Das letzte Vermächtnis - Ernst Jakob - E-Book
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Das letzte Vermächtnis E-Book

Ernst Jakob

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Beschreibung

Die waghalsige Jagd nach dem Schatz beginnt mit einer Entführung …
Der Abenteuer-Thriller führt Jill Carter durch Ägypten über Griechenland bis nach Israel

Vor der erfahrenen Archäologin Jill Carter sind weder versteckte Grabkammern noch Geheimzugänge sicher. Doch auf der Suche nach den Überresten der legendären Bibliothek von Alexandria benötigen die Britin und ihr Team mehr als nur ein feines Gespür für verborgene Artefakte. Denn im Wettlauf gegen skrupellose Grabräuber beschützen tödliche Fallen den Schatz, Codes und Rätsel verschleiern den Pfad. Nur wer das Wissen über verblüffende Erfindungen aus dem Altertum besitzt, wird überleben. Eine abenteuerliche Reise voller Gefahren beginnt …

Erste Leser:innenstimmen
„Ein fesselnder Abenteuerthriller, der mir äußerst unterhaltsame Lesestunden beschert hat.“
„Steckt voller Überraschungen und Wendungen und zieht förmlich in den Bann!“
„Actionreich und spannungsgeladen!“
„Gut recherchierter, flüssig geschriebener und durchgehend rätselhafter Thriller.“

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Seitenzahl: 455

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Über dieses E-Book

Vor der erfahrenen Archäologin Jill Carter sind weder versteckte Grabkammern noch Geheimzugänge sicher. Doch auf der Suche nach den Überresten der legendären Bibliothek von Alexandria benötigen die Britin und ihr Team mehr als nur ein feines Gespür für verborgene Artefakte. Denn im Wettlauf gegen skrupellose Grabräuber beschützen tödliche Fallen den Schatz, Codes und Rätsel verschleiern den Pfad. Nur wer das Wissen über verblüffende Erfindungen aus dem Altertum besitzt, wird überleben. Eine abenteuerliche Reise voller Gefahren beginnt …

Impressum

Erstausgabe Oktober 2022

Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98637-983-4 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98778-025-7 Hörbuch-ISBN: 978-3-98778-059-2

Covergestaltung: Anne Gebhardt unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com: © rafael castro/EyeEm, © Givaga, © Alexmar, © Marcin shutterstock.com: © lzf, © Dmitriy Nikiforov neo-stock.com: © Tom Parsons elements.envato.com: © 315700 Lektorat: Katrin Gönnewig

E-Book-Version 17.05.2024, 10:43:49.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Das letzte Vermächtnis

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Das letzte Vermächtnis
Ernst Jakob
ISBN: 978-3-98778-059-2

Die waghalsige Jagd nach dem Schatz beginnt mit einer Entführung … Der Abenteuer-Thriller führt Jill Carter durch Ägypten über Griechenland bis nach Israel

Das Hörbuch wird gesprochen von Moritz Brendel.
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Für meine Familie,

für mich das schönste Abenteuer

Dichtung und Wahrheit

Alle in diesem Buch erwähnten Geschichten von historischen Persönlichkeiten aus dem altertümlichen Alexandria sowie deren Entwürfe von Konstruktionen, Mechanismen und Trickfallen basieren auf dem heutigen Kenntnisstand über die damalige Zeit. Auftretende Charaktere sind jedoch fiktiv und Ähnlichkeiten mit existierenden Personen rein zufällig.

Die antike Bibliothek von Alexandria bildete im Zeitraum vom dritten Jahrhundert vor bis ins vierte Jahrhundert nach Christus den bedeutsamsten Treffpunkt der Wissenschaft und Philosophie. Bis zu einer halben Million Schriftrollen lagerten in der Hauptbibliothek, dem Museion, und der drei Kilometer entfernten Tochterbibliothek, dem Serapeum. Wissenschaftler wie Archimedes, Aristarchos oder Euklid verkehrten in diesen Hallen und schrieben Entdeckungen und Erfindungen nieder, die ihrer Zeit weit voraus waren.

Trotz gesicherter Hinweise zur Existenz der Bibliothek gelten alle dort gelagerten Dokumente als zerstört oder verschollen. Bisher. Im Jahr 2002 übernahm die neu erbaute und öffentlich zugängliche Bibliotheca Alexandrina das Erbe dieser Legende.

Sämtliche beschriebene Schauplätze, Städte, Inseln und Bauten existieren auch in Wirklichkeit und können besucht werden.

»Außerdem gibt es in Alexandrien sehr hohe Tempel, unter denen sich vorzüglich das Serapeum auszeichnet, (…), dass nach dem Kapitol, in dem das ehrwürdige Rom der Ewigkeit trotzt, in der weiten Welt nichts Prächtigeres zu sehen ist.«

Ammianus Marcellinus (Röm. Geschichtsschreiber, 330–395 nach Christus) Werk: Res Gestae, XXII, 16

Prolog

Jerusalem, Judäa, römische Provinz, vierzehntes Amtsjahr des Cäsar Tiberius

»Das Schicksal der Welt liegt nun in deinen Händen«, wisperte der sterbende Mann.

Josef sank in die Knie. Ein Blitz ließ ihn aufschrecken und Donner grollte, als wollte der Himmel diesen Worten Nachdruck verleihen. Eine dunkle Wolkenfront raste über die Stadt, und ein Aprilregen prasselte auf die Trauernden, die Soldaten und die Schaulustigen herab, die fröstelnd die Schultern hochzogen.

Ein Blitz schlug in einer Zypresse ein, die Menschenmenge stob augenblicklich auseinander. Sogar die römische Wache suchte Unterschlupf in einem nahe gelegenen Unterstand. Nur Josef blieb, um ein letztes Mal allein mit seinem Freund zu sein.

Mit Tränen in den Augen blickte er zum Gerichteten auf, es kostete ihn Überwindung, nicht wegzuschauen. Tiefe Fleischwunden übersäten dessen Körper, grausame Zeugen erlittener Folter und Bestrafung. Josef zerriss es innerlich vor Wut und Trauer. Die Ohnmacht darüber, der Hinrichtung seines Mentors tatenlos zusehen zu müssen, peinigte ihn bis zur Unerträglichkeit.

»Hast … hast du die Schatulle an einen sicheren Ort gebracht?« Der Todgeweihte schien seine letzte Kraft in jedes der Worte zu stecken.

Josef biss sich auf die Lippen. Die Schatulle. Ein kleines, schmuckloses Kästchen aus dunklem Holz, mit viel Geschick gefertigt. Darin befanden sich eine Papyrusrolle und ein Gegenstand, dessen Zweck er nicht verstand und sein Mentor nicht weiter erläuterte. Das Schicksal der Welt.

Josef blickte in die trüber werdenden Augen des Sterbenden auf. »Natürlich, sorge dich nicht! Die Schatulle ist gut versteckt, und niemand außer mir kennt den Ort. Aber wozu soll ich sie nach Ägypten bringen?«

»Josef von Arimathäa«, flüsterte der Mann mit rasselndem Atem, »ich weiß nur eines: Das ist nicht das Ende, sondern erst der Anfang. Habe keine Angst, ich werde immer bei dir sein.«

Erst jetzt bemerkte Josef, dass der Regen nachgelassen hatte und das Gewitter weiterzog. Die Freunde und Familienmitglieder des Sterbenden kehrten zurück und versammelten sich vor dem Gekreuzigten. Bitteres Wehklagen erscholl, und eine Frau schrie: »Yeshua, warum hast du uns verlassen?«

Aber Jesus antwortete ihr nicht. Stattdessen blickte er ein letztes Mal zum Himmel und sprach, diesmal laut und klar: »Es ist vollbracht.«

I

Alexandria, Ägypten

Donnerstag, 16. März, 18.15 Uhr

Yasmin atmete tief durch und klappte ihren Laptop zu. Das letzte Tageslicht drang durch das Glasdach der Bibliotheca Alexandrina und verlieh den Innenräumen einen mystischen Glanz. Außer ihr befand sich niemand mehr in der Haupthalle der Bibliothek, mit zweitausend Plätzen der größte Lesesaal der Welt.

Wie immer genoss die Fünfunddreißigjährige den Abschluss ihres Arbeitstages an diesem magischen Ort. Trotz der modernen Einrichtung fühlte sie sich darin stets als Teil einer uralten Legende. Schon als Kind hatten sie die lebhaften Geschichten ihres Vaters über das antike Alexandria fasziniert: Wie sich Wissenschaftler und Philosophen eifrig über die Rätsel der Welt ausgetauscht und das Wissen der Menschheit gemehrt hatten. Ein Hauch jener Vergangenheit war für sie in diesem aus Holz, Stahl und Glas gefertigten Gebäude immer noch vorhanden.

Yasmin hätte für ihre Dissertation in ihrer Wohnung bleiben oder sonst wohin gehen können, sie benötigte nur Internetzugang und ihre Bücher. Aber dieser Ort des gespeicherten Wissens, direkt an der Küste und nahe den Überresten der ursprünglichen Bibliothek gelegen, inspirierte sie.

Der Saal hatte bereits vor fünfzehn Minuten geschlossen. Doch Hamadi, ein Aufseher, ließ sie immer etwas länger bleiben. Obwohl sie zehn Jahre älter war als er, nutzte der junge Mann seine Rolle als Hüter der Ordnung nur zu gern aus.

Einmal hatte er sie zu einer von ihm geführten Tour im ganzen Komplex überredet. Von ihrem Vater wusste sie bereits, dass in den Nebengebäuden ein Planetarium sowie mehrere Museen untergebracht waren, unter anderem mit archäologischen Sammlungen und seltenen Manuskripten. Neu hingegen war ihr Hamadis Informationen darüber, dass die Bibliotheca Alexandrina eine vollständige Kopie des gesamten Internets seit 1996 besaß und sich aktiv am »Million Book Project« beteiligte. Dabei werden Bücher der vergangenen Jahrhunderte Seite für Seite gescannt und online der Welt zur Verfügung gestellt.

Sie schmunzelte. Hamadi mochte nett und zuvorkommend sein, aber gegen ihren Freund machte er keinen Stich. Und morgen war Freitag, was bedeutete, dass die Bibliothek wie alle anderen öffentlichen Gebäude geschlossen blieb und sie den Tag mit ihrem Schatz verbringen würde. Auch ihre Dissertation zum Doktor in Sprachwissenschaften schickte sie freitags in eine Auszeit. Eine Beziehung wollte schließlich gepflegt werden.

Beim Gedanken an ihn durchlief sie ein wohliger Schauer. Seine Mischung aus Charme, Intelligenz sowie das richtige Maß an Verwegenheit wirkte auf sie unwiderstehlich, sie kam sich vor wie ein verliebter Teenager. Ich muss ihm nur noch das Rauchen abgewöhnen, dachte sie mit einem Seufzer.

Yasmin schulterte ihre Tasche und verließ den Lesesaal. Als sie in Richtung Ausgang ging, kam ihr der Korridor dunkler als gewöhnlich vor. Stimmte etwas mit der Beleuchtung nicht?

»Hamadi?« Ihre einsame Stimme hallte durch die leeren Gänge.

Yasmin verdrängte ihr mulmiges Gefühl und lief weiter. Wahrscheinlich hatte der Aufseher noch etwas zu erledigen.

Entschlossen schritt sie auf die Ausgangstür des Lesesaales zu. Plötzlich löste sich von der Seite ein Schatten, packte sie an den Armen und stieß sie brutal an die Wand. Der Mann trug eine schwarze Wollmaske über dem Gesicht, sein übler Atem schlug ihr entgegen. Mit rauer Stimme sagte er: »Massa’ al-Kheir, ya habibti.« Guten Abend, Schätzchen.

Doch er legte sich mit dem falschen Schätzchen an. Sofort zog sie ihr Knie hoch und rammte es ihm direkt in den Schritt. Der Mann jaulte auf, ließ sie abrupt los und fiel wimmernd zu Boden. Ohne sich umzudrehen, rannte Yasmin durch die Tür in den Korridor, der zum Ausgang des Gebäudes führte. Adrenalin schoss durch ihren Körper.

In diesem Moment entdeckte sie eine andere Gestalt nahe beim Ausgang. Zu ihrer grenzenlosen Erleichterung erkannte sie die Silhouette von Hamadi. Sie schrie seinen Namen.

Hastig drehte sich der junge Mann zu ihr um. »Hast du das Licht ausgemacht, Yasmin?«

Wie aus dem Nichts erschien hinter Hamadi eine weitere, unmaskierte Person. Bevor Yasmin reagieren konnte, riss die Gestalt dem Aufseher den Kopf nach hinten und schnitt ihm mit dem Messer die Kehle durch.

Yasmin schrie auf, Blut schoss über Hamadis Uniform. Der Killer ließ den jungen Mann wie ein Stück Müll zur Seite fallen.

Bevor Yasmin reagieren konnte, hielt sie jemand von hinten fest und drückte ihr einen nassen Wattebausch auf die Nase. Unter Tränen sah sie den toten Hamadi in einer Blutlache liegen.

Bevor ihre Sinne in die Dunkelheit entschwanden, bemerkte sie als Letztes ein goldenes Funkeln im Grinsen des Mörders.

II

Tal der Könige, Luxor, Ägypten

Freitag, 17. März, 06.35 Uhr

Der Archäologiestudent Daniel Preisner versenkte schläfrig den Spaten in der Erde und ahnte nicht im Geringsten, dass ihm heute eine unglaubliche Entdeckung bevorstand. Ein Fund, der sich seit Jahrtausenden zu verbergen wusste und dem es immer wieder gelang, ungebetene Gäste fernzuhalten. Und dies auf martialische Art und Weise.

Der letzte kühle Wind blies von der Wüste her und die Morgendämmerung tauchte die umliegenden Hügel in ein schales Licht. Vorerst störten nur ein paar Arbeiter die Ruhe im Tal der Könige, doch bald würden die ersten Touristen auf dem Weg vor ihm zu einer der größten Attraktionen Ägyptens pilgern: dem Grab des Pharao Tutanchamun.

Manchmal konnte er kaum glauben, dass sein jetziger Boss ausgerechnet ihn, den Studenten aus Leipzig, ausgewählt hatte. Praktika waren in Ägypten generell, vor allem aber in Luxor äußerst begehrt. Und aufgrund der Reputation und der Herkunft seines Chefs bewarben sich etliche Studierende auf diese Stelle.

Daniel suchte das große Abenteuer, obwohl ihm viele einredeten, dass er eher Mathematiker werden sollte. Doch kostbare Artefakte, uralte Schriftrollen und verblichene Skelette erwarteten ihn zuhauf in der Nähe der Pharaonengräber, da war er sich sicher.

Gewesen.

Seit fünf Monaten ackerte er sich nun durch den Wüstensand. Außer ein paar Tonscherben und wertlosen Münzen hatten er und das Team nichts gefunden, rein gar nichts. Alle zweifelten daran, dass das, wonach sie suchten, überhaupt existierte. Zehn Stunden schufteten sie jeden Tag in den vier mal vier Meter großen Aushubsenken. Früher nannte man das Sklavenarbeit, dachte sich der Neunzehnjährige. Und die ägyptischen Sklaven hatten zumindest Pyramiden erschaffen, während er nur quadratische Löcher hinterließ, um sie hinterher wieder mit Sand aufzufüllen. Schließlich könnten unaufmerksame Touristen hineinfallen und sich die Beine brechen.

Zu Beginn des Praktikums hatte sein Enthusiasmus keine Grenzen gekannt. Er hatte den morgendlichen Weg mit der altertümlich anmutenden Fähre über den Nil und die anschließende Taxifahrt mit einem stetig plaudernden Fahrer namens Mohammed genossen. Jeder Spatenstich, jede Tonscherbe versprach eine Chance auf einen Jahrhundertfund. Die Ausgrabungsstätte erhielt die provisorische Deklaration »Kings Valley 66«, kurz KV66, und allein die Nähe zu den zahlreichen spektakulären Pharaonengräbern faszinierte ihn.

Der fehlende Erfolg, der alltägliche Trott sowie die ewige Sonne zermürbten jedoch das Team zusehends. Daniel vermisste seine Freunde zu Hause in Deutschland, den Regen und sein Freiberger Pils.

Achmed, ein ägyptischer Ausgrabungshelfer gleichen Alters, war sein einziger Lichtblick. Seit ein paar Wochen buddelten sie zu zweit in der Schlangengrube, wie ihr Boss die Senken nannte, und lernten sich so immer besser kennen. Obwohl sie sich eher rudimentär auf Englisch verständigten, fühlte Daniel schon nach kurzer Zeit eine besondere Nähe zu Achmed. Sie brachten sich gegenseitig einige Wörter aus ihrer Muttersprache bei und verkürzten sich den Arbeitstag mit Blödeleien. Mit Achmed verband ihn eine Freundschaft, vielleicht sogar mehr, und das verlieh ihm täglich neuen Antrieb. Aber er wusste auch, dass diese Verbundenheit abrupt ein Ende finden würde, sobald Achmed die Wahrheit über seine Herkunft erfuhr. So einfach ist das.

Daniel wandte sich wieder der Arbeit zu. Ihr Aushubquadrat lag direkt am Fuße eines Hügels am Eingang des östlichen Tales. Der fast senkrechte, nackte Felsen schloss die Grube zu einer Seite ab. Der Boden gab seinen steinharten Inhalt nur widerspenstig frei. Ein engmaschiges schwarzes Netz, das auf Pfosten wie ein Dach über der Vertiefung hing, diente ihnen als Sonnenschutz. Neben ihm und Achmed arbeiteten diesen Freitag nur der Boss und dessen Assistent, Jemal. Alle anderen Grabungshelfer, allesamt Muslime, genossen ihren freien Tag. Insgeheim hoffte Daniel, dass er selbst der Grund war, weshalb Achmed ebenfalls freitags arbeitete und dafür den Samstag freinahm. Doch dies nachzufragen, getraute er sich nicht.

Die beiden jungen Männer gruben noch keine Stunde, als Daniel an der Felswand etwas freilegte. Zuerst glaubte er, es handle sich nur um einen Fleck, und hieb drei weitere Male mit dem Pickel rund um die gleiche Stelle.

»Achmed!«, rief er erregt, als ihm klar wurde, dass es sich nicht um eine Verunreinigung handelte. Der Gerufene eilte zu ihm, folgte seinem Blick und sah es ebenfalls.

Als könnte er seinen Augen nicht trauen, strich Daniel mit den Fingern über die Stelle und bemerkte eine Vertiefung. Mit dem Fingernagel befreite er den Sand aus der Kerbe, und nun erkannten sie ein Zeichen, einer keimenden Pflanze ähnlich.

»Eine Hieroglyphe, gehauen in die Felswand«, flüsterte Daniel andächtig. Vorsichtig schabten sie die Stelle rundherum frei und förderten noch mehr Hieroglyphen ans Tageslicht, bis schließlich ein vertrautes Symbol zum Vorschein kam. Die meisten Menschen kannten es, aber nur die wenigsten wussten, was es bedeutete und woher es stammte. »Anch, das altägyptische Zeichen für das Leben. Oder des Todes, je nach Kontext.« Daniels Herz fing an zu pochen, als fehlte ihm auf einem Lottozettel nur noch eine Zahl bis zum Hauptgewinn.

Einige Könige im alten Ägypten trugen dieses Zeichen in ihrem Namen. So auch der berühmteste unter ihnen, der dafür verantwortlich war, dass sich Daniel überhaupt für Ägyptologie zu interessieren begann: Tutanchamun.

Achmed riss ihn aus seinen Gedanken: »Sollten wir nicht den Boss rufen?« Daniel stand entschlossen auf und holte eine Schaufel und das Pinsel-Set. »Wir schauen zuerst, ob da noch mehr ist. Dann können wir es immer noch melden.«

Achmed schaute sich etwas skeptisch um, kniete dann aber wie Daniel hin und gemeinsam legten sie behutsam Zeichen um Zeichen frei. Schließlich blickten sie auf eine vollständige Schrifttafel.

»Das ist wunderschön«, flüsterte Daniel ehrfürchtig.

»Kannst du übersetzen?«, fragte Achmed.

Daniel verneinte. Ihm war die Bedeutung einzelner Symbole vertraut, aber er konnte sie nicht in einen Zusammenhang bringen.

Sie fuhren erschrocken herum, als eine bedrohliche Stimme direkt hinter ihnen erscholl und donnerte: »Der Tod wird auf schnellen Schwingen zu demjenigen kommen, der die Ruhe des Pharaos stört.«

Mit einem breiten Grinsen fügte Jill Carter hinzu: »Gratuliere, Jungs. Ihr wurdet soeben erstklassig verflucht!«

III

08.17 Uhr

Heute ist ein guter Tag, um verflucht zu werden, dachte Jill.

Sie blies sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und stieg in die Grube hinunter. Daniel und Achmed wichen wie ertappte Diebe zur Seite.

Jill kniete vor der Hieroglyphentafel nieder. Sanft strich sie mit einem Pinsel über die Zeichen, als handelte es sich um ein bisher unbekanntes Fresko von Leonardo da Vinci. Einige Hieroglyphen wiesen noch Farbreste auf. Jill deutete dies als ein Merkmal dafür, dass die Gravur vor langer Zeit verschüttet worden war. Hier liegen wir richtig. Goldrichtig.

Jill knackte hörbar einige ihrer Fingergelenke. Sie tat dies oft, wenn sie nervös war und sich gleichzeitig konzentrieren musste. Eine für Umstehende manchmal irritierende Angewohnheit.

Sie brauchte einen Erfolg, dringend. Seit drei Jahren wartete sie auf eine Entdeckung wie diese. Drei lange, mühselige Jahre. Ein Jahr hatte die Neununddreißigjährige für die Bewilligungen und das Organisieren der Sponsoren benötigt. Als Engländerin und zudem noch als Frau hätte sie ohne ihren berühmten Onkel nie die Erlaubnis erhalten, hier in Ägypten Ausgrabungen zu machen, schon gar nicht im Tal der Könige. Jill musste etliche Beamte und schließlich sogar den Minister für Kultur und Altertümer überzeugen, dass ihre Grabung eine Win-win-Situation für alle Beteiligten darstellte. Luxor wurde immer noch mit schrecklichen Terroranschlägen verbunden und konnte gute Publicity gebrauchen.

Nach einer ersten, äußerst enttäuschenden Grabungssaison erhielt sie nur wegen ihres Namens und etwas Bakschisch an den richtigen Stellen die Erlaubnis für weitere Arbeiten. Inzwischen war Mitte März bereits vorbei, bald würde es für Grabungsarbeiten zu heiß. Von Mai bis September glich Oberägypten einem Glutofen. Außerdem drohte ab April der Chamsin, ein sengender Wüstenwind, der oft mehrere Tage als Sandsturm wütete.

Und nun lag vor ihr ein jahrtausendealter, verheißungsvoller Fluch. Ein guter Indikator für wertvolle Gräber und Stätten, nur leider wussten dies ebenfalls alle Grabräuber der Welt.

Sie seufzte. Jetzt nur nicht den Mut verlieren.

»Gut gemacht, Jungs.« Jill schnappte sich eine Schaufel. »Lasst uns schauen, wie ernst der Fluch gemeint ist. Los geht’s!«

Daniel und Achmed ließen sich nicht zweimal bitten. Vorsichtig hackten sie den Boden unterhalb der Hieroglyphen frei, bis sich ein Farbunterschied zwischen der Felswand und dem helleren, harten Wüstensand abzeichnete. Die Trennlinie verlief rechteckig, und je tiefer sie gruben, desto offensichtlicher zeichnete sich ein Eingang ab. Das Ziel schien nahe.

Gegen zehn Uhr morgens hörten sie auf, in die Tiefe zu graben. Begierig zu erfahren, was der Fluch zu beschützen versuchte, prügelten sie regelrecht auf den vermeintlichen Eingang ein. Dabei gruben jeweils zwei Personen, während eine pausierte.

Nachdem sie einen Meter tief in den Felsen vorgedrungen waren, kam Achmed an die Reihe. Voller Wucht schlug er mit dem Pickel in die Wand. Als diese plötzlich nachgab, fiel er der Länge nach hin und stieß einen Schrei aus. Nach einem kurzen Moment krabbelte er hastig zurück.

»Alles klar?«, fragte Daniel.

Doch Achmed stotterte nur: »Da … da ist jemand!«

Jill hob skeptisch eine Augenbraue. Sie zog eine Mini-Stablampe aus der Brusttasche ihres Hemdes hervor und leuchtete damit in die Öffnung hinein. Ein etwa zehn Meter langer und zwei Meter breiter Korridor erstreckte sich vor ihr. Der Schein ihrer Lampe glitt an den Wänden entlang und ließ altägyptische Zeichnungen und Reliefs von beeindruckender Schönheit sichtbar werden.

Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. Was immer sie hier entdeckt hatten, würde in die Geschichte eingehen. Heutzutage mauserte sich ein solcher Fund schnell zur Sensation.

Doch auf dem Boden entdeckte sie zwei Skelette. Sie stieß einen leisen Fluch aus. Zu früh gefreut.

Als sie sich wieder zu den anderen wandte, konnte Daniel seine Aufregung nicht verbergen. »Und? Dr. Carter, was ist da drin?«

»Ihr habt einen unterirdischen Korridor mit ausgiebigen Wandmalereien entdeckt. Es könnte sein, wonach wir suchen«, erwiderte Jill nachdenklich. »Die schlechte Nachricht ist: Am Boden liegen die Überreste von zwei Leichen. Ich schätze, die hatten bereits vor Jahrtausenden ein Date mit Osiris.«

Achmed schien die Anspielung auf den ägyptischen Totengott zu überhören und schaute verdutzt in die Runde. »Wieso schlechte Nachricht?«

»Vermutlich waren es Grabräuber«, antwortete Daniel enttäuscht.

Und Jill fügte hinzu: »Wir kommen wieder einmal zu spät.«

IV

10.01 Uhr

Daniel holte auf Anweisung seiner Chefin rasch drei Mundschutz-Masken aus dem Zelt. Achmed schaute die Masken mit Unbehagen an. »Warum müssen wir die Dinger anziehen?«

Jill nickte kurz zu Daniel, und dieser erklärte: »Da drin erwartet uns der wahre Fluch der Pharaonen: abgestandene, jahrhundertealte Luft voller Keime, Pilze und Sporen. Tatsächlich sind früher etliche Archäologen nach Entdeckungen von ägyptischen Grabkammern an unheimlichen Krankheiten gestorben, wodurch zahlreiche Legenden über Pharaonenflüche entstanden. Heute nimmt man an, dass diese Leute ein schlechtes Immunsystem hatten oder an Tuberkulose litten. Ein leichtes Spiel für Keime, weil es damals noch keinen Mundschutz gab.«

Jill hakte gespielt schulmeisterlich nach: »Und wie heißt der Pilz genau?«

»Aspergillus Niger. In Grabkammern sieht dieser Pilz wie abgeblätterte Wandfarbe aus, sogar Mumien sind manchmal davon befallen«, antwortete Daniel und erhielt dafür einen anerkennenden Blick von seiner Mentorin.

Nachdem sie den Durchgang freigelegt hatten, trat Jill ein paar Schritte zurück. »Daniel, bring die Schulterkamera und meinen Rucksack mit der Ausrüstung her, wir gehen rein. Achmed, wir brauchen zwei LED-Akku-Scheinwerfer.«

Während sich ihre Helfer davonmachten, begutachtete Jill nochmals die Hieroglyphen aus der Nähe. Ein Schaudern überkam sie. Na, Onkel, jetzt bin ich an der Reihe!

Als Achmed und Daniel zurückkehrten, gab sie die letzten Instruktionen. »Also, Jungs, nichts anrühren, und passt auf, wo ihr hintretet. Daniel, du dokumentierst das Geschehen. Halte die Kamera ruhig und vermeide ein zu heftiges Rumschwenken. Alles klar?«

Daniel schulterte die Kamera, schaltete die Beleuchtung ein und atmete durch. Achmed rührte sich jedoch nicht von der Stelle.

Jill winkte ihm zu. »Komm mit, du hast es dir verdient.«

Doch Achmed zeigte sorgenvoll auf die Hieroglyphen. »Zwei Tote sind schon drin. Der Fluch ist … sehr gefährlich. Geht ihr allein!«

»Wie du meinst. Falls du plötzlich eine Mumie hier rausrennen siehst, halte sie mit deinem Pickel in Schach!« Mit diesen Worten zog Jill ihren Mundschutz hoch. Achmed lachte nicht darüber, sondern hielt das Werkzeug entschlossen fest.

Als Erste stieg Jill in die Öffnung, Daniel folgte ihr. Die Akku-Scheinwerfer tauchten die teils farbigen Wandmalereien in ein helles Licht. Am Ende des Korridors zweigte der Weg links ab. Trotz Mundschutz stieg ihnen der gleiche Gestank in die Nase wie in den meisten unterirdischen Kammern in Ägypten: der Geruch von alten Socken.

Jill blickte auf ihre analoge, etwas in die Jahre gekommene Armbanduhr und sagte in die Kamera: »Zeitpunkt der ersten Besichtigung: 10:17 Uhr. Wir inspizieren zuerst die Leichen am Boden hier.«

Die Trockenheit hatte dafür gesorgt, dass sich die ledrig aussehende Haut in einem erstaunlich guten Zustand befand. Auch von den simplen Gewändern war das meiste erhalten geblieben. »Der Verwesungsgrad der Körper und die Beschaffenheit ihrer Kleidung deuten darauf hin, dass die beiden schon seit Jahrtausenden hier liegen«, sagte sie. »Die Beckenform lässt auf Männer schließen. Der lange Holzstab hier scheint ein Hirtenstab zu sein. Da ihnen offenbar kein Ausweg blieb, ist der eine wahrscheinlich verhungert, und der andere«, sie deutete auf den Schädel, der wie ein fallen gelassener Tonkrug völlig zertrümmert dalag, »ist an Kopfweh gestorben. Heftiges Kopfweh. Vielleicht haben sie sich gestritten.«

Daniel hielt mit der Kamera auf die beiden Leichen. »Das sieht eher nach dem Werk eines Baseballschlägers aus. Der dünne Hirtenstab reichte dazu kaum aus.«

Jills Gedanken führten in eine andere Richtung. »Die beiden haben keinerlei Beute bei sich, eventuell war das Grab bereits geplündert. Dann hat der Chamsin die beiden Unglücksraben überrascht. Der Sturm hat den Eingang zugeweht und sie zum Tod in einer leeren Gruft verdammt.«

Sie drehte sich von den Mumien weg und ließ ihren Blick durch den Korridor wandern. »Ist dir klar, dass wir seit Ewigkeiten die ersten Menschen sind, die diesen Raum betreten?«

Daniel antwortete nicht und filmte mit offenem Mund die Malereien an den Wänden.

»Halte deine Kamera auf diese Figuren hier.« Jill deutete auf das Bild eines Mannes und einer Frau. »Die Frau scheint die Göttin Hathor zu sein. Mit ihrer rechten Hand hält sie das Zeichen des Anch an die Nase des Pharaos, als Symbol des Lebenshauches.«

»Denken Sie, wir haben ihn gefunden?« Daniel atmete nervös unter dem Mundschutz. Obwohl in dieser Kammer eine angenehme Kühle herrschte, stand tropfenweise Schweiß auf seiner Stirn.

Jill ging ein paar Schritte vorwärts und studierte die Inschriften und Zeichnungen an der Wand. »Ich bin mir nicht sicher, wer oder was hier ist. Oder war. Aber das finden wir bald heraus.«

Daniel warf ihr einen skeptischen Blick zu. Je weiter sie in den Korridor vordrangen, desto beeindruckender wirkten die Fresken. Direkt unter der Decke klafften einige faustgroße runde Löcher.

Ein komisches Gefühl beschlich Jill. Irgendetwas stimmte hier nicht. Zwei tote, eingeschlossene Grabräuber ohne Beute. Einer davon mit einem zertrümmerten Schädel.

Was ist hier passiert?

Ihr Blick blieb auf der Darstellung einiger Tiere hängen: Ein Sklave führte einen jungen Elefanten und einen Bären an einer Leine zum Pharao. Als exotische Tribute zollte man auf diese Weise dem König gegenüber Respekt und Hochachtung. Die Abbildung erinnerte Jill an das Relief eines Ursus arctos syriacus – einen syrischen Bären – an der Westseite des Luxor-Tempels. Gleichzeitig rief das Bild bei ihr eine Phrase ins Gedächtnis: It’s easy to miss something you’re not looking for.

»Was haben Sie gesagt, Dr. Carter?« Daniel schien gänzlich von den Wandmalereien gefangen zu sein. Mit jedem weiteren Schritt kamen ungewöhnlichere Bilder zum Vorschein.

»Es ist leicht, etwas zu verpassen, wonach man nicht sucht«, wiederholte Jill. »Hast du nie den Moonwalking Bear gesehen?«

Daniel schaute seine Mentorin verwirrt an. »Ich glaube nicht.«

»Es ist ein kurzer Film, ein sogenannter Awareness-Test«, fuhr Jill fort. »Zwei Teams mit je fünf Basketballspielern dribbeln etwa eine halbe Minute umher. Ein Team ist weiß gekleidet, das andere schwarz, und jedes Team hat einen Basketball. Die Aufgabe für den Zuschauer lautet, die Anzahl Pässe des weißen Teams zu zählen, während das schwarze Team im ganzen Durcheinander ebenfalls mitspielt. Die Antwort am Schluss des Filmes ist aber irrelevant.«

Jill ließ den Blick nicht von den Wänden. »Der Clou ist, dass sich im Verlauf des Spiels jemand in einem schwarzen Bärenkostüm durch die Szene tummelt und dabei den Moonwalk tanzt. Die meisten Leute, mich inklusive, bemerken den schwarzen Bären nicht, weil alle eifrig die Pässe des weißen Teams zählen. Darum: Es ist leicht, etwas zu verpassen, wenn man nicht danach Ausschau hält.«

»Ehrlich gesagt verstehe ich nicht, warum Sie mir das erzählen, Dr. Carter.« Daniel filmte weiter und lief dabei langsam an ihr vorbei. »Sehen Sie denn hier eine Salsa tanzende Mumie oder …«

Er konnte den Satz nicht beenden, weil Jill ihn unsanft am T-Shirt packte und auf die Seite gegen die Wand stieß.

»Keinen Schritt weiter!«, sagte sie, ohne ihren verdutzten Praktikanten anzusehen.

V

10.24 Uhr

Daniel keuchte unter seiner Schutzmaske. »Habe ich etwas Falsches gesagt oder …«

»Hast du bemerkt, wie die Malereien immer farbiger und faszinierender werden?« Jill deutete links auf eine Reihe seitwärts gehender Frauen in leuchtenden Gewändern mit buntem Kopfschmuck. »Man kann seinen Blick fast nicht davon abwenden. Wer hier durchläuft, gafft links oder rechts umher und staunt wie ein Tourist beim ersten Mal am Times Square. Man schaut überallhin«, ihr Blick wanderte langsam auf den Boden vor ihnen, »nur nicht, wo man läuft.«

Jill kniete sich hin und schob den Staub der Jahrhunderte auf die Seite. Dort lag neben Sand, Schmutz und Tonscherben eine grünliche Substanz, die sie nicht einzuordnen vermochte. Dünne Rillen kamen zum Vorschein, die die beiden Wände wie Linien verbanden. Sie zog einen kleinen Pinsel aus ihrer Tasche und reinigte einige der Vertiefungen.

Vielleicht täusche ich mich …

Vorsichtig blies sie ein paar der Rillen frei. Einen Moment später stand sie auf, lief zum Eingang hin und rief zu Achmed: »Reich mir bitte eine Schaufel rein.«

Wenig später kehrte sie zu Daniel zurück, drehte die Schaufel um und stemmte deren Stiel schräg in die Rillen.

Der Boden sank ein. Wie aus dem Nichts fuhren von links und rechts kopfgroße Rammsteine aus der Wand und trafen mit einem lauten, dumpfen Knall wenige Zentimeter vor Jills Kopf zusammen.

Daniel schrie auf und ließ vor Schreck fast die Kamera fallen. Sobald Jill den Schaufelstiel entlastete, wichen die Rammsteine zurück und fügten sich wieder nahtlos in das Muster der Wand ein. Auch das heruntergedrückte Bodenstück nivellierte sich mit dem restlichen Grund. Die Rillen sorgten dafür, dass die Rammsteine für nachlässige Beobachter beinah unsichtbar waren.

»Eine Zangenfalle, auch Nussknacker genannt«, sagte Jill mit Bewunderung in der Stimme. »Du siehst, es ist einfach zu verpassen, wonach man nicht sucht!« Sie klatschte Daniel auf die Schulter, sodass dieser nochmals zusammenfuhr.

Jill löste die Falle noch einmal aus. »Der Nussknacker wird durch das Gewicht des Unglücklichen ausgelöst. Der nach unten gedrückte Boden überträgt die Last auf halbkreisförmige Zangen wie bei einem richtigen Nussknacker. Nur wird statt einer Nuss …«

»… der Kopf geknackt, ich verstehe.« Daniels Hände zitterten leicht.

»Die Einzelteile der Mechanik müssen allesamt aus hartem Stein gefertigt worden sein, sonst hätte dieses Prachtstück die Zeit kaum überdauert«, sagte Jill. »Die Bauherren der Pharaonen waren die besten Ingenieure ihrer Zeit. Ihre Trickfallen eigneten sich perfekt dazu, um ungebetene Eindringlinge fernzuhalten.« Spöttisch fügte sie hinzu: »Solche Fallen funktionieren nie wie in Hollywoodfilmen. In der Realität wurde noch nie eine Schatzkammer entdeckt, aus deren Wänden plötzlich Pfeile hervorschießen. Zudem war es früher technisch unmöglich, dass Lichtstrahlen irgendwelche Mechanismen auslösen. Und durch die Entdeckung noch so heiliger Artefakte ist noch nie jemand in Flammen aufgegangen.«

Daniel nickte, und Jill ergänzte: »Echte Trickfallen sind simpel und für die Ewigkeit gemacht: Lange Tunnel, die als Sackgassen zu vermeintlichen Grabkammern führen und unerwünschten Besuchern jegliche Orientierung rauben. Tiefe Schächte lassen unvorsichtige Eindringlinge kläglich verdursten. Falltüren klappen durch das Gewicht einer Person herunter und schließen sich durch ein Gegengewicht wieder von selbst. Dies ist die einzige Kraft, von der man bereits im alten Ägypten wusste, dass sie nie versiegt: Gravitation!«

Sie ging vorsichtig weiter. Immer wieder tastete Jill mit dem Schaufelstiel den Boden ab, um andere Überraschungen aufzuspüren. Als der Gang nach links abzweigte, verschwand der Tunnel in der Dunkelheit. Stumm winkte sie Daniel heran. Im Schein seiner Kamera wurde ihr sofort klar, dass sie am Ziel waren.

Am Ziel meiner Träume.

Jill fühlte ihr Herz wie eine Trommel in der Brust schlagen. Auf diesen Moment hatte sie so lange gewartet.

Vor ihnen stand ein prachtvolles, goldenes Tor mit zwei Flügeln, verziert mit kunstvollen Fresken und detaillierten Zeichnungen. Ein mit Hieroglyphen bedruckter Lehmklumpen verband die Enden eines halb verrotteten Seils, das mehrfach um die beiden Henkel der Portalfügel gewickelt war.

Das Siegel des Pharaos. Wahrscheinlich über dreitausend Jahre alt. Und es ist unbeschädigt.

VI

10.29 Uhr

In Jills Kopf wirbelten zahllose Fragen umher: Wie war das überhaupt möglich? Was bedeutete dieser Moment für sie, für die Geschichte, für die Welt?

Und was hätte mein lieber Onkel dazu gesagt?

Die Tragweite der Entdeckung ließ sie innehalten, während Daniel ein paar Schritte vorwärts trat und als Erster die Worte wiederfand. »Sie werden so was von berühmt sein«, sagte er und filmte dabei das auf der rechten Torhälfte vorhandene Abbild eines Anubis. Als Gott der Totenriten, dargestellt als Mensch mit dem Kopf eines Schakals, hielt er in der Hand ein Was-Zepter als Symbol für Glück und Macht.

»Wir werden beide berühmt sein«, sprach Jill mit gedämpfter Stimme. »Und Achmed auch. Schließlich habt ihr zwei den Fluch entdeckt.«

Sie stutzte. Eine unangenehme Intuition bohrte sich wie ein kleiner Nadelstich in ihre Wahrnehmung und verhinderte, dass die Glücksgefühle sie endgültig übermannten.

Irgendetwas stimmt hier nicht.

Der Fluch des Pharaos. Die zwei toten Diebe. Der Nussknacker. Ein zermalmter Schädel.

Das unversehrte Siegel.

Niemand hat bisher versucht, es zu öffnen. Auch der zweite Grabräuber nicht.

Die Erkenntnis durchzuckte Jill wie ein Blitz.

»Warte!«, schrie sie und hechtete nach vorn.

Gerade noch bekam sie Daniels Gürtel zu fassen. Gleichzeitig bewegte sich der Boden unter seinem Fuß. Durch sein Gewicht schwang die Falltür, auf die er getreten war, nach unten auf. Daniel gab einen überraschten Schrei von sich.

Wie eine Marionette taumelte er über einem Abgrund, mit nur einem Bein stand er noch auf festem Boden. Jill zog an seinem Gürtel und versuchte, Daniel zumindest im Gleichgewicht zu halten.

Der Scheinwerfer der Kamera leuchtete den tiefen Schacht unter ihnen aus. Auf dem Grund lag eine weitere Leiche, aufgespießt auf aus dem Boden ragende Steinspitzen. Leere Augenhöhlen starrten sie an, bevor sich die Falltür durch ein Gegengewicht langsam wieder schloss und Jill ihren Praktikanten endgültig zurückzog.

Daniel keuchte laut und sah seine Chefin fassungslos an. »Vielleicht sollten wir raus hier.«

Jill lächelte. »Gerade jetzt, wo der Spaß …« Sie hielt inne. Ein dumpfes Tock hallte durch den Korridor.

Darauf folgte ein unheilvolles Klickern hinter den Wänden und verriet den beiden, dass die Falltür einen weiteren Mechanismus ausgelöst haben musste. Ungläubig schauten sie sich um.

Wenn jetzt eine riesige Steinkugel auf uns zurollt, ist es definitiv an der Zeit, abzuhauen, dachte Jill.

Daniel machte ein paar Schritte zurück und drückte sich in eine Ecke des Korridors. »Was … was geschieht hier?«, stammelte er.

Als Antwort schossen drei kleine kugelförmige Tongefäße über ihnen aus den Löchern, die Jill zuvor für Lüftungsschächte gehalten hatte. Die Tonkugeln zerbarsten an der gegenüberliegenden Wand und gaben ihren Inhalt frei. Über ihren Köpfen verteilte sich ein grüner Puder und legte sich wie ein dünner Schleier auf sie.

Jill musterte die konfettigroßen Stücke, die sanft wie Schnee herunterschwebten. »Könnte von einer Giftpflanze sein«, sagte sie. »Eventuell eine Mandragora Officinarum, die Alraune. Wenn man die gemahlenen Blätter lange genug einatmet, kann dies zu Herzrhythmusstörungen oder Atemlähmung führen.«

Sie zerrieb etwas von dem vertrockneten Puder zwischen den Fingern. »Das Zeug ist nach all den Jahren wohl nicht mehr wirksam …«

»Dr. Carter, der Eingang!«, rief Daniel. Er stand noch immer in der Ecke und zeigte zum anderen Ende des Gangs. Jill eilte zu ihm.

Wie eine übergroße Guillotine schob sich ein tonnenschwerer Steinblock von oben über den Durchgang und würde sie in wenigen Sekunden einsperren.

VII

10.33 Uhr

»Raus hier. Jetzt!«, schrie Jill.

Die steinerne Scheibe schob sich unerbittlich von oben herab.

Daniel ließ seine Kamera fallen, rannte los und wirbelte dabei Tausende lindgrüne Flocken auf. Plötzlich überkam Jill die Gewissheit wie ein Schlag: Daniel übersieht den Nussknacker!

Dieser preschte ungestüm den Korridor zurück, den Blick auf den sich schließenden Ausgang gerichtet. Noch etwa vier Schritte und sein Schädel würde von den Rammsteinen zermalmt.

Noch zwei Schritte … Jill sprang vorwärts und stieß Daniel mit der Hand in den Rücken.

Mit einem Aufschrei stürzte Daniel nach vorn, während sein linker Fuß den Nussknacker auslöste. Die beiden Steinzangen verpassten seinen Kopf um Haaresbreite. Jill selbst fiel ebenfalls der Länge nach hin und hörte das hässliche Knacken direkt über ihr. Sie spürte einen leichten Luftzug und wusste, dass ihr Kopf nur verdammt knapp nicht zermalmt worden war.

Daniel drehte sich verdattert um und stammelte: »Danke, ich …«

»Keine Zeit, lass uns verschwinden.« Jill rappelte sich auf.

Es waren bloß ein paar Meter bis zum Ausgang, doch das Schiebetor schloss sich viel zu schnell. Die Hälfte des ohnehin winzigen Durchganges war bereits versperrt.

Sie stürzten beide wieder voran, Daniel an erster Stelle.

Es reicht nicht, dachte Jill. Er wird es vielleicht schaffen, aber ich?

Gerade, als die steinerne Guillotine nur noch einen halben Meter der Öffnung freiließ, keilte jemand einen Pickel zwischen den Boden und die herabfallende Scheibe.

Achmed!

Mit einem Satz sprang Daniel durch das Loch, und Achmed zog ihn sofort an den Händen nach draußen. Das volle Gewicht der Steinscheibe lastete auf den zwei Enden des Pickels.

Das Ding hält nicht lange, verdammt!

Mit einem Sprung hechtete Jill ebenfalls mit dem Oberkörper durch die Öffnung. Gleichzeitig sah sie im Augenwinkel, wie der Pickel brach und sich das Tor weiter senkte. Sie drehte sich blitzschnell auf den Rücken und zog gerade noch ihre Füße zurück, bevor sich das Tor endgültig mit einem bebenden, dumpfen Knall schloss.

Sie rangen um Atem und zogen keuchend ihre Masken ab. Jill blickte ungläubig den verschlossenen Durchgang an.

Dann begann sie, laut zu lachen. Daniel und Achmed schauten sich verdutzt an, doch Jill sagte nur: »War das ein Spaß!« Sie fühlte sich lebendig wie schon lange nicht mehr.

Daniel holte tief Luft. »Dr. Carter, woher wussten Sie von der Falltür?«

»Gar nicht«, antwortete Jill. »Aber weshalb sollte jemand, der in dieser Gruft eingeschlossen ist, das Siegel unberührt lassen? Die Lösung lautet: Sie waren ursprünglich zu dritt! Die ersten beiden kamen durch den Nussknacker und die Falltür um und der Letzte starb am Pflanzengift. Welches für uns hoffentlich nicht mehr toxisch ist.«

Daniel weitete die Augen und hustete vorsorglich ein paar Mal.

»Ich bin gespannt, wie viele Ladungen von diesen Tonkugeln noch vorhanden sind«, sagte Jill. »Sie scheinen jeweils von der Falltür aus ihren Halterungen befreit zu werden. Ein raffinierter Mechanismus, muss ich sagen.« Sie stand auf. »Kommt, es geht weiter!«

Daniel keuchte. »Dr. Carter, was haben Sie vor? Sie wollen doch nicht …«

»Natürlich, wir gehen wieder rein!«, entgegnete Jill freudig. »Ich habe zwar keine Ahnung, wie wir das Tor anheben können. Aber zumindest wissen wir nun, was uns dahinter erwartet! Jedenfalls bis zum Siegel. Womöglich gibt es noch mehr Überraschungen«, rief sie.

Daniel verdrehte die Augen. Er schien fürs Erste genug zu haben von Leichen, Fallen und Adrenalin.

Während Jill sich überlegte, ob ein Wagenheber das Tor hochstemmen könnte, eilte ihr ägyptischer Assistent Jemal mit einem Funktelefon herbei. »Dr. Carter, ein dringender Anruf für Sie!«, rief er ihr von Weitem zu.

»Nicht jetzt, Jemal, auch wenn es der Papst ist. Richte der Person aus, sie kann mich später anrufen.«

»Der Mann hat aber betont, es ginge um Leben oder Tod. Außerdem soll ich Ihnen sagen, dass …», Jemal wirkte plötzlich verlegen, »… dass Sie ihm seit der Geschichte in Guatemala noch einen Gefallen schulden.«

Jill blickte ihren Assistenten entgeistert an. Doch sie fasste sich schnell und bedeutete Jemal, im Hauptzelt zu warten.

Sie beugte sich zu Daniel und Achmed. »Schnell, schaufelt den Durchgang unauffällig wieder zu«, flüsterte sie. »Und erzählt Jemal nichts. Ich vermute, dass er insgeheim an die ägyptische Kulturbehörde berichtet. Sobald die von unserem Fund erfahren, werden wir sofort von hier abgezogen.«

Die beiden Helfer sahen sie zunächst überrascht an, griffen jedoch auf der Stelle zu den Schaufeln.

Jill stieg indessen aus der Grube. Der falsche Anrufer zur falschen Zeit. Der Fluch des Pharaos entfaltet seine Wirkung.

VIII

10.36 Uhr

Im Hauptzelt angekommen, nahm Jill das Funktelefon von Jemal entgegen und gab ihm den Auftrag, bei den anderen Grabungsstellen nach dem Rechten zu sehen. Nachdem ihr Assistent das Zelt verlassen hatte, zog sie die Eingangs-Plane zu und schaltete zögerlich die Stummschaltung aus. »Hallo, hier ist Jill.«

»Na endlich! Carter, hier ist Alain, Alain Dumant. Ich weiß, es ist eine Weile her, aber ich brauche deine Hilfe. Heute und hier bei mir, in Alexandria. Wie schnell kannst du am Flughafen in Luxor sein?«

»Gar nicht.«

»Hör mir wenigstens zu, bitte.«

Jill seufzte. Ihr ehemaliger Studienfreund klang verzweifelt. Sie hatten seit ihrer letzten Zusammenarbeit in Guatemala jeglichen Kontakt abgebrochen. Das war vor neun Jahren, als sie in einem heftigen Streit auseinandergegangen waren. Dabei dachte sie oft an ihn.

»Du hast zwei Minuten«, sagte sie kühl. An der Cambridge University hatte sie nicht nur ihr gemeinsames Interesse für die klassische Archäologie und Ägyptologie zusammengebracht, sondern auch ihre Leidenschaft fürs Kickboxen.

Alain war in Frankreich bei seiner religiösen Mutter aufgewachsen und bezeichnete sich als Christ. Mit Kickboxen verband er ebenfalls das Leben und den Kampf auf der Straße. Aufgewachsen in einer Banlieue von Paris, hatte er sich als Jugendlicher oft draußen herumgetrieben und konnte Messerattacken ebenso geschickt abwehren wie mit fiesen Tricks Gegner ausschalten. Auf der Straße gelte das Recht des Stärkeren, sagte er oft. Seinen trockenen Humor und die mürrische Art hatte Jill als Britin vom ersten Moment an geschätzt. Nun aber klang Alain wie ein gehetztes Tier. »Hast du von den Ausgrabungen im Serapeum gehört?«

Natürlich hatte Jill das, alle Fachzeitschriften berichteten über den Fund an einer Stelle, wo in der Antike eine berühmte Bibliothek gestanden war. Ein Archäologenteam hatte dort vor einigen Monaten eine etwa dreißig Meter lange und intakte Mauerfassade freigelegt. Die Inschriften und Symbole auf dieser Wand interpretierte man als Widmungen an verschiedene Wissenschaftler des Altertums. Dies ließ aufhorchen, zumal der Fundort in Alexandria lag. Die zweitgrößte Stadt Ägyptens lag an der Mittelmeerküste und blickte auf eine lange Blütezeit in der Antike zurück.

Jill erinnerte sich, dass der bekannte türkische Archäologe Faruk Aydin die Leitung für die Ausgrabungen übernommen hatte. Kein Wunder: Wenn es um die verschollene Bibliothek von Alexandria ging, galt Professor Aydin als die Koryphäe schlechthin. Seit Jahrzehnten suchte dieser Mann nach Überresten der einst umfassendsten Bibliothek der Antike. »Bist du bei diesen Ausgrabungen mit dabei?«, fragte Jill verblüfft.

»Seit einem Jahr, ich bin erster Assistent für Professor Aydin. Gestern haben wir durch Infrarotmessungen eine versteckte Kammer entdeckt. Mittels Probebohrung haben wir ein Videoskop eingebracht und sind auf etwas … gestoßen.«

»Was genau?«

»Das sag ich dir vor Ort, hier haben die Wände Ohren. Gestern Abend erhielt Professor Aydin einen anonymen Anruf, vermutlich ein Ägypter. Bis heute Abend um zwanzig Uhr müssen wir ein Artefakt aus der Kammer holen und ausliefern. Jemand hat unsere Entdeckung verraten.«

Jill überlegte kurz. »Womit erpressen sie euch?«

»Sie haben Yasmin. Gestern Abend wurde sie aus der Bibliotheca Alexandrina entführt und ein Aufseher wurde ermordet. Die Kidnapper drohen damit, Yasmin umzubringen, wenn wir das Artefakt nicht übergeben.«

»Wer ist Yasmin? Kenne ich sie?«

»Sie ist die Tochter von Professor Aydin.« Alain atmete tief durch. »Und sie ist seit einigen Monaten meine Freundin.«

Dass ihr Studienfreund nach all den Jahren mit einer derartigen Räubergeschichte aufwartete, machte Jill misstrauisch: »Und wieso rufst du mich an?«

»Wir wissen nicht, wie wir in die verdammte Kammer gelangen können«, antwortete Alain mit gepresster Stimme. »Die Wand mit der Inschrift ist über siebzig Zentimeter dick und aus massivem Felsengestein. Der Hohlraum scheint in den nackten Felsen gehauen, aber irgendwo muss ein Zugang vorhanden sein. Carter, du musst uns helfen, möglicherweise siehst du durch das Videoskop etwas, was uns entgangen ist. Sie nennen dich schließlich nicht umsonst Indiana Jill.«

Jill seufzte. Das ging ihr alles viel zu schnell. Und das Timing konnte nicht schlechter sein. Gerade eben waren sie auf einen Jahrhundertfund gestoßen, und das weitere Vorgehen musste sorgfältig geplant werden. »Ich schlage dir ungern etwas ab, aber ich kann hier nicht weg, weil …«

Alain unterbrach sie. »Carter, bis morgen früh bist du wieder zurück in Luxor, das verspreche ich dir. Du kannst mich jetzt nicht im Stich lassen. Außerdem schuldest du mir noch was.«

Es erstaunte Jill nicht, dass Alain diese Karte spielte. Und sie konnte es ihm auch nicht verdenken: Seine Freundin war entführt worden, wahrscheinlich von Kunstschmugglern, die selbst vor Mord nicht zurückschreckten.

Außer ihr und den zwei Helfern wusste bisher niemand von ihrem Fund, nicht einmal Jemal. Deckte man die Inschrift mit den Hieroglyphen und das Loch ab, erschien die Grabungsstelle nicht weiter auffällig. Außerdem mussten die nächsten Schritte akribisch geplant werden, sonst stand sie am Ende selbst als Grabräuberin da.

»Also gut, ich bin dabei«, sagte sie. »Holen wir deine Yasmin zurück.«

IX

10.41 Uhr

Eine Menge Fragen gingen Jill durch den Kopf, während Alain ihr erklärte, dass bereits in fünfzig Minuten eine Chartermaschine einer deutschen Reisegesellschaft nach Alexandria flog, der einzige Direktflug heute. Äußerst knapp, denn der Flughafen lag auf der anderen Seite des Nils. Und das Fährboot zur Überquerung schien sich schon jetzt für einen Ehrenplatz in einem Museum für antike Transportmittel zu bewerben.

Jill verabschiedete sich von Alain und rief hastig nach Jemal sowie Daniel und Achmed. Sie packte dazu die notwendigsten Sachen für unterwegs. »Jemal, wo ist unser Mini-Videoskop?«

Der Assistent zeigte verdattert auf einen verschlossenen Spind. »Rajab bewahrt das Videoskop in seinem Schrank auf. Doch er ist heute nicht hier, und nur er hat den Schlüssel.«

Jill sah kurz auf das Vorhängeschloss und verzog keine Miene. Kurz entschlossen entnahm sie ihrem Notizbuch eine Heftklammer, bog diese auf und öffnete das Schloss binnen Sekunden.

Sie zog das Videoskop aus dem Spind und steckte es in ihren Rucksack. »Es gibt eine Planänderung«, sagte sie. »Ich muss dringend nach Alexandria zu einer Grabung, ein alter Freund braucht meine Hilfe. Jemal, du vertrittst mich, bis ich morgen wieder zurück bin. Falls es irgendein Problem gibt, rufst du mich schleunigst an. Daniel und Achmed arbeiten weiter in ihrer Grube, sie wissen Bescheid.« Sie zwinkerte den beiden diskret zu. Dabei bemerkte sie, wie Daniel etwas verloren herumstand.

Der heutige Morgen war wohl zu viel für ihn. Kein Wunder! Jill schulterte ihren Rucksack und dachte kurz nach. Daniel ist ein guter Beobachter. »Willst du mich begleiten? Du müsstest allerdings den Reisepass bei dir haben. Uns bleibt keine Zeit, um bei deiner Unterkunft vorbeizugehen.«

Daniel blickte sie verblüfft an, dann nickte er und strahlte. Sofort suchte er seine Sachen zusammen. Jill fiel auf, dass nun auch Achmed verdrossen dreinblickte. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter. »Daniel und ich sind dir sehr dankbar.« Sie zwinkerte ihm erneut zu, ohne dass Jemal es sehen konnte. Achmed lächelte und schien zu begreifen, wofür der Dank galt.

»Los, wir müssen die Fähre erwischen!« Jill lief zum Zelt hinaus und sah aus dem Augenwinkel, dass Daniel ihr eiligst folgte und dabei Achmed kurz zum Abschied zuwinkte.

Während sie zum Ausgang des Parks rannten, hoffte Jill, dass sie Daniel nicht erneut in Gefahr brachte.

X

11.13 Uhr

Der Flughafen in Luxor überraschte durch seine Modernität und seine Größe von immerhin fünf Gates. Sogar Charterlinien flogen die Stadt an und Abertausende Touristen reisten hier jährlich an und ab.

Sie erreichten den Flughafen gerade noch rechtzeitig. Am Eingang erwartete sie bereits Machmud, ein Page des Hotels, in dem Jill wohnte.

»Gut, dass ich dich erreicht habe, Machmud. Hat alles geklappt?«

Der Page nickte. »Hier sind die Flugtickets, es gab sogar noch zwei freie Sitze beim Notausgang, wie immer.«

Jill dankte es ihm mit einem Lächeln.

Der Page nahm eine Ledertasche von seinen Schultern und öffnete sie. »Und hier ist Ihr Tablet drin. Und natürlich der Flachmann.«

Jill nahm die Sachen entgegen. »Machmud, du bist der Beste!«

»Sie haben heute zudem einen Brief erhalten.« Er reichte ihr einen Umschlag mit einer englischen Briefmarke.

Jill verstaute alles in ihrem Rucksack, verabschiedete sich hastig von Machmud und rannte mit Daniel zu ihrem Gate.

Kurz darauf stiegen sie als letzte Passagiere in das Flugzeug ein. Dabei tätschelte Jill zärtlich den Rand der Einstiegstür.

Als sie sich anschnallten, nahm Jill als Erstes ihren Flachmann hervor und steckte ihn in ihre Brusttasche. Sie würde die kleine Metallflasche bald wieder auffüllen müssen, sie war fast leer. Auf die Grabungsstelle im Tal der Könige kam das Erinnerungsstück nie mit, sie wollte schließlich nicht unprofessionell wirken. Dieses Geschenk begleitete sie nun seit über zwanzig Jahren auf ihren Reisen, und die Gravur auf der metallenen Oberfläche ergriff sie in ihrer Schlichtheit immer wieder: »Be save. E. B.«

Während der Jet auf das Startfeld rollte, nahm Jill den Brief hervor. Wie sie vermutet hatte, war er von ihrer Mutter.

Vorsichtig öffnete sie ihn. Sie genoss es, die handgeschriebenen Seiten dem Umschlag zu entnehmen und in die mit wohlbekannter Schrift verfassten Geschichten aus dem Alltag einzutauchen. Eine Textstelle weckte besonders ihre Aufmerksamkeit:

»Erinnerst Du Dich noch an den Kirschbaum, den du mit Ethan in unserem Garten gepflanzt hast? Der Stamm ist morsch und der Baum sollte gefällt werden. Aber was soll ich mit eurem Schatz machen? Soll ich ihn aufbewahren? Ich werde ihn auch bestimmt nicht öffnen! Bitte gib mir doch bald eine Antwort.«

Jill griff bei diesen Worten automatisch zum Flachmann. Vor ihrem inneren Auge erschien das Gesicht von Ethan Bellman, ihrer großen College-Liebe.

Sie musste immer noch oft an ihn denken. Über zwanzig Jahre war es her, dass sie sich kennengelernt und sogleich zueinander gefunden hatten. In ihrer Sturm-und-Drang-Zeit hatten sie viele Dinge unternommen, an die sie sich heute noch gern zurückerinnerte.

Unter anderem auch an die Sache mit dem Kirschbaum.

Bereits in den Ferien nach dem ersten College-Jahr hatten sie hochverliebt beschlossen, gemeinsam im Garten von Jills Zuhause einen Baum zu pflanzen. Ethan hielt die Idee für romantisch, weil der Obstbaum symbolisch die Früchte ihrer Liebe tragen würde. Jill schlug vor, unter dem Baum eine Blechbüchse mit geheimem Inhalt zu vergraben. Trotz aller Romantik war ihre Mutter nicht sehr angetan von der zusätzlichen Gartenarbeit, den ihr das Gewächs bescherte, aber schließlich konnte sie ihrem einzigen Kind nichts abschlagen.

Der »Schatz« bestand schlicht aus zwei Briefen, sorgfältig in Plastiktüten versiegelt. Sie und Ethan verfassten darin ihre Gedanken und Wünsche für den anderen. Jill konnte sich nicht mehr erinnern, was sie damals für Ethan geschrieben hatte, und seinen Brief würde sie erst zu Gesicht bekommen, wenn sie die Büchse ausgruben. Das war der Deal.

Als Jill damals an der Cambridge-Universität unweit von London Archäologie und Ägyptologie zu studieren begann, hatte er ihr zum Abschied den Flachmann geschenkt. »Du, und nur du, entscheidest über deine Zukunft«, hatte er damals gesagt. Jill würde diesen Moment am Bahnhof nie mehr vergessen, insbesondere nachdem sie den ersten Schluck aus dem Flachmann getrunken hatte. Bis heute blieb sie dessen Inhalt treu.

Obwohl sie nur dreieinhalb Stunden voneinander entfernt gewohnt hatten, hatte ihre Liebe nur ein weiteres Jahr überlebt. Als Jill nach einem mehrmonatigen Feldpraktikum aus Israel zurückgekehrt war, hatte Ethan ihre Beziehung umgehend beendet. Er hatte seine Entscheidung schwammig begründet: Er sei zur Überzeugung gelangt, dass es Jill als Archäologin immer wieder in die Ferne ziehen würde, und Ethan wünsche sich weder lange Reisen noch solch ein Nomadenleben. Eine gemeinsame Zukunft könne er sich nicht vorstellen.

Sie hatte eine Weile benötigt, um die Trennung zu verdauen. Ein Teil von ihr sehnte sich nach all den Jahren immer noch nach ihm, auch wenn sie dies nie jemanden gegenüber zugeben würde. Ethan hatte schließlich eine Brünette namens Jenny geheiratet und mit ihr drei Kinder in die Welt gesetzt. Jill blieb mit Ethan befreundet, obwohl sie sich nur noch selten sahen.

Würde er nach zwanzig Jahren meinen Brief an ihn noch lesen wollen?

Jill seufzte still.

XI

11.37 Uhr

»Ehm, Dr. Carter?«

Keine Zeit für die Liebe, dachte Jill und schüttelte den Kopf, als könnte sie damit die Gedanken an die Vergangenheit loswerden. Der Schatz musste warten.

Daniel blickte sie etwas verlegen an. »Ich wollte mich dafür bedanken, dass sie mir heute in der Gruft das Leben gerettet haben.«

»Heute hast du deine Feuertaufe bestanden, ich gratuliere. Der erste Fund macht immer Lust auf noch mehr Entdeckungen. Es ist wie eine Sucht, glaube mir!«

»Und welcher Fund hat Sie angefixt?«, fragte Daniel.

»Ich habe während meines Praktikums südlich von Tel Aviv an einer Ausgrabung in Strandnähe gearbeitet. Der Ort hieß Yavneh Yam, und zusammen mit anderen Studenten haben wir die Überreste eines antiken Kleinhafens ausgebuddelt. An meinem ersten Tag fand ich eine handtellergroße Tonscherbe, nichts Besonderes, mit solchen Bruchstücken füllten wir täglich mehrere Eimer voll. Aber diese eine Scherbe enthielt in der Mitte ein eingestanztes Symbol. Ich zeige es dir.«

Jill holte ihr Handy heraus. Auf dem Sperrbildschirm erschien das Foto einer Tonscherbe. Das gravierte Symbol auf der Scherbe kam Daniel nicht bekannt vor, aber es strahlte etwas Geheimnisvolles aus.

»Sieht aus wie ein X mit einem P darüber. Was bedeutet das?«

»Dies ist das Christus-Monogramm, ein altes Symbol für die Christenheit, noch älter als das Kreuz«, antwortete Jill. »Das X und das P stehen im Griechischen für Chi und Rho, die ersten beiden Buchstaben für Christos, also Christus. Der Legende nach sah im Jahre 312 Kaiser Konstantin der Große vor einer wichtigen Schlacht dieses Symbol am Himmel und hörte die Worte In diesem Zeichen siege!, woraufhin er das Christus-Monogramm auf die Schilder seiner römischen Soldaten malen ließ. Tatsächlich gewann er gegen die zahlenmäßig überlegene Armee des Maxentius und wurde anschließend alleiniger Herrscher über das Römische Reich. Ein Jahr später erließ er das Toleranzedikt von Mailand, womit sich das Christentum zur erlaubten Religion erhob und sich wenige Jahrzehnte danach zur Staatsreligion mauserte.« Jill dachte kurz nach. »Für mich bedeutete dieser Fund jedenfalls, dass ich meine Bestimmung gefunden hatte.«

»Und für mich ist es schon jetzt der spannendste Tag meines Lebens!« Daniel strahlte. »Dabei ist erst Mittag, und es geht noch weiter. Wobei genau braucht Ihr Freund einen Rat?«.

»Fangen wir von vorn an: Was weißt du über die antike Bibliothek von Alexandria?«

»Nicht viel. Sie war vor zweitausend Jahren bevölkert von Wissenschaftlern und Philosophen. Und bis heute hat man kaum Überreste davon gefunden.«

»Genau. Doch der Reihe nach: Du kennst gewiss Alexander den Großen, den berühmten Feldherrn. Ein nicht gerade bescheidener Genosse: Im vierten Jahrhundert vor Christus hat er gleich eine ganze Stadt nach sich selbst benannt: Alexandria. Seine Nachfolger, Ptolemäus I. bis III., erbauten nicht nur gigantische Monumente wie beispielsweise den Leuchtturm von Pharos, eines der sieben Weltwunder der Antike. Sie erschufen auch einen gewaltigen Tempel, ein Heiligtum der Musen.«

»Sind Musen nicht die Freundinnen von Künstlern?«

»Heute wird dieser Begriff tatsächlich so verwendet. Wird jemand von der Muse geküsst, weist dies auf besonders kreatives und inspiriertes Schaffen eines Künstlers hin. In der Antike waren Musen jedoch die Schutzgöttinnen der Künste. In den Heiligtümern der Musen verehrte man sie und feierte Musenkulte. Und diesen Tempel in Alexandria nannte man das Museion.«

»Klingt nach Museum.«

»Das ist kein Zufall: Aus Museion wurde im Laufe der Jahre der Begriff Museum abgeleitet. Jedenfalls wollten die ptolemäischen Herrscher etwas Gewaltiges erschaffen, um die Welt von der Bedeutsamkeit ihrer Metropole zu überzeugen. Dabei huldigten im Museion nicht nur Einheimische den Schutzgöttinnen der Künste, sondern man lud auch Gelehrte und Philosophen von weit her dazu ein. Das Museion mauserte sich zum Treffpunkt von Wissenschaftlern, und der Bedarf nach einer Lagerungsmöglichkeit für die Unmengen an Schriften entstand. Die vorhandenen Räumlichkeiten baute man im Laufe der Zeit zu einer gigantischen Bibliothek um. Doch damit nicht genug.«

Jill bemerkte zufrieden, dass Daniel gebannt zuhörte und fuhr fort. »Die ptolemäischen Herrscher befahlen, allerlei Wissen in Form von Schriftrollen zu sammeln, sei es über Geschichte, Wissenschaft, Kunst, Philosophie oder Religionen. In Alexandria ankommende Schiffe durchsuchte man nach Schriftrollen und kopierte diese anschließend. Buchbestände aus anderen Ländern kaufte man auf, und anscheinend schreckte man auch nicht davor zurück, Schriften stehlen zu lassen.«

»Also waren das die ersten Raubkopierer und Diebe.« Daniel grinste.

Jill nickte und ergänzte: »Folglich stieg die Bibliothek von Alexandria zur größten Sammlung von Wissen der damaligen Welt auf. Die Forscher heute sind sich uneinig, ob der Bestand um die fünfzigtausend Schriftrollen umfasste oder sogar mehr als eine halbe Million. Dieser Wissensfundus zog noch mehr Gelehrte und Philosophen an, und das Museion wurde zum Zentrum der Forschung und Bildung. Viele Wissenschaftler arbeiteten dort und waren mit ihren Entdeckungen und Erfindungen ihrer Zeit weit voraus.«

»Welche Entdeckungen denn?«, fragte Daniel.

»Aristarchos von Samos hat beispielsweise als Erster die These aufgestellt, dass sich die Erde um die Sonne drehte und nicht umgekehrt. Er hat dies rund 1800 Jahre vor Kopernikus behauptet! Leider glaubte ihm damals niemand, und die Theorie ging vergessen. Heron von Alexandria, ein genialer Tüftler und Mathematiker, erfand sogar die erste Dampfmaschine der Welt – den Heronsball. Dabei leitete er Dampf in eine metallene Kugel mit zwei herausragenden, abgewinkelten Auspuffrohren. Aufgrund des Rückstoßprinzips fing die Kugel an, sich zu drehen, da sie beweglich in einer Halterung lag. Das war vor zwei Jahrtausenden! Und weißt du, was danach mit seiner Erfindung geschah?«

»Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung«, sagte Daniel und zuckte mit den Schultern.

»Gar nichts! Die Leute fanden es bloß unterhaltsam! Eine drehende Kugel, aus der Dampf entwich! Und niemanden, auch nicht Heron, kam es in den Sinn, diese Kraft anderweitig zu nutzen. Jedenfalls wurde im Museion nicht nur diskutiert, gelehrt und geforscht, sondern ebenfalls viel geschrieben: Schreiber kopierten alte Schriftrollen, falls sie zu zerfallen drohten, und Texte in fremden Sprachen mussten übersetzt werden.«