoss bei den Mitarbeitern große Autorität. Es war klar, eher würde Tony den Programmdirektor rausschmeißen, den Finanzdirektor oder den Koch – Susi wäre unter allen Umständen geblieben.

Die Party erreichte gegen drei Uhr nachts ihren Höhepunkt. Der amerikanische Gast trank fleißig, pendelte von Tisch zu Tisch, und unweigerlich näherte sich der Augenblick, da ihm klar wurde, dass er dringend auf die Toilette musste. Susi schaute gerade eine Filmwiederholung im Ersten Programm, als ein schwarzer Mann mit einer großen Sektflasche sich vor ihr aufbaute. Männer, die mit Flaschen auf die Toilette gehen, hatte Susi noch nie leiden können. Doch der Mann war ein Fremder und handelte möglicherweise aus Unwissenheit falsch. Sie streckte ihre Hand aus, um dem nächtlichen Gast die Flasche abzunehmen, und sagte »50 Cent«. Ich habe vergessen zu erwähnen, dass das Toilettengeld in diesem Laden willkürlich von Susi auf 50 Cent pro Person festgelegt worden war. So viel war ihr die Reinigung und Instandhaltung der Räume wert.

Der Rapper war von diesem Empfang ziemlich beeindruckt. Er hielt sich zwar für einen ganz Großen, hatte jedoch nicht damit gerechnet, dass seine Popularität so weit reichen würde. Spontan beschloss er, der Frau einen Gefallen zu tun. Er nahm ihren Kugelschreiber vom Tisch, um ihr auf ihren Kittel ein Autogramm zu kritzeln. Zehn Minuten später klopfte der Leiter des Sicherheitsdienstes an Tonys Bürotür, als der gerade den schönen Mädchen aus der 50-Cent-Begleitgruppe seine Afrika-Trophäen zeigte: Antilopenschädel und einen Tigerzahn, für teures Geld in einem Souvenirladen unter dem Tresen gekauft. Der Sicherheitschef meldete verlegen, dass es zu einer Schlägerei auf der Toilette gekommen sei – Susi gegen 50 Cent.

Sie gingen zusammen nach unten und halfen dem Sänger wieder auf die Beine, sein Gesicht war zerkratzt.

»Was ist passiert, Susi?«, fragte Tony.

»Er wollte nicht zahlen«, antwortete sie.

Tony und der Sicherheitschef gaben dem Rapper prophylaktisch eine Kopfnuss, trugen ihn an die frische Luft und steckten ihn in seine Limousine.

So ging sein erstes und letztes Konzert in Ostdeutschland zu Ende. Bald darauf verabschiedete er sich gänzlich von der Bühne und wurde Produzent. Und egal was passiert, er geht nie mehr mit einer Flasche auf die Toilette. Denn Ordnung muss sein.

Die Schlüssel zur Wahrheit

Der Kampf gegen ungesunde Gewohnheiten eint die Menschen nicht, er bringt sie noch weiter auseinander. Meine Stammkneipe »Schall und Rauch«, im verrauchten und versoffenen vorigen Jahrhundert entstanden, passte sich den neuen Zeiten an. Zuerst durften die Raucher nicht mehr mit den Nichtrauchern zusammen an einem Tisch sitzen, später, als das Rauchen generell verboten wurde, verwandelte der ideenreiche Wirt seine Kneipe in einen Club. Er ließ 2000 Schlüssel anfertigen und in die Tür ein zweites Schloss einbauen. Jeder Stammgast bekam für den Preis von zehn Euro einen eigenen Schlüssel und wurde Clubmitglied. Ein Fremder hatte dadurch keine Chance reinzukommen, es sei denn, er kannte jemanden mit einem Schlüssel.

Die meisten Stammgäste nahmen die Schlüsselidee mit Begeisterung auf, sie fühlten sich plötzlich als Mitbetreiber, obwohl sie nicht an den Gewinnen beteiligt waren. Immerhin durften sie mitentscheiden, wer reindurfte, konnten Gäste mitbringen und ungestört zusammen qualmen. Doch die meisten Gäste, die dort am Abend saßen, kamen allein. Ihre gebeugte Haltung, tief gesenkten Köpfe und Hände verrieten, dass ihre besten Freunde Smartphones waren. Dort spielte ihre Musik, dort wurde eine ihnen genehme Kunst diskutiert, von hier bekamen sie Botschaften von ihren Freunden.

Ich finde, es sieht komisch aus, wenn Menschen einander gegenübersitzen und sich auf die Hände schauen. Aber es ist die Realität des neuen Jahrhunderts, deswegen spielt der Wirt auch keine Musik mehr, um seine Clubgäste nicht zu stören. Denn jeder hat längst seine Musik mit.

Es war also still in der Schlüsselkneipe, alle starrten auf kleine Bildschirme, nur wir redeten. Wir, Menschen des vorigen Jahrhunderts, saßen in einer Gesellschaft am Tisch, die ausschließlich aus Künstlern bestand: eine Dichterin, ein Maler, eine Geigerin und ich, alles Menschen aus der Zeit, als Künstler noch Handwerker waren, keine Internetdesigner. Ich hatte seit drei Wochen nichts geschrieben und war deswegen melancholisch gestimmt. Könnte es sein, dass die Welt mir schon alles gesagt hat, was zu sagen war?, überlegte ich. Aus dieser Melancholie heraus warf ich die Frage in die Runde, ob meine Zeitgenossen ihre Kunst noch schätzten oder brauchten.

»Für mich zählte schon immer nur der Orgasmus«, sagte die Geigerin sehr überzeugend. »Die Quintessenz der Musik. Ganz egal, welches Werk gespielt wurde, vor Publikum oder ganz ohne, auf der Probe oder im Konzert, in Bremen oder in Frankfurt an der Oder, das hatte nie eine Bedeutung für mich. Alles tat ich nur für diesen einen Moment, der immer unerwartet kommt, an den Stellen, die man schon tausend Mal durch hat. Plötzlich nimmt die Flöte zwei Töne zu tief, der Dirigent stockt für eine Sekunde, die Geigen gehen höher, du kriegst eine Gänsehaut am ganzen Körper, deine Haare stehen zu Berge, und du siehst einen schnellen Lichtwechsel vor den Augen: dunkel, hell, noch heller, ganz dunkel. Nach einem solchen Spiel fühle ich mich gleich zehn Jahre jünger.

Leider ist der Musikorgasmus schwer zu bekommen, schwieriger als der beim Sex«, erzählte die Geigerin weiter. »Wie jede Liebe ist Musik eine kollektive Leistung, man sollte die Orchestermitglieder am besten lange und gut kennen. Mit immer neuen Partnern klappt es nicht. Man muss viel üben und Geduld mit den anderen haben, nicht schimpfen, wenn sie danebengreifen. Aber das Ergebnis lohnt sich allemal. Bei fünfzig Konzerten im Jahr habe ich ungefähr zwanzig Orgasmen. Es geht, ich bin zufrieden«, gestand die Geigerin.

»Ich male aus Abwehr, ich will nur das fertige Bild aus meinem Kopf haben«, erklärte der Maler. »Die Vorbestimmtheit des Seins verfolgt mich von Kindheit an. Als Kind bin ich jeden Morgen mit dem Gefühl aufgewacht, genau zu wissen, was jetzt kommen würde. Alle Fragen meiner Eltern konnte ich voraussehen. Hast du dir die Zähne geputzt? Hast du deine Hausaufgaben gemacht? Hast du den Ranzen gepackt? Ich wusste immer schon im Voraus, was die anderen sagen würden, ich wusste, wie meine Straße aussehen würde, wenn ich rauskam, meine Schule, unsere Hausfassade. Ich wusste sogar, wie die unbekannten Mädchen aussehen würden, die ich möglicherweise abends in einer Disko kennenlernte. Dieses störende Wissen ging mir total auf den Sack. Ich konnte mir nicht erklären, warum die Menschen zum Beispiel zu Wahrsagern gingen, um etwas über ihre Zukunft zu erfahren, wo ihnen doch die ganze Zukunft auf der Stirn geschrieben stand. Nichts störte mich mehr als die Vorbestimmtheit des Alltags.

Eines Tages merkte ich jedoch, ich konnte mich vom fertigen Bild in meinem Kopf befreien, wenn ich es auf eine Leinwand oder ein Blatt Papier malte. Kaum landete das Bild von der Straße, von der Hausfassade, von dem Mädchen auf der Leinwand, verschwand es aus meinem Kopf. Die Welt um mich herum wirkte plötzlich geheimnisvoll, sie verlor ihre klaren Linien und Konturen. Die Malerei war ein doppelter Gewinn. Ich war die vorbestimmte Welt los, die ich nicht ausstehen konnte, und konnte außerdem meine Bilder gut verkaufen. Viele Kunstsammler mögen vertraute Landschaften und Menschen, die sie kennen.«

Der Maler lächelte zufrieden.

»Und du?«, fragte er mich. »Warum bist du denn Schriftsteller geworden? Bist du als Kind beim Eishockey zu oft im Tor gestanden?«

Doch mir war nicht zum Spaßen zumute. Seit drei Wochen, wie gesagt, hatte ich keine einzige Zeile geschrieben und fühlte mich furchtbar arm. Schriftsteller sein sei eine Flucht, erzählte ich den Versammelten: