Das letzte Saatkorn - Matthias Alexander - E-Book

Das letzte Saatkorn E-Book

Matthias Alexander

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In dieser Sammlung trifft der Leser auf Charaktere, die sich in schaurigen und scheinbar ausweglosen Situationen einem Gefühl stellen müssen. Die kurzen Geschichten verraten, wie jede der Figuren geprägt ist und mit dieser einzigartigen Bedrohung und der Emotion dahinter umgeht. In finsteren Settings kann sich manch ein Leser selbst entdecken oder einfach die dichte Atmosphäre genießen, zu der diese Gruselgeschichten einladen. Einige Stories sind klassisch gehalten, andere skurriler und experimenteller gestaltet. In allen liegt ein dunkles Geheimnis verborgen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 224

Veröffentlichungsjahr: 2023

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Matthias Alexander

Das letzte Saatkorn

Horrorgeschichten

© 2023 Matthias Alexander

Coverdesign von: Buchcoverdesign.de / Chris Gilcher, https://buchcoverdesign.de

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice“, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Sammler

Der Löwe und die Waage

Die vierte Matrjoschka

Träumer

Das letzte Saatkorn

Orientalische Nächte

Das Lagerfeuer

Laichzeit

Nachtmeerfahrt

Das stumme Haus

Schwarze Birke

Die Erwählten

Das letzte Saatkorn

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Sammler

Die Erwählten

Das letzte Saatkorn

Cover

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

46

47

48

49

50

51

52

53

54

55

56

57

58

59

60

61

62

63

64

65

66

67

68

69

70

71

72

73

74

75

76

77

78

79

80

81

82

83

84

85

86

87

88

89

90

91

92

93

94

95

96

97

98

99

100

101

102

103

104

105

106

107

108

109

110

111

112

113

114

115

116

117

118

119

120

121

122

123

124

125

126

127

128

129

130

131

132

133

134

135

136

137

138

139

140

141

142

143

144

145

146

147

148

149

150

151

152

153

154

155

156

157

158

159

160

161

162

163

164

165

166

167

168

169

170

171

172

173

174

175

176

177

178

179

180

181

182

183

184

185

186

187

188

189

190

191

192

193

194

195

196

197

198

199

200

201

202

203

204

205

206

207

208

209

210

211

212

213

214

215

216

217

218

219

220

221

222

223

224

225

226

227

228

229

230

231

232

233

234

235

236

237

238

239

240

241

242

243

244

245

246

247

248

249

250

251

252

Sammler

-1-

Der rostbraune Lada knatterte und stotterte über die Autobahnabfahrt nordwärts. Lars saß auf der Rückbank und zählte die Punkte an der Wagendecke, wie es seine Mutter zur Eindämmung der Langweile vorgeschlagen hatte. Er war acht Jahre alt und sein sechsjähriger Bruder Björn war neben ihm eingedöst. Der Kururlaub an der See brach an und langsam stieg ein vertrauter Duft nach Salz und Dung in seine Nase. Mutter Regine wandte sich vom Beifahrersitz nach hinten und zwinkerte ihm zu. Ihre rotbraunen Locken hatte sie zu zwei Zöpfen geflochten. Blau-türkise Augen und Sommersprossen tummelten sich auf ihrem Möhrensaft-Teint.

Vater Wolfgang trug ein fliederfarbenes Hawaiihemd und darunter eine feingliedrige Goldkette.

Seine Sonnenbrille war fast so schwarz wie sein dichter Vollbart.

„Der Junge braucht vielleicht Hilfe“, zischte Regine. „Der Psychologe hat gesagt…“

„Heutzutage wird doch aus jedem Problem eine Krankheit gemacht“, knurrte sein Vater. „Lars ist nur ein Spätzünder. Das ist alles.“

Wie jedes Kind verabscheute es Lars, wenn Erwachsene sich unterhielten, als sei er nicht im Raum. Oder zu beknackt, um der Unterhaltung zu folgen, deren Gegenstand er war.

Sie reisten jetzt schon einige Jahre in die Ferienanlage Lürsen, in Carolinensiel an der Nordseeküste.

Lars hatte letztes Jahr seinen Sandbohrer vergessen und hoffte, ihn auf dem hofeigenen Spielplatz wiederzufinden. Wolfgang drückte eine Kassette ins Radio und Phil Collins‘ In the Air tonight tönte aus den knarzigen Boxen. Lars spähte aus dem Fenster. Die ersten typisch friesischen Häuser zogen hinter knorrigen Obstbäumen vorbei. Er war in die jüngste Tochter des Hofes vernarrt. Ihr Name war Astrid.

„Wann sind wir endlich da?“ Björn rieb sich das rechte Lid und klemmte sein Kuschelkissen unter den Gurt. Er schielte und sein linkes Auge war mit einem Pflaster abgeklebt.

„Es ist nicht mehr weit, mein Lieber.“ Sagte ihr Vater. Seine Stimme hatte wieder den gewohnt grollenden und doch sanften Ton angenommen.

Lars schwieg noch immer und sortierte Panini-Sticker für das Album der kommenden Europameisterschaft. Die Mutter wandte den Kopf zurück und lächelte ihn an. „Freust Du Dich auf die vielen Kinder?“ Lars nickte. „Ich möchte Panzer sammeln“, flüsterte er schließlich. „Panzer sammeln.“

„Aber du musst die Überbleibsel immer

herausschaben, kratzen und pulen.

Sonst fangen sie an zu riechen.“

Mutter hob den Zeigefinger und lächelte verschmitzt. Der Geruch nach Gülle schwoll an und sie tuckerten über Landstraßen, die von üppigen Ulmen flankiert wurden, und vorbei an Schäfchen zur Linken.

Lars freute sich, die Tiere zu füttern.

Noch mehr freute er sich auf Astrid.

Am meisten jedoch auf die Panzer.

Schließlich bog der Wagen in die Zufahrt zum Hof ein. Sie waren angekommen. Alles war wie im Jahr zuvor.

Die Familie besuchte am ersten Abend ein Konzert des Shantychors von Carolinensiel.

Bärtige Greise mit Seemannsmützen gaben sonor ihre Lieder zum Besten. Seine Eltern schlürften Jever und Köm und stimmten nach zwei geleerten Tulpengläsern in den Refrain des Chors mit ein. „Moin Moin, Moin Moin […] Oh Jonny, Jonny, Jonny, komm mal ran, komm mal ran… “In der Reederei Albrecht speisten sie zu Abend. Die Dämmerung ergoss sich in feurigem Orange über den Horizont und Lars blickte wie erstarrt auf das Schauspiel. Er aß ein Brötchen mit Fischfrikadelle, trank dazu eine Capri-Sonne und zum Nachtisch ein Wassereis mit Orangengeschmack.

Die Ferienwohnung hatte ein rustikales Ambiente. Von der Decke baumelten ein halbes Dutzend Klebefallen, die von schwarzen Stubenfliegen übersät waren. Erschöpft von der Reise und belebt von der Luft des Kurorts, schlief er friedlich ein.

Als Lars im Morgengrauen erwachte, lehnte sein Vater in einem Schaukelstuhl auf der Veranda, hatte die Beine übereinandergelegt und schmauchte sein Pfeifchen. Lars inhalierte die Rauchkringel, setzte sich auf den Faltstuhl daneben und schaute auf Vaters Gesicht. „Na Kumpel“, lachte er ihn an, „bereit für den ersten Tag am Strand?“

Lars nickte. Und eine trockene Traurigkeit kullerte aus den Augen seines Vaters.

„Panzer sammeln.“

-2-

Zwei Tage später hatte sich Lars wieder an den Urlaubsort gewöhnt, mit all den wohltuenden Sinneswonnen. Wo das Meer zu Ende war, umspielte eine salzige Nordseebrise sanft seine Nase und Lars nahm einen tiefen Schluck. Überall ragten Burgen aus dem Sand. Lars hatte vor dem Strandkorb eine Grube gebuddelt, die nicht von plündernden Kindern eingerissen werden konnte.

Er hatte seiner Mutter versprochen, in Sichtweite zu bleiben und sich von der Wehrmauer fernzuhalten. Bewaffnet mit einem geflochtenen Korb und einem Schmetterlingsnetz aus hellgrünem Leinen, marschierte er ins Watt hinaus.

Lars wich den Feuerquallen aus und watete durch den sonnengewärmten Schlick. Einen Augenblick hockte er sich hin und griff tief hinein, ließ den klebrigen Schlamm zwischen den kleinen Fingern matschen und zu Boden tropfen.

Er blinzelte in den fernen Horizont, wo Fischkutter hinter der dunklen Wehrmauer entlangzogen. Das Sonnenlicht schien in seinem Rücken und ein Schatten eilte ihm voraus.

Lars stellte sich vor, was der Kutter heute gefangen haben mochte. Vielleicht eine Seeschlange oder Riesenkrabbe, womit sie die kleinen Kinder erschreckten, die mit an Bord waren. Seine Panzersammlung war in den vergangenen Ferientagen beträchtlich angewachsen und trocknete auf dem Kaminsims der Ferienwohnung.

Ein scheuer Blick zurück zum Strand. Lars war weiter ins Watt vorgedrungen, als jemals zuvor. Die Umrisse der übrigen Wanderer erkannte er nur schemenhaft; kleine Schatten, die sich vorbeugten und ihre Schattenbilder fotografierten. Lars wollte sich immer schon im Watt eingraben, doch Mutter hatte es nicht erlaubt.

Etwas gedankenverloren strauchelte er fort, und mit einem erstickten Stöhnen, wie es für ein Kind seines Alters tapfer war, stieß er sich den rechten Zeh.

Er biss sich auf die Unterlippe und wischte die Träne aus den Wimpern, als hätte sie nicht existiert.

Einen Augenblick lang hielt er inne und ließ sich auf seine zitronengelbe Badehose in den Schlamm fallen.

Lars sank mit dem Hinterkopf ein paar Zentimeter ein. Die Schatten am Horizont waren winzig wie Ameisen und ein kräftiger Nordwind zerzauste ihm wüst das Haar. Unter seinem Zehennagel staute sich Blut und er sog es mit den Lippen heraus.

Dann entdeckte er voll Staunen seinen Stolperstein.

Er hatte die Größe einer Herdplatte und war bis zur Oberkante eingesunken. Eine dicke Salzkruste überzog den ganzen Stein und dunkelgrüner Seetang schlängelte sich glitschig durch seine Furchen. Sorgsam befreite er die kantige Oberseite von den Algenschlieren und tastete mit den Händen die Muster ab. Ein kleiner Schrecken fuhr über seine zarten Wirbel. Zwar war der Stein verwittert, doch erkannte er die Inschriften klar.

Es zeigte ein greises Menschenhaupt, umrankt von zahllosen Schlingen und mit einem Fischleib. Auf dem Kopf eine dreizackige Krone. Selbst auf den Außenkanten waren kunstvolle Hieroglyphen eingemeißelt.

Ein Jauchzen entglitt seiner Kehle, als er gleich neben der Steinplatte das imposanteste Exemplar eines Krabbenpanzers fand, das er jemals gesehen hatte. Er schien geradewegs aus seinen toten Fühlern auf Lars zurück zu starren. Der Panzer war dicker als seine Faust. Fast so groß wie die Scherbe und gesprenkelt mit einer feinen Schicht Grünbelag.

Lars gluckste und hob ihn vorsichtig aus dem Watt. Er hatte auf ihn gewartet. Ein fremdes Kribbeln marschierte durch seinen Darm. Der Junge packte die reliefartige Scherbe in seinen Flechtkorb. Dann zückte er sein Schweizer Taschenmesser.

Er schabte, kratzte und pulte vorsichtig die fauligen Überreste aus dem Panzer. Außen glänzte er in gemasertem Elfenbein und im Innern spielte ein Schuss warmer Ocker. Feine Gischt umspülte Lars‘ Füße und die Wellen brandeten höher.

Dieser Panzer und die Scherbe hatten auf ihn gewartet. Er verstaute seine Beute und schlenderte, nicht ohne ein Lied auf den Lippen, gemütlich zurück. Zeilen des Großvaters kam ihm in den Sinn.

Wir sammeln Lumpen, Eisen, Silber und Papier. Ausgeschlagene Zähne sammeln wir.

Am Strand angekommen schimpfte ihn seine Mutter fürchterlich aus. Sie hatte den Strandwart alarmiert. Als er ihr seinen Fund präsentierte, rang ihr das ein Lächeln ab und sie streichelte Lars die Wange.

Sie verriegelten den Holzverschlag des Strandkorbs und brausten sich den Schlamm von den Füßen, bevor es wieder zum Abendessen kam. „Und vergiss nicht Lars, Du musst die Reste stets heraus schaben, kratzen und pulen, sonst fangen sie an zu riechen“.

-3-

Am Abend hockten sie auf der Veranda und zählten Glühwürmchen. Von Astrid hatte er nichts gehört oder gesehen. Doch war seine Sehnsucht nach ihr nicht betäubt, sondern vergangen.

Lars hatte seine Panzer in einen Setzkasten über dem Bett platziert. Die Specksteinscherbe lag auf einem Podest mit Spitzentischdecke, der sie wie eine kleine Trophäe ausstellte. Lars hatte eine Weile gedankenverloren darüber gebrütet, sie genau betrachtet und ihre Rillen mit den Händen nachgezeichnet. Mit einer fremden Glückseligkeit schlief er friedvoll ein.

Doch in dieser Nacht befleckte der Schlaf ihn mit einem hässlichen Traum.

Es war finster und Lars marschierte durch das schwarze Watt. Kein Mensch kreuzte seinen Weg und der Schlick kühlte seine nackten Füße. Er kletterte die Wehrmauer empor und verharrte dort, wo das Meer das Land berührte. Am Ufer zur offenen See spähte er in die Ferne.

Das Firmament drückte die Welt über ihm ein und der fahle Sichelmond glitzerte auf den düsteren Wellen, die krachend gegen die Felsen brandeten.

Er war allein.

Ein undefinierbarer Geruch mischte sich in das Salz der Luft und Lars starrte noch einmal zum menschenleeren Strand. Dann schritt er ein paar Meter ins Wasser, bis er von den Wellen erfasst wurde und sein Pyjamatropfnass am Leib klebte. Die Fluten verschwommen zu einem phosphoreszierenden Nebel in leuchtenden und zugleich düsteren Farben.

Sie schlängelten sich zum Horizont und vertraute Gesichter rotierten in der Brandung; seine Mutter, sein Vater, sein Bruder.

Dann lösten sie sich in den Schwaden auf.

Ein Schatten schälte sich unter der Oberfläche des Wassers heraus. Erst hörte er ihn leise gluckern, dann brach er durch die Gischt der Wellen und nahm Kontur an.

Es ragte eine kobaltgrüne, schuppige Bischofsmütze stetig höher aus den Wassern empor.

Die schwarzen, verschmierten Lider troffen geschlossen herab und während sie immer weiter ragte, sah Lars seine Fangarme ein Gewand bilden. Gebannt starrte er zurück. Wie ein Schwelbrand breitete sich der Nebel aus.

Die Gliedmaßen des Wesens verrauchten mit jedem Schritt - doch augenblicklich sprossen neue, verschnörkelte Glieder aus dem trüben Rauch, wie aus geplatzten Knoten. Schließlich berührten die Fühler seine Nase und Lars hielt ihrem toten Blick stand… bis er keuchend erwachte.

Er war allein in seinem Bett. In einer Lache aus rotem Meerwasser.

Lars erhob sich aus dem Schlafgemach. Der ganze Raum war tropfend nass und die Möbel von glitschigem Tang überzogen. Auf seinem Gaumen schmeckte er Salz und einen metallischen Pesthauch. Lars rieb sich die Augen, doch ertastete nur knöchernes Chitin. Aus seinen Schultern wuchsen Scheren und alles war ins Dunkle getaucht. Er torkelte ins Bad und schaute in den Spiegel. Aus seinen Augenhöhlen glotzten tiefrote Fühler.

Dies war kein Alptraum.

Lars wankte ins Schlafzimmer seiner Eltern. Sie lagerten auf dem Doppelbett, akkurat in Scheiben geschnitten. Zwischen ihnen sein Bruder, ebenfalls sorgsam zerteilt. Einen Moment hielt er inne.

Dann schabte, kratzte und pulte Lars die fauligen Überreste aus den Schädeldecken – damit sie ja nicht zu riechen anfangen- und sammelte die entfleischten Schädel ein. Mit den Knochen im Gepäck, krabbelte er über friesische Deiche und Dünen, bis hin zum Strand. Wo die See zu Ende war, ließ Lars sich niedersinken in die sanften Fluten und hinaus aufs offene Meer treiben. Bis zu dem Fleck, wo er die Steinscherbe und den Panzer gesammelt hatte und grub sich dort tief in den Meeresboden ein.

Und wenn ihn kein Sammler gefunden hat, wartet er dort heute noch.

Der Löwe und die Waage

-1-

Zufrieden und gleichsam amüsiert musterte Hans B. die beiden Zwergkaninchen, denen er soeben das Genick gebrochen hatte. Hans hatte die Namen vergessen, die seine Enkel sich für sie ausgedacht hatten. Hoppel und Mümmelmann? Otto und Mümmel? Spielte keine Rolle, morgen Abend schon würden sie ihre putzigen Haustiere verspeisen und voller Genuss Nachschlag verlangen. Jeglicher Form von Scham war er längst entrückt. Hans war ein Löwe.

Sie hatten Mitte August und sein Geburtstag nahte. Hans war stolz auf sein Sternzeichen, denn es wurde seinem überlegenen Gebaren gerecht. Er sah sich um. Der gepachtete Garten war ein Kleinod in der Großstadt. Hans stammte aus einem Vorort von Bamberg und war sowohl dem Lebensmittelanbau, wie der Haltung von Nutzvieh, von klein an vertraut.

Auf dem Ackerland baute er allerlei Sorten Salate und Beeren, Rhabarber und Erbsen, Kartoffeln und Blumenkohl an. Hier verbrachte Hans einen Großteil der Saison. Heute war er fleißig gewesen.

Den ganzen Tag Unkraut gejätet und die Beete fertiggemacht. Jetzt schmerzte dem Mittsiebziger das morsche Kreuz.

Ein grauer Schnäuzer zierte das schnapsrote Gesicht mit den fettleibigen Wangen und der aufwärts zeigenden Nase.

Auf seinem Schopf trug er, unter dem silbernen Seitenscheitel, eine khakifarbene Anglermütze, sowie eine Brille mit rötlichbraunen Gläsern, um der Sonne dieser Jahreszeit zu trotzen.

In den Fenstern der Laube reihte sich seine Kakteensammlung. Er hegte und pflegte einige Exemplare seit Jahrzehnten. Aus dem Plastikfass in einem Erdloch zog Hans eine Flasche Sester Kölsch hervor.

Das Schönste an der Gartenarbeit ist das Gießen. Das Abendlicht verschwamm mit den letzten Strahlen des Tages. Hans überprüfte alle Schlösser, zog den Drahtesel aus dem Verschlag und radelte über einen Feldweg nach Hause.

Daheim ließ Hans den Abend mit einer halben Flasche „Kabänes“ und der Alleinherrschaft über die Fernbedienung mit seiner Frau Leni ausklingen. Er war ein Löwe.

Im Morgengrauen schellte um 05:30 Uhr der Digitalwecker und Hans fuhr mit einem Ruck in die Senkrechte. Jeden dritten Mittwoch im Monat fand der Markt am Autokino statt. Ein Sammelbecken für Betrüger, Hehler und Gesindel in jeder Form und Farbe, das den Vergleich mit Sodom nicht zu scheuen brauchte.

Hans aber begeisterte sich für Ramsch und Trödel und verpasste nach Möglichkeit keine Folge „Bares für Rares“ im ZDF.

In der Maschine brodelte dünner Kaffee und Hans goss sich eine große Portion in seine Porzellantasse, die das Wappen eines bayrischen Infanterieregiments zeigte.

Er quetschte seine Gichtbeulen in die Lederschuhe und eine heiße Träne spritzte aus den zugekniffenen Lidern. Über dem Frisiertisch neben der Wohnungstüre hing ein großer Spiegel mit verschnörkeltem Goldrand und Hans richtete seine Schirmmütze, die er von seinem Besuch in Michigan mitgebracht hatte. Seine Frau lehnte mit leerem Blick an der Kommode. Ihre Bluse, in einem pastelligen Pflaumenton, lag locker über den Brustprothesen. Zögernd küsste sie ihn.

Wo er war, war vorne. Hans borgte sich das Busfahrticket von seinem Nachbarn, stützte sich auf den silbernen Knauf des Gehstocks und brach in der Früh auf. Er zog an den alten Kneipen vorbei und ein Anflug von Wehmut brandete ihm entgegen. Er erinnerte sich. Früher standen drei Kinos im Ort und er hatte seine spätere Braut unzählige Male zum Tanzen ausgeführt. Doch dies waren Balz und D-Mark gewesen. Der Omnibus fuhr zu seiner Verwunderung pünktlich ab und zockelte durch Industriegebiet und Getreidefelder, bis er gleich vor dem Autokino eintraf.

Auf dem Markt herrschte reges Treiben und die obligatorische Polizeistreife stand an Ort und Stelle. Das Wirrwarr an Stimmen und Rufen lullte ihn ein. Obst und Gemüse hatte er selber im Überfluss.

Gramvoll fütterte er das halbe Dorf durch, um nichts verderben zu lassen.

Hans hatte Hunger gelitten im Winter 1946/47 und die Kinder in Afrika, litten mit ihren aufgeblähten Bäuchen noch heute. Der wöchentliche Lektorendienst und die selbst geschnitzte Weihnachtskrippe, die er im Advent aufzustellen pflegte, ließen an seiner katholischen Redlichkeit keinen Zweifel.

Die Marktschreier boten eine Flut von Reizen, ebenso die Schilder und Schriftzüge der Stände in bunten Neonfarben. Ein großes Plakat preiste karamellisierten Rotwein an und lockte ihn näher. Soweit das Auge reichte, lungerte betrunkenes Gesindel auf Plastikstühlen und tranken polnisches Tyskie-Bier. Die Bestandteile eines jeden Gerstensafts waren nahezu identisch und die Brauverfahren ebenfalls.

Schließlich entdeckte er am östlichen Ende des Trödels einen Stand mit allerlei Antiquitäten, umringt von Gestalten mit Kopftüchern, Gewändern und Bärten. Das Gaunerduo hinter dem Tresen konnte für den geübten Beobachter unterschiedlicher nicht sein. Der eine Mann trug einen indisch-gelben Turban, einen Vollbart und einen Kaftan.

Seine Augen waren geschlossen und die Ohrläppchen mit Ringen geweitet. Sein Kollege war ein Araber. Hans vermutete Syrer oder Iraki.

Der Hindu wippte vor und zurück. Um seinen Hals baumelte ein Ganesha-Talisman, den er fest umklammerte. Ein Perserteppich aus 1001 Nacht säumte ein Podest, auf dessen Sockel nur eine einzige Ware feilgeboten wurde- eine antike Waage.

Ein Schild in kunstgewandter Schrift verriet, dass es sich um ein Gerät aus der ältesten Kultur dieser Welt handelte. Die Waagschalen hatten die Maße von Posaunenschalltrichtern und hingen an filigranen Ketten.

Ebenso wie der Standfuß wurden sie von abblätterndem Goldlack über Kupfer bedeckt.

Ein welker Glanz überzog die Waage und Reste der Patina schienen in der sanften Morgensonne.

Der hinduistische Händler war ins Gebet vertieft.

Immer noch schaukelte er im Schneidersitz und noch immer packten seine schmutzbefleckten Hände nach Ganesha. Er faselte irgendwelches Kauderwelsch und jetzt bemerkte Hans, dass der Mann leise weinte. Er witterte einen guten Handel, wenn er sich bot und dieser Hindu war nicht bei Trost. Hans war ein Löwe und blies zum Angriff.

„Was soll denn die schäbige Waage kosten?“ Er öffnete seine Geldbörse und klimperte zum Lockruf mit den Münzen.

Er liebte das Feilschen. Keine Reaktion.

„Hallo?“ Er rüttelte den Inder an der Schulter, bis dieser die rot-geäderten Augen aufriss, Hans am Kragen packte und sein minzfauliger Atem penetrant in seine Nase stieg. Die schwarze Iris verdrängte das Weiß seiner Augäpfel, als würde gleich ein Damm brechen und die Augen mit flüssigem Pech fluten.

„Sie gehört Ihnen“ bebte der Inder, „Für nur 12 Euro“.

Der Araber griff fest nach seiner Schulter, neigte den Kopf und presste die dunklen Lippen aufeinander, doch Hans schüttelte die behaarte Pranke ab. Konfus irrte der Inder durch seine eigenen Kuriosa und pflückte wahllos Waren daraus hervor.

Er drückte Hans einen Silberbecher und einen Gewürzstampfer aus Messing in die Hand und sein fester Händedruck brachte die Blutzirkulation durcheinander.

„Haben wir ein Geschäft, guter Herr?“ Fragte er heiser.

„Das haben wir.“ Murmelte Hans verwirrt.

Der Inder küsste ihm feucht die Hand und verneigte sich, bevor er zurückwich und in seinen Trancezustand zurückkehrte.

Zügig verließ Hans den Trödel, aus einer unerklärlichen Sorge heraus, jemand könne ihm seinen Fund wieder rauben und ein süffisantes Lächeln begleitete ihn die Busfahrt hinweg.

Zuhause platzierte er die Gegenstände auf der Anrichte im Wohnzimmer und polierte sie auf Hochglanz.

Hans trottete ins Bad. Ein purpurner Tropfen rann sein Kinn hinab, brach eine Schneise in die weißen Dünen des Rasierschaums und platschte ins Waschbecken. Alles geschah verlangsamt und Hans verfolgte es gebannt. Es war mittlerweile der 23. des Monats und die stumpfe Klinge des Einmalrasierers schabte graue Stoppeln aus dem Gesicht. Bis September sollte dieser Rasierer halten. Hans hatte Prinzipien.

Er sprühte sich Mundwasser in die Kehle und klappte harsch den Badezimmerspiegel zu. Da knackte ein Frost durch seine Glieder. Er taumelte zurück und stürzte fast in die leere Wanne.

Ein Schatten hinter der Schulter. Leni?

Für das Staubkorn eines Augenblicks huschte eine flüchtige Bewegung hindurch.

Hans schluckte faden Schleim in der Röhre runter und tappte etwas benommen in den Flur. Ein kleines Funkradio beschallte jeden Raum in der bescheidenen Wohnung. Seine Gattin saß im Hausfrauenkittel und mit zerzauster Dauerwelle auf dem Sofa und schmökerte in ihrer Bild-Zeitung.

Hans schnaufte. Leni brachte das Blatt stets durcheinander. Der burgunderrote Fransenteppich lag quer über dem Wohnzimmerlaminat.

Raufasertapete, mit ornamentartigen Mustern, fiel ebenso wie die meisten Möbel in die Kategorie Gelsenkirchener Barock. Durch das grüne Plüschsofa wanden sich Stahlfedern ins Gesäß.

Der Abend senkte sich auf den Sommertag und eine Pulle Sester war geköpft. Wie bereits erwähnt, unterscheiden sich Biersorten nur in Nuancen. Die Regale des wuchtigen Schranks verschönerte ein blauweißes Service aus königlicher

Porzellan-Manufaktur und die Drehtür beherbergte eine Bar mit Kristallkaraffen, gefüllt mit allerlei Köstlichkeiten, Whiskey, Cognac, alter Grappa.

Leni sah aus der Lektüre auf und ein seltener Schein drang aus ihren Augen durch die dicken Gläser der Brille. Sie wippte erwartungsvoll im Ohrensessel und schaukelte den, von Lockenwicklern gespickten, Kopf. Zum Abendbrot schmierten sie sich Brote mit Griebenschmalz und Leni reichte ein paar Wiener Würstchen dazu. Hans schluckte den restlichen Nacht-Trunk.

-2-

Hans übernachtete schon seit Jahren nicht mehr im Ehebett. Das Resultat aus zahllosen Seitensprüngen und geräuschvollem Schnarchen. Er nächtigte in einem kleinen Raum am anderen Ende des Flurs.

Leni war wenig amüsiert über „den Schrott“, den er angeschleppt hatte, doch das spielte keine Rolle.

Der Halbbitter-Likör aus Brühl benebelte seine Sinne und Hans suchte um kurz vor Mitternacht sein Bett auf.

Zwischen überquellenden Bücherregalen, überwiegend Konsalik und Konsorten, legte er sich auf die Matratze und zog die Beine wie ein Embryo zur Brust. Sein Nachtgewand klebte am schwitzenden Körper. Der Heizungsschacht rauschte dumpf vor sich hin, und Hans wälzte sich von einer Seite zur anderen, starrte ins fahle Mondlicht, das sich seinen Schein durch die gehäkelte Gardine bahnte und über die Schundromane und Blumenstillleben ergoss.

Einen Moment lang wünschte er sich sehnlich, neben seinem Weib zu liegen und ihr friedliches Gesicht im Halbdunkel zu betrachten. In solchen Augenblicken und bei ausreichend Schatten war sie makellos wie einst.

Behutsam schloss er die Lider, zog das Laken bis zur Oberlippe, richtete sich die Schlafmütze und war bereit, in die Tiefen der Träume zu gleiten.

Doch ein kratzendes Geräusch ließ ihn aufhorchen. Hans rieb sich den Halbschlaf aus den Augen. Etwas schabte im Schacht. Er warf das Laken von sich und drückte sein Ohr an die Holzverkleidung. Stille.

Hans setzte sich auf die Bettkante und horchte nochmals auf. Dann bettete er sich zur Ruhe, doch ein weiteres Geräusch drang zu ihm. Dieses Mal aus der Diele. Das Tippeln kleiner Füße.

Etwas scharrte dort draußen vor der Tür. Hans schlüpfte in seine Pantoffeln und drückte leis die Klinke hinab, um durch den Spalt der Türe seines Gemachs zu spähen. Seine Augen gewöhnten sich an den dunklen Schleier, der sich über den Flur ausbreitete und jeden weiteren Laut unter sich begrub. Doch dann war es wieder da- ein träges Schlurfen und dazu eine humpelnde Silhouette im Dunkel.

Kein Zweifel: eine Ratte.

Hans schlich heran, doch das Tier bemerkte ihn offenbar nicht. Das graue Fell war steif und zerzaust und der Kopf hing lose am Hals herab, wie eine tote Knospe am Stiel.

Ohne Zaudern stürmte er auf die Kreatur zu und erlöste sie mit einem einzigen Tritt. Das Tier schwieg, stöhnte und fiepte nicht. Hans packte die entstellte Ratte am nackten Schwanz und schleuderte sie durchs Küchenfenster in die Nacht hinaus.

Verdammte Sauerei.

Er wusch mit einem Schwamm die gröbsten Überreste und die Blutlache am Boden fort und legte sich wieder nieder. Doch währte ein Anflug des Schlafes nur den Augenblick. Dann war es zurück!

Ein leises Knistern, ein leises Knacken, hinter der Tür seines Schlafgemachs. Hans hörte hin. Das Scharren war dieses Mal lauter. Kam es von unter den Dielen? Aus dem Heizungsschacht? Hans zögerte.

Er lauschte gespannt und voller Neugier zog er die Tür wieder einen Spalt weit auf. Sie quietschte leis in den Angeln. Hans ließ den Blick durch den Gang schweifen und stellte scharf.

Die Kontur eines weiteren Schattens hinkte und lahmte den Teppich entlang.

Ein Nest oder ein Rudel.

Hans schlich vorwärts und abermals zertrat er das Tier ohne einen weiteren Gedanken mit seiner Pantoffelsohle. Er hoffte, Leni nicht geweckt zu haben, und tastete im Dunkel vergebens nach dem Schwanz des Tieres. Als er den leblosen Körper aufhob und vor sich hinbaumeln ließ, stellte er verdutzt fest, dass es gar keine Ratte war.

Es war ein Maulwurf- mit einem fingerdicken Einschussloch im Kopf.