Das Leuchten der Blätter - Patricia Koelle - E-Book
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Das Leuchten der Blätter E-Book

Patricia Koelle

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Beschreibung

Ein Wald voller Anmut und Erinnerungen – der dritte Band der Sehnsuchtswald-Reihe von Bestseller-Autorin Patricia Koelle Ava betreibt in Kühlungsborn einen Antiquitätenladen, der ihr einst vererbt wurde. Doch obwohl sie die Arbeit dort nicht erfüllt, scheut sie sich davor, ihren Herzenswunsch nach kreativer Arbeit in die Tat umzusetzen. Aufregender wird ihr Leben, als die temperamentvolle Solvie in ihren Laden stürzt. Denn die hat in Avas Schaufenster ein Symbol entdeckt, hinter dem eine besondere Bedeutung steckt. Gemeinsam reisen die beiden an die Mecklenburgische Seenplatte, um mehr über das Symbol zu erfahren. Die alten Eichen in Ivenack haben es Ava besonders angetan – aus der Umgebung schöpft sie Kraft und Inspiration. Und sie trifft dort auf Peer, der sie ermutigt, ihren Herzenswunsch nicht aus den Augen zu verlieren. Die Romane sind auch unabhängig voneinander ein großer Lesegenuss. Weitere Bücher der Autorin: Die Sehnsuchtswald-Reihe: ›Das Licht in den Bäumen‹, ›Das Glück in den Wäldern‹, ›Das Leuchten der Blätter‹, ›Der Klang des Windes‹ Die Inselgärten-Reihe: ›Die Zeit der Glühwürmchen‹, ›Das Lächeln der Libellen‹, ›Die Träume der Bienen‹, ›Das Geheimnis der Grashüpfer‹, ›Die Hoffnung der Marienkäfer‹ Die Nordsee-Trilogie: ›Wenn die Wellen leuchten‹, ›Wo die Dünen schimmern‹, ›Was die Gezeiten flüstern‹ Die Ostsee-Trilogie: ›Das Meer in deinem Namen‹, ›Das Licht in deiner Stimme‹, ›Der Horizont in deinen Augen‹

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Seitenzahl: 537

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Patricia Koelle

Das Leuchten der Blätter

Ein Sehnsuchtswald-Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Eher aus Pflichtbewusstsein führt Ava ein Antiquitätengeschäft, das ihr einst vererbt wurde. Die Arbeit erfüllt sie nicht, doch sie scheut sich davor, ihren Herzenswunsch – kreative und einzigartige Lampen zu bauen – in die Tat umzusetzen. Spannender wird ihr Leben, als die temperamentvolle Solvie in ihren Laden stürzt. Denn die hat auf einem Stück in Avas Schaufenster ein Symbol entdeckt, das sie von ihrem Großvater kannte, und hinter dem eine besondere Bedeutung steckt. Gemeinsam reisen die beiden an die Mecklenburgische Seenplatte, um das Rätsel des Symbols zu lösen. Dort angekommen, verliebt Ava sich in den magischen Hutewald in Ivenack und schöpft Kraft und Inspiration für ihre Lampen-Kreationen. Und sie begegnet Peer, der sie bei ihrem Herzensprojekt unterstützen möchte.

Der Wald ist wie ein Buch mit unzähligen Geschichten – die Sehnsuchtswald-Reihe.

Band 1: Das Licht in den Bäumen

Band 2: Das Glück in den Wäldern

Band 3: Das Leuchten der Blätter

Band 4: Der Klang des Windes

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Patricia Koelle ist eine Autorin, die in ihren Büchern ihr immerwährendes Staunen über das Leben, die Menschen und unseren sagenhaften Planeten zum Ausdruck bringt. Bei FISCHER Taschenbuch erschienen, neben Romanen und Geschichten-Sammlungen, die Ostsee- und Nordsee-Trilogie sowie die Inselgärten-Reihe. ›Das Licht in den Bäumen‹, ›Das Glück in den Wäldern‹ und ›Das Leuchten der Blätter‹ gehören zu ihrer Sehnsuchtswald-Reihe.

Für alle, die schon einmal einen alten Baum berührt und seine Standfestigkeit, seine Würde und die Langsamkeit seines Daseins als ermutigend und heilsam empfunden haben.

 

Und für die uralten Eichen von Ivenack, die Generationen von Menschen haben kommen und gehen sehen und uns und den Tieren dabei unerschütterlich ihren Schatten, ihre Schönheit und ihre Früchte gespendet haben.

Ava

Kühlungsborn

2019

1

Wenigstens hatte der Mann den scheußlichen Untersetzer mitgenommen! Den ganzen Vormittag hatte niemand außer diesem einen mürrischen Kunden den Laden betreten. Er hatte alles angefasst, unzählige Fragen gestellt und dann lediglich diese kleine Porzellankachel gekauft. Ava hatte den Verdacht, dass er nur nicht wieder hinausgewollt hatte, wo ihm der wilde Seewind Sand und salzige Gischt ins Gesicht treiben würde. Sie konnte es ihm nicht übel nehmen. Schließlich war sie selbst ausnahmsweise ganz froh, hier drinnen festzusitzen. Sie war dem Mann dankbar, dass er sie endlich von dem hässlichen Ding befreit hatte.

Schade nur, dass er sie nicht auch um die meisten anderen Sachen erleichtern konnte, von denen sie sich hier umzingelt fühlte. Sie wünschte sich manchmal jemanden, der wie eine Märchenfigur den Zauberstab schwingen und alles um sie herum hinwegfegen würde. Dann bliebe ein leerer Raum, mit dem sie genau das anfangen konnte, was sie wirklich wollte.

Aber es waren ja nicht nur die vielen Gegenstände, die sie belasteten, es war auch das Geflecht aus ebenso zahlreichen alten Verpflichtungen. Sie wusste keinen Weg, wie sie sich mit Anstand von alledem befreien konnte.

Wenigstens war jetzt Mittag. Sie hatte keine Lust, in die Wohnung hinaufzugehen und sich etwas zu essen aufzuwärmen. Stattdessen drehte sie das Schild an der Tür auf »Geschlossen« und machte sich auf den kurzen Weg zur Seebrücke. Das Wetter wirkte mittlerweile ein wenig freundlicher, und sie brauchte dringend frische Luft.

 

Der Wind wehte Bruchstücke von Musik zu ihr herüber. Wie fast immer stand ein Straßenmusikant auf dem Platz an der Seebrücke, dort, wo sämtliche Feriengäste vorbeiströmten oder stehen blieben, um auf das weite Meer zu blicken oder die Küste entlang. Sie wechselten sich jeden Tag ab. Manche kannte sie, viele nicht, aber ob sie Saxophon spielten, Geige oder Flöte, es berührte Ava unweigerlich tief. Wenn sie zu Hause Musik hörte, funktionierte das längst nicht so gut wie hier draußen, wo sich die Melodie mit dem Rauschen der Wellen und dem Brausen des Seewindes zu einem gewaltigen, ursprünglichen Ganzen mischte, das von Freiheit erzählte und eine unbestimmte Sehnsucht in ihr weckte.

Heute stand Orje mit seiner Drehorgel dort, stellte sie fest, als sie näher kam. Er war regelmäßig hier, und neben ihm lehnte sein fröhlicher Sohn Fiete. Orje hatte mit seiner Frau Synne, die ihn gelegentlich abholte, um in Kühlungsborn noch mit ihm bummeln zu gehen, schon manchmal etwas in Avas Laden gekauft. Doch sie erwarben nur die Dinge, die Ava selbst auch mochte. Die beiden besaßen ein unfehlbares Auge für Schönes. Kein Wunder, denn Synne führte anderthalb Autostunden entfernt eine Galerie im Künstlerdorf Ahrenshoop, seit sie diese vor einer Ewigkeit von ihrer Chefin übernommen hatte. Synne hatte nie etwas anderes machen wollen, obwohl sie die gelegentlichen Ausflüge nach Kühlungsborn, oder wo immer Orje im größeren Umkreis spielte, genoss. Wann immer Ava mit Synne sprach, wünschte sie sich, sie wüsste selbst auch so genau, was sie wollte, und wäre so spürbar im Reinen mit sich. Ob ihr das eines Tages gelingen würde?

Orje winkte ihr zu, während er mit der anderen Hand die Kurbel drehte. Sie erwiderte den Gruß, wollte ihn aber nicht ablenken und steuerte auf den Fischbrötchenstand zu, wo sie sich in eine Schlange einreihte.

 

»Du auch?«, fragte eine amüsierte Stimme hinter ihr, als sie endlich bezahlt hatte und sich zum Gehen wandte.

»Enno!« Ava musste lachen. »Sieht so aus, als ob sich manche Dinge nicht ändern.«

Er zupfte sie spielerisch an einer ihrer langen Strähnen, von denen ihre Freundin Luna meinte, es wären sämtliche Braunschattierungen von Holz und Baumrinde darin. »Stimmt, wir hatten bei der Arbeit ja auch immer gleichzeitig Hunger. Gute alte Zeiten!«

»Allerdings, das waren sie.« Mit Enno hatte sie in demselben Betrieb ihre Ausbildung zur Elektronikerin absolviert. Die Harmonie zwischen ihnen war von Anfang an erstaunlich gewesen. Erst bei der Arbeit, später dann privat. Sie waren in jeder Hinsicht zusammen erwachsen geworden. Irgendwann blieben sie dann nur noch beste Freunde, alles andere war einfach ganz allmählich von selbst vorbei gewesen. Seit Ava den Antiquitätenladen übernommen hatte, sahen sie sich nicht mehr so oft.

»Wie geht es Herrn Hammel?«, fragte sie, als auch Enno sein Brötchen erhalten hatte und sie zusammen die Promenade entlangschlenderten.

»Och, der Boss ist recht fit. Klagt nur wieder über seine Knie, jetzt, wo es etwas kühler wird.«

»Bitte grüß ihn lieb von mir.« Ihr ehemaliger Lehrherr und Chef war Ava immer noch in vielem ein väterlicher Ratgeber. Vor allem, als sie den Laden hatte übernehmen müssen, waren sowohl seine Lebenserfahrung als auch sein kaufmännisches Wissen ihre Rettung gewesen.

»Mach ich. Wie geht es dir denn?«

Sie zuckte mit den Schultern. Enno kannte sie zu gut. Es hatte keinen Sinn, ihm etwas vorzumachen.

Er schüttelte den Kopf und biss in sein Brötchen. »Du hättest bei uns im Betrieb bleiben sollen. Handwerk ist genau dein Ding.«

»Ach, Enno, du weißt doch, dass Herr Hammel uns nicht mehr beide halten konnte.«

»Ja, es war schon richtig, dass er den Betrieb verkleinert hat«, gab Enno zu. »Aber wie lange willst du noch was weitermachen, von dem du nicht überzeugt bist?«

»Ich bin es Frida schuldig. Ich kann ihr Lebenswerk nicht einfach so aufgeben.«

Enno schnaubte. »Lebenswerk! Eine Sammlung Tinnef, nix anderes ist das, und das weißt du auch.« Er betrachtete sie prüfend. »Ich sag dir mal was. Du lachst zu wenig! Ich kannte Frida Nossen, vergiss das nicht. Sie würde bestimmt nur wollen, dass du glücklich bist.«

»Sie dachte immer, ich mag solche Sachen ebenso wie sie.« Ava hatte es nie über sich gebracht, ihrer »zweiten Mutter«, wie sie Frida genannt hatte, die Wahrheit zu gestehen. Frida bedeutete ihr zu viel. Jetzt alles aufzugeben fühlte sich an wie ein bitterer Verrat. Nicht nur an Frida, auch an ihrem Vater. »Vernunft ist das Wichtigste, meine tüchtige Kleine. Versprich mir, dass du immer vernünftig sein wirst! Ich möchte, dass du jederzeit ein gutes, sicheres Auskommen hast«, hatte er sie oft eindringlich gebeten.

Ein etabliertes Geschäft für eine vage Idee mit ungewissem Ausgang aufzugeben fiel bestimmt nicht unter Vernunft.

»Sie ist aber nicht mehr da«, meinte Enno. »Es ist doch dein Leben.«

»Ja, eben. Es ist mein Leben, und Frida war ein sehr wichtiger Teil davon. Für mich wird sie nie ganz fort sein!«

»Schon okay. Deine Sache.« Enno brachte selten etwas aus der Ruhe.

 

»Und wie läuft es bei dir?«, fragte sie, um das Thema zu wechseln. »Bist du neulich mit diesem schwierigen Kunden fertiggeworden, von dem du erzählt hast? Der, der darauf bestand, dass der Strom nicht durchfließen kann, wenn man das Kabel durch einen Kabelkanal führt?«

»Klar.« Er knüllte das leere Papier zusammen und warf es aus der Ferne in den Papierkorb. Er traf immer. »Es gibt für die meisten Probleme eine Lösung.« Er sah Ava vielsagend und durchdringend an.

Sie sah auf die Uhr. »Ich muss zurück«, sagte sie hastig. »Mach’s gut, bis dann.«

Ihre Wege führten in entgegengesetzte Richtungen. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Enno außer Sichtweite war, blieb sie an der Seebrücke stehen und lauschte Orjes Drehorgelklängen, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Es genügte, wenn sie an sich selbst herummäkelte! Da musste Enno nicht auch noch ihre wunden Stellen beleuchten.

 

Die Melodie, die aus den beiden Drehorgeln erklang, kannte Ava nicht, aber sie war heiter und schwungvoll und fügte sich hervorragend in das Rauschen der Wellen ein. Und in diesen launigen, auflandigen Wind, der jetzt im September schon nach einer Ahnung von Herbst roch. Wieder kam ihr der Vater in den Sinn. Sie hatten sich über so vieles unterhalten, als er in seinem Krankenbett lag und seine Sehkraft fast verloren war.

»Warum habt ihr mich eigentlich Ava genannt?«, hatte sie ihn gefragt. Seltsam, als Kind hatte sie sich nie darüber Gedanken gemacht. Über so vieles nicht. Sie neigte dazu, die Dinge als gegeben hinzunehmen. Das hatte ihr wohl geholfen, als sie klein war und ihre Mutter früh und plötzlich gestorben war. Seitdem sie dann als Jugendliche oft lange bei ihrem Vater gesessen hatte, hatte sie über fast alles nachgedacht, was ihr auf einmal erstaunlich vorgekommen war.

»Ava bedeutet Wasser«, hatte Oswald Janning gesagt. »Deine Mutter und ich haben uns damals gedacht, Wasser ist das Kostbarste von allem. Wertvoller als alle Reichtümer der Welt und im letzten Sonnenlicht am Abend goldener als Gold. Bei Tag spiegelt es den ganzen Himmel, wenn es will. Wasser gestaltet Landschaften. Wasser ist weich und stark zugleich. Man kann von ihm lernen. Ohne es wächst nichts, nichts Grünes und auch wir nicht. Wir wollten dich nach dem Wertvollsten nennen, was uns einfiel! Ich fand immer, es passt zu dir. Magst du den Namen nicht?«

»Doch«, hatte sie geantwortet. »Jetzt auf jeden Fall!«

Als sie nun auf das Meer sah, dessen Wellenkämme brachen und gegen den Strand rollten, um sich mit den nachkommenden zu kreuzen und unruhige Muster zu bilden, fragte sie sich, was er gemeint hatte. Was sollte sie davon lernen? Die See wirkte ebenso aufgewühlt wie sie selbst, wenn sie nachts nicht schlafen konnte und sich hin- und herwarf.

Immerhin brach jetzt die Sonne durch und ließ den nassen Sand glänzen.

 

Die Mittagspause war vorüber, nun musste sie sich tatsächlich beeilen. Als sie wieder beim Laden ankam, wartete zum Glück unter dem unveränderten Schild NosStalgie – Altes, Schönes und Inspirationen, Inhaberin Frida Nossen trotz der Wetterbesserung kein Kunde. Dennoch hatte sie die nächsten Stunden gut zu tun. Sie verkaufte unter anderem eine Fußbank an eine alte Dame und einen Garderobenständer in Form einer Giraffe an ein kicherndes Pärchen. Es war doch noch ein guter Tag geworden, denn die Gegenwart der Giraffe hatte schon seit Jahren an ihren Nerven gezerrt. Das Tier hatte sie mit seinen schielenden Glasaugen so penetrant angestarrt, dass sie es irgendwann mit einem Hut versehen hatte, der seine Augen verdeckte. Genau das fanden die beiden jungen Leute so originell, dass sie darauf aufmerksam geworden waren.

Eine Stunde vor Ladenschluss kehrte wieder Ruhe ein. Ava wischte lustlos Staub. Sie zögerte, dann öffnete sie den Durchgang zu einem Raum, den sie noch nie jemandem gezeigt hatte. Ihr ganz eigenes Reich, seit sie es nach Fridas Tod entrümpelt und neu mit dem Nötigsten eingerichtet hatte. Vielleicht blieb ihr jetzt noch etwas Zeit, hier tätig zu werden.

In diesem Augenblick betrat jemand den Laden. Schnell schloss sie die Tür wieder, die sie durch einen im Winkel davorgestellten Schrank vor den meisten neugierigen Blicken verborgen hatte.

 

Die Frau öffnete die Tür mit dem Ellenbogen, denn sie trug einen großen Karton. »Mein Onkel ist gestorben. Ich habe sein Zimmer in der Residenz aufgelöst«, stieß sie außer Atem hervor und ließ die Kiste auf einen zierlichen Teewagen plumpsen, der unter dem Gewicht erzitterte. »Da habe ich mir gesagt, Vanessa, da war doch immer der Laden von der Frau Nossen, genau für solche Fälle. Und da bist du Stammkundin, da sind die Sachen gut aufgehoben. Da kommt nichts einfach in den Müll. Die jungen Leute im Heim, wissen Sie, die mit ihrer Wegwerfmentalität würden ja eiskalt alles entsorgen, das ist doch heute so, dass …« Sie strich sich eine Locke von unglaubwürdig pechschwarzer Farbe aus der Stirn, nahm die übergroße Sonnenbrille ab, sah Ava genauer an und stockte. »Sie sind aber nicht Frau Nossen, oder?«

»Nein. Ich bin Ava Janning, die jetzige Inhaberin. Mein Beileid zum Tod Ihres Onkels.«

»Vanessa Bleichstieg.« Die Frau winkte ab. »Ach, er war weit über neunzig und schon lange nicht mehr ganz bei sich, wissen Sie. Aber seine Besitztümer wollte ich doch in Sicherheit bringen. Wer weiß, was damit passiert wäre. Diese Verschwendung heutzutage …«

»Eigentlich achten junge Menschen oft stärker auf Nachhaltigkeit als viele ältere.« Ava konnte es nicht lassen. Manche Leute brachten sie einfach auf die Palme, Kunden oder nicht. Frida hatte das nie verstanden. Sie kam mit jedem aus. »Frau Nossen ist übrigens auch verstorben.«

»Ach, wirklich? Aber Sie nehmen mir doch die Sachen ab, nicht wahr? Ich weiß nicht, was ich sonst damit machen soll. Und ich muss ja die Kosten der Renovierung tragen. Er hat immer wieder heimlich geraucht, der Onkel Ernst, alles ist vergilbt. Sogar auf die Wand gezeichnet hat er, wenn der Mond darauf schien, stellen Sie sich das vor!«

Ava erwärmte sich für Onkel Ernst, betrachtete aber widerstrebend eine porzellanene Standuhr mit sehr vielen rosafarbenen Schnörkeln.

»Die hatte er von seiner Mutter geerbt«, erklärte Frau Bleichstieg. »Das wertvolle Stück ist antik, und nicht nur das. Sie dürfen sich freuen, dass ich Ihnen das alles anbiete!«

»Möchten Sie dann nicht einige von den wertvollen Dingen behalten?«, versuchte sich Ava in Fridas Diplomatie.

»Ich? Ach was, das Zeug ist viel zu hässlich! Ich meine, es passt einfach nicht zu meinem Stil«, verbesserte sie sich hastig.

 

Nachdem Ava den Inhalt genauer untersucht hatte, musste sie Frau Bleichstieg sogar recht geben. Der Pfeifenaschenbecher in Form eines Fußballstadions, das Trinkgefäß aus echtem Kuhhorn und die Hermann-Hesse-Sonderausgabe im Ledereinband passten nicht zu ihr. Auch der schöne alte Schiffskompass nicht und nicht die bronzene Nackte auf einer Buchstütze, die ihr unmissverständlich einen Vogel zeigte. Onkel Ernst musste ein recht vielseitig interessierter Mann gewesen sein. Ava hätte gern gewusst, was er von seiner Nichte gehalten hatte.

»Den Kompass und die Hesse-Ausgabe würde ich Ihnen zu einem angemessenen Preis abkaufen.« Ava hatte sich seit einiger Zeit vorgenommen, den Laden nur noch mit Stücken zu füllen, deren Anblick sie nicht zu viel Selbstbeherrschung kostete. So richtig hatte es noch nicht funktioniert. Sie konnte einfach nicht nein sagen.

»Das kommt nicht in Frage! Sie nehmen alles oder gar nichts. Ich habe keine Zeit, mich noch länger damit aufzuhalten. Manche Leute müssen richtig arbeiten, wissen Sie!«

Am liebsten hätte Ava die Frau samt ihres gönnerhaften Lächelns und der rosafarbenen Porzellanschnörkel aus dem Laden geworfen. Doch sie hatte das Bedürfnis, Onkel Ernsts historischen Kompass zu retten. Und Frau Bleichstieg war nicht die Einzige ihrer Art. Wenn das Geschäft in Fridas Sinne weiterbestehen sollte, konnte Ava sich die Kunden nicht aussuchen. Das Ganze fiel ihr nur mit jedem Mal schwerer.

»Ist gut, aber dann höchstens für diesen Preis.« Sie schrieb etwas auf einen Zettel und reichte ihn der Frau, die ihn mit spitzen Fingern hochhielt.

»Wie bitte? Das finden Sie angemessen? Frau Nossen hätte so ein lächerliches Angebot niemals gewagt! Die wusste gute Ware noch zu schätzen.«

»Bestimmt«, entgegnete Ava. »Aber Frau Nossen ist tot, und ich gehöre zu der verschwenderischen jungen Generation, wissen Sie. Ich verschwende mein Geld daher lieber selbst. Für Dinge, die nicht zu hässlich für meinen Stil sind.« Sie nahm einen Schein aus der Kasse. »Ja oder nein?«

»Geben Sie schon her. So was!«

Die Tür knallte undamenhaft hinter ihr zu. Ava sah der Frau erleichtert nach, dann nahm sie die Bronzefigur in die Hand und pustete den Staub fort. »Was mache ich jetzt nur mit dir? Ich hoffe, Onkel Ernst hatte mehr Freude an dir, als seine Nichte ihm vermutlich gemacht hat.« Vielleicht wollte Enno diese aufmüpfige Schönheit ja haben? Herr Hammel und er hatten in der Werkstatt über die Jahre einige seltsame Dekorationen verteilt. »Man muss doch auch mal was zu lachen haben, Mädel«, hatte Herr Hammel gesagt, wenn er wieder mal etwas angeschleppt hatte, was er beim Pokern gewonnen hatte.

Seufzend verstaute Ava ihre Neuerwerbungen. Nur den Schiffskompass polierte sie liebevoll und wies ihm einen Ehrenplatz zu. Das war ein echtes und wirklich schönes Stück. Vielleicht würde er ihr ja irgendwann den richtigen Weg weisen.

 

Die Sache mit Onkel Ernst und dem Mond hatte sie berührt. Licht war immer wieder die Antwort auf vieles. Sie sah deutlich vor sich, wie der alte Mann in seinem Bett gelegen hatte, allein im Heim. Wie der Mond aufgestiegen und sein Lichtkegel durch die Vorhänge geschlüpft war, wie er eine helle Spur auf die Wand gemalt hatte. Wie Onkel Ernst nach dem Stift auf seinem Nachttisch gegriffen und diese Spur nachgezeichnet hatte, damit er sich daran erinnern würde und auch bei Tag darüber freuen konnte.

Frida hätte das auch gefallen. Vielleicht traf ihre Seele ja nun irgendwo in einer anderen Daseinsform auf die von Onkel Ernst, und sie würden gemeinsam lachen – über die Frau Bleichstiegs dieser Welt und über Bronzefiguren, die immer noch jedermann fröhlich einen Vogel zeigten, auch wenn man nicht mehr da war. Und vielleicht war es dort immer so hell, dass man das Licht nie auf die Wand zeichnen musste.

2

Ava wollte den leeren Karton gerade entsorgen, als sie in der unteren Ecke noch ein in braunes Tuch gewickeltes Päckchen entdeckte. Vorsichtig hob sie es heraus. Mittlerweile traute sie Onkel Ernst vom Wackeldackel bis zu kostbaren Meißner Sammeltassen alles zu.

Zum Vorschein kam ein breiter hölzerner Rahmen in verblichenen, abgeschabten Blautönen. Meeres- und Himmelsfarben, dachte Ava. Es war ein tiefer Rahmen, eher wie ein Kästchen, und die Front bestand aus Glas, in dem sich ihr Gesicht spiegelte. Sie trug ihren Fund an das Fenster, um erkennen zu können, was sich dahinter verbarg. »Ohhh!«, entfuhr es ihr leise.

Hinter dem Glas lag eine Landschaft, aus Holz geschnitzt, so fein, dass Ava immer neue Details entdeckte. Im Hintergrund befand sich eine sanfte Hügelkette. In ein Tal davor schmiegte sich ein Haus, das sowohl ein kleines Schloss sein konnte als auch ein Gutshaus, mit einigen Türmchen und vielen Fenstern, drum herum eine Handvoll wesentlich schlichtere, winzige Häuser. Dazwischen verlief ein heckengesäumter Weg mit Kurven, auf dem ein Mann mit einem Stock und einem Hund entlangwanderte. Er war nicht größer als zwei Stecknadelköpfe, und doch sah man, wie entspannt er war, und dass er sich an seiner Umgebung erfreute und dort wohlfühlte. Im Vordergrund wuchsen Farne und Büsche, und an der rechten Seite, klar erkennbar an den liebevoll ausgestalteten Blättern, stand eine Eiche. Ihr Stamm war mächtig, und ihre Äste breiteten sich schützend über die ganze Szene bis hin zum anderen Bildrand. Der Wanderer, so wirkte es, steuerte gemächlich darauf zu und würde sich bestimmt später am Fuße dieses Baumes ausruhen, den Rücken gegen die gefurchte Borke gelehnt. Er würde zufrieden auf seinen Weg zurückblicken und vielleicht auf das Haus, in dem er wohnte, hinter einem der vielen Fenster mit den haarfeinen Fensterkreuzen.

Der Hintergrund bestand aus braunem Pergamentpapier, alt und verblichen, darauf waren mit zartem Federstrich ein paar fliegende Vögel angedeutet, winzig in der Ferne, frei über dieser Landschaft, die alt war und doch so unverbraucht erschien, als wäre sie gestern erst gefertigt worden. Vielleicht von jemandem mit Heimweh.

In der Abendsonne warfen die Blätter, Äste, Hecken und sogar der Wanderer filigrane Schatten, und wenn Ava sich bewegte, wirkte dadurch alles lebendig. Sie glaubte, den Wind in den Eichenblättern rascheln zu hören. Gleich würde eines heruntersegeln, zu dem Wanderer auf dem Weg, und vom beginnenden Herbst erzählen …

 

Ava starrte auf die kleine, friedliche Welt im Glaskasten und musste schlucken. Sie wusste nicht, was an dieser schlichten und doch meisterhaften Darstellung sie so tief berührte, dass sie den Rahmen am liebsten nicht mehr loslassen wollte. Und warum sie den winzigen Wanderer beneidete und eine plötzliche schmerzliche Sehnsucht spürte, die an ihrem Innersten zerrte.

Ganz hinten unten in der Ecke des Hintergrunds entdeckte sie die Signatur des Künstlers. E. F. Hatte jener Onkel Ernst selbst das Kunstwerk geschaffen, hatte er es einst als kostbare Erinnerung von irgendwoher mitgenommen, oder war es das Geschenk einer Liebe gewesen? Sie würde es nie herausfinden, doch das machte nichts. Das Bild sprach für sich, es war eine eigene Miniaturwelt, die in sich ruhte und sich selbst genügte. Sie benötigte keine Geschichte. Sie besaß eine zeitlose Gültigkeit fern aller äußeren Umstände.

Ava trug den unvermuteten Schatz, der bestimmt materiell nicht wertvoll war – sonst hätte Frau Bleichstieg es mit Sicherheit gewusst –, hinauf in ihre enge Wohnung im oberen Stock. Sie würde dieses Kunstwerk auf keinen Fall verkaufen. Niemals. Den Grund konnte sie nicht benennen, aber sie spürte eine eigenartige Gewissheit, dass es ihr etwas zu sagen hatte. Sie hatte nur noch keine Ahnung, was das war.

Vielleicht konnte ihr ihre Freundin Luna etwas dazu sagen, wenn sie sich wieder einmal sahen. Luna war hochsensibel und nahm Dinge wahr, die andere oft übersahen. Ava kannte Luna noch gar nicht lange, aber sie hatten vieles gemeinsam und sich sofort gut verstanden. Luna half Ava auch, sich selbst besser zu verstehen. Es war ein Glücksfall, dass sie sich begegnet waren.

 

Sie hatte so wunderbare Freunde. Luna, deren Schwester Franzi, Enno, Herrn Hammel. Sie besaß ein Auskommen und ein Dach über dem Kopf und lebte an einem Ort, wo andere Urlaub machten und sich nicht selten den Rest des Jahres dorthin wünschten. Warum nur war sie also zunehmend unzufrieden? Undankbar!, hätte ihre Großmutter ausgerufen, an die sie sich nur noch dunkel erinnern konnte: eine strenge Frau mit Dutt und der unerschütterlichen Überzeugung, alles über Moral zu wissen.

 

Immerhin war nun Ladenschluss. Den Gedanken von vorhin, heute noch etwas Richtiges anzufangen, gab sie auf. Dafür musste sie sich konzentrieren und mit sich selbst im Einklang sein. Dazu war sie jetzt viel zu aufgewühlt. Sie würde kurz auf die Seebrücke hinauslaufen, jetzt, wo das Kühlungsborner Gästegewühl nachließ und es ruhiger wurde bis auf das Zetern der Möwen, die sich um Futter und um Schlafplätze stritten. Danach würde sie sich eine heiße Dusche gönnen, einen Kakao und etwas Lesen im Bett. Die Wirklichkeit würde sie für heute einfach ausblenden.

Doch selbst Stunden später, als sie sich in ein altes Lieblingsbuch geflüchtet hatte, zog die Miniaturlandschaft hinter Glas ihren Blick immer wieder an.

 

Am nächsten Tag regnete es. Gründlich. Die Straße vor dem Schaufenster lag vorerst verlassen bis auf ein paar Feriengäste, die sich, verzweifelt an ihre Schirme geklammert, beim Bäcker versorgen wollten. Dabei hätte sie gerade heute einen Tag gebrauchen können, an dem sie von morgens bis abends zu tun hatte. Selbst Kunden wie Frau Bleichstieg wären ihr lieber gewesen als gar niemand, denn ihre innere Unruhe von gestern war im Schlaf nicht verflogen, im Gegenteil. Immer wieder starrte sie auf die liebevoll geschnitzte Landschaft, die stumm und unerreichbar hinter dem Glas lag. Aus unerfindlichem Grund machte dieses zwischen Hügel gebettete Dorf, bewacht von dem majestätischen Baum, sie tieftraurig und glücklich zugleich. Dabei spürte sie eine Leere in sich, die sie bis gestern erfolgreich mit allen möglichen Tätigkeiten und Ablenkungen gefüllt hatte, ähnlich wahllos wie Frida Nossen einst ihren Laden mit verwaisten Dingen.

Sie nahm sich vor, etwas Vernünftiges zu tun und im Keller endlich die alten Ordner aus den Anfangszeiten von Fridas Laden auszumisten, die seit der Wiedervereinigung dort lagerten. Das hatte sie schon seit einer Ewigkeit tun wollen. Wenigstens jene, die dreißig Jahre alt waren. Einiges davon verstieß inzwischen ohnehin gegen den Datenschutz, und Rechnungen von damals brauchte kein Mensch mehr. Wenn sie sich nicht entschließen konnte, das Geschäft aufzugeben, dann wollte sie es wenigstens richtig führen. Dann sollte es eine Zukunft haben, und dafür brauchte sie Platz, eine gute Organisation und ein paar weitere Veränderungen. Was sie einmal anpackte, hatte sie immer gründlich getan – etwas anderes hätten ihr weder ihr Vater noch Herr Hammel durchgehen lassen. »Nu, denk da besser noch mal drüber nach, Mädel, dann findest du auch den Fehler.« Wie oft hatte ihr Lehrherr sie mit einem strengen Blick über ihre Schulter ermahnt!

 

Also ging Ava entschlossen hinunter. Sie hätte gegen die kühle Stille und das Plätschern des Abwassers in der Regenrinne gern Musik eingeschaltet, aber dann würde sie oben die Türklingel nicht hören, falls doch ein Kunde kam. Wenn die Gäste nach einem langen Frühstück feststellten, dass kein Strandwetter war, vielleicht befiel sie dann ja aus Langeweile doch die Lust zum Stöbern.

Ava stapelte die Ordner aus dem Regal auf dem Boden und begann, sie zu sortieren. Die Schichten aus Staub obendrauf deprimierten sie, dann der Anblick von Fridas schmaler Handschrift, die gleichzeitig penibel und lebendig wirkte und ach, so vertraut! Ihr war, als müsste die herzliche Stimme ihrer zweiten Mutter gleich die Treppe herunterrufen. »Avakind, magst du heute Apfelmus mit Milchreis essen?«

Ihre »zweite Mutter«, so hatte Ava Frida schon genannt, als ihre eigene Mutter noch lebte. Da hatten sie in Wismar gewohnt. Die Ferien aber durfte sie grundsätzlich bei ihrer Patentante Frida an der Ostsee verbringen. Herrliche Zeiten waren das gewesen. Sie hatte sich dort pudelwohl gefühlt. Als ihre Mutter dann so früh gestorben war, hatte Frida wie selbstverständlich deren Rolle übernommen. Nicht nur in den Ferien, auch dazwischen war sie für Ava jederzeit erreichbar gewesen. Frida hatte alle Gespräche mit ihr geführt, die ihr Vater, der selbst noch in Trauer gefangen und unbeholfen in Mädchensachen war, nicht bewältigen konnte. Auch als Ava in die Pubertät kam. Frida, die selbst keine Kinder hatte, war dennoch im Umgang mit Teenagern von endloser Geduld und mitfühlendem Rat. Als Ava sechzehn war und ihr Vater an Leukämie erkrankte, war es Frida, die Ava davor bewahrte, den Halt zu verlieren. Denn Ava saß damals Tag für Tag am Bett des Vaters und las ihm vor, erzählte von der Schule und sprach mit ihm über die Vergangenheit und das Leben im Allgemeinen.

Als Oswald Janning für immer eingeschlafen war, während Ava und Frida seine Hände hielten, erfuhr Ava, dass er Frida zu ihrem Vormund ernannt hatte. Ihren Schulabschluss hatte sie da schon gemacht, trotz allem, und so zog sie zu Frida nach Kühlungsborn. Frida nahm sie mit so offenen Armen endgültig in ihrem Leben auf, wie sie stets alles annahm, was niemand mehr haben wollte. Das war Avas Rettung.

 

Sie half im Laden mit, Frida zuliebe und um nicht zu viel Zeit zum Grübeln zu haben. Bis sich die Lehre bei Herrn Hammel ergab, einem alten Freund Fridas.

Diese Zeit hatte Ava Freude gemacht. Sie durfte endlich mit den Händen arbeiten, so wie sie es sich in den langen Stunden am Krankenbett erhofft hatte. Denn schon damals, in dem ewig abgedunkelten Zimmer, war in ihr das Samenkorn einer Idee geboren und war unter aller Traurigkeit zu einem hartnäckigen Traum gekeimt, an den sie sich klammerte und der ihr Trost und Hoffnung schenkte. Die Ausbildung zur Elektronikerin war ein Schritt auf dem Weg dorthin, so dachte sie sich das.

Doch dann war das Arbeiten in Herrn Hammels Elektrogeschäft so angenehm gewesen, auch nach ihrer Abschlussprüfung. Damals war sie ja auch mit Enno zusammen. Zu dritt bildeten sie ein lustiges und effektives Team, beliebt im ganzen Umkreis. Die volle Stundenzahl konnte Herr Hammel ihr dennoch nicht bezahlen, was Frida sehr recht war, denn so war es möglich, dass Ava auch weiterhin im Laden half. Frida machte das so glücklich, dass Ava ihr nie verriet, wie wenig sie diesen Wust aus den verschiedensten, oft sinnlosen Gegenständen und geschmacklosen Dingen mochte, den Frida aus Nachlässen zusammenkaufte. Sie hatte Frida so viel zu verdanken! Ava würde es nicht ertragen, sie zu verletzen. Wie oft hatte Frida gesagt: »Meine Ava, es ist so ein Geschenk, hier mit dir zu tun, was mir am liebsten ist, und zu wissen, dass ich nicht allein damit bin!«

Als Fridas Herz Jahre später dann so unerwartet versagt hatte, war außer Ava niemand über das Testament verwundert gewesen, in dem sie eine bescheidene Summe Erspartes erbte, vor allem aber den Laden. Ich weiß, dass du mehr als fähig bist, alles in einem guten Sinne weiterzuführen, und vertraue es dir sehr gern und mit tiefer Überzeugung an, hatte der Anwalt Fridas Begleitschreiben vorgelesen.

»Wir helfen dir mit allem Papierkram und was sonst so anfällt, ist doch klar!«, versicherten ihr Enno und Herr Hammel und flankierten sie bei der Beerdigung wie zwei besorgte Leibwächter.

Ava aber hatte niemals damit gerechnet, dass auch Frida sie irgendwann allein lassen würde. Sie hatte einfach nie darüber nachgedacht. Da nützte es auch nichts, dass sie mittlerweile über dreißig war. Frida war ihre einzige Familie gewesen. Sie war wie betäubt und hatte sich daran festgehalten, jeden Tag zu tun, was nötig war, damit das Geschäft weiterlief. Es gab ihrem Dasein Struktur und ihr einen Halt.

Inzwischen, über ein Jahr später, war diese Betäubung längst einem Gefühlscocktail gewichen, mit dem sie immer weniger fertigwurde.

Ordnung! Ordnung würde sicher helfen. Auf die äußere folgte meist auch eine innere, das hatte ihr Vater oft behauptet. »Ich hoffe, du hattest recht«, murmelte Ava laut, während sie einen Papierstapel in den Schredder stopfte. Malerrechnungen aus der Zeit der Eröffnung waren zweifellos verzichtbar.

Als sie den dritten Ordner durchging, der voller Lieferscheine für längst verkaufte Bodenvasen, bestickte Teemützen, Tarotkarten und afrikanische Masken war, fiel ein grellpinker Umschlag heraus, in dem es leise klirrte.

Für meine Ava stand darauf, zweimal unterstrichen.

 

Entgeistert starrte sie darauf, dann hob sie ihn auf. Was tat der Umschlag hier unten? Warum hatte er nicht bei dem Testament gelegen? Es sah fast aus, als hätte sie ihn erst finden sollen, wenn sie sich mit diesen Unterlagen befasste. Was ergab das für einen Sinn?

Sie nahm ihn mit hinauf. Bei jedem Schritt klirrte er, doch er wog fast nichts. Es war beinahe Mittag, also drehte sie das Türschild wieder auf »Geschlossen« und lief ganz nach oben. Sie trank ein Glas Wasser und setzte sich auf ihr Bett. Einen Moment saß sie still und betrachtete das Dorf hinter Glas, bis sich ihr Atem beruhigt hatte. Dann öffnete sie den Umschlag.

Drinnen lag ein langes, dünnes Band aus weichem grünen Leder, das durch einige silberne Perlen gezogen war – eine in Herzform, eine in Kleeblattform und eine, die wie eine kleine Wolke aussah. An einem Ende hing eine kurze silberne Querstange, an dem anderen war eine flache, unregelmäßig runde Scheibe mit einer Öse hinten befestigt. Ein Armband! wurde ihr nach einigem Rätseln klar. Eines von der Sorte, die man sich mehrmals um das Handgelenk schlang. Um es zu schließen, konnte man einfach die Stange durch die Öse schieben.

Ava fuhr mit dem Finger zärtlich über das weiche Material und die silbernen Glücksbringer, dann betrachtete sie den Verschluss näher. Auf der leicht gebogenen Scheibe war etwas eingraviert, und die Vertiefungen waren geschwärzt, so dass die Zeichnung dreidimensional wirkte und deutlich zu erkennen war.

Sie stellte eine hinter Hügeln aufgehende, strahlende Sonne dar. Darunter standen in fließender Schrift die Worte:

Genieße die Reise.

3

Reise!? Was wollte Frida ihr damit nur sagen?

Ava hatte nicht die geringste Ahnung. Und was sollte dieses nachträgliche Geschenk, gerade jetzt, da sie sich entschlossen hatte, aufzuräumen und nach vorn zu schauen? Nun war ihr Frida auf einmal wieder so nahe. Ihr war, als bräuchte sie nur die Hand nach ihr auszustrecken. Sicher würde im nächsten Augenblick dieses vertraute, tiefe, herzliche Gelächter durchs Haus klingen und die überzeugte Bemerkung: »Man weiß nie, wozu bestimmte Dinge noch gut sein können! Du wirst dich wundern!«

Darum hatte Frida Kunden wie Frau Bleichstieg mitsamt ihren Koffern und Kartons niemals abgewiesen. Sie hatte in allem stets etwas vermutet, das einen überraschenden Wert haben könnte, egal, wie überflüssig es auf den ersten Blick schien. »Es ist wie mit den Menschen, weißt du? Was am unscheinbarsten wirkt, ist oft voller Wunder.«

Es hatte an Frida gelegen, dass NosStalgie eben nicht nur ein Kramladen war, ein drittklassiges Antiquitätengeschäft voller nutzloser Dinge. Bei ihr steckte eine Philosophie dahinter. Und wenn jemand hereinkam und etwas scheinbar Sinnloses suchte, das er nirgendwo anders finden konnte, dann fand es Frida für ihn und machte ihn glücklich.

Doch Ava war nicht Frida. Sie konnte das nicht, nicht so. Obwohl Frida gestern wieder einmal recht behalten hatte. Da war diese Landschaft aus dem Karton, die Ava seitdem nicht mehr losließ, als wäre diese gerade für sie gedacht gewesen.

Und nun machte ihr Frida auch noch posthum ein Geschenk, ohne dabei zu verraten, was sie ihr dadurch mitteilen wollte.

 

Ava hielt es nicht mehr aus. Regen oder nicht, ihr war, als ob sie hier drinnen ersticken müsste. Damit es nicht nass wurde, legte sie das Armband auf ihren Nachttisch, ließ das Ladenschild auf »Geschlossen« stehen, zog sich eine wasserdichte Jacke über und lief hinaus.

Nur wenige Menschen mit ebensolchen Jacken oder Schirmen standen verloren am Anfang der Seebrücke herum, blickten auf das verhangene Meer oder lauschten dem Straßenmusikanten. Heute war es ein anderer, der unter dem vorgezogenen Dach einer Pizzeria seinem Saxophon melancholische Töne entlockte. Die passten hervorragend zu Avas Stimmung. Sie marschierte die ganze Seebrücke entlang bis hinaus auf die Plattform am Ende. Das tat sie selten, hier drängten sich fast immer Menschen, oder man störte die Angler. Heute war sie für den Augenblick allein. Unter ihr schlugen die Wellen klatschend gegen die Pfähle, warfen Seetang in langen grünen Strähnen umher und spritzten durch die Schlitze der Bohlen nach oben. Obendrauf saßen Möwen, den Kopf unter den Flügeln. Sie hielten wenig von diesem Wetter. Ava genoss gerade das Wilde, hob ihr Gesicht zum Himmel und spürte die Tropfen auf ihrer Haut. Vielleicht würden sie alles wegspülen, was sie bedrückte? Die Last von Fridas Erbe, das Empfinden, in dieser Hinsicht unzulänglich zu sein. Das Versprechen, vernünftig zu sein, das sie ihrem Vater gegeben hatte. Auch die Angst, Herrn Hammel zu enttäuschen, der ihr danach wie ein zweiter Vater gewesen war und sie bei allem Geschäftlichen unterstützt hatte.

Alle diese Menschen waren immer für sie da gewesen, und in dem Bemühen, ihnen etwas zurückzugeben, hatte sie womöglich verlernt, eigene Entscheidungen zu treffen. Oder es nie vermocht. Enno hatte ihr das schon öfter gesagt. »Du kannst so viel, Ava. Du weißt selbst nicht, wie viel. Aber deine Schwäche ist, dass du dich nie entscheiden kannst! Das ist gar nicht gut. Das kostet Zeit und Kraft.«

Der liebe Enno! Er war immer so klar und direkt. Damals hatte sie ihn nicht verstanden.

Jetzt, hier am Ende des Steges, wo es nicht mehr weiterging, gestand sie sich ein, dass er recht gehabt hatte. Sie stand ja auch in ihrem Leben gerade auf einem Weg, der wie die Seebrücke in ein Meer aus Ungewissheiten hineinragte und wirkte, als würde er nirgends hinführen.

Enno seinerseits konnte beim besten Willen nicht verstehen, woher ihr Problem mit dem Entscheiden kam. Er war ein herzensguter Mensch, aber er war durch und durch logisch und praktisch veranlagt und besaß kein Fünkchen Einbildungskraft. Ihr Vater hätte an ihm seine helle Freude gehabt. Bei Ava war das anders. Bei jeder Möglichkeit, die sich ergab, explodierte ihre Phantasie wie eine Silvesterrakete in zahllose bunte Funken. Wenn ein Kunde fragte: »Sollen wir den Anschluss für den Geschirrspüler in diese Ecke legen …?«, sah sie vor ihrem inneren Auge sofort, wie die gesamte Küche dann eingerichtet werden konnte, mitsamt Kochinsel und Ofenbank an der Heizung. Fuhr er aber fort: »… oder lieber dort, was raten Sie?«, dann hatte sie blitzartig eine ebenso überzeugende Vorstellung, wie in diesem Fall eine Essecke aussehen und alle anderen Geräte perfekt hinpassen würden. Wäre nicht Enno in solchen Situationen an ihrer Seite gewesen, der dem Wohnungsinhaber erklärte, warum es in der ersten Variante schlichtweg kostengünstiger war, wäre sie niemals zu einem Ergebnis gekommen.

Das Problem war nur, wenn es um ihr eigenes Leben ging, half Ennos Tatkraft nicht. Er war Experte für Stromleitungen, aber für sich selbst konnte nur sie die Expertin sein. In ihrem Alter hätte sie da schon weiter sein sollen, dachte sie schuldbewusst. Aber zu wissen, dass die grüngelbe Ader eines Stromkabels die Erdung war, hieß noch lange nicht, diese auch im restlichen Leben richtig verlegt zu haben.

»Geerdet«, war Fridas Art gewesen zu erklären, warum sie so in sich ruhte. »All diese Dinge um mich herum erden mich, und genauso die Menschen, die sich freuen, sie loszuwerden oder zu kaufen.«

Darauf war Ava immer ein wenig neidisch gewesen. Sie hatte sich noch nie irgendwo geerdet gefühlt, aber es klang so schön.

 

Sie stand lange dort und sah einem Segelboot am Horizont nach, bis das Wasser zunehmend vom Saum ihrer Jacke tropfte und ihre Hosen an den Oberschenkeln durchnässte. Widerstrebend machte sie sich auf den Rückweg. Der Saxophonspieler machte gerade für heute Schluss. Sie legte schnell noch eine Münze auf den Teller.

In der Pizzeria hatten sie das Licht eingeschaltet, drinnen drängten sich Menschen an den Tischen um bunte Windlichter, und aus der Tür trieb ein Duft nach Tomatensoße durch den Regen. Auf einmal fühlte sich Ava unendlich einsam. Am liebsten wäre sie hineingegangen, doch sie hatte keinen Appetit und keinen Grund, einem der Feriengäste den Platz wegzunehmen. Zu Hause war genug im Kühlschrank.

Zu Hause … Eine geraume Zeitlang hatte sie zwar mit Enno zusammengelebt, aber schon vor Fridas Tod war sie wieder in die Wohnung über dem Laden eingezogen. Es hatte sich wegen der Arbeit angeboten, und so viel freien Wohnraum gab es hier nicht. Vielleicht brauchte sie ja einfach einen Tapetenwechsel? Doch der Gedanke an einen Umzug schien wenig verlockend. Das Wohnen war auch gar nicht das Problem, sie hatte es sich längst ausreichend gemütlich gemacht. Es war der Laden, mit dem sie sich auch nach allen Bemühungen nicht anfreunden konnte, jedenfalls nicht mehr, seit sie allein damit war.

 

Sie zog sich etwas Trockenes an, wärmte eine Dose Eintopf auf und beschloss in einer Anwandlung kindlichen Trotzes, das Geschäft heute einfach nicht mehr zu öffnen. Der Appetit kam jetzt doch, vor allem, weil ihre Kräuter auf der Fensterbank so gut gediehen und sie von allem etwas hineingetan hatte. Sie liebte den Geschmack und vor allem den Geruch von frischen Kräutern. Das war Leben pur. Wenn sie die Augen schloss und den Duft einatmete, dann ahnte sie für einen flüchtigen Moment, wie sich »geerdet« anfühlen könnte.

Draußen tropfte es noch immer. Sie schaltete Musik an, einen ähnlichen melancholischen Jazz wie vorhin von dem Saxophonspieler, kuschelte sich in einen Sessel in erstaunlichen Rot- und Violetttönen, den seit Jahren niemand kaufen wollte, legte das Armband um und betrachtete es mit einer Mischung aus Traurigkeit und Ärger. Warum hatte Frida keinen Brief mit in den Umschlag gelegt und ihr erklärt, was sie damit meinte? Und warum war sie nicht mehr hier, damit Ava sie einfach fragen konnte? Genieße die Reise. Was denn für eine Reise, verflixt nochmal?

Sie schloss die Augen und stellte sich vor, sie würde in die Landschaft aus Holz reisen und auf demselben gewundenen Weg spazieren wie der winzige Wanderer. Sie würde weiterlaufen, bis sie zu den Hügeln kam, nachsehen, was dahinter war, und um sie her würden die Wiesen duften. Wenn sie müde wurde, wollte sie sich unter die Eiche setzen, bis die Sonne hinter denselben Hügeln unterging. Niemand wäre da, der irgendetwas von ihr erwartete. Vielleicht würde sie sogar in einem der Häuser schlafen.

Doch was würde sie dann am nächsten Morgen anfangen?, schreckte sie sich selbst aus ihrem Tagtraum auf.

An der Tür klopfte es. Wozu hing denn da das Schild? Konnte man sie denn nicht einfach mal in Ruhe lassen?

Es klopfte wieder. »Ava? Bist du da? Ist etwas passiert?«

Das war Lunas Stimme! Was machte die denn hier? Ava schnäuzte sich und öffnete.

Luna stellte ihren Schirm unter dem Vordach ab, kam herein und fixierte Ava mit einem scharfen Blick. »Warum ist geschlossen? Und warum hast du geweint?«

Typisch. Luna entging nie etwas.

»Na und? Weinst du nie?« Ava schloss rasch wieder die Tür.

»Doch. Oft. Aber nie ohne Grund. Also, was ist der Grund? Oder möchtest du nicht darüber reden?«

Ava seufzte. Ihre Freundin war so. Wenn sie jetzt sagen würde, dass sie nicht darüber sprechen wollte, würde Luna nicht noch einmal nachfragen und auch nicht beleidigt sein. Sie würde es einfach respektieren. Und genau deswegen würde Ava ihr verraten, was ihr durch den Kopf ging. Wenn sie nur wüsste, wie.

»Warum bist du hier? Ich denke, du hast so viel zu tun?«, fragte sie zurück, um Zeit zu gewinnen. Luna war dabei, in Nienhagen ein kleines Geschäft für die kunstvollen hölzernen Dekoschiffe zu eröffnen, die sie mit ihrer Schwester Franzi herstellte. Gleichzeitig baute sie mit ihrem Partner Justus eine Waldschule auf. Mit dem Auto war es von hier nach Nienhagen nicht einmal eine halbe Stunde, trotzdem hatte sie Luna lange nicht gesehen.

»Stimmt schon. Aber ich habe meinen Vermieter Tomke hergefahren, er hatte einen Arzttermin. Und da dachte ich, ich könnte mal nach dir sehen und dich fragen, ob du noch mehr solche Lichterketten für mich hast. Die Nachfrage steigt.«

Es war Avas Idee gewesen, manche der Schiffe mit zarten Solarlichtern auszustatten. Sie betonten die Schönheit noch und verliehen den Kunstwerken bei dämmerigem Licht eine bezaubernde Märchenhaftigkeit. Eines davon, das Luna und Franzi ihr geschenkt hatten, stand in Avas Schaufenster und zog die Kunden an, obwohl es nicht zum Verkauf stand. Es trieb mehr Menschen in den Laden als alles andere in ihrem Sortiment.

»Ja, Herr Hammel hat neulich einige günstig hereinbekommen, und ich habe sie gleich für dich beiseitegelegt.« Ava stand auf und holte die Solarlichterketten. Sie freute sich über ihre eigene Voraussicht. Manchmal gelang ihr doch etwas.

»Super, da freue ich mich. Vielen Dank. Und was macht dich nun traurig?« Luna war nicht abzulenken.

»Es passieren seltsame Dinge!« Ava setzte sich wieder. Luna hockte sich zu ihren Füßen auf ein fernöstliches Sitzkissen mit Quasten und streckte ihre langen Beine aus.

»Was für Dinge?«, fragte sie geduldig.

Also erzählte Ava, wie sie erst die geschnitzte Landschaft gefunden hatte und dann das späte Geschenk von Frida. Wie sehr sie dieses Geschenk beunruhigte, weil sie nicht einmal ahnte, was damit gemeint war. Und weil Luna jemand war, der einen wegen so was nicht auslachte, gestand sie ihr auch noch, wie sehr die Miniaturlandschaft sie berührte und eine unbestimmte Sehnsucht in ihr weckte, die sie ebenso durcheinanderbrachte wie das Armband. »Ich kann mich auf nichts mehr konzentrieren!«, klagte sie.

»Du machst mich neugierig. Wenn zwei Dinge kurz hintereinander geschehen, hat das oft etwas zu bedeuten. Kann ich diese Landschaft mal sehen?«, bat Luna.

Ava lief hinauf und holte sie.

»Ein schönes Stück.« Luna hielt den Rahmen ins Licht der Lampe und beobachtete die Schatten darin. »Was genau fasziniert dich daran?«

»Keine Ahnung«, murrte Ava. »Es ist ja bloß ein Bild.«

»Ein sehr lebendiges Bild. Außerdem können Bilder durchaus eine Macht über einen haben. Das habe ich auch schon erlebt«, sagte Luna, und ein Lächeln erschien in ihren Mundwinkeln.

»Ach, stimmt ja.« Das hatte Ava schon fast vergessen. Sie hatte Luna kennengelernt, als diese auf der Suche nach verlorengegangenen Bildern, die Frida vor langer Zeit erworben hatte, im Laden aufgetaucht war.

»Du wirst es sicher herausfinden. Lass dir Zeit«, meinte Luna. »Weißt du was? Du brauchst Abstand. Musst mal hier raus. Ich werde übers Wochenende zu Franzi auf den Darß fahren, denn ich möchte sie wegen etwas um Rat fragen. Magst du nicht mitkommen? Dann hol ich dich morgen früh ab. Franzi freut sich bestimmt. Die sagt schon lange, ich solle dich mal einladen.«

»Aber Franzi ist doch hochschwanger!«

»Eben. Sie braucht Ablenkung.«

»Aber morgen ist Freitag. Da ist mein Laden geöffnet.«

»Heute eigentlich auch, und trotzdem ist er zu.« Luna deutete auf das Schild. »Hast du sonst noch Ausreden?«

Ava blickte auf das Armband. »Nein.«

Luna ahnte, was sie dachte. »Eine Wochenendfahrt auf den Darß hat Frida mit ›Reise‹ bestimmt nicht gemeint. Aber es wäre ein Anfang, oder? Vielleicht wird dir dabei ja klar, was sie meint. Gib dir einen Ruck!«

Es ist nicht gut, dass du dich nie entscheiden kannst, hörte sie Enno sagen.

»Na gut. Gerne.« Ava kam sich geradezu verwegen vor.

Luna stand auf. »Fein! Ich sage Franzi gleich Bescheid. Bis morgen dann. Ich bin um neun hier.«

4

Wie versprochen fuhr Luna in ihrem unverwechselbaren Auto vor, einem uralten Kombi, der Konstantin hieß. Weil der Name zu ihm passte, war Lunas Begründung dafür, und sie hatte recht. Das Gefährt war ursprünglich mattgelb gewesen, aber jede Menge Roststellen waren mit einer bräunlichen Farbe behandelt worden, so dass Konstantin nun vom Muster her einer Giraffe ähnelte. Von seiner Gestalt konnte man das nicht sagen. Doch er war geräumig, und zuverlässig – jedenfalls behauptete Luna das, die ihn gebraucht gekauft hatte. Sehr gebraucht.

Ava lud ihren Rucksack mit den Übernachtungssachen ein und einen länglichen Karton mit einer Schleife darum. »Das ist ein Geschenk für Franzi.«

»Da freut sie sich. Ich glaube, sie kann jede Ablenkung gebrauchen. Die Schwangerschaft macht ihr zu schaffen, sie ist es doch gewohnt, den ganzen Tag im Café hin und her zu flitzen. Besonders, da es nicht mehr nur ein Café ist, sondern sich zu einem kleinen Restaurant ausgewachsen hat. Und nun haben sie oben auch noch ein Gästezimmer eingerichtet, das sie gelegentlich an Feriengäste vermieten.«

»Schafft sie das denn alles?« Ava, die häufig ihre Ruhe brauchte, konnte sich das nicht vorstellen.

»Ach, ich denke, ihr Matteo hat das schon recht gut im Griff. Um Franzi zu entlasten, haben sie ja neuerdings einen Teilhaber, Lian. Es spielt sich ein. Ich will meine allzu tüchtige Schwester aber dazu bekommen, sich mehr hinzusetzen, indem ich ihr die ersten Geschichten meines Manuskripts zum Korrekturlesen gebe.«

»Du schreibst ein Buch? Neben allem anderen?«, fragte Ava entgeistert. »Da hast du ja sogar mehr zu tun als Franzi! Wie bekommst du das alles hin?«

»In meinem eigenen Tempo. Du weißt doch, ich halte es nicht aus, zu lange unter Menschen zu sein. Wenn mir die Projekte mit dem Schiffsverkauf und mit der Waldschule zu viel werden und ich eine Pause brauche, kann ich mich zum Schreiben zurückziehen. Außerdem tue ich das für Franzi – na ja, für uns beide. Mir macht es Freude, und Franzi möchte die Geschichten unbedingt ihrem Kind vorlesen, sobald es sie verstehen kann. Es sind Kindergeschichten, die unser Vater früher für uns erfunden hat, weißt du. Das Buch soll eine Art Denkmal für ihn sein, eine ganz persönliche Erinnerung. Außerdem waren sie einfach gut.«

»Das klingt wundervoll. Worum geht es da zum Beispiel?«

Lina lachte. »Um den sommersprossigen Waldflamingo. Und um die Schnurstrackse und die Flausen. Du kannst es gern lesen – aber erst, wenn es fertig ist. Franzi hat bestimmt noch Ergänzungen, ich erinnere mich nicht an alles. Dafür habe ich einiges hinzugedichtet.«

Ava hörte in Lunas Stimme, wie viel ihr dieses Projekt bedeutete und auch die beiden anderen.

Sie wusste genau, wie sich diese Art Freude anfühlte. Doch sie selbst spürte das nur bei einer Sache, und dann immer mit diesem schlechten Gewissen. Sie wünschte, sie hätte so viele Ziele wie Luna. Wenn man die hatte, war man bestimmt nie unzufrieden. Wenn eines nicht gelang oder einem der Mut fehlte, dann eben das andere. Und wenn nicht, hatte es wenigstens Spaß gemacht, es zu versuchen.

»Nichts im Leben ist vergeblich«, hatte Frida oft mit einer alles umfassenden Geste behauptet. »Keines all dieser Dinge im Laden und vor allem nichts, was man jemals getan hat.«

»Hoffentlich«, murmelte Ava.

»Wie bitte?«, fragte Luna.

»Ach, nichts. Ich dachte nur gerade an Frida.«

Luna warf ihr einen Seitenblick zu. »Du trägst das Armband. Steht dir.«

»Ja, es ist schön. Ich habe beschlossen, es mindestens so lange zu tragen, bis ich weiß, was es mir sagen soll. Außerdem ist das hier ja schon eine kleine Reise, wenn auch nur für ein Wochenende und knappe siebzig Kilometer.«

»Ganz genau«, bekräftigte Luna. »Manchmal muss man sich nicht weit bewegen. Nur bewegen eben. Der Rest folgt meist von allein.«

Na, darauf war sie gespannt. Ava war jetzt doch froh, dass sie sich auf diese Abwechslung eingelassen hatte. Sie fühlte sich befreit und beinahe ausgelassen. Du lachst zu wenig, hatte Enno gesagt. Vielleicht hatte er recht? Sie nahm sich vor, diese Auszeit zu genießen. Einfach so, ohne Grübeln.

 

Es schien die richtige Idee gewesen zu sein, denn als sie ankamen und in die Gaststube von »Franzis Hafen« traten, schallte ihnen Gelächter entgegen. »Sie sind alle draußen«, stellte Luna fest und ging voraus. Ava folgte ihr mit einem ungewohnten Gefühl der Erwartung.

Um einen Tisch in einem sonnigen Garten saßen einige fremde Leute. Jedenfalls erschien es Ava im ersten Augenblick so. Doch dann erkannte sie Franzi, die sich etwas schwerfällig erhob. »Ava, wie schön, dass du endlich mal kommst! Das ist mein Schatz Matteo.«

»Hallo, Ava! Nett, dich kennenzulernen.« Ein sympathischer Mann mit dunklen Augen und Locken schüttelte ihr herzlich die Hand.

»Und das ist Lian«, fuhr Franzi fort, »unser neuer Teilhaber und vor allem der Küchenchef, der die leckersten Nachtische zaubern kann. Wir kosten gerade die neueste Kreation und sind uns uneinig, ob man sie den Gästen vorsetzen kann. Ihr kommt genau richtig, um zu helfen.«

»Sehr gut. Die Chance auf eine völlig neutrale Meinung. Willkommen!« Lian blickte erfreut aus erstaunlich grünen Augen.

»Und dies hier ist unser augenblicklicher Feriengast im Dachzimmer. Peer Sjöberg.«

»Hi!« Peer, mit unordentlichen hellbraunen Locken und einem vergnügten Blitzen in den graublauen Augen, hob die Hand zum Gruß.

»Wir haben ihn dazu verdonnert, das Zimmer zu testen«, erklärte Franzi vergnügt. »Peer macht schon seit seiner Kindheit Ferien auf dem Darß.«

»Ja, aber früher auf Naurulokki, dem kleinen Haus von Tante Carly in Ahrenshoop«, ergänzte Peer. »Nur ist da kein Platz mehr, weil sie jetzt Familie hat. Außerdem bin ich mit Lian ins Gespräch gekommen, als ich hier gegessen habe, und habe ihm meine Beratung in Sachen Kräutergarten angeboten.«

»Ich dachte erst, er ist Gärtner«, erklärte Lian, der von etwas, das wie ein Kuchen aussah, zwei dicke Scheiben abschnitt, auf Teller legte und sie Luna und Ava hinschob. »Aber dann habe ich mitbekommen, dass er sich nur wichtigmacht.« Er zwinkerte Peer zu. Es war offensichtlich, dass die beiden sich bestens verstanden.

»Klar mach ich mich wichtig.« Peer lachte. »Es ist mir wichtig! Das ist ein leidenschaftliches Hobby von mir. Ich habe den wunderbarsten Kräutergarten in Oberhavel. Behaupte ich jedenfalls immer.«

»Ich habe wirklich viel von ihm gelernt.« Lian wurde ernst. »Dabei dachte ich, ich hätte so viel Ahnung davon. Bitte, Luna, Ava, probiert doch und sagt mir, was ihr davon haltet!«

Luna betrachtete das Stück auf ihrem Teller mit sachlicher Distanz, Ava, die bei dem Thema hellhörig geworden war, voller Neugier. Es duftete herrlich nach Kräutern. Ihre feine Nase erkannte Vertrautes und Fremdes zugleich. Zitronenmelisse? Thymian? Aber das Stück sah aus wie Kuchen. »Was ist das?«, fragte sie.

»Eine süße Kräuterrolle. Eine Bisquitrolle mit Quarkfüllung, aber in der Füllung sind eben Kräuter.«

»Klingt schräg, aber interessant«, fand Luna und roch prüfend daran, bevor sie mit konzentrierter Miene einen Bissen in den Mund schob. Sie ließ sich Zeit mit einem Urteil.

»Ich denke ja, Gäste erwarten etwas Süßes, wenn sie so was sehen«, meinte Matteo skeptisch.

»Es ist ja süß. Nur eben anders«, erklärte Lian mit einem Augenrollen, anscheinend nicht zum ersten Mal.

Ava blendete das Gespräch aus, nahm einen großen Bissen und konzentrierte sich auf den Geschmack. Erst war da nur die sanfte, süße Note, dann explodierten Aromen auf ihrer Zunge, die ihr gefühlt bis ins Hirn schossen. Auf eine angenehme Weise, die sie hellwach machte. So würde Sonnenlicht nach einem Regen schmecken, wenn man es kosten könnte, fuhr ihr durch den Kopf. Doch das wagte sie nicht zu sagen. Sie versuchte herauszuschmecken, was Lian alles hineingemischt hatte, aber es war unmöglich.

»Ich finde es genial«, platzte sie heraus. »Bitte, was ist außer Thymian und Zitronenmelisse drin?«

Lian hob die Augenbrauen und strahlte sie überrascht an. »Oh, eine Fachfrau!«

»Nein, nein!«, wehrte sie ab. »Ich habe bloß ein paar Kräuter im Balkonkasten. Ich mag sie so gern!«

»Ein Balkonkasten ist ein guter Anfang!« Peer nickte ihr ermutigend zu. »Das Schöne an Kräutern ist ja, dass sie nicht unbedingt viel Platz brauchen und man mit wenig viel bewirken kann.«

»Ich finde es ausgesprochen wohlschmeckend«, verkündete Luna. »Serviert es unbedingt den Gästen! Die brauchen auch mal eine Überraschung. Eine Herausforderung für die Sinne, damit die aufgeweckt werden.«

Lian blickte zufrieden. »Da, hört ihr? Zwei Ja-Stimmen! Die Sache ist entschieden.«

»Aber erlöse bitte mal Ava. Die platzt vor Wissensdurst«, ermahnte Peer ihn amüsiert. »Was ist denn nun drin?«

»Unter anderem Australisches Zitronenblatt, Kapuzinerkresseblüten, Orangenverbene und Schokoladenminze. Aber alles verrate ich nicht. Geheimnis des Hauses«, erklärte Lian vergnügt. »Ich geh dann mal die Dessertkarte erweitern.« Er verschwand pfeifend im Haus.

Ava entdeckte zu ihrem Erstaunen, dass an dem kahlen Busch hinter dem Tisch bunte Kaffeetassen und Teekannen hingen.

Hier gefiel es ihr.

 

Eine Gruppe Gäste in Fahrradkleidung kam an und sah sich suchend um.

»Kundschaft!«, verkündete Matteo und stand rasch auf.

»Franzi, wenn ihr hier fertig seid, können wir dann mein Manuskript durchgehen?«, fragte Luna. »Ich habe ein paar Fragen, bevor du es liest.«

»Gerne, aber …« Franzi stand auf und blickte fragend zu Ava. »Was soll Ava denn solange machen?«

»Ich sehe mich einfach um oder gehe ein Stück spazieren«, sagte sie hastig. »Darauf freue ich mich. Es ist so schön hier, das habe ich schon auf der Fahrt gesehen.«

Peer stand auch auf und steckte die Hände in die Hosentaschen. »Wenn du magst, zeige ich dir den Weg zum nahen Bodden. Ich hab Zeit. Ich bin schließlich der Einzige hier, der Urlaub hat.«

»Prima Idee, danke«, freute sich Franzi und ging mit Luna ins Haus.

Ava wäre eigentlich gern allein gewesen nach all diesen Begegnungen. Doch dann sah sie auf ihr Armband. Hatte sie sich nicht aus ihrer Komfortzone bewegen wollen? Einfach mal was anderes machen?

»Das wäre nett«, sagte sie entschlossen.

»Na fein. Dann komm. Hast du auch Urlaub?«

»Nur ein paar freie Tage.«

Zusammen schlenderten sie die Straße entlang an bunten Häusern mit Reetdächern vorbei. »Hier ist es schön ruhig«, sagte Ava mehr zu sich selbst als zu Peer, der ebenfalls angenehm ruhig neben ihr herschlenderte.

»Bei dir nicht? Wo kommst du her?«

»Kühlungsborn. Aufgewachsen bin ich in Wismar.«

»Und ich in Berlin. Glaub mir, das ist laut! Ich mag es ruhig, genau wie du. Deshalb waren mein Zwillingsbruder und ich so gern in den Ferien auf dem Darß. Es war unser Paradies. Schon als wir ganz klein waren und unsere Großtante Henny noch lebte.« Peer strahlte zwar einerseits selbst Ruhe aus, doch wenn er begeistert war, leuchtete das aus seinen Augen, und er unterstrich seine Empfindungen mit lebhaften Gesten. Sie ertappte sich dabei, dass sie ihm gern zuhörte. Und zusah, wie seine schmalen Hände in die Luft malten.

»Du hast einen Zwillingsbruder? Wie schön! Ich habe mir immer Geschwister gewünscht. Deswegen mag ich Luna und Franzi so. Wo wohnst du jetzt?« Ava staunte über ihre Neugier. Aber es war leicht, sich mit Peer zu unterhalten. Sie schätzte ihn auf etwa ihr eigenes Alter, vielleicht zwei, drei Jahre älter. Man sah ihm an, dass er viel draußen war.

»Ich habe einen Zwillingsbruder namens Paul und eine Freundin namens Jasmin, die es beide gar nicht gern so ruhig mögen wie ich. Paul lebt noch in Berlin und Jasmin auch.« Für einen Moment wirkte er bekümmert, doch dann hellte sich sein Gesicht wieder auf. »Aber ich wohne hauptsächlich in Bernöwe, auf dem Grundstück, das wir von unserem Opa geerbt haben.«

»Bernöwe? Wo ist das denn?«

Er wandte sich ihr zu und zeichnete mit den Händen weite Kreise in die Luft. »Ja, das fragen sie alle. Dort ist es noch ruhiger als hier. Es liegt in Brandenburg, weit weg von allem, direkt am Oder-Havel-Kanal. Meins ist nur ein kleines altes Haus, ein ehemaliges Wochenendhaus. Drinnen zieht es, und manchmal regnet es rein. Aber es ist so ein Idyll! Wenn du aufwachst, steht vor dem Gartentor der Reiher und fischt. Eine ganze Reihe Hausboote liegen dort vor Anker, die man mieten kann. Andere Boote fahren vorbei, aber nie zu viele. Die Blaumeisen kommen auf den Frühstückstisch. Der Pirol ruft manchmal, der Eisvogel sitzt auf den Wurzeln, die ins Wasser ragen, und jede Menge Libellen fliegen im Garten herum. Nebenan ist Wald. Es riecht nach dem Fluss und nach Kiefern und meinem Kräutergarten, und wenn nicht gerade jemand Rasen mäht, dann ist es ganz still bis auf den Wind, der im Schilf flüstert.«

Ja, sie hörte ihm gern zu. Er war ganz anders als die Männer, die sie kannte. Natürlich malten seine Gesten nicht wirklich etwas in die Frühlingsluft, und doch war ihr, als würde sie seine Begeisterung dort für einen Augenblick flimmern sehen wie eine Lichtspur.

»Das klingt sehr schön«, sagte sie ein wenig sehnsuchtsvoll.

»Ja, wenn du die Ruhe magst, könnte es dir gefallen. Vielleicht machst du ja mal Ferien in Brandenburg. Du könntest ein Hausboot mieten«, schlug er vor.

Sie berührte ihr Armband. Eine Reise … Doch ihr fiel kein sinnvoller Grund ein, mit einem Hausboot einen Kanal entlangzufahren.

»Na ja, es ist allerdings sehr weit weg von allem«, sagte er, als hätte sie schon abgelehnt. »Außer den paar Häusern ist da nichts. Ist nicht für jeden was. Eher für die wenigsten.«

»Was machst du denn dann da draußen beruflich?« Sie konnte sich nichts vorstellen, das in solch einer Einsamkeit zu jemandem gepasst hätte, der so viel Energie besaß.

»So was.« Er hielt an und deutete auf einen niedrigen blauen Zaun aus geschwungenen Holzlatten, die einen der Vorgärten umfriedeten. »Zäune! Aber nicht so durchschnittliche Einheitszäune von der Stange. Bloß nicht! Wir sprechen das ganz individuell mit den Eigentümern durch, sehen uns die Umgebung und die Landschaft an und den Stil der Leute, und dann machen wir Vorschläge. Zäune sind wichtig, weißt du. Sie sind das Gesicht eines Hauses oder vielmehr eines Grundstücks. Wie der berühmte erste Eindruck bei einem Bewerbungsgespräch. Man verbindet sofort etwas damit. Sie sollen freundlich wirken und trotzdem Geborgenheit vermitteln, sie sollen ästhetisch sein und dennoch unaufdringlich. Jeder Zaun erzählt eine Geschichte von dem Haus, zu dem er gehört, und von den Bewohnern. Zugleich ist er eine Chance, die Umgebung zu verschönern oder ihren Charakter zu erhalten …« Er brach ab. »Entschuldige, Ava! Ich wollte dir bestimmt keinen Vortrag halten. Jedenfalls kann ich von Bernöwe aus gut zu den Kunden fahren und unterwegs noch Inspirationen finden. Paul kümmert sich in Berlin um das Geschäftliche. Mit Zahlen umgehen und organisieren kann er einfach besser als ich. Dort haben wir den Hauptstandort, und Jasmin betreut die Kunden, die hereinkommen. Zu dritt haben wir das prima unter uns aufgeteilt.« Er breitete die Arme aus. »Bis jetzt läuft es recht gut. Aber ewig werde ich wohl nicht in Bernöwe wohnen können. Ich habe noch eine Cousine, die wie ich zu den Erben gehört und eigentlich auch gern mal eine Weile dort verbringen würde. Vielleicht überlasse ich es ihr demnächst.«

Ava sah die Zäune förmlich vor sich, die er in die Luft und in ihre rege Vorstellungskraft gezaubert hatte. Bunt, geschwungen, fröhlich. Attraktive Grundstücksumgrenzungen, das war doch etwas Sinnvolles, so anders als die meisten Sachen in ihrem Laden.

»Euer Konzept gefällt mir. Sollte ich jemals ein Haus haben, werde ich mich an dich wenden. Das ist aber höchst unwahrscheinlich«, erklärte sie.

»Das wäre prima. Weißt du, es wird so viel Hässliches gebaut, und meistens ist das gar nicht nötig. Ich freue mich über jedes bisschen, was wir schöner machen können – oder verhindern, dass es hässlicher wird. Du, entschuldige, jetzt haben wir nur von mir geredet. Wo würdest du dein Haus denn haben wollen, wenn du eins hättest?«, erkundigte er sich.