Das Leben kleben - Marina Lewycka - E-Book
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Das Leben kleben E-Book

Marina Lewycka

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Beschreibung

Die wunderbare und berührende Geschichte einer unwahrscheinlichen Freundschaft  Georgie Sinclair hat gerade ihren Mann vor die Tür gesetzt, ihr Sohn entwickelt eine beunruhigende Vorliebe für Weltuntergangs-Websites, und ihren Job bei einem Klebstoff-Fachmagazin findet sie auch nur bedingt faszinierend. Da trifft sie eines Tages Mrs Shapiro, die allein in einem halb verfallenen alten Haus lebt. Die verschrobene Dame ist Jüdin und im Zweiten Weltkrieg nach London geflohen. Als Mrs Shapiro ins Krankenhaus muss, bittet sie Georgie, sich um das baufällige Haus zu kümmern. Gleich mit ihrer ersten Tat setzt sich Georgie gehörig in die Nesseln: Der Handwerker, den sie mit Reparaturen beauftragt, ist keineswegs Pakistani, wie sie dachte, sondern Palästinenser. Eine potenziell heikle Konstellation. Zusätzliche Komplikationen ergeben sich durch zwei geldgierige Immobilienmakler, eine arglistige Sozialarbeiterin und Georgies Ehemann ... 

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Georgie Sinclair hat gerade ihren Mann vor die Tür gesetzt, ihr halbwüchsiger Sohn legt eine beunruhigende Vorliebe für Weltuntergangs-Websites an den Tag, und ihren Job bei einem dem Thema »Klebstoff« gewidmeten Fachmagazin findet sie auch nur bedingt faszinierend. Da trifft sie eines Tages Mrs.Shapiro, die allein in einem riesigen, halbverfallenen alten Haus lebt. Mrs.Shapiro ist Jüdin und kurz vor dem Zweiten Weltkrieg nach London geflohen. Von Verfallsdaten auf Lebensmitteln hält sie nicht viel, und das meiste, was sie sonst so braucht, findet sie auf dem Sperrmüll. Als Mrs.Shapiro ins Krankenhaus muss, bittet sie Georgie, sich um das baufällige Haus zu kümmern. Gleich mit ihrer ersten Tat setzt sich Georgie gehörig in die Nesseln: Der Handwerker, den sie mit Reparaturen beauftragt, ist keineswegs Pakistani, wie sie dachte, sondern Palästinenser …

Marina Lewycka

Das Leben kleben

Roman

Deutsch vonSophie Zeitz

Meinem Vater Petro Lewyckyj

Dichter, Ingenieur, Exzentriker

Oktober 1912 – November 2008

Teil 1 Klebstoffe in der modernen Welt

1. Klebrige Gerüche

Als ich Wonder Boy zum ersten Mal sah, pinkelte er mir ans Bein. Vermutlich sollte es eine Warnung sein, was ziemlich vorausschauend von ihm war, wenn man bedenkt, wie die Geschichte ausging.

Eines Nachmittags Ende Oktober hatte ich mich irgendwo zwischen Stoke Newington und Highbury im Norden von London in eine unbekannte Straße gewagt und zwischen zwei hohen Gartenmauern einen kopfsteingepflasterten Weg entdeckt. Nach fünfzig Metern öffnete sich der Weg auf einen runden grasbewachsenen Platz, und vor mir erhob sich eine große Villa mit zwei Giebeln, die halb verfallen, mit Efeu überwachsen und so versteckt hinter den Gärten der Nachbarhäuser war, dass man von draußen nie erraten hätte, was sich hier verbarg, hinter der wuchernden Ligusterhecke und einem Dickicht wilder junger Eschen und Ahornbäume. Ich ging davon aus, dass das Haus leer stand – wer konnte an einem solchen Ort wohnen? Am Torpfosten war eine Inschrift. Ich zerrte den Efeu zur Seite: Canaan House. Kanaan – der Name verströmte einen modrigen Hauch von Frömmigkeit.

Eine Wolke verschob sich, und ein niedriger Sonnenstrahl ließ wie durch einen Zaubertrick die Fenster aufleuchten. Dann verschwand die Sonne wieder, und im stumpfen Dämmerlicht sah ich bröckelnden Stuck, rohes Holz, wo die Farbe abblätterte, geflickte Fenster, kaputte Regenrinnen und eine stachlige Araukarie, die viel zu dicht am Haus gepflanzt war. Hinter mir fiel das Gartentor ins Schloss.

Plötzlich zerriss ein lautes Heulen die Stille, als weinte ein Kind. Es schien aus dem Dickicht zu kommen. Schaudernd zuckte ich zurück und rechnete halb damit, dass Christopher Lee mit blutigen Fangzähnen aus dem Gebüsch schnellen würde. Doch es war nur eine Katze, besser gesagt, ein großer weißer, brutal aussehender Kater mit drei schwarzen Pfoten und einem hässlichen Gesicht, der mit hoch erhobenem Schwanz aus den Büschen hervorstolzierte und mich mit seinem Blick aus funkelnden Augen durchbohrte.

»Hallo, Kater. Wohnst du hier?«

Er schlenderte heran, als wollte er sich an meinem Bein reiben, doch als ich mich bückte, um ihn zu streicheln, hob er den Schwanz, ein Zittern lief durch seinen Körper und ein starker Strahl Eau de Kater schwängerte die Luft. Bevor ich ihm einen Tritt verpassen konnte, war er schon wieder im Schatten verschwunden. Auf dem Rückweg durchs Gestrüpp roch ich seine Marke an meiner Jeans – ein stechender, klebstoffartiger Geruch.

Unsere zweite Begegnung fand etwa eine Woche später statt, und diesmal lernte ich auch seine Besitzerin kennen. Eines Abends gegen elf hörte ich Geräusche auf der Straße, ein Scharren und Poltern, dann das Klirren von Glas. Ich sah aus dem Fenster. Jemand holte Sachen aus dem Müllcontainer vor unserem Haus.

Erst dachte ich, es sei ein Junge, eine dünne, spatzenhafte Gestalt mit einer Schiebermütze tief im Gesicht; doch dann bewegte er sich ins Licht, und ich sah, dass es eine alte Frau war, dürr wie eine Straßenkatze, die an den dunkelroten Veloursvorhängen im Container zerrte, um eine Kiste mit den alten Schallplatten meines Mannes unter dem Gerümpel freizulegen. Ich winkte ihr durchs Fenster zu. Fröhlich winkte sie zurück, dann zerrte sie weiter. Plötzlich löste sich die Kiste, und die Frau fiel rückwärts auf den Boden, während die Schallplatten auf der Straße landeten und einige davon zu Bruch gingen. Ich öffnete die Tür und lief hinaus, um ihr zu helfen.

»Haben Sie sich verletzt?«

Sie rappelte sich hoch und schüttelte sich wie eine Katze. Ihr Gesicht war halb unter dem Mützenschirm verborgen – sie trug eine dieser großen, frechen Ballonmützen wie Twiggy früher, mit einer Strassbrosche an der Seite.

»Ich weiß ja nicht, was für Menschen solche Musik wegwerfen. Die großen russischen Komponisten.« Eine klangvolle Stimme, braun und körnig wie Früchtebrot. Ich konnte ihren Akzent nicht einordnen. »Müssen Barbaren sein, die hier wohnen, nich wahr?«

Sie stand breitbeinig da, mit erhobenem Kinn, als wollte sie mich zum Faustkampf herausfordern.

»Schauen Sie sich das an! Tschaikowsky. Schostakowitsch. Prokofjew. Und alle in der Mülltonne!«

»Bitte, nehmen Sie die Schallplatten mit«, sagte ich entschuldigend. »Ich habe keinen Plattenspieler.«

Ich wollte nicht, dass sie mich für eine Barbarin hielt.

»Danke. Ich liebe vor allem Prokofjews Klaviersonaten.«

Jetzt sah ich, dass hinter dem Container ein altmodischer Kinderwagen mit großen spiraligen Sprungfedern stand, in den sie bereits einige der Bücher meines Mannes gepackt hatte.

»Die Bücher können Sie auch mitnehmen.«

»Haben Sie sie alle gelesen?«, fragte sie, als wollte sie mich über meine barbarischen Tendenzen verhören.

»Alle.«

»Dann ist ja gut. Danke.«

»Ich bin Georgie. Georgie Sinclair.«

Sie nickte steif, ohne etwas zu sagen.

»Ich wohne noch nicht lange hier. Wir sind erst vor einem Jahr aus Leeds hierhergezogen.«

Da hob sie eine behandschuhte Hand – zwischen den Fingern waren Löcher – wie eine verschrobene Monarchin, die eine Untertanin grüßte.

»Mrs.Naomi Shapiro.«

Ich half ihr, die Platten von der Straße einzusammeln und sie auf die Bücher zu laden. Armes altes Ding, dachte ich, hat Pech gehabt im Leben und karrt ihren weltlichen Besitz in einem alten Kinderwagen durch die Gegend. Sie schob ihren Wagen die Straße hinunter und wackelte auf hohen Absätzen davon. Selbst in der kalten Luft konnte ich sie riechen, stechend und streng wie reifer Käse. Als sie ein paar Meter gegangen war, entdeckte ich den weißen Kater wieder, denselben räudigen Rowdy mit den drei schwarzen Socken wie neulich. Jetzt kam er aus dem Dickicht im Nachbargarten und folgte ihr die Straße hinunter, indem er sich von Deckung zu Deckung stahl. Dann sah ich, dass da eine ganze Kohorte schattenhafter Katzen war, die an Mauern und unter Büschen entlangglitt und der alten Frau folgte. Ich stand da und sah ihr nach, bis sie um eine Ecke bog und verschwand, die Königin der Katzen. Im nächsten Moment hatte ich sie vergessen. Ich hatte andere Probleme.

Von der Straße aus konnte ich sehen, dass in Bens Zimmer noch Licht brannte und sein Computer flimmerte, während er durchs Web surfte. Ben, mein kleiner Junge, der inzwischen sechzehn war, ein vollwertiger Bürger der web-weiten Welt. »Ich bin ein Cyber-Kid, Mama. Ich bin mit Hypertext aufgewachsen«, hatte er einmal zu mir gesagt, als ich mich beschwerte, dass er zu viel Zeit online verbrachte. Das Lichtfenster blinkte blau, dann rot, dann grün. In welchen Gewässern war er heute unterwegs? Was bekam er zu sehen? So spät. Allein. Ich spürte einen Stich im Herzen – mein sanfter, etwas zu ernster Ben. Wie konnten zwei Kinder derselben Eltern so unterschiedlich werden? Seine Schwester Stella, die zwanzig war, hatte das Leben an den Hörnern gepackt, zu Boden gerungen und brachte ihm bei, ihr aus der Hand zu fressen (zusammen mit einer wechselnden Ménage hoffnungsvoller junger Männer), in einer Wohngemeinschaft in einem Häuschen in der Nähe der Durham University, wo, immer wenn ich anrief, eine Party im Gange zu sein schien oder im Hintergrund eine Rockband probte.

Im oberen Fenster blinkte das bunte Rechteck noch einmal auf, dann erlosch es. Schlafenszeit. Ich ging ins Haus und schrieb meinem Mann einen kurzen Zettel mit der Bitte, seinen Müll abzuholen, schob ihn in einen Umschlag und klebte eine Briefmarke auf. Gleich am nächsten Morgen würde ich die Entsorgungsfirma anrufen, damit sie den Container abholte.

Lassen Sie mich erklären, warum ich die Sachen meines Mannes in einen Container geworfen hatte – dann können Sie selbst urteilen, wessen Schuld es war. Eines Morgens in der Küche. Es herrscht die übliche Eile, Rip muss ins Büro, Ben in die Schule. Rip drückt auf seinem BlackBerry herum. Ich mache Kaffee, schäume Milch auf und lasse den Toast anbrennen. Rauch und Dampf und frühmorgendliche Hektik schwängern die Luft. Im Radio laufen die Nachrichten. Ben poltert oben in seinem Zimmer herum.

Ich: Ich habe einen neuen Zahnbürstenhalter fürs Bad gekauft. Meinst du, du könntest ihn irgendwann an der Wand festmachen?

Er: (Schweigen.)

Ich: Er ist sehr schön. Weißes Porzellan. So eine Art dänisches Design.

Er: Was?

Ich: Der Zahnbürstenhalter.

Er: Wovon zum Henker redest du, Georgie?

Ich: Von dem Zahnbürstenhalter. Er muss an der Wand angebracht werden. Im Bad. (Ein Hauch von hilfloser Einfalt in meiner Stimme.) Ich glaube, es ist ein Fall für Akutbohrer und Dübel.

Er: (Ein tiefer männlicher Seufzer.) Manche von uns versuchen auf der Welt etwas zu bewirken, wichtige Dinge, Georgie. Dinge, die die Entwicklung der Menschheit vorantreiben und dazu beitragen, die Zukunft kommender Generationen zu gestalten, verstehst du? Und du quatschst hier von Zahnbürsten.

Ich kann nicht erklären, was in diesem Moment über mich kam. Mein Arm zuckte, und plötzlich war alles voller Milchschaumflocken – die Wände, er, sein BlackBerry. Eine Schaumflocke klebte in den blonden Haaren seiner linken Braue und zitterte mit seinem Zorn.

Er: (Wütend.) Was ist denn in dich gefahren, Georgie?

Ich: (Kreischend.) Dir ist alles scheißegal, oder? Das Einzige, was dir wichtig ist, ist deine verdammte weltverändernde zukunftsgestaltende Scheiß-Arbeit!

Er: (Schüttelt ungläubig den Kopf.) Zufälligerweise ist mir nicht alles egal. Es ist mir wichtig, was auf der Welt passiert. Auch wenn ich nicht sagen kann, dass mir eine Zahnbürste wichtig ist.

Ich: (Starre fasziniert auf den Milchschaum, der sich langsam von seiner Braue löst und zu rutschen anfängt.) Ein Zahnbürstenhalter.

Er: Was zum Teufel ist ein Zahnbürstenhalter?

Ich: Das ist ein … oh! (Da plumpst sie, die Flocke … platsch!)

Er: (Reibt sich selbstgerecht das Auge.) Ich weiß nicht, warum ich mir so was anhören muss.

Ich: (Jetzt in vollem Schwung.) Keiner verlangt von dir, dass du es dir anhörst. Warum gehst du nicht einfach? Und nimm deinen Scheiß-BlackBerry mit. (Nicht dass die geringste Gefahr bestünde, dass er das Ding vergessen könnte.)

Er: (Hochnäsig.) Deine hysterischen Anfälle sind nicht sehr attraktiv, Georgie.

Ich: (Frech.) Nein, und du bist auch nicht attraktiv, du blöder, aufgeblasener Furz.

Dabei war er attraktiv. Das war das Problem. Und jetzt habe ich endgültig alles vermasselt, dachte ich, während ich mir vorstellte, wie Mrs.Shapiro durch die Straßen wackelte, mit seiner kostbaren Sammlung großer russischer Komponisten in ihrem Kinderwagen.

2. Pheromone

Ich saß an meinem Schreibtisch, schaute hinaus in den Regen und versuchte die Novemberausgabe von Klebstoffe in der modernen Welt fertigzustellen, als der Container-Laster kam. Klebstoffe können manchmal ziemlich zäh sein, muss ich zugeben, und ich war dankbar für jede Ablenkung. Ich sah zu, wie der Lastwagen rückwärts heranfuhr, sich rasselnd in Position brachte und die Ketten mit den Haken herunterließ, um den übervollen Container hinaufzuhieven; dann baumelte der Container in der Luft, mit der feuchten Gästematratze, den zerzausten Papieren, den schlaff flatternden Zeitschriften, den Müllsäcken voller Kleider und den Kartons, die die nassgeregneten Reste von Rips ach-so-wichtiger Arbeit enthielten, bevor er mit einem befriedigenden dumpfen Schlag auf die Pritsche knallte. Als der Mann fertig war, ging ich hinaus und bezahlte ihn, und ich muss gestehen, ich hatte ein schlechtes Gewissen, als ich dem Lastwagen nachsah. Ich wusste, dass Rip stinksauer sein würde.

Als er an dem Tag mit dem Streit über den Zahnbürstenhalter abends aus dem Büro kam, hatte ich mich längst beruhigt, doch er war immer noch sauer. Er fing an, seine Sachen ins Auto zu laden.

Ich: (Nervös.) Was machst du da?

Er: (Mit steinerner Miene.) Ich gehe. Ich ziehe bei Pete ein.

Ich: (Klammernd. Jämmerlich. Rückgratlos. Voll Selbstverachtung.) Geh nicht, Rip. Es tut mir leid. Es ist doch nur ein Zahnbürstenhalter. Ich bringe ihn selbst an. Weißt du was (kleines Kichern), ich werde lernen, wie man mit dem Akutbohrer umgeht.

Er: (Zwischen zusammengebissenen Zähnen.) Es geht wohl nicht nur darum, oder?

Ich: Was meinst du damit? (Eine schreckliche Wahrheit dämmert mir.) Gibt es …?

Er: (Seufzt gelangweilt.) Nein, es gibt keine andere Frau, wenn du das meinst. Nur …

Ich: (Erleichtert.) Nur … ich?

Er: (Sieht auf die Uhr.) Ich muss los. Ich habe Pete gesagt, dass ich um sieben da bin.

Ich: (Wie ein verachtenswerter Wurm, der zu armselig ist, um aus seinem traurigen Loch zu kriechen, aber trotzdem Gleichgültigkeit heuchelt.) Schön. Wenn du das willst. Von mir aus. Grüß Pete von mir.

Pete war Australier, Rips Squash-Partner und Kollege bei seinem Zukunftsentwicklungsprojekt. Wir nannten ihn Pete das Muskelpaket, weil er immer enge weiße, muskelbetonende T-Shirts und große weiße Turnschuhe trug und mit lauter Stimme Witze über Lesben riss. Trotzdem mochte ich ihn irgendwie. Er und seine Frau Ottoline wohnten in einem Haus mit hohen Fenstern in Islington, und sie hatten ein Dachgeschossapartment, das sie manchmal vermieteten. Eines Abends stand ich vor dem Haus und schaute zu den erleuchteten Fenstern hinauf. Sie konnten nicht sehen, wie ich dort unten im Dunkeln stand und mir die Tränen herunterliefen.

Die Heulphase dauerte ein paar Wochen. Dann kam die Wut.

»Ich komme wieder und hole den Rest meiner Sachen ab«, hatte er gesagt, als er ging.

Aber er kam nicht. Die Schuhe im Hausflur – ich gab ihnen jedes Mal im Vorbeigehen einen Tritt –, die Kleider im Schrank – sie rochen immer noch schwach nach ihm –, die alten Ausgaben des Economist und New Statesman, die sich an der Wand stapelten, die Aktenschränke, die fast platzten vor Zukunftsentwicklung. Sogar eine gebrauchte Unterhose hatte er im Wäschekorb gelassen. Was stellte er sich vor – sollte ich sie rausfischen und waschen?

Ich wollte nicht, dass er mit seinem abgelegten alten Zeug mein neues unabhängiges Leben verstopfte. Ich werde es überstehen, redete ich mir ein. Ich komme drüber weg. Ich lerne einen anderen kennen. Und nur um mich zu überzeugen, dass ich es ernst meinte, hatte ich den Container bestellt. Vielleicht hätte ich alles zu Oxfam bringen sollen, aber ich hatte kein Auto und es schien so kompliziert. Und außerdem, wäre ich zu Oxfam gegangen, wäre diese Geschichte vielleicht nie geschrieben worden, weil es der Container war, der mich und Mrs.Shapiro zusammenführte.

Etwa eine Stunde, nachdem der Container weg war, klingelte es an der Tür. Jetzt schon! Ich stand wie angewurzelt da, gelähmt von der Ungeheuerlichkeit dessen, was ich getan hatte. Es klingelte wieder, länger diesmal, drängender, mit der unmissverständlichen Botschaft: Ich weiß, dass du da bist. Nein, am besten machte ich einfach nicht auf. Aber was, wenn er mich durchs Fenster sah? Vielleicht sollte ich die Schuhe ausziehen und mich leise nach oben schleichen. Und wenn er durch den Briefkastenschlitz spähte und sah, wie ich die Treppe hochschlich? Wenn er durchs Fenster meine Silhouette sah? Auf Zehenspitzen ging ich in den Flur, legte mich auf den Boden, wo ich durch kein Fenster zu sehen war, und hielt die Luft an.

Es klingelte wieder und wieder und wieder. Anscheinend hatte er sich nicht täuschen lassen. Dann klapperte der Briefkastenschlitz. Dann war es still. Als ich so auf dem Boden lag und an die Decke sah, während das Licht allmählich schwächer wurde, spürte ich, dass sich mein Herzschlag beruhigte und mein Atem langsamer wurde. Irgendwann ging mir ein Lied durch den Kopf.

»Did you think I’d lay down and die? Oh no, not I! I will survive!« Du dachtest, ich lege mich hin und sterbe? Oh nein, nicht ich. Ich überlebe. Gloria Gaynor. Eins der Lieblingslieder meiner Mutter. Wie ging es noch mal? »At first I was afraid, I was petrified.« Zuerst hatte ich Angst, ich war wie gelähmt. Ich fing an zu singen. »I didn’t know if I could dada dada without you by my side … dada change the locks … I will survive!« Den größten Teil des Texts hatte ich vergessen, aber den Refrain wusste ich: »I will survive! I will survive!«, grölte ich aus voller Kehle. Ich überlebe.

So fand mich Ben, als er aus der Schule kam, auf dem Boden liegend und lauthals singend. Er hatte die Tür so leise aufgeschlossen, dass ich ihn nicht gehört hatte; dann schlug ich die Augen auf und sah, wie er zu mir herunterblickte.

»Geht’s dir nicht gut, Mum?«, fragte er besorgt.

»Doch, natürlich, Schätzchen. Das war nur … ein kleines musikalisches Intermezzo.«

Ich rappelte mich auf und sah aus dem Fenster. Die Straße war leer. Es regnete wieder. Bis auf ein paar schwarze Vinylscherben auf der Straße sah alles aus, als hätte es nie einen Container gegeben. Dann sah ich eine Broschüre auf der Fußmatte liegen. Ben hob sie neugierig auf. Der Wachtturm. Wacht und betet allezeit, denn ihr wisst nicht, wann die Zeit da ist.

»Was ist das denn?«

»Das ist die Zeitschrift der Zeugen Jehovas. Es geht um das Ende der Welt, wenn Jesus zurückkehrt und alle wahren Gläubigen in den Himmel geholt werden.«

»Hm.« Er blätterte sie durch, und zu meiner Überraschung steckte er sie ein und stapfte damit die Treppe hinauf in sein Zimmer.

Wie schade. Ein tröstendes Gespräch mit ein paar netten Zeugen Jehovas hätte mir gutgetan.

Als Ben und ich uns zum Abendessen hinsetzen wollten, klingelte es wieder. Ben ging an die Tür.

»Hallo, Dad.«

»Hallo, Ben. Ist deine Mutter da?«

Diesmal konnte ich mich nicht verstecken. Ich musste ihm über dem Tisch ins Auge sehen. Das Muskelpaket war bei ihm. Beide trugen Jogginganzüge. Sie mussten den ganzen Weg von Islington gelaufen sein. Ich roch ihren Schweiß. Die ganze Küche stank nach Pheromonen, und sofort verspürte ich einen demütigenden Anflug von Lust – meine treulosen Hormone ließen mich im Stich, gerade als ich dachte, ich würde mein Leben langsam wieder in den Griff kriegen.

Er: (Mit ausgestreckten Beinen auf den Stuhl gefläzt, als würde ihm alles hier gehören.) Hallo, Georgie. Ich habe deine Nachricht bekommen. Ich bin hier, um meine Sachen zu retten.

Ich: (Hilfe! Was habe ich getan.) Da bist du zu spät dran. Heute Morgen haben sie den Container abgeholt.

Er: (Mit aufgerissenen, blinzelnden Augen, ein Mund wie ein kleines o, das mich an einen Karpfen erinnert.) Du machst Witze. (Ja, an einen Karpfen, und nicht an jemanden, der die Zukunft gestaltet. Haha!)

Ich: Warum sollte ich Witze machen? (Sein Haar scheint auch ein bisschen gelichtet. Gut. Er sieht wirklich nicht so toll aus, wie er sich einbildet.)

Er: (Ungläubig.) Sie haben meine Platten abgeholt? Meine großen russischen Komponisten?

Ich: (Kleines spöttisches Lächeln.) Mhm.

Er: (Noch ungläubiger.) Und meine alten Rugby-Stiefel?

Ich: Den ganzen Müll. (Wie kann ein Mann, der ohne mit der Wimper zu zucken seine loyale, hingebungsvolle Ehefrau sitzen lässt, wegen eines Paars schimmliger alter Turnschuhe feuchte Augen bekommen?)

Er: (Resignierter Seufzer.) Warum bist du nur so kindisch, Georgie?

Kindisch? Ich? Ich griff nach einem Teller Nudeln. Wieder spürte ich das Zucken in der Hand. Pete grinste verlegen vor sich hin und versuchte sein Gesicht hinter dem Guardian zu verstecken. Dann sah ich Bens ängstlichen Blick – armer Ben, er sollte es nicht mit ansehen müssen, wenn sich seine Eltern danebenbenahmen. Ich stellte den Teller wieder auf den Tisch, stürmte aus dem Zimmer und rannte die Treppe hinauf; dann warf ich mich aufs Bett und blinzelte die Tränen weg. Ich überlebe. Ich bin stark. Ich tausche die Schlösser aus. Schau dir Gloria Gaynor an – sie hat aus ihrem gebrochenen Herzen ein Lied gemacht und Millionen gescheffelt. Als ich da lag, den Stimmen unten lauschte und wünschte, ich hätte die Nerven behalten, kam mir plötzlich ein reizvoller Gedanke. Ich konnte nicht singen, aber ich konnte schreiben.

Tatsächlich war ich schon fast so weit. Ich hatte einen Arbeitstitel und einen tollen Künstlernamen. Mir ging ein verführerisches Bild durch den Kopf – ich als gedruckte Autorin, in modisch zerknittertem Leinen und mit einer schicken Ledertasche voller Druckfahnen, die ich lässig über der Schulter trug, während ich mit einer Entourage von hübschen jungen Dichtern um den Globus jettete. Rip würde der Welt als egozentrischer Workaholic präsentiert, erbärmlich ausgestattet, mit einer unstillbaren Viagra-Sucht und Schuppen. Seine Frau wäre wunderschön und leidgeprüft und hätte einen fantastischen Hintern.

»Forget! Survive!«, sang Gloria Gaynors Stimme in meinem Kopf. »You’ll waste too many nights thinking how he did you wrong. Change the locks! Grow strong!« Du grübelst zu viele Nächte lang, was er dir angetan hat. Tausch die Schlösser aus! Sei stark!

Und natürlich hatte Gloria eigentlich recht. Meine bisherigen Roman-Versuche, zwölfeinhalb vollgeschriebene Hefte, hatte ich in einer Schublade verstaut, zusammen mit einer Mappe voll hochnäsiger Ablehnungsschreiben.

Sehr geehrte Ms. Firestorm,

besten Dank für die Zusendung Ihres Manuskripts Das verspritzte Herz. Ihr Text bietet farbenfrohe Charaktere und eine beeindruckende Menge an Adjektiven, aber ich bedaure Ihnen sagen zu müssen, dass es uns nicht ganz überzeugt hat …

So etwas war schlecht für den Kampfgeist, und mein Kampfgeist war ohnehin schon schwach. Aber es nutzte nichts – der Same des Optimismus keimte in meinem Herzen, und in meinem Kopf begannen bereits die ersten Zeilen zu sprießen. Ein leeres Heft hatte ich noch übrig.

Das verspritzte Herz Kapitel 1

Es war nach Mitternacht, als Rick sich erschöpft auf seinen breiten, muskulösen dicklichen Rücken wälzte und sich mit kräftigen Fingern mit den Fingern mit abgekauten Nägeln durch das dichte, lockige, naturblonde diskret gefärbte Haar fuhr.

Na gut, ich weiß, ich bin nicht Jane Austen. Und vielleicht hatte Ms. Nicht-ganz-überzeugt recht mit den Adjektiven. Ich starrte die Seite an. Hatte ich jetzt schon eine Schreibblockade? Unten im Flur hörte ich Stimmen. Die Haustür fiel ins Schloss. Dann ging die Schlafzimmertür einen Spalt auf.

»Alles in Ordnung, Mum? Willst du nichts zu Abend essen?«

3. Haltbarkeit

Nachdem Rip in die Mansardenwohnung bei Pete dem Muskelpaket gezogen war, einigten wir uns darauf, dass Ben abwechselnd eine halbe Woche bei ihm und eine halbe Woche bei mir wohnen würde. Eines Morgens sah ich, wie Ben mit einem Bleistift die Tage auf dem Kalender markierte. Sonntag, Montag, Dienstag: Dad. Mittwoch, Donnerstag, Freitag: Mum. Samstag – das war der problematische Tag – eine Woche bei Dad, die nächste bei Mum. Wir zerbrachen ihn in zwei Hälften und teilten ihn unter uns auf. Ich sah an seiner gerunzelten Stirn, dass er angestrengt versuchte, herauszubekommen, in welcher Woche wir uns gerade befanden. Ben war fest entschlossen, zu uns beiden fair zu sein.

Während die Wut auf Rip in meinem Herzen gerann, wurde ich manchmal von einer Apathie erfasst, die so stark war, dass sie an Schmerz grenzte. An den Tagen, wenn Ben nicht da war, ertrug ich es kaum, allein zu Hause zu sein. Die Stille war wie ein grelles Klingeln, wie Ohrensausen. Wenn ich von einem Zimmer ins andere ging, dröhnten meine Schritte auf dem Laminat. Wenn ich aß, hörte ich, wie das Kratzen von Messer und Gabel auf dem Teller in der Küche widerhallte. Anfangs versuchte ich es damit, das Radio anzustellen oder Musik aufzulegen, aber das machte es noch schlimmer: Ich spürte die Stille, selbst wenn ich sie nicht hörte.

Wenn die Stille zu viel wurde, machte ich einen Spaziergang, nur um aus dem Haus zu kommen. In bequemen ausgelatschten Turnschuhen und meinem uralten braunen Dufflecoat mit der großen flatternden Kapuze und den Fledermausärmeln wanderte ich durch die Dämmerung und spähte durch erleuchtete Fenster in das Leben anderer Leute, die zu Abend aßen oder auf dem Sofa fernsahen, und versuchte mich zu erinnern, wie es war, wenn man als Familie zusammenhing. Vielleicht hätte ich mich lieber schick machen und nach einem neuen Mann Ausschau halten sollen, doch die Fledermausärmel meines Mantels umfingen mich wie Arme, und sie waren damals mein einziger Trost. Ich glich zwar weniger Batwoman als vielmehr einer derangierten Riesenfledermaus, doch das spielte keine Rolle, weil mir sowieso niemand begegnete, den ich kannte. Außerdem machte mich der Mantel unsichtbar.

Eines Nachmittags ging ich bis nach Islington Green zu Fuß, weil ich vorhatte, ein paar Sachen bei Sainsbury’s einzukaufen und dann den Bus zurück zu nehmen. Es war gegen vier, und die Dame mit den Aufklebern platzierte gerade die abendlichen Rabatte. Um sie herum wogte eine Schar von Kunden wie ein Schwarm Piranhas zur Fütterungszeit. Meine Mutter war eine große Verfechterin des Einkaufs abgelaufener Lebensmittel, und ich erinnerte mich mit einem Anflug von Nostalgie, wie sie mich als kleines Mädchen im Supermarkt auf die Jagd nach den leuchtend roten REDUZIERT-Aufklebern geschickt hatte, die wie purpurne Küsse auf den Frischhaltefolien klebten. Sie glaubte nicht an Salmonellen oder Listerien, und selbst eine unangenehme Erfahrung mit betagtem Krebsfleischimitat dämpfte ihre Begeisterung nicht. »Wer den Pfennig nicht ehrt«, sagte sie und tätschelte ihre elastische Mitte. Mama ehrte ihre Pfennige, als kämen sie direkt vom Himmel. Seltsam, dass man noch Jahrzehnte nach dem Auszug aus dem Elternhaus etwas von den Eltern mit sich herumtrug. Doch jetzt, ohne die Gewissheit im Hintergrund, dass Rips Lohn jeden Monat mit einem satten Klingeln auf unserem gemeinsamen Konto landete, verstand ich auf einmal die scharfe Kante der Unsicherheit, die meine Mutter ein Leben lang begleitet haben musste. Oder ich war einfach so deprimiert, dass ich mich mit den ausgetrockneten Pastetchen und den traurigen verschmähten Chickenwings solidarisch fühlte. Jedenfalls schloss ich mich dem Gedränge an.

Die Aufkleber-Dame arbeitete unendlich langsam und ihre Etiketten blieben ständig in der Maschine hängen. Sobald sie ein Produkt gekennzeichnet hatte, schoss ein Arm aus der Menge und riss es ihr aus der Hand. Die reduzierten Waren erreichten nicht einmal das Regal. Dann fiel mir auf, dass es immer dieselbe Hand zu sein schien, die aus der Menge kam: eine knochige, knotige, mit Klunkern überzogene Hand, die unermüdlich zuschlug. Als ich der Hand mit den Augen folgte, entdeckte ich eine alte Frau, die zwischen den Schultern zweier dicker Damen durchtauchte. Ihr Haar steckte unter einer feschen karierten Schottenmütze mit einer strassbesetzten herzförmigen Brosche, doch ein paar Strähnen schwarzer Locken hatten sich gelöst. Ihre Hand schwirrte hin und her wie ein wild gewordener Greifarm. Es war Mrs.Shapiro.

»Hallo!«, rief ich.

Sie hob den Kopf und starrte mich einen Moment lang an. Dann erkannte sie mich.

»Georgine!«, rief sie. Sie sprach das G hart aus, und dehnte den vorletzten Vokal. Georgiene! »Guten Tag, Darlink!«

»Schön, Sie zu sehen, Mrs.Shapiro.«

Ich beugte mich zu ihr und gab ihr ein Küsschen auf jede Wange. Im engen Supermarktgang roch sie reif und furzig wie alter Käse gemischt mit einem Hauch von Chanel No. 5. Ich sah die Gesichter der anderen Kunden, als sie zurückwichen, um sie durchzulassen. Sie hielten sie für eine Obdachlose, eine Spinnerin. Sie konnten nicht wissen, dass sie Bücher sammelte und große russische Komponisten hörte.

»Jede Menge schöne Schnäppchen heute, Darlink!« Mrs.Shapiro war ganz atemlos vor Aufregung. »In einer Sekunde der volle Preis, in der nächsten die Hälfte – gleiche Ware, kein Unterschied. Schmeckt immer besser, wenn man weniger bezahlt, nich wahr?«

»Sie sollten mal meine Mutter kennenlernen. Sie ist ständig auf Schnäppchenjagd. Sie sagt, es hat etwas mit dem Krieg zu tun.«

Ich nahm an, dass Mrs.Shapiro etwas älter als meine Mutter war, vielleicht Ende Siebzig. Faltiger, aber auch lebhafter. Statt in den alterstypischen breiten Halbstiefeln mit Klettverschluss wackelte sie wie ein Starlet auf zehenfreien Stöckelschuhen herum, aus denen die schmuddeligen Zehen ihrer grauweißen Baumwollsocken heraussahen.

»Nicht nur mit dem Krieg, Darlink. Ich hab schon früh im Leben lernen müssen, über die Runden zu kommen. Ein hartes Leben ist ein guter Lehrmeister, nich wahr?«

Ihre Wangen waren rot, der Blick konzentriert und wach, die Stirn leicht gerunzelt vom Mitrechnen, als die neuen Etiketten auf den alten landeten.

»Kommen Sie schon, Georgine, Sie müssen zupacken!«

Ich drängelte mich an einer der dicken Damen vorbei und griff bei einer Dose Chicken Korma zu, die von 2,99 auf 1,49 heruntergesetzt war. Mama wäre stolz auf mich gewesen.

»Man muss schnell sein! Mögen Sie Würstchen? Hier!«

Mrs.Shapiro riss einem erschrockenen Rentner eine Packung Würstchen aus der Hand, die auf 59 Pence reduziert war, und warf sie in meinen Korb.

»Oh … danke.«

Die Würstchen sahen unappetitlich rosa aus. Sie ergriff mein Handgelenk, zog mich zu sich und flüsterte mir ins Ohr: »Die können Sie haben. Juden essen keine Würstchen.« Enttäuscht sah der Rentner den Würstchen hinterher.

»Sind Sie auch jüdisch, Georgine?« Anscheinend hatte sie den entgeisterten Blick bemerkt, mit dem ich die Würstchen ansah.

»Nein. Ich bin nicht jüdisch. Ich bin aus Yorkshire.«

»Ach, so. Macht nichts. Sie können ja nichts dafür.«

»Haben Sie sich die Schallplatten schon angehört, Mrs.Shapiro? Sind sie in Ordnung? Nicht zu zerkratzt?«

»Herrliche Platten. Glinka. Rimski-Korssakow. Mussorgski. Was für Musik. So erhebend.« Sie spreizte die knochigen Hände theatralisch in der Luft, mit glitzernden Ringen und kirschrot lackierten Fingernägeln. Aus der Nähe sah ich das Rouge auf ihren Wangen, das ich für Röte der Aufregung gehalten hatte; in Wirklichkeit waren es zwei kreisrunde rote Tupfen, der eine hatte in der Mitte einen deutlichen Fingerabdruck.

»Schostakowitsch. Prokofjew. Mjaskowski. Mein Arti hat sie alle gespielt.«

»Wer ist Arti?«, fragte ich, doch sie wurde von einer Quiche Lorraine für 79 Pence abgelenkt.

Ich wollte nicht zugeben, dass ich mich nicht für Klassik interessierte – für mich war es Rips Angebermusik. Persönlich war ich eher ein Fan von Bruce Springsteen und Joan Armatrading.

»Ich fürchte, ich habe kein Ohr für Musik.«

Rip hatte mich immer damit aufgezogen, wie unmusikalisch ich war und dass selbst mein Badewannengesang kultivierten Ohren wehtäte.

»Große Kunst ist nichts für die Massen, Darlink. Aber vielleicht wollen Sie etwas lernen, hm?« Sie klimperte mit ihren azurblauen Lidern. »Ich werde Ihnen etwas vorspielen. Essen Sie gern Fisch?«

Als sie das sagte, fiel mir der fischige Geruch unter dem Käse-Chanel-Aroma auf. Er kam aus ihrem Einkaufswagen. Bei ihrer Schnäppchenbeute lagen mehrere Packungen Fisch, auf denen SONDERPREIS stand. Ich zögerte. Dieser Fisch roch eindeutig verdächtig. Selbst Mama hätte ihn liegen lassen.

»Kommen Sie zum Essen, ich koche für Sie.«

Armes altes Ding, sie musste einsam sein, dachte ich.

»Das würde ich gerne, aber …« Aber was?

Während ich versuchte, mir eine Ausrede einfallen zu lassen, stieß sie plötzlich einen gellenden Schrei aus. »Nein, nicht! Du Dieb!«

Im Gang entstand ein wütendes Handgemenge, rasselnd krachten Einkaufswagen aufeinander. Der Rentner, dem sie die Würstchen weggenommen hatte, hatte heimlich versucht, sie aus meinem Korb zurückzuklauen. Doch Mrs.Shapiro entriss sie ihm und hielt sie in die Luft.

»Du Dieb! Zahl gefälligst den vollen Preis für deine Würstchen, wenn du welche willst!«

Erniedrigt und geschlagen zog der Rentner Leine. Mrs.Shapiro drehte sich triumphierend zu mir um.

»Ich wohne nicht weit von Ihnen. Großes Haus. Großer Garten. Zu viele Bäume. Totley Place. Kanaanhaus. Kommen Sie am Samstag um sieben.«

»Haben Sie eine Kundenkarte?«, fragte das Mädchen an der Kasse, als sie meine Schnäppchen über das Lesegerät zog (wo war die widerlich aussehende Käsesoße hergekommen?).

Ich schüttelte den Kopf und murmelte etwas von wegen Überwachungsgesellschaft, das auch von Rip hätte stammen können. Hinter mir in der Schlange fing Mrs.Shapiro Streit mit jemandem an und ich bereitete mich auf einen schnellen Abgang vor.

»Bravo, Darlink! Die Überwacher sind überall«, rief sie, während sie vorwärtsdrängte und dem Mann vor ihr den Einkaufswagen in die Hacken rammte. Der Mann war ein Hüne mit kurzem blondem Bürstenschnitt, gebaut wie ein Rugby-Spieler. Er drehte sich um und warf ihr einen finsteren Blick zu.

»Tut mir leid, Darlink, tut mir leid.« Roter Lippenstift leuchtete auf. Blaue Lider klimperten. Der Hüne schüttelte traurig den Kopf. Der Anblick von Verrückten schien ihn zu deprimieren.

Er passierte die Kasse und ging hinaus auf den Parkplatz. Ich beobachtete, wie er seine Einkäufe in einen schweren schwarzen Geländewagen mit getönten Scheiben räumte, der auf einem Behindertenparkplatz vor Mrs.Shapiros Kinderwagen stand. Direkt dahinter hatte sich seitlich ein blauer dreirädriger Reliant Robin gestellt. Innen an der Scheibe klebte ein Behindertenausweis. Der Hüne legte den Rückwärtsgang ein – sein Wagen sah aus wie einer dieser Humvee-Monstertrucks – und wollte ausparken, doch der Robin versperrte ihm den Weg. Auf der anderen Seite lud Mrs.Shapiro ihre Tüten in den Kinderwagen. Er fuhr ein Stück vor und streckte den Kopf aus dem Fenster.

»Können Sie Ihren Wagen zur Seite schieben, damit ich rausfahren kann, Lady?«

»Einen Moment, bitte«, rief Mrs.Shapiro. »Ich muss mir noch einen Rabatt geben lassen!« Sie hatte auf einem noch nicht reduzierten Apfel einen braunen Fleck gefunden und lief in den Laden zurück, um einen Sonderpreis auszuhandeln.

Während ich wartete, kam der Fahrer des Robin zurück. Es war ein kleiner verschrumpelter Mann, der am Stock ging. Er stieg in den Robin, nahm eine Fleischpastete aus der Tüte und begann zu essen. Der Mann im Humvee hupte laut und lange, doch der Mann mit der Pastete aß ungerührt weiter. Ganz langsam begann der Humvee rückwärts zu fahren, bis seine Stoßstange die Tür des Robin berührte. Klonk! Der Kleinwagen wackelte sichtlich. Inzwischen hatten sich ein paar Leute auf dem Bürgersteig versammelt. Ich erkannte die zwei dicken Damen aus dem Rabattgedränge, die Kekse aus einer Tüte aßen. Der Verkäufer der Obdachlosenzeitung hatte seinen Posten vor dem Eingang verlassen, ebenso ein Mädchen, das Flugblätter verteilt hatte, als ich gekommen war. Alle schrien den Fahrer an, er solle anhalten. Der Mann mit der Fleischpastete ließ sich nicht stören und genoss jeden Bissen.

Plötzlich legte der Humvee-Fahrer den Vorwärtsgang ein, riss das Lenkrad bis zum Anschlag herum und begann seine Chromstoßstange Zentimeter für Zentimeter auf mich und Mrs.Shapiros Kinderwagen zuzubewegen. Etwas an seinem verbissenen Kiefer und dem starr nach vorn gerichteten Blick, mit dem er mich ignorierte, brachte mich zum Kochen. Herausfordernd stellte ich mich vor den Kinderwagen und hielt ihn fest, meine Einkaufstüten zwischen den Füßen. Ich hatte diesen Streit nicht angezettelt, doch ich war bereit, zur Märtyrerin zu werden. Der Fahrer hupte und kam immer näher. Er wollte mit seiner Monsterstoßstange den Kinderwagen einfach zur Seite rempeln!

Da kam Mrs.Shapiro strahlend aus dem Supermarkt zurück. Sie hielt den Apfel hoch, der jetzt einen Rabattaufkleber trug.

»Sie haben mir fünf Pence Nachlass gegeben!«

Unter dem Verdeck des Kinderwagens holte sie ein Päckchen Zigaretten und eine Streichholzschachtel hervor, bot mir eine an – ich lehnte ab – und zündete sich eine Zigarette an.

»Danke, Georgine, dass Sie gewartet haben.« Sie deutete mit dem Kopf auf den Zeitungsverkäufer und das Mädchen mit den Flugblättern und flüsterte laut genug, dass sie es hören konnten: »Sehen aus wie Zigeuner, nich wahr? Wollten die meine Einkäufe stehlen?«

»Nein, sie haben …«

»Jetzt schieb endlich deinen Scheiß-Wagen weg, du alte Kuh«, bellte der Humvee-Fahrer aus seinem Fenster.

»Wagen Sie nicht, so mit ihr zu reden, Sie Rüpel!«, zischte ich zurück.

»Was hat er gesagt, Georgine?«

»Ich glaube, er möchte, dass Sie Ihren Wagen zur Seite schieben, Mrs.Shapiro, damit er mit seinem Auto rauskommt. Aber lassen Sie sich ruhig Zeit.«

Sie klimperte ihn mit ihren azurblauen Lidern an. »Tut mir leid, Darlink.«

Auf ihren Stöckeln leicht schwankend manövrierte sie den Wagen auf den Bürgersteig und ging paffend in Richtung Chapel Market davon.

4. Das Kleben ungleicher Materialien

Als ich nach Hause kam, setzte ich Teewasser auf und rief meine Mutter an, um ihr von meinem Abenteuer mit dem Kinderwagen zu berichten. Ich wusste, sie würde genauso begeistert von Mrs.Shapiro sein wie ich. (Mein Vater dagegen hätte sich in erster Linie gefreut, dass ich mich auf die Seite einer schwachen alten Dame stellte.) Im Oktober war Mama dreiundsiebzig geworden und die Jahre lasteten schwer auf ihr. Ihre Augen wurden schlechter ( »Mackeladegeneration«) und der Arzt hatte ihr geraten, nicht mehr Auto zu fahren. Mein Vater litt an Blasenschwäche. Ihr Sohn, mein Bruder Keir, seit fünf Jahren geschieden, zwei Söhne, die er fast nie sah, war im Irak. Und jetzt trennte ich mich von meinem Mann. In einem Alter, in dem meine Mutter dem rosigen Sonnenuntergang entgegensegeln sollte, schienen überall an ihrem Horizont Gewitter aufzuziehen.

Um sie zu trösten, erzählte ich ihr von meinen Schnäppchen. »Chicken Korma, Mama. Von 2,99 auf 1,49 runtergesetzt.«

»Großartig. Was sind Chickenkörner?«

Meine Mutter ist nicht dumm, sie ist nur schwerhörig – meine Großmutter hatte während der Schwangerschaft die Masern gehabt. Papa und ich ziehen sie auf, weil sie sich weigert, ein Hörgerät zu tragen. ( »Die Leute halten mich für eine Außerirdische, wenn ich mit Drähten in den Ohren rumlaufe.« In Kippax, wo ich herkomme, hat sie damit wahrscheinlich sogar recht.)

»Chicken Korma. Das ist ein indisches Gericht. Ziemlich scharf und mit Sahne.«

»O je, deinem Vater würde das wahrscheinlich nicht schmecken.« Ihre Stimme klang flach und resigniert.

Ich änderte meine Taktik.

»Hast du in letzter Zeit ein gutes Buch gelesen, Mama?«

Wenn sie in Stimmung war, waren Liebesromane ihr Lieblingsthema, ein heimliches Hobby, das ich mit ihr teilte. Mein Vater hatte mir mit sechzehn Die Menschenfreunde in zerlumpten Hosen geschenkt, den Klassiker der britischen Arbeiterklassenliteratur, und ich hatte so getan, als würde es mir gefallen, doch insgeheim langweilte und deprimierte es mich. Mama machte mich mit Georgette Heyer und Catherine Cookson bekannt, die ich zu verachten vorgab, doch insgeheim verschlang.

»Stell dich immer auf die Seite der Schwachen«, hatte mein Vater gesagt.

»Nichts ist besser als ein Happy End«, sagte meine Mutter.

»Ich habe gerade Türkise Versuchung gelesen«, seufzte sie jetzt ins Telefon. »Aber es war Mist. Zu viel Gestöhne und zerrissene Schlüpfer.« Eine Pause. »Hast du was von Europides gehört?«

Ich wusste, dass sie heimlich hoffte, wir würden uns wieder versöhnen. Ich hatte ihr nicht erzählt, dass er da gewesen war, um seine Sachen abzuholen.

Als Rip und ich uns ineinander verliebten, hatte ich mir manchmal vorgestellt, wir wären die romantischen Figuren einer großen stürmischen Liebesgeschichte vor dem turbulenten Hintergrund des Bergarbeiterstreiks, die die Grenzen von Geld und Klassen überwanden, um zusammenzusein. Ich war seine Tür zu einer exotischen Welt, wo edle Wilde über den Sozialismus diskutierten, während sie einander in den Grubenwaschräumen den Rücken einseiften. Er war meine Tür zu Pemberley Hall und Mansfield Park. Wir waren so voller Illusionen übereinander, dass es vielleicht zwangsläufig in einem spritzenden Gemetzel enden musste.

Nachdem Mama aufgelegt hatte, machte ich mir eine Tasse Tee und griff zum Stift.

Das verspritzte Herz Kapitel 2

Es war ein sonniger Oktobertag und Ripck war in Gedanken bei fleischlichen Freuden, als er mit seinem Mini Porsche durch die Midlands Hügel kroch röhrte, die noch immer in prächtigen Herbstfarben leuchteten. Ein paar Kilometer nach Leek Nach ein paar Kilometern … (Sollte ich auch die Ortsnamen ändern? Ich versuchte mich an meinen Journalismus-Kurs bei der munteren Mrs.Featherstone zu erinnern, doch ich wusste beim besten Willen nicht mehr, was sie zum Thema Verleumdung gesagt hatte.) … machte die Straße eine scharfe Rechtskurve, und Gina erblickte ein Tor mit zwei steinernen Torpfosten und einem Gitter, und dahinter, am Grund des Tals einen guten Kilometer entfernt, lag Holtham House Holty Towers wie eine steinerne Fregatte in einem rot, grün und golden schimmernden Meer. (Bewunderungspause: das war gut, das mit der Fregatte.) Unwillkürlich war Gina beeindruckt fühlte sich Gina auf unerklärliche Weise zu dem Haus majestätischen Bauwerk hingezogen, und ihr entging nicht, dass diese Leute Kohle hatten entgingen auch die alten Wappen und Friese nicht. So also lebten die oberen Zehntausend, dachte sie. Sie musste zugeben, dass sie angetan war. Wie grauenhaft.

Die Unterschiede zwischen unseren Familien hatten Rip viel weniger zu schaffen gemacht als mir.

Ich: (Flüsternd.) Du hast mir gar nicht gesagt, dass ihr so reich seid.

Er: (Murmelnd.) Wenn man Geld hat, merkt man erst, wie unwichtig es ist.

Ich: (Laut flüsternd.) Ja, aber wenn man nicht genug hat, ist es wichtig.

Er: (Mit leiser Zuversicht.) Ungleichheit spielt nur eine Rolle, wenn die Menschen sich deshalb minderwertig fühlen.

Ich: Ja, aber … (Was für ein Quatsch.)

Er: Du fühlst dich doch nicht minderwertig, oder, Georgie?

Ich: Nein, aber … (Natürlich fühle ich mich minderwertig. Ich weiß nicht, was ich mit den ganzen Messern und Gabeln tun soll. Ich habe das Gefühl, alle sehen auf mich herab. Aber das kann ich nicht zugeben, ohne dass ich wie ein Totalversager aussehe, oder? Also halte ich besser den Mund.)

Er: Mmh. (Küsst mich sanft auf die Lippen, und dann landen wir im Bett. Was immer schön ist.)

5. Fisch

Es dämmerte bereits, als ich am Samstagabend die Gasse zum Canaan House hinaufging, wo ich zum Abendessen eingeladen war. Kaum hatte ich den gruseligen Natriumschein der Straßenlaternen am Totley Place hinter mir gelassen, schienen die Schatten näher zu kommen, und ich muss zugeben, dass mir ein ahnungsvoller Schauder über den Rücken lief. Worauf hatte ich mich bloß eingelassen?

Die Nacht war kalt und sternenfunkelnd. Das Mondlicht säumte die Silhouetten der Bäume und die Giebel von Canaan House mit einem silbernen Rand. Doch selbst in dem düsteren Licht hatte die Mixtur der Stile etwas fröhlich Exzentrisches: viktorianische Erkerfenster, eine romanische Veranda mit gezwirbelten Säulen, auf denen mollige Rundbögen ruhten, überschwängliche Schornsteine im Tudorstil, und an der einen Seite klebte ein verrückter Dracula-Turm mit spitzen gotischen Fenstern. Ich würde nicht unbedingt sagen, ich fühlte mich auf unerklärliche Weise hingezogen, doch ich beschleunigte meinen Schritt. Der Gartenweg war fast zugewachsen, nur ein schmaler Pfad führte zur Veranda. Ich zog den Mantel enger um mich und spähte nach einem Lichtschein. Hatte sie vergessen, dass ich kam?

Obwohl das Haus im Dunkeln lag, hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden. Ich blieb stehen und lauschte. Es war nichts zu hören bis auf ein leises Blätterrascheln, das auch der Wind sein konnte. In der Luft hing ein Geruch nach Erde und modernden Blättern und ein stechender fuchsiger Gestank. Ich ging weiter, und als ich mich der Veranda näherte, platzte eine Katze aus dem Unterholz und sprang vor mir auf den Pfad. Und dann noch eine. Und noch eine. Ich konnte gar nicht zählen, wie viele Katzen sich um mich scharten, ein weiches, geschmeidiges, quirliges Gedränge, das sich schnurrend und miauend an meinen Beinen rieb und mit gold und grün glänzenden Augen zu mir aufsah, als wäre ich mitten in einen wimmelnden Schwarm pelziger Fische getreten.

Durch die matte Glasscheibe in der Haustür konnte ich jetzt einen entfernten schwachen Lichtschein sehen. Neben der Tür war eine Klingel. Ich drückte darauf und hörte es irgendwo tief im Haus läuten. Der Lichtstreifen vergrößerte sich zu einem Rechteck. Dann hörte ich schlurfende Schritte, eine Kette, die entriegelt wurde, und Mrs.Shapiro öffnete mir die Tür.

»Georgine! Darlink! Kommen Sie herein!«

Der Gestank, der mich empfing, als ich die Schwelle übertrat, war schwer zu beschreiben. Beinahe würgte ich, und ich musste mich schwer zusammenreißen, um nicht das Gesicht zu verziehen. Es war eine Mischung aus Moder, Katzenpisse, Fäkalien, verschimmelten Lebensmitteln, altem Gemäuer und Abwasser, und alles überlagernd ein widerlicher Gestank nach altem Fisch. Letzterer, wie mir erschütternd klar wurde, war das Abendessen.

Die Katzen hatten sich mit mir durch die Tür geschoben – letztendlich waren es doch nur vier – und rannten in den hinteren Teil des Hauses. Mrs.Shapiro klatschte in die Hände, um sie zu verscheuchen, doch sie lächelte nachsichtig.

»Kleine Pisskes!«

Sie trug ein langärmliges Kleid aus karminrotem Samt, tailliert und mit einem gewagten Ausschnitt, der ihre runzligen Schultern und die schlaffe Haut ihres Dekolletés entblößte. An ihrem Hals schimmerte ein doppelter Perlenstrang. Die dramatischen schwarzen Locken hatte sie mit Hilfe einer Sammlung von Perlmuttkämmen hochgesteckt und einen Hauch von passendem karminrotem Lippenstift aufgetragen, der allerdings nicht nur auf ihren Lippen gelandet war. Ich trug Jeans und einen ausgeleierten Pullover unter dem braunen Dufflecoat. Sie trat auf ihren Stöckelschuhen zurück und beäugte mich kritisch.

»Was tragen Sie für alte Schmatten, Georgine? Das ist aber nicht schmeichelhaft für eine junge Frau. So finden Sie nie einen Mann.«

»Ich … äh … brauche keinen …« Ich brach ab. Vielleicht war ein Mann genau das, was ich brauchte.

»Kommen Sie. Ich suche Ihnen etwas Besseres.«

Sie führte mich durch die große geflieste Eingangshalle, aus deren Mitte sich eine polierte Mahagonitreppe in den ersten Stock wand. Unter der Treppe stapelten sich schwarze Müllsäcke, zum Bersten voll mit – ich wusste nicht mit was, aber durch die aufgeplatzten Nähte konnte ich Bücher und Elektrogeräte und Geschirr und Wäsche sehen. Daneben parkte der alte Kinderwagen mit der hübschen Federung, mittlerweile randvoll mit gebündelten Lumpen, auf denen es sich ein paar getigerte Katzen bequem gemacht hatten. Mrs.Shapiro scheuchte sie fort und begann die Lumpen durchzugehen. Schließlich fand sie einen dunkelgrünen Zipfel, der sich, als sie daran zog, in ein schweres grünes Seidenkleid mit langen ausgestellten Ärmeln verwandelte.

»Hier«, sie hielt mir das Kleid ans Kinn. »Ich glaube, damit sehen Sie hübscher aus, nich wahr?« Ich warf einen Blick auf das Etikett: Es war 42, meine Größe, und von Karen Millen. Ein tolles Kleid. Wo zum Teufel hatte sie es her?

»Es ist wunderschön, aber …« Wenn ich so darüber nachdachte, ahnte ich, wo sie es herhatte – sie musste es aus dem Müll gefischt haben. »… aber das kann ich unmöglich annehmen.«

Wer warf ein solches Kleid auf den Müll? Dann dachte ich an Rips Sachen, die ich auf den Müll geworfen hatte, und plötzlich verstand ich – irgendwo war noch ein anderes Herz verspritzt.

»Mir ist es zu groß«, sagte sie. »Und an Ihnen sieht es bestimmt viel besser aus. Bitte, nehmen Sie es.«

»Vielen Dank, Mrs.Shapiro, aber …« Ich klopfte die Katzenhaare ab, die an dem seidigen Stoff klebten. Als ich es ausschüttelte, erhaschte ich den schwachen Geruch vom Schweiß und teuren Parfum seiner früheren Besitzerin, und ich fragte mich, was ihren Liebhaber dazu getrieben hatte, das Kleid zu entsorgen.

»Probieren Sie es an! Probieren Sie es! Keine falsche Bescheidenheit, Darlink!«

Erwartete sie, dass ich sofort hineinstieg? Anscheinend ja. Sie überwachte mich dabei, wie ich mich in der übelriechenden kalten Eingangshalle bis auf die Unterhose auszog und mir das Kleid, das noch warm von den schlafenden Katzen war, über den Kopf streifte. Es rutschte über meine Schultern und Hüften wie maßgeschneidert. Warum tat ich so etwas?, fragte ich mich. Warum ließ ich nicht meine eigenen Kleider an und sagte höflich, aber bestimmt gute Nacht? Ich dachte an Flucht, das tat ich wirklich. Aber dann dachte ich an die Mühe, die sie sich wahrscheinlich mit dem Essen gemacht hatte, und wie enttäuscht sie wäre. Und ich dachte an mein leeres Haus und die grellrosa Würstchen im Kühlschrank und die Krankenhausserie im Fernsehen. Und dann war es zu spät.

»Warten Sie, ich mach den Reißverschluss zu!« Ich fühlte ihre Hände wie knochige Klauen auf meiner Haut, als sie den Reißverschluss hochriss. »Sehr hübsch, Darlink. So sehen Sie gleich viel besser aus. Sie sind eine hübsche Frau, Georgine. Hübsche Haut. Hübsche Augen. Gute Figur. Aber schauen Sie Ihr Haar an. Sieht aus wie ein Schafspopo. Wann waren Sie das letzte Mal beim Friseur?«

»Ich weiß es nicht mehr. Ich …« Ich erinnerte mich, wie Rip mich früher angesehen hatte, wie er mir durchs Haar strich, wenn wir uns küssten.

»Soll ich Ihnen ein bisschen Lippenstift auflegen?«

»Nein, nein, danke, Mrs.Shapiro.«

Sie zögerte, musterte mich von oben bis unten. »Na gut. Für heute Abend reicht es. Bitte, kommen Sie.«

Dann folgte ich ihr durch eine Tür in einen langen düsteren Raum, wo ein ovaler Mahagonitisch mit einem weißen Tischtuch für zwei gedeckt war. In der Mitte der Tischdecke lag der große weiße Kater und schlief.

»Raus, Wonder Boy! Raus!« (Es klang wie Wunder Boy.) Sie klatschte in die Hände.

Der Kater streckte ein muskulöses schwarzbesocktes Bein hinter dem Ohr aus und begann sich das Geschlecht zu lecken. Dann kratzte er sich, und eine Wolke von Flusen stieg auf. Schließlich stand er auf, streckte sich ein paarmal, sprang vom Tisch und schlenderte durchs Esszimmer.

»Das ist Wonder Boy. Sieht aus, als hat er sich in der Ecke was gewünscht.« An der Wand bei der Tür, etwa in der Höhe von Wonder Boys Schwanz, war ein nasser Fleck, der mich an unsere erste Begegnung erinnerte. Als sie sich bückte und ihn hinter den Ohren kraulte, schnurrte er wie ein startendes Motorrad. »Er ist mein Liebling. Bald lernen Sie auch Violetta und Stinkerle kennen. Die Kleinen aus dem Kinderwagen kennen Sie ja schon. Mussorgski versteckt sich irgendwo. Er ist ein bisschen eifersüchtig auf Wonder Boy. Borodin lässt sich sowieso nie blicken. Er kommt nur zu den Mahlzeiten. Insgesamt sind es sieben. Meine kleine Familie, nich wahr.«

Ich reichte ihr die Flasche Wein, die ich mitgebracht hatte. Ein weißer Rioja. Passte gut zu Fisch. Wir mühten uns beide mit dem Korkenzieher ab; sie schaffte es schließlich, die Flasche zu öffnen, und schenkte jeder von uns ein Glas ein.

»Auf die Schnäppchen!«, sagte sie. Wir stießen an.

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?« Ich fürchtete mich ein bisschen vor dem, was in der Küche im Gange war, doch sie bedeutete mir mit einer strengen Handbewegung, mich zu setzen.

»Sie sind mein Gast. Bitte, Georgine, setzen Sie sich.«

Aus der Nähe sah ich, dass die Tischdecke nicht weiß war, sondern gräulich gelb, mit einer dicken Schicht Katzenhaare in den verschiedensten Farben. Auch die Servietten waren nicht weiß, sondern hatten rosa und rote Flecken, die Wein, Rote Bete oder Tomatensuppe sein konnten. Während Mrs.Shapiro in der Küche werkelte, versuchte ich diskret die Schmutzkruste zwischen den Zinken meiner Gabel zu entfernen und sah mich im Zimmer um. Das einzige Licht kam von einer Energiesparlampe in einem Messingkronleuchter, dessen andere fünf Glühbirnen durchgebrannt waren. An einer Wand war ein marmorner Kamin, und darüber hing ein großer goldgerahmter Spiegel, der so fleckig und trüb war, dass ich, als ich aufstand, um mich in dem grünen Kleid zu bewundern, welk und grau wirkte, trauriger und älter als das Bild, das ich von mir hatte – die Augen hohl und zu dunkel, das Haar vom Wind zerzaust und zu kringelig und das Kleid so anders als alles, was ich in den letzten Jahren getragen hatte, dass ich mich kaum wiedererkannte. Ich drehte mich schnell weg, als hätte ich einen Geist gesehen. An der gegenüberliegenden Wand waren hinter langen Vorhängen zwei hohe Fenster, die anscheinend mit Brettern vernagelt waren, und dazwischen hing ein Schwarzweißfoto, die altmodische Studioaufnahme eines jungen Mannes im Smoking mit markanten klaren Zügen und hellem lockigem Haar über einer hohen Stirn. In der linken Hand hielt er den Hals einer Violine. Er hatte irritierend helle Augen, die mich aus dem Foto anblickten, fast als wäre er hier, in diesem Zimmer. Seltsamerweise wirkte das Foto, obwohl es schwarzweiß war, leuchtender und lebendiger als mein eigenes Spiegelbild.

Als ich das Foto betrachtete, kam ein leicht fischiger Geruch ins Zimmer gezogen. Ich drehte mich um und sah Mrs.Shapiro mit einem großen Silbertablett in der Tür, auf dem zwei dampfende Suppenteller standen.

»Soupe de poisson. Cuisine française«, verkündete sie strahlend, dann stellte sie einen Teller vor mich und setzte sich mit dem anderen mir gegenüber. Ich sah in den Teller. In einer schmutzigbraunen dünnen Flüssigkeit schwammen ein paar graue Flocken herum.

»Bitte fangen Sie an. Warten Sie nicht.«

Ich tauchte den Löffel ein. Wahrscheinlich bringt es mich nicht um, sagte ich mir. In Kippax habe ich Schlimmeres gegessen. Auf der anderen Seite des Tischs schlürfte Mrs.Shapiro ihre Suppe mit gesegnetem Appetit und hielt nur inne, um sich mit der Serviette die Lippen abzutupfen. Aha – daher die roten Flecken. Ich stellte fest, dass ich, wenn ich die Luft anhielt, die Flüssigkeit schlucken konnte. Die grauen Flocken versuchte ich am Boden meines Tellers zu zerdrücken, damit sie nicht sah, wie viele ich übrig ließ.

»Köstlich«, sagte ich und versuchte eine saubere Ecke an der Serviette zu finden, um mir den Mund abzutupfen.

Der zweite Gang war zum Teil besser, zum Teil schlimmer als der erste. Besser, weil es gekochte Kartoffeln und Lauch mit heller Soße gab, die, auch wenn sie Klümpchen hatte, einigermaßen essbar aussah; schlimmer, weil der Fisch, ein ganzes, an den Rändern verfärbtes Filet von etwas Hartem, Braunem und Gelbem, so ekelerregend roch, dass ich wusste, ich würde es nicht runterbekommen. Selbst meine Mutter hatte nie so schlecht gekocht.

Als ich mit den Kartoffeln und dem Lauch begann, spürte ich plötzlich einen warmen Druck in der Leistengegend. Ich sah Mrs.Shapiro an. Sie lächelte. Aus dem Druck wurde ein Pochen, rhythmisch und fordernd. Was zum Teufel ging hier vor?

»Mrs.Shapiro …«

Sie lächelte wieder. Ich spürte ein Beben, das von einem seltsam schnarrenden Geräusch begleitet wurde, wie ein Motor, der an einem kalten Tag schlecht anspringt. Dann spürte ich durch den seidigen Stoff des Kleids das Pieksen scharfer Krallen in meinem Schenkel. Ich schob die Hand unter den Tisch und berührte warmes Fell. Endlich kam mir eine Idee.

»Mrs.Shapiro, das Foto«, ich zeigte auf die Wand hinter ihr, »wer ist das?«

In dem Moment, als sie mir den Rücken zuwandte, schob ich das Fischfilet von meinem Teller auf den Boden und gab der Katze einen Schubs.

»Das ist mein Mann«, sie drehte sich wieder zu mir um und faltete die Hände. »Artem Shapiro. Mein geliebter Arti.«

Unter dem Tisch wurde das Schnurren lauter, dann verwandelte es sich in ein zufriedenes Schmatzen.

»War er Musiker?«

»Einer der größten, Darlink. Vor dem Krieg. Bevor ihn die Nazis ins Lager gesteckt haben.«

»Er war im Konzentrationslager?«

»An der Ostsee. Viele Juden aus ganz Europa sind dort geendet. Sogar ein paar, die wir noch aus Hamburg kannten.«

»Ihre Familie kam aus Hamburg?«

»Wir sind 1938 geflohen.«

»Und Artem – hat er auch überlebt?«

»Das ist eine lange Geschichte, Georgine. Zu lang, und zu lange her.«

Der junge Mann auf dem Foto starrte mich mit seinen blassen, intensiven Augen an. Ich sah, wie elegant seine Finger den Hals der Violine hielten. Im Verspritzten Herz würde der Geliebte der Heldin auch solche Hände haben, dachte ich. Ms. Firestorm spitzte die Ohren; sie witterte eine große Liebesgeschichte vor dem stürmischen Hintergrund des Zweiten Weltkriegs.

»Bitte erzählen Sie sie mir, Mrs.Shapiro. Ich liebe Geschichten.«

»Ja, es ist eine Liebesgeschichte«, seufzte sie. »Aber ich weiß nicht, ob sie ein Heppy End hat.«

Die Geschichte, die sie mir in dieser Nacht zu erzählen begann, war wirklich eine Art Liebesgeschichte, und obwohl sie sie mir in ihrem merkwürdigen körnigen Englisch erzählte, füllte meine Fantasie die Lücken zwischen den Worten so lebhaft aus, dass ich später nicht mehr wusste, was sie erzählt und was ich dazugedichtet hatte.

Artem Shapiro, ihr Mann, erzählte sie, wurde 1904 in der kleinen Stadt Orscha geboren, in einem Land, das mal zu Polen, mal zu Russland, mal zu Litauen gehörte, die meiste Zeit aber einfach ein Ort war, wo die Leute – die Juden zumindest – still und leise ihren Geschäften nachgingen und während der Kriege, der Pogrome und dem politischen Tauziehen der Großmächte den Kopf einzogen.

»So sind wir. Wir glaubten, wenn wir stillhalten, würden wir alles überleben.«

Artems Vater war Geigenbauer, und recht erfolgreich, und er dachte, dass auch der Sohn dieses Handwerk erlernen würde, doch eines Tages griff Artem nach der Geige und begann zu spielen, und so fing alles an. Jeden Tag nach der Arbeit in der Werkstatt seines Vaters setzte er sich ein, zwei Stunden in den Hof und spielte die populären Melodien, die er auf der Straße hörte. Dann versuchte er eigene Melodien zu improvisieren. Die Nachbarn ließen alles fallen, womit sie gerade beschäftigt waren, und stellten sich an den Zaun, um ihm zuzuhören. Schon bald zeigte sich, dass er ein wahrhaft begnadeter Geigenspieler war.

»Darlink, jeder, der ihm zuhörte, war tief bewegt. Die Leute konnten nicht glauben, dass ein kleiner Junge so schön spielen konnte.«

Als Artem heranwuchs, zog seine Familie nach Minsk, der Hauptstadt von Weißrussland. Seine Eltern bezahlten ihm Unterricht bei einem Geigenlehrer, und der Lehrer riet, dass der junge Mann nach St. Petersburg gehen solle, oder Leningrad, wie es inzwischen hieß, mehrere hundert Kilometer weiter östlich, um am Konservatorium zu studieren.

»Und dort fühlte er sich wie ein Fisch im Wasser!«, sagte sie, während sie den scheußlichen braungelben Fisch mit offensichtlichem Vergnügen verspeiste.

Nach der Revolution war Leningrad der Mittelpunkt des politischen und kulturellen Lebens; Musiker, Schriftsteller, Künstler, Filmemacher, Philosophen wurden von dem Strudel politischer Ideen mitgerissen. Viele sympathisierten mit der Revolution und wollten ihre Kunst in den Dienst des Volkes stellen. Einer davon war Sergej Prokofjew, der den talentierten jungen Geigenspieler aus Orscha kennenlernte, als er das Orchester dirigierte, in dem Artem spielte.

»Auch Arti wollte die große Musik zu den Massen bringen.«

Er hatte die sozialistischen Ideen von seinem Vater, der ein jüdischer Bundist war, erklärte sie. Bevor ich nachfragen konnte, was ein Bundist war, redete sie weiter: »Solange man nichts Schlechtes über die Bolschewiken sagte, konnte man damals spielen, was man wollte.«

Ende der dreißiger Jahre spielte Artem die Erste Geige im Volksorchester und hatte gerade mit einer Solistenkarriere begonnen. Doch dann, als Stalins Griff fester wurde, wurden auch die Musiker auf Linie gebracht. Mrs.Shapiro runzelte die Stirn und schlang ihren Fisch herunter.

»Wie der arme Prokofjew. Er musste öffentlich bereuen, nich wahr? Wenn ich die Siebte Symphonie höre, muss ich immer daran denken, wie sie ihn gezwungen haben, den Schluss zu ändern.«

Wegen der falschen Sicherheit, die der Hitler-Stalin-Pakt versprach, rechnete in Russland niemand mit dem Überfall der Deutschen im Sommer 1941. Und so hielt es Arti, als er hörte, dass sein Vater krank war, für ungefährlich, im Juni nach Minsk zu fahren, um seine Familie zu besuchen. Weißrussland lag damals im östlichen Teil des ehemaligen polnischen Staatsgebiets, der kürzlich von Russland annektiert worden war, und es kursierten Gerüchte, was mit den Juden im von Deutschland besetzten westlichen Teil passierte. Zur gleichen Zeit, als jeder Jude, der konnte, nach Osten floh, reiste Artem als blinder Passagier auf einem Güterzug nach Westen, just als der Pakt zerbrach und die deutschen Truppen nach Osten durch Polen in die Sowjetunion marschierten.

»Fand er seine Familie wieder?«

»Ja. Seine Eltern und zwei seiner Schwestern waren noch da. Aber die Nazis errichteten in Minsk einen Stacheldrahtzaun um die Straßen, in denen die Juden lebten, damit keiner weglaufen konnte.«

»Ein Ghetto?«

»Ghetto. Gefängnis. Alles dasselbe. Aber Ghetto ist schlimmer. Zu viele Menschen auf einem Haufen. Keine Lebensmittel. Kartoffelschalen und Ratten aß man. Und jeden Tag wurden auf der Straße Menschen von Soldaten erschossen. Andere starben an Krankheiten. Manche waren so verzweifelt, dass sie Suizid machten.«

Mrs.Shapiros Stimme war so leise geworden, dass ich den Wasserhahn in der Küche tropfen hörte und eine Katze, die sich unter dem Tisch kratzte.

»Und was wurde aus Artems Familie?«

Als Artem in Minsk ankam, war die Bevölkerung bereits um Tausende von Juden angewachsen, die aus dem Westen geflohen waren, sowie um die deutschen Juden, für die in den Ghettos oder Konzentrationslagern in Deutschland und dem von Deutschland besetzten polnischen Territorium kein Platz mehr war. Trotz des Hungers und der Typhus- und Choleraepidemien, die im Ghetto wüteten, und täglichen Massenerschießungen – manchmal Hunderte Menschen auf einmal –, starben die Leute einfach nicht schnell genug weg. Sie alle zu erschießen hätte zu viel Munition gekostet. Dann kam einem örtlichen Nazikommandanten eine clevere Idee, wie man Juden effektiv töten konnte, ohne kostbare Kugeln zu verschwenden.

Eines Morgens wurden etwa vierzig Juden willkürlich von den Straßen geholt, in ein Waldstück am Ortsrand gebracht und gezwungen, eine Grube auszuheben. Dann wurden sie mit Stricken zusammengebunden und in die Grube, die sie selbst ausgehoben hatten, gestoßen. Russische Kriegsgefangene erhielten den Befehl, sie lebendig zu begraben.

»Aber die sturen Bolschewiken weigerten sich, und schließlich mussten sie die Juden doch erschießen, und die Russen dazu. Am Ende haben sie also noch viel mehr Kugeln verbraucht, nich wahr?«

Artems Vater hatte zu den vierzig gehört.

Um Kugeln und Zeit zu sparen, wurden mobile Vergasungswagen ausgerüstet, die von Ort zu Ort fuhren. Doch warum all die Arbeitskräfte verschwenden, wenn es in den Munitionsfabriken an Arbeitern fehlte? Es wurde beschlossen, dass arbeitstaugliche Juden wie Artem einen Beitrag zur Rüstung leisten sollten.

»Also haben sie ihn ins Lager geschickt.«

Der Ort, an den sie Artem schickten, war ein Arbeitslager, kein Vernichtungslager, doch ein Ferienlager war es auch nicht, von kalten Ostseewinden gepeitscht, hinter Stacheldrahtzäunen unter einem ewig bleiernen Himmel. An diesem elenden Flecken beutete eine Anzahl deutscher Firmen, darunter auch solche, die noch heute jeder kennt, die billigen Arbeitskräfte aus. Wer arbeitete, durfte essen, die anderen starben.

Doch die litauischen Wachen waren lasch und faul und setzten die Sicherheitsverordnungen ihrer neuen Herren nicht