Das Leben, von unten gesehen - Dimitri Verhulst - E-Book

Das Leben, von unten gesehen E-Book

Dimitri Verhulst

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Beschreibung

Liliya Dimova, einst die Muse in den Künstlerkreisen der bulgarischen Hauptstadt Sofia, ist als 71-jährige Witwe immer noch lebenslustig und subversiv wie je. Ihr Mann gehörte zu den verfemten Schriftstellern im Kommunismus, als Bulgarien der treueste aller Vasallenstaaten der UdSSR war und Michail Scholochow der literarische Gott. Doch Liliya will die Geschichte korrigieren und nimmt auf sehr originelle Weise Rache. Etwa, indem sie die Seiten aus Scholochows Werken als Toilettenpapier benutzt – aus Liebe zu ihrem verstorbenen Mann und für alle anderen Vergessenen im Kampf für das freie Wort.

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Seitenzahl: 138

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Zum Buch

Liliya Dimowa, einst die Muse in den Künstlerkreisen der bulgarischen Hauptstadt Sofia, ist als 71-jährige Witwe noch äußerst lebenslustig und subversiv wie je. Ihr Mann gehörte zu den verfemten Schriftstellern, als Bulgarien der treueste aller Vasallenstaaten der UdSSR war. In der Literatur zählte nur der sozialistische Realismus, ihr Gott war Michail Scholochow. Wer der Maxime nicht entsprach, dem drohte Lagerhaft; auch Liliyas Mann war zum Schweigen verdammt. Seine Witwe hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, die Geschichte des Kommunismus zu korrigieren, und nimmt Rache, indem sie z. B. die Seiten aus Scholochows Werken als Toilettenpapier benutzt – aus Liebe zu ihrem verstorbenen Mann und für alle anderen Vergessenen, die ihren Kampf um das freie Wort teuer bezahlen mussten.

Zum Autor

DIMITRI VERHULST wurde 1972 in Aalst, Belgien, geboren und gilt als einer der besten auf Niederländisch schreibenden Schriftsteller. Der Roman »Die Beschissenheit der Dinge«, in dem er seine eigene Geschichte erzählt, war ein Nr.-1-Bestseller, wurde für den AKO-Literaturpreis nominiert und mit dem Publikumspreis »Goldene Eule« ausgezeichnet. Die Verfilmung von Felix van Groeningen wurde in Cannes mit dem Prix Art et Essai prämiert. Dimitri Verhulsts Werke sind in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt und wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

DIMITRI VERHULST BEI BTB

Die Beschissenheit der Dinge. Roman

Die letzte Liebe meiner Mutter. Roman

Der Bibliothekar, der lieber dement war als zu Hause bei seiner Frau. Roman

DIMITRI VERHULST

DAS LEBEN,

VON UNTEN GESEHEN

ROMAN

Aus dem Niederländischen von Rainer Kersten

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Het leven gezien van beneden« bei Atlas Contact, Amsterdam/Antwerpen.

Dieses Buch wurde mit Unterstützung von Flanders Literature herausgegeben.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe März 2020

btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright © der Originalausgabe 2016 Dimitri Verhulst

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020 btb Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: © plainpicture/Christof Mattes; © Shutterstock/stockphoto mania

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

CP · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-23747-9V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Dem freien Wort.

All denen, die dafür gekämpft haben und immer noch kämpfen.

All denen, die dafür noch werden kämpfen müssen.

– 1965 –

Der zehnte Dezember ist nicht das denkbar fröhlichste Datum, um in Stockholm eine Festivität zu veranstalten, doch das wird Michail Scholochow wenig ausgemacht haben, als er im Jahr 1965 diese Stadt ansteuerte, um sich seinen Nobelpreis für Literatur abzuholen. Er wusste, was Winter bedeutet. Wie der Eisgang den Fluss in eine Polarlandschaft verwandelt, hatte er in jenem Roman beschrieben, durch den er auf immer in Erinnerung bleiben würde, solange die Menschheit sich überhaupt noch irgendwie für Bücher interessierte. Und obwohl der Wind grässlich dreinfahren kann an dem Ort, wo eine Goldmedaille ihn ungeduldig erwartete, dürfen wir uns angesichts seines Charakters getrost vorstellen, er habe bei der Ankunft im Schärengarten der schwedischen Hauptstadt sogar sein Jackett ausgezogen, um seine Abhärtung als echter Kosak zu beweisen. Wobei er die Jacke in Wahrheit wohl ganz normal anbehielt, sowohl aus Höflichkeit als auch aus Angst, er könne die Tischrede, die er sorgfältig in seiner Brusttasche verwahrt hatte, durch solch kleidungstechnischen Übermut verlieren. Vor seiner Abreise aus Moskau war er, der sogenannte »Leo Tolstoi des Volkes«, noch schnell zum Friseur gegangen und hatte sich ein paar Tropfen Parfüm auf den bald aus Marmor zu meißelnden Schädel gesprenkelt, um einen Preis in Empfang zu nehmen, den der echte, doch unbestreitbar weniger volkstümliche Tolstoi niemals bekommen hatte. Das hier war sein großer Tag. Heute wurde abgerechnet mit seinen dunklen Jahren als Holzhacker, Hafenarbeiter, Buchhalter, Steinmetz und Abgabenkommissar, als Mädchen für alles und Handlanger für nichts. Definitiv abgerechnet auch mit den Ärschen, in die er hatte kriechen müssen als Journalist auf seinem mühsamen Weg nach oben. Dass er seine Manuskripte anfangs hatte anbieten müssen wie Sauerbier, machte ihn jetzt nur noch größer, ihn, den Sohn einer analphabetischen Mutter. Mit Genugtuung dachte er an all die Redakteure, die sich nun gewiss die Haare rauften, da sie realisierten, dass sie die noch unkultivierten Geniestreiche eines künftigen Nobelpreisträgers abgelehnt hatten. Nicht mehr lang konnte es dauern, und sein Gesicht würde auf der Fünf-Kopeken-Briefmarke prangen, Straßenschilder würden mit seinem Namen versehen werden, und nur das ewige Leben konnte ihn jetzt noch der Ehrung durch ein Staatsbegräbnis berauben.

Bloßer Zufall existiert nur für Menschen ohne Talent. Dass das Stockholmer Rathaus an einer weiten Wasserfläche lag, hatte einen tieferen Grund, und der lautete: Michail Alexandrowitsch Scholochow! Leidenschaftlicher Liebhaber von Flüssen sowohl im Herzen als auch mit der Feder, hochoffizieller Beschützer der Wolga und des Baikals. Dieser Proletariersohn, noch nicht von der Natur entfremdet, der wusste, wann man den Sterlet am leichtesten fing, muss auch gewusst haben, dass die Brücken im Zentrum dieser Perle des Nordens, dieses Eisschrank-Venedigs, der beste Ort auf der Welt waren, um Lachse zu angeln. Oder die Rotforelle, diesen göttlichen Fisch, der auf dem Teller keine andere Beilage benötigt als höchstens ein paar gekochte Kartoffeln. Und etwas grünen Spargel, wenn sich’s ergibt, etwa zu Mittsommer.

Da Scholochow sich angewöhnt hatte, seinen Adamsapfel hinter einem modischen Rollkragen oder fest zugeknöpften Hemd zu verstecken, muss das Pulsieren des Bluts in seiner zugeschnürten Kehle unerträglich gewesen sein, als er die Treppe zum Rathaus hinaufstieg, feierlich, so wie es einem Träger des Leninpreises, des Stalinpreises und nun also auch des Nobelpreises geziemt. Der oberste Knopf seines Hemds blieb darum auch geschlossen, als er vor dem Rathausportal dem Bürgermeister herzlich die Hand schüttelte: Hjalmar Leo Mehr, eigentlich Meyerowitsch, Radikalsozialist und Sohn jüdisch-russischer Revolutionäre. Genossen unter sich. Möglicherweise erkannte Scholochow unter den Geladenen auch Olof Palme, ein junger linker Wilder, seit er auf einer Reise durch die USA die himmelschreiende soziale Ungleichheit mit eigenen, bisweilen grau schimmernden Augen gesehen hatte, und mittlerweile schwedischer Verkehrsminister, doch längst noch nicht so berühmt, wie ein mit allen Wassern gewaschener Mörder ihn einundzwanzig Jahre später mit einem einzigen, perfekt gezielten Schuss in den Rücken machen sollte. Ein großes, bedeutendes Publikum also, darunter Mitglieder der mächtigen Verlegerfamilie Bonnier, mit Verbindungen bis in die Raucherzimmer des königlichen Palasts. Auch der Monarch wollte bei diesem Nobelbankett nicht fehlen. Gustav VI.: langweiliger Gesprächspartner, schlechter Billardspieler, Amateurbotaniker mit einer gewissen Vorliebe für die Wunderwelt der Rhododendren, Gerüchten zufolge jedoch ein ausgesprochener Literaturliebhaber mit einer gigantischen Bibliothek, die seinem Hofpersonal einige Tage pro Jahr vergnügliche Stunden beim Abstauben bescherte. Alle waren sie gekommen, um das Glas auf den großen Michail Scholochow zu erheben. Sowie als Privilegierte natürlich seiner Rede zu lauschen und sie hinterher nach Kräften zu beklatschen.

Um den Bankettsaal zu erreichen, mussten Scholochow und seine Bewunderer zunächst die Prinzengalerie passieren, die der Bruder des verstorbenen Königs, Prinz Eugen, mit einem Fresko schmücken zu müssen geglaubt hatte, wie Kaiser Nero in der törichten Annahme, Rang und Stand führten automatisch zu künstlerischem Talent. Tief in seinem düsteren Inneren empfand Scholochow große Sympathie für diesen drittklassigen Künstler, aus Gründen, die er nicht öffentlich eingestehen konnte, erst recht nicht jetzt, an dem Tag, da ihm der Nobelpreis überreicht wurde.

Nach der Prinzengalerie wurde die Gesellschaft durch den Goldenen Saal geführt. Mehr Prunk als Pracht. Ein steinerner Kasten, ausgekleidet mit Myriaden goldener Plättchen, nach Aussage des Kunsthistorikers, der sie mühevoll gezählt hatte, mindestens achtzehn Millionen. Die Abbildung der anorektischen Blondine an einer der Wände sollte Stockholm darstellen, im Zentrum der Welt – nein, in der Mitte des Universums! Die meisten Kinderzeichnungen waren besser gelungen. Doch auch hier wird Scholochow eine geheime brüderliche Verbundenheit mit dem Schöpfer dieses gemalten Auswurfs gespürt haben.

Von der Decke dieser Glittergrotte sollten nachher die Gerichte herabschweben, direkt aus der Küche. Geübte Nasen konnten das Menü vielleicht jetzt schon erschnüffeln: pochierte Seezungenröllchen, farciertes Huhn an Spargelschaum mit einer Madeirasoße auf Basis von Gänseleber, als Nachspeise Ananas mazedonisch, mit Likör natürlich, und Petits Fours. Danach Kaffee und, etwas uninspiriert, Anisette »Marie-Brizard« sowie Courvoisier. Das Kosakenherz des bejubelten Autors hätte zweifellos höher geschlagen, wäre eine Flasche Wodka auf den Tisch gekommen, doch die Gerüchte über sein hemmungsloses Trinken, sobald Wodka ins Spiel kam, hatten die Grenzen seines heimatlichen Dorfs Kruschilin längst überschritten; selbst durch den Eisernen Vorhang hatten sie sich gebohrt, und das Nobelkomitee fürchtete wohl eine mit bleischwerer Zunge verlesene Rede.

Das Diner selbst fand im angrenzenden sogenannten Blauen Saal statt, der trotz seines Namens die Farbe des roten, trostlosen Backsteins besaß, aus dem er erbaut worden war. Die siebenhundert Gäste suchten lärmend den ihnen nach einer unerfindlichen Logik zugewiesenen Platz, dabei im Bedarfsfall geschickt die Enttäuschung versteckend, wenn sie neben einem weniger angesehenen Zeitgenossen platziert worden waren. Die ersten Flaschen Château du Basque 1959, ein außerordentlich gutes Weinjahr, wie Genussmenschen wissen, wurden in der Küche dekantiert, als Begleiter zum Huhn. Eine Kolonne steif livrierter Kellner mit mitleiderregenden Gesichtern, die um einen Strahl Sonne und einen Schuss Vitamin D flehten, trug die mit Champagner (Pommery & Greno Brut) gefüllten Schalen herein, und den Geladenen fiel es schwer, nicht schnell heimlich davon zu nippen. Doch bevor die Bläschen zum Himmel erhoben werden konnten, musste Scholochow noch seine Rede halten.

Er begab sich nach vorn. Das Knacken des Mikrophons sicherte ihm die internationale Aufmerksamkeit, nach der er seit Jahren gegiert hatte. Er holte sein Manuskript aus der Brusttasche, strich es kurz glatt und räusperte sich. Nur ein kleines, mehr gespieltes Raucherhüsteln war es gewesen, doch das Unheil kündigte sich darin schon an. Auch dieses umjubelte Mitglied des Zentralkomitees der KPDSU konnte dem Tod nicht auf ewig entgehen und sollte sich noch als nur allzu sterblich herausstellen, abgemagert auf vierzig Kilo, samt Kleidung, durch einen Krebs, gemeiner als die Gulags – nein, fast so gemein wie die Gulags, im Orwell-Jahr 1984. Aber ach, das waren Sorgen für morgen. Jetzt war sein Tag des Triumphs, an dem einzig und allein seiner Unsterblichkeit gedacht werden sollte.

– 1944 –

Jedem amerikanischen Kampfpiloten, der das Wesen des Krieges auch nur einigermaßen erfasste, muss es ein Vergnügen gewesen sein, Sofia in der Nacht des dreißigsten März des Jahres 1944 zu bombardieren: eine prachtvolle Stadt, süchtig nach Jazz und Fußball, sprühend vor Leben wie noch niemals zuvor, mit Einwohnern, deren sonniges Naturell schon öfter auf die Probe gestellt worden war, die das Lachen aber trotzdem nicht verlernten. Klagen war etwas für Leute, denen es gut ging und die ihr Schuldgefühl loswerden wollten. Doch egal ob Krieg oder Frieden, wann immer der fröhliche Geiger Sascho Sladura sein Können in einer Kneipe unter Beweis stellte, war Schwung und Swing in der Bude, das Paradies zum halben Preis.

Am klimatisch begünstigten Fuß des Witoscha-Gebirges hatte sich die Bevölkerung in den vergangenen fünfzig Jahren mit der Begeisterung von Mikroben vermehrt: Von einer bescheidenen Ansiedlung mit elftausend Bewohnern war die Stadt zu einer dreihunderttausend Seelen zählenden Metropole angewachsen. Das erhöhte die Chancen der Amerikaner auf einen Volltreffer. Selbst ein schielender Schütze traf hier noch irgendwo ins Schwarze. Auch ein heillos verirrtes Projektil konnte noch ein herrliches Ziel, wie zum Beispiel ein Kind, aus der Luft zerfetzen.

Auf dem Balkan hatte man seit jeher das Herz im Magen getragen, und davon würde man gewiss auch nicht abrücken. In Sachen Erhabenheit konkurrierte Essen geradezu mit dem Schachspiel. Und in diesen letzten, erschöpfenden Kriegstagen war Einfallsreichtum denn auch die logische Antwort jeder rechten Küchenprinzessin auf die nahrungsmäßige Misere. In Zeiten des Mangels beweist sich der Meister vor dem bloßen Koch.

Die Luft unter dem Himmelsgewölbe, an dem ein Geschwader tödlicher Mustangs und Lightnings heranflog, muss dementsprechend vom Duft unzähliger Aufläufe geschwängert gewesen sein: die letzte und zum Glück berückende Mahlzeit hundertneununddreißig unschuldiger Bürger, die büßen mussten, dass ihre Regierung sich dem österreichischen Irren an den Hals geworfen hatte. Kein militärisches Ziel hatten die Amerikaner an jenem dreißigsten März 1944 getroffen, sie hatten es nicht mal versucht. Sie kämpften gegen den Faschismus und ließen ihre Bomben aufs Geratewohl, wie Krähen ihren Schiss, über dem Zentrum des Stadtbezirks fallen, wo Orthodoxe, Katholiken, Moslems und Juden zum Teil seit Jahrzehnten respektvoll zusammenlebten und ihre Liebe zu Ziegenkäse sowie den Dribbelkünsten des Fußballers Wasil Spasow teilten. Keinen einzigen Juden hatten die bulgarischen Bürger von ihrem Staatsgebiet aus an die Nazis ausgeliefert. Zu Ende des Krieges lebten in Bulgarien sogar mehr Juden als zuvor. Die Regierung mochte ihr Gewissen dem Führer verkauft haben, das einfache Volk hatte nicht zugelassen, dass auch nur ein Waggon das Land Richtung Todesfabriken verließ, und sich unter Gefahr des eigenen Lebens an die Schienen gekettet. Mit Erfolg.

Leider dankt einem die Welt gute Taten traditionell nur höchst selten, wahre Güte erwartet keinen Lohn, und so richtete das einfache Volk von Sofia zum vierten Mal in dem Monat seine beschädigten Wohnungen wieder her. Schulen, öffentliche Bäder, die Nationalbibliothek, die theologische Fakultät, das Museum für Naturkunde, das oberste Gericht, die Bauernbank und so weiter … alles lag pulverisiert unter Wolken von Staub, den wieder mal die Bevölkerung einatmen und aushusten durfte. Zur großen Freude des künftigen kommunistischen Regimes, da es auf diese Weise ein ganzes Stück einfacher wurde, die Stadt seinen ideologischen Prinzipien entsprechend mit deprimierenden Wohn- und Bürokästen vollzubetonieren.

– 1943 –

In der bulgarischen Hauptstadt hielt man nicht viel von den Amerikanern mit ihren Kaugummis und parfümierten Zigaretten. Ihre Filme waren so fad wie ihr Essen. Um sich vor der totalen Leere zu retten, hatten sie Afrikaner importieren müssen, importieren und misshandeln, denn die Blume der Kunst gedeiht auf dem Mist, wie man so sagt, und das brachte ihnen nach jahrhundertelangem Gestöhn fünftöniger Skalen auf den Baumwollplantagen zuletzt immerhin den Blues und den Jazz ein: die Rettung aus dem endlosen Nichts. Um ihre militärischen Fähigkeiten war es womöglich noch erbärmlicher bestellt als um ihre Geschmacksknospen. Viel Wind, wenig Substanz. Für die erschröckliche Ausbeute von hundertneununddreißig Zivilopfern vom dreißigsten März 1944 hatten die Amerikaner ihr Treibstoffbudget gewaltig strapazieren müssen und mindestens dreiunddreißigtausend Bomben benötigt. Die Anzahl von Toten hätte sogar noch geringer ausfallen können, wären nicht einige Bürger zu faul gewesen, die Luftschutzräume aufzusuchen, aufgrund der Erfahrungen, die man mit den Bombardierungskünsten der sogenannten Befreier gemacht hatte. Jeder dachte noch amüsiert an die Luftangriffe des vergangenen Jahres. Der Witz von 1943, bulgarisches Allerseelen: Gerade hatten die Leute ihrer Toten gedacht, deren Gräber mit Kerzen geschmückt, alte Geschichten erzählt und über die verrückten Streiche der Lieben, als die noch gesund und lebendig gewesen waren, gelacht, wie die Tradition es verlangte. Danach waren sie, leicht benebelt vom Rakia, den sie zum Gedächtnis der teuren Verblichenen getrunken hatten, nach Hause gewankt, um wie jeden Abend ihre Fenster mit schwarzem Papier zu verkleben, damit bei einem eventuellen Angriff die Bomber nichts als Nachtschwärze unter den Tragflügeln hätten. Und tatsächlich waren die Amerikaner so feige gewesen, die Stadt in genau jener Nacht anzugreifen. Die Menschen im Schlaf überraschen, sie unter einem Stahlregen begraben und sofort wieder davonfliegen, damit sie nichts zu sehen bräuchten, was sie in ihren Alpträumen verfolgen könnte – darin waren sie groß.

Der Friedhof von Sofia ist ein Versteckspiel-Paradies für Kinder, während die Eltern sich womöglich noch herrlicher vergnügen, wenn sie um die Wette das Grab des Schriftstellers Aleko Konstantinow suchen, und mit all seinen Kerzen muss das Gräberfeld in jener mörderischen Nacht von einem Cockpit aus wie eine märchenhafte, riesige Stadt ausgesehen haben. Und so bombardierten die Alliierten den Friedhof. Tonnen und Abertonnen an Sprengstoff warfen sie in die Tiefe. Die einzigen Opfer, die dieser Angriff forderte, waren schon tot und landeten, halb oder ganz zerfressen, mit einem Mal unverhofft wieder im Licht. Dabei wurden auch die sterblichen Überreste des mazedonischen Revolutionärs Gjortsche Petrow aus seiner Grabstätte geschleudert, und diejenigen, die ihn zuerst fanden, erzählten später gern, dass sein beeindruckender Bart auch nach zweiundzwanzig Jahren Verwesung noch immer an seinem Skelett baumelte.

Seit jener Nacht sollten die Totengedenken nie mehr sein wie zuvor. Nicht nur an die schönen Momente in den verlorenen Leben der Lieben würde man sich erinnern, auch an das militärische Gestümper der Amerikaner. An der Tradition der Flasche Rakia wollte man nicht rütteln. Manche jedoch tranken in diesen Stunden des Gedenkens, wenn sie es bekommen konnten zumindest, zusätzlich gern ein Glas Coca-Cola. Nicht weil der Geschmack so etwas Besonderes gewesen wäre, sondern weil es eine Genugtuung war, sie hinterher wieder auszupissen.

– 1999 –