Das Leuchten im Dunkeln - Barbara Pallecchi - E-Book

Das Leuchten im Dunkeln E-Book

Barbara Pallecchi

0,0
19,00 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Mila – Anfang vierzig, erfolgsgewohnte Kaderfrau – verbringt einen Sommer zu Hause. Sie ist von ihrer Leitungsfunktion an einer Fachhochschule beurlaubt. Will sie die Führungsaufgabe behalten, muss sie sich dem Coaching eines Karriereberaters unterziehen und darlegen, wie sie sich zu einer sozial verträglichen Vorgesetzten entwickeln will. So lautet die Auflage ihres Arbeitgebers. Für Mila beginnt eine Zeit unablässiger Herausforderungen. Sie ist infrage gestellt, stellt sich selbst infrage und verliert zunehmend die Orientierung. Was als Auszeit zur Selbstoptimierung gedacht war, wird zur existentiellen Krise. Doch statt sich mit ihrer beruflichen Zukunft zu beschäftigen, beobachtet und belauscht sie Mischa, den kleinen Jungen, der mit seinem Vater in die Wohnung über ihr eingezogen ist und tschechisch, die Sprache ihrer Kindheit, spricht. Die Sprache des Kindes dringt in sie ein und bringt vergessen geglaubte Wörter zum Vorschein. Lange unterdrückte Erinnerungen an ihre Kindheit werden lebendig, und hinter den Erinnerungen tun sich Geschichten auf, die, mehr als Mila zunächst lieb ist, von ihrer Mutter erzählen. Sie setzt sich der Sprache aus, ent- deckt in ihr die Poesie, wie auch den Schmerz, der die aufstrebende Malerin – die sie einmal war –, antrieb. Schonungslos geht Mila dem Schmerz nach, lässt ihren Körper sprechen, von der Sehnsucht getrieben, sich ihrer selbst gewiss zu werden und ihre Berufung zu finden. Was sie entscheidet, geht im wörtlichsten Sinn unter die Haut.   Eine Geschichte über Sprache, gekappte Wurzeln und verschüttete Lebensträume, über das eigene Gewordensein und die Angst, das eigene Leben zu verfehlen. Ruth Schweikert, im Oktober 2022: Ein komplexer und mutiger Roman, der seiner Protagonistin Mila bis an die Schmerzgrenzen folgt und dabei einen dringlichen Sog entwickelt. Vielschichtig und bildstark, rätselhaft und ungeschönt zugleich. Das Leuchten im Dunkeln ist eine Wucht.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 399

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


BARBARA PALLECCHI

DAS LEUCHTEN IM DUNKELN

ROMAN

INHALT

PROLOG

TEIL 1

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

TEIL 2

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

KAPITEL 32

TEIL 3

KAPITEL 33

KAPITEL 34

KAPITEL 35

KAPITEL 36

KAPITEL 37

KAPITEL 38

KAPITEL 39

KAPITEL 40

KAPITEL 41

KAPITEL 42

KAPITEL 43

KAPITEL 44

KAPITEL 45

»Ich bin Ich, und hoffe es immer mehr zu werden. Das ist wohl das Endziehl [sic!] von allem unserm Ringen.«

Paula Modersohn-Becker an Rainer Maria Rilke, 17.2.1906

PROLOG

Jeder Stich schmerzte. Als würde die Haut Millimeter für Millimeter mit einem Haken aufgerissen. Je näher an der Wirbelsäule, desto stärker war der Schmerz. Ich hatte mich für ihn entschieden. Wurde er zu heftig, dachte ich mich in den Film, den ich gegen Ende des vergangenen Sommers in der Ausstellung über die Tiefsee gesehen hatte.

Ein Krake wickelt einen seiner Tentakel auf und lässt ihn Saugnapf für Saugnapf zurückrollen. Mit einem seiner Fangarme tastet er auf dem Meeresgrund einen Felsen ab. Mit dem spitzen Ende eines anderen formt er Spiralen in unterschiedlichen Grössen. Wie in einem Tanz mit sich selbst gleiten seine Tentakel übereinander und umeinander herum, verschlingen sich zu einem Knäuel, aus dem sie sich sogleich geschmeidig lösen.

Die fließenden Bewegungen der Molluskenmasse füllten die ganze Leinwand. Ich hatte mich dem Rhythmus der Bewegungen des Kopffüßlers vollkommen hingegeben.

So machte ich es auch jetzt, während ich meinen Atemzügen lauschte, versuchte, langsam und gleichmäßig zu atmen. »Good breathing is a help to calm pain«, hatte Katsuo in der Vorbesprechung gesagt. Eine Weile versank ich in den Erinnerungen an die Dunkelheit der Tiefsee, dann kehrte ich zum Schmerz zurück. Ich hatte mir versprochen, ihn mir zu eigen zu machen und im Akt der großflächigen Tätowierung zu lernen, ihn zu beherrschen.

»Deep sea is finished«, sagte Katsuo. Er stand auf und ging leise hinaus. Ich löste meine Wahrnehmung von den letzten Stichen in die Lende und atmete tief ein und aus. Mein Oberkörper sank auf die Tatamimatte. Mein Herz klopfte heftig. Erst die Entspannung, wie ich es mir vorgenommen habe, ermahnte ich mich. Ich wanderte mit meiner Aufmerksamkeit dem Hals entlang in den Nacken, in den Schultergürtel, in die Oberarme, zum Gesicht, verweilte, wo es sich verspannt anfühlte und atmete ruhig in die schmerzenden Stellen. Ich gab mir Zeit, wie Vivienne es mir beigebracht hatte. Ich wanderte weiter zu den Pobacken, zu den Oberschenkeln und Waden bis zu den Füßen und ich genoss, wie es mir gelang, eine Verspannung nach der anderen aufzulösen. Den Rücken sparte ich aus.

Ich ließ die Augen geschlossen, atmete und gab mich hin. Ich hatte mir vorgenommen, jeden Gedanken, jede Empfindung, jede Erinnerung, entgegenzunehmen, anzunehmen, mir einzuprägen. Die Enttäuschung zuzulassen, sollte sich nichts zeigen, das mir bedeutsam erschien. Selbst Leere.

Ich atmete tief und ruhig. Ich stellte mir vor, Katsuo würde langsam, Zentimeter um Zentimeter eine transparente Folie auf meinem Rücken ausrollen und mit den Fingern auf die wunde Haut drücken. Mein Oberkörper stemmte sich gegen seine warmen Hände, die ihn zurück in die Matte drückten. Der Schmerz in der Fantasie war anders als der beim Stechen. Ich tastete in Gedanken den Rändern der Tiefseelandschaft nach, den Lebewesen, die ich gezeichnet hatte, die mir vertraut waren, die ich aber noch nicht in meine Haut gebannt gesehen hatte. Würde man das Kind erkennen, das auf dem Meeresboden ruhte? In meinem Unterleib löste sich ein Zittern und breitete sich wie ein Nachbeben in meinem Körper aus. Ich fühlte mich leicht. Als würde ich über der Tatamimatte schweben.

Ich bewegte das Glöckchen. So hatten wir es vereinbart. Katsuo kam zurück und kauerte sich neben mich.

»Please«, flüsterte ich. Mit langen Bewegungen strich er meine Arme und Beine aus, sein Ritual, um sich von meinem Körper zu verabschieden, wie er sagte, er rollte mich auf die Seite und half mir, mich aufzusetzen. Dann legte er mir von vorn den Kimono über die Schultern, setzte sich mir gegenüber auf den Boden und zog die Papierbahn mit dem Bild der Tätowierung zu sich.

»Next time the word, right?«, sagte er und glitt mit den Fingern über den schlichten Schriftzug.

Am Ende des Sommers, über den ich erzählen werde, hatte ich geträumt, wie ich zwischen zwei Spiegeln stehe und meinen tätowierten Rücken betrachte. Ich sah eine Tiefseelandschaft mit Seeanemonen, Schlangensternen und Seefedern, Fächerkorallen und Polypen mit blütenförmigen Tentakeln, darin Quallen, Kraken und Tintenfische. Eine Hand in einem schwarzen Handschuh schob sich ins Spiegelbild. Sie zeigte auf ein Wort, das wie eine Signatur über meiner rechten Pobacke tätowiert war. Die Hand stach mit einer Nadel in den letzten Buchstaben. Der Schmerz war so real, dass ich aufwachte.

»Yes«, antwortete ich, »next time the word.«

Das Wort streichelt die Mundhöhle.

Hlubina. Die Tiefe. Der Abgrund.

TEIL 1

1

Das Kind wird stören. Ich betrachtete das postkartengroße, karierte Papier auf dem Briefkasten. Verwackelte Linien, mit Filzstiften aufs Papier gedrückt. Ein ausladendes, blaues M, dem kleinere Buchstaben in verschiedenen Farben folgten, das A um Größe bemüht, als wäre es ermahnt worden, sich aufzurichten.

+ MISCHA

Über dem Namen ein hellgrüner Kringel mit Fühlern, die sich nach dem oberen Blattrand ausstreckten.

Jetzt nicht auch noch das. Nicht auch noch ein lärmendes Kind, das von Zimmer zu Zimmer rennen, plärren, schreien und Gegenstände auf den Boden werfen wird, in einem Tobsuchtsanfall auch sich selbst. Ein ständiges Trappeln über meinem Kopf, das mir das letzte Quäntchen Konzentration rauben wird. Dazu ein Mirko Černý.

In frischem Weiß war der Name in die schwarzen Schildchen eingraviert, die während meiner kurzen Abwesenheit in den Briefkasten eingepasst und neben dem Klingelknopf festgeschraubt worden waren. Was ich als weitere Provokation empfand. Bestimmt wird er ständig klingeln und nach Salz, einem Ei, der Gebrauchsanweisung für die Waschmaschine oder sonst was fragen, schimpfte ich. Dieser hinterhältige Vermieter. Das hat er mit Absicht getan. Mir ein Kind zumuten. Als ich mich später beschwerte, er hätte mich rechtzeitig informieren müssen, verwies er mich auf sein Schreiben. Vermutlich lag es in der ungeöffneten Post, die sich seit Wochen auf meinem Schreibtisch angehäuft hatte.

Zappelnd suchte ich in der Handtasche nach dem Hausschlüssel. Meine gereizte Blase. Als hätte sie einen Sensor, um die Distanz zu einer Toilette zu messen. Je näher, desto heftiger drängte sie darauf, sich zu entleeren. Auch wenn es nichts zu entleeren gab. Ich presste die Hand in den Schritt, öffnete leise die Haustür und lauschte ins Treppenhaus. Die vertraute Stille, der trockene Geruch von kühlem Stein. Wie immer. Ich atmete auf. Vorsichtshalber zog ich die Tür zu. Dann rannte ich die Treppe hoch in meine Wohnung. Ich saß auf der Kloschüssel und lauschte. Es war still. Ich ging in die Küche und lauschte. Still. Ich lauschte im Arbeitszimmer. Nichts. Ich spürte mein Herz pumpen. Es versorgte den Verdruss, der seit Wochen in mir lauerte, gierig nach allen möglichen Ködern schnappte und mich in Gedankenspiralen zappeln ließ, die ich nicht zu stoppen vermochte.

Ich versetzte dem Stapel von Seminararbeiten, die ungelesen vor dem Schreibtisch auf dem Boden lagen, einen Tritt und flüchtete auf den Balkon. Ich ließ mich in den Schaukelstuhl fallen, zündete eine Zigarette an, lehnte den Kopf zurück und schaute in den blauen Himmel, der mich so aufdringlich anstrahlte, dass ich wegschauen musste. Ein ungewöhnlich kräftiger Wind klappte die Blätter des Haselnussstrauchs nach oben, sodass sie ihm mit der helleren Seite – der empfindsameren, stellte ich mir vor – ausgesetzt waren. Die Blumen in den Töpfen sahen durstig aus, aber ich mochte nicht aufstehen. Ich betrachtete die Rasenfläche vor dem Haus, die in den vergangenen Jahren außer dem Gärtner kaum jemand betreten hatte. Zur Straße hin von einer hohen Buchenhecke abgeschirmt und zu den Nachbargrundstücken von ineinander verwachsenen Sträuchern, war der Garten ein eingefriedeter Raum. Das war mir erst kürzlich aufgefallen. Und dass ich den Schutz und die Ruhe, die er ausstrahlte, in diesem Sommer dringend brauchen würde.

Es ist mein Garten, muckte ich auf, obwohl im Mietvertrag nichts dergleichen geschrieben stand. Undenkbar, dass ausgerechnet jetzt ein Kind über den Rasen tollt, seine Spielsachen verstreut, johlt und kreischt, angefeuert von seinem Vater, der hinter ihm herjagt und es ins Vergnügen treibt. Vielleicht war der Mann frisch getrennt. – Oh nein, bitte nicht. Frisch getrennte Männer neigen zu maßlosen Übertreibungen, sei es im Triumph oder in ihrer tiefsten Kränkung. Womöglich wird er einen qualmenden Grill aufstellen, dicke Steaks braten, bis in die Nacht mit Freunden feiern und ich werde noch weniger schlafen.

Sie müssen besser schlafen, Frau Candrian, hatte Dr. B. bei der letzten Konsultation gesagt, sonst wird dieser Sommer nicht zu retten sein. Und mein Job erst recht nicht, hatte ich hinzugefügt. Ich schreckte zusammen. Der Mann und das Kind konnten jederzeit nach Hause kommen. Oder mich bemerken, sollten sie da sein. Hektisch drückte ich die Zigarette aus, ging hinein und zog die Balkontür hinter mir zu. Ich bin nicht da.

Ich kramte das Handy aus meiner Handtasche und schrieb Franziska eine SMS:

die fahrt über den julier war fantastisch. oben ist jemand eingezogen. mit kind! sch…!!! wie soll ich jetzt zur ruhe kommen. bin völlig genervt… danke für die tage mit dir und den mädchen. kuss, m.

Ich war beurlaubt. Genauer, ich war beurlaubt worden. Nie im Leben hätte ich es für möglich gehalten, dass mir so etwas widerfahren könnte. Zudem war mir eine Aufgabe auferlegt worden. Mit Unterstützung eines Karriereberaters sollte ich mich zu einer sozial verträglicheren Führungskraft entwickeln. Ich kam mir vor wie eine Spielzeuggiraffe, die beim Drücken des Bodens, auf dem sie befestigt ist, einknickt und in eine widersinnige Körperhaltung zusammensackt. Ich hatte keine Vorstellung davon, wie ich mit dieser Situation umgehen sollte. Ob ich überhaupt einen Umgang damit finden würde. Klar war mir lediglich, dass ich Ruhe brauchte. Ich hatte mir vorgenommen, mich am Vormittag jeweils mit dem, was ich Zwangsarbeit nannte, auseinanderzusetzen. Die Nachmittage wollte ich damit verbringen, im Schatten der Birke zu lesen, Musik zu hören, zu dösen, ins Museum zu gehen, bei Antonia einzukaufen und mir etwas Gutes zu kochen. Eben das zu tun, wonach man sich sehnt, wenn man jahrelang nur gearbeitet hat. Ich hatte mir vom Gärtner den Balkon bepflanzen lassen. Um etwas zu haben, das Tag für Tag vor meinen Augen wachsen und blühen würde. Bunt und üppig soll es werden, hatte ich dem Gärtner aufgetragen. Möglichst wild ineinander wachsen. Und duften soll es. Zudem schaffte ich mir so eine Ausrede – ich will nicht ständig jemanden zum Gießen bemühen, außerdem kenne ich in der Nachbarschaft keinen, den ich fragen könnte –, wenn Franziska weiterhin versuchen würde, mich ins Engadin zu locken. Sie schrieb, die Mädchen würden sich so freuen, wenn ich häufiger kommen würde. Sie würden ständig nach mir fragen. Sie hätten etwas für mich gebastelt, das sie mir persönlich geben wollten. Sie würden mir gerne die Meisen im Lärchenwald zeigen, wie sie ihnen aus der Hand fressen. Mit meinem Cabriolet fahren. Solche Sachen. Für einmal hatte ich nachgegeben. Ich hatte meine frühere Putzhilfe gefragt, ob sie kommen könnte, und war für ein paar Tage in Franziskas heile Welt gefahren.

Ich warf das Handy auf den Küchentisch, drehte in der Spüle das Wasser auf und tauchte die Hände in den kalten Strahl. Hätte ich mir doch die Zeit genommen, über das Angebot des Vermieters nachzudenken. Dann wäre ich jetzt wenigstens oben. Und nicht hier unten, neugierigen Blicken ausgesetzt.

Seine Mutter hatte ihm aufgetragen, mir nach ihrem Tod anzubieten, in die obere Wohnung zu ziehen. Freiwillig hätte er das nicht gemacht. Trotz ihrer Gebrechlichkeit war die gute Frau Baumann vorausschauender gewesen als ich. Sie hatte gewusst, dass ich mir die höhere Miete leisten konnte.

Jetzt glaubte ich, erneut beraubt zu werden. Ich schlug mit der Faust gegen die Tür des Schränkchens über der Spüle und fluchte. Es nützte nichts. Ich heulte. Beziehungsweise es heulte. Seit dem Gespräch mit Gerlinde, meiner Chefin, passierte es immer wieder. Manchmal spürte ich lediglich einen Kloß im Hals, manchmal liefen mir Tränen übers Gesicht, nicht selten schluchzte ich laut heraus. Mich so weinerlich zu erleben, machte mich fertig.

Einmal rief ich in diesem Zustand Dr. B. an. Ich keuchte ins Telefon, ich käme mir vor wie eine Amöbe. Ein Fahrradkurier brachte mir ein Fläschchen mit Beruhigungstropfen. Im Internet las ich später, dass eine Amöbe eine Lebensform ist. Eine Organisationsstufe ohne feste Körperform, die ihre Gestalt laufend ändert. Meistens nackt. Die Amöbe in mir machte mir Angst. Sie betäubte meinen Kopf und löste die Kraft in meinem Körper auf. Vergeblich suchte ich nach einem Halt in mir, nach etwas, das mir die Kontrolle zurückgab. Ich konnte mich in diesem Zustand nicht leiden

Ich lehnte die Stirn an das Oberschränkchen, tauchte die Handgelenke erneut in den kalten Wasserstrahl und wartete, bis ein leichter Schmerz in meinen Armen hochstieg. Während ich mir die Handgelenke abrieb, ermahnte ich mich. Noch ist nichts passiert. Noch sind es lediglich zwei Namen. Ein Mann und ein Kind. Mehr weißt du nicht. Also hör auf, dich in etwas hineinzusteigern. Ich lauschte. Es war immer noch still. Ich überlegte, ob ich mich vergewissern sollte, dass ich mir das Papier am Briefkasten nicht eingebildet hatte. Aber ganz so schlimm stand es nicht um mich.

2

Am Abend setzte ich mich ins Arbeitszimmer um zu lesen. Der Nachsommer von Adalbert Stifter lag in meinem Schoß. »Für meine Schöne, jetzt, da du Zeit hast.« K. hatte mir das Buch nach unserem letzten Treffen in Frankfurt geschickt. Konzentriert etwas zu lesen, war mir schon seit Wochen zunehmend schwerer gefallen, und seit der Krankschreibung gelang es mir fast gar nicht mehr. Ich las die Widmung, die erste Seite, manchmal die zweite und die dritte, spätestens dann schweiften meine Gedanken ab und kreisten um die Frage, wie es nach diesem Sommer mit mir weitergehen sollte. Oder ich wurde so unruhig, dass ich in der Wohnung umhergehen musste. Oder ich schlief ein. Nicht lesen zu können, beziehungsweise mir nicht merken zu können, was ich gelesen hatte, beunruhigte mich. Ich versuchte es jeden Abend, um zu üben und in der Hoffnung, dass es besser würde. Ich hatte K. noch nicht gefragt, ob er das Buch nur wegen des Titels für mich ausgesucht hatte. Oder wegen des Umfangs. Als Symbol für einen langen Sommer, der mir viel Geduld abverlangen würde. Dass er diese detaillierten, seitenlangen Beschreibungen mochte, brachte ich nicht mit ihm zusammen. Und wann hatte er überhaupt Zeit, zu lesen? Ich hatte ihn noch nie mit einem Buch gesehen.

wo bist du? lust auf ein treffen? m, hatte ich ihm am Abend vom gleichen Tag, als mich Gerlinde über die Beurlaubung informiert hatte, geschrieben.

Meine Liebe, das wäre schön. Sitze in Hamburg in einem langweiligen Meeting. Morgen kommt meine Frau mit den Kindern für das Wochenende. Ich melde mich, hug, K.

Ich kannte K. Es konnte dauern, bis er sich meldete. Vor allem nach einem Wochenende, das er mit seiner Frau und den drei Kindern verbrachte. Ich schrieb eine zweite Nachricht.

ich brauche dringend einen karriereberater. entscheid meiner chefin. kennst du jemanden, der gut ist? der zu mir passt? das vor allem. es steht viel auf dem spiel. nein alles. m

Eine Woche später flog ich übers Wochenende nach Frankfurt. Zurück kam ich mit einer schmerzhaften Blasenentzündung und den Kontaktdaten von Sander. Laut K. ein ausgezeichneter Berater. Einer der besten. Mit viel Erfahrung und einem beachtlichen Erfolgsnachweis. K. kannte die Beraterszene. Er war Global Head of Human Resources in einem Konzern. Und K. kannte mich. Schon sehr lange. Wir hatten uns nach dem Studium für das Traineeprogramm einer Großbank beworben und beim Assessment Center, das über unsere Aufnahme entschied, kennengelernt.

Wir wurden beide als top talents erkannt. K. mit einer hervorragenden Bewertung. Bei mir hatte das Gremium länger diskutiert. Mein späterer Chef hatte sich für mich eingesetzt. Unter anderem wegen meines selbstbewussten Auftretens. K. entschied sich fürs HR vom Investment Banking, ich für Corporate Communication.

Sex hatten wir erst seit ein paar Monaten. Seit K. sagte, eine Paarbeziehung könne nicht alles erfüllen. »Weiß Sander, dass wir uns nicht nur zum Essen treffen?«, fragte ich ihn. »Um Himmels willen, natürlich nicht«, antwortete er. Als wir uns in seinem Hotelzimmer verabschiedeten, sagte er mit ernstem Gesichtsausdruck: »Mila, versuch nicht, mit Sander etwas anzufangen. Nicht, dass ich dir keine weiteren Ablenkungen gönnen würde«, – dann wurde er fast unerträglich ernst –, »ich mag dich und ich mache mir Sorgen um dich.« Ich wollte ihn unterbrechen, ihm entgegnen, dass er sich die väterliche Fürsorge für seine drei Kinder aufsparen solle, dass ich nicht mehr von ihm wollte als Sex und die Adresse eines guten Beraters. Statt etwas zu sagen, drückte ich mir den Daumennagel in den Oberschenkel. Ich mochte K.

»Melde dich so rasch wie möglich bei Sander«, fuhr K. fort, »am besten heute noch. Er ist ausgebucht, aber er wird es möglich machen, dich zu unterstützen.« Seine Stirn legte sich in Falten und er schaute mir eindringlich in die Augen. Ich drückte ihm einen Kuss auf den Mund und eilte aus dem Zimmer. Im Waschraum der Lobby schminkte ich mich ein zweites Mal an diesem Morgen.

Dr. B. schimpfte: »Ich habe in den vergangenen Wochen den Schnitt im Finger genäht, die Grippe und die hartnäckige Bronchitis behandelt, die sich leicht zu einer Lungenentzündung hätte entwickeln können, und Ihre dünnhäutige Stimmung beobachtet. Jetzt kommen Sie mit einem Harnweginfekt. Das reicht. Ihr Körper rebelliert, Frau Candrian.«

Sie hielt kurz inne und fuhr mit sanfter Stimme fort: »Ihr Nervenkostüm hat Risse. In dieser Verfassung sollten Sie sich besser nicht mehr am Arbeitsplatz zeigen. Sie schaden sich. Selbst wenn das für Sie hart ist, ich schreibe Sie jetzt bis zu Ihrem Urlaubssemester krank.« Sie hatte sich aufgeregt, als ich ihr von Gerlindes Entscheidung erzählt hatte und geschimpft, so gehe man mit einer intelligenten, talentierten, motivierten und tüchtigen Frau nicht um. Dr. B. war Mitte sechzig, führte eine geschmackvoll eingerichtete Praxis und ließ sich ihre weißen Mäntel maßschneidern. Sie hatte keine Ahnung, wie es in Organisationen zugeht. Aber sie war klar, entschieden und auf meiner Seite. Ich brauchte sie. Sie wollte mich zu einer Ayurvedakur überreden. Die entgiftenden Ölmassagen wären genau das Richtige für mich. »Das muss jetzt erst einmal alles raus aus ihrem Körper. Nach zwei Wochen werden sie so klar denken können, wie schon lange nicht mehr, das verspreche ich Ihnen.« Ich winkte ab. Kein Kuraufenthalt. Kein ultragesundes Essen, von dem man nicht satt wird, keine Servietten, die man in beschriftete Umschläge stecken muss, und vor allem keine erzwungenen Gespräche mit unbekannten Menschen bei Tisch. Ich wollte allein sein. Ich wüsste gerne, mit welchem Begriff Dr. B. meinen Zustand damals in meiner Akte vermerkte. Sie schob mir ein Arztzeugnis zu. 100 Prozent arbeitsunfähig. »Und noch etwas, Frau Candrian, nutzen Sie die Karriereberatung. Wenn Sie wieder in Ihrer Kraft sind, werden Sie durchstarten. Wo auch immer. Ich traue Ihnen viel zu.« Dr. B., meine Chefin, Franziska, K., alle glaubten, dass die Karriereberatung die Rettung sei. Vielleicht ihre Rettung. Weil sie mit mir nicht weiterwussten.

Ich schrieb Gerlinde eine E-Mail. Ich informierte sie über die Krankschreibung und bat sie, mir zu schreiben, an welchem Abend ich niemanden im Institut antreffen würde. Ich würde eine Liste erstellen, was in den zwei Wochen bis zum Semesterende noch zu erledigen war und in meinem Büro alles so bereitlegen und in eine Ordnung bringen, dass sie ohne Mühe finden würde, was sie für meine Vertretung brauchte. Das meiste hatten wir bereits besprochen. Ich bat sie darum, dass nur sie mich kontaktiere, sollte etwas unklar sein. Ich brauche Distanz zum Team, schrieb ich. Und ich informierte sie, dass ich bereits die Kontaktdaten von einem Berater hätte. Ich arbeitete eine ganze Nacht durch und bereitete alles so vor, dass Gerlinde mich nicht würde behelligen müssen.

Ich schreckte auf. Der dicke Reclam-Band war auf den Boden gefallen. Ich war im Sessel eingenickt. Mein Nacken schmerzte, ich fühlte mich benommen und bedrückt. Ich öffnete das Fenster vom Arbeitszimmer zum Garten, um frische Luft reinzulassen. Das Amselmännchen, das ich Prometheus nannte, ließ sich von einem Birkenast fallen und flog aufgeregt zwitschernd davon. Ich hörte Schritte. Schritte einer erwachsenen Person, die geschäftig umherging. Es ging also los. Die obere Wohnung dehnte sich über meine und über die kleinere nebenan aus, sodass ich nur einen Teil der Bewegung mitbekam. Ich ging durch die Zimmer, öffnete leise die Fenster, blieb immer wieder stehen und horchte nach oben. Wie Prometheus, wenn er über den Rasen hüpfte, kurz innehielt, den Kopf zur Seite neigte und weiterhüpfte. Ich kippte das Fenster in der Küche auf und hörte jemand mit Geschirr hantieren. Gleichzeitig schrappten Stuhlbeine über den Boden des Balkons. Also zwei Personen. Vom oberen Balkon blickte man in die Blätter der Birke. »Schauen Sie, Frau Candrian, sie winken uns zu«, hatte die alte Frau Baumann gesagt, als wir im vergangenen Sommer zusammen auf ihrem Balkon saßen. Ihr magerer Körper war in eine Wolldecke gewickelt. Trotzdem fror sie, während ich in der Abendsonne schwitzte. Ich saß gerne neben ihr.

Als die Geräusche in der Küche verstummten, öffnete ich vorsichtig die Balkontür und trat einen Schritt hinaus. Ich zuckte zusammen. Das Geräusch der Stuhlbeine auf dem rauen Betonboden schmerzte in den Ohren. Das geht nicht. Der Vermieter wird etwas dagegen tun müssen. Zwei Stimmen sprachen leise. Ein Mann und eine Frau. Hatte er bereits eine Neue? Bei dem Gedanken schwang kurz eine leichte Enttäuschung mit. Der Automatismus in meinem Kopf, Männern gefallen zu wollen, sprang immer noch an. Wie lange würde das anhalten? Ich war im Januar zweiundvierzig geworden. Ich war gereizt. Mürrisch. Um meinen Mund lag etwas Bitteres. Das war am schlimmsten. Der Körper war in Ordnung.

Ich holte mir ein Glas Rotwein und setzte mich in den Schaukelstuhl. Ich steckte mir eine Zigarette in den Mund, merkte aber rechtzeitig, dass mich der Rauch verraten würde. Das Glas war schnell leer und ich ging in die Küche, um nachzuschenken. In der Wohnung war es ruhig. Ich kehrte auf meinen Horchposten zurück. Nach einer Weile hob die Frau die Stimme an, der Mann sagte etwas, sie wurde wieder leiser. Das wiederholte sich ein paar Mal. Ich stellte mir vor, wie er seine Hand auf ihre legte oder den Zeigefinger an ihre Lippen. Warum auch immer. Ich war ja gar nicht da. Das Kind vielleicht auch nicht. Vielleicht würde es nur an jedem zweiten Wochenende hier sein. Vielleicht nur einmal im Monat. Vielleicht sollte ihm der große Zettel am Briefkasten lediglich das Gefühl geben, dass es auch hier ein Zuhause hatte. Der Gedanke beruhigte mich. Dann bemerkte ich den Lichtschein auf dem Rasen. In meinem Arbeitszimmer brannte Licht. Vom oberen Balkon aus konnte man sehen, dass ich da war.

Slimaki. Schnecken.

Abend für Abend salzen wir die Nacktschnecken, die auf silbernen Schienen unter dem Zaun hindurch in den Garten gleiten. Deme, sagt die Babina in der Küche, bestimmt und tatkräftig, wie sie ist, mit verschmitztem Zwinkern und selbstzufriedenem Lächeln. Wir machen uns mit der Salzdose zu den Schnecken auf, mit trockenem Brot zu den Haflingern auf der Weide oder zum Abendspaziergang an den Rhein, wo sie mich mit Brot, Lyonerwurst, Paprikastreifen und liebkosenden Worten füttert. Ich esse, weil sie es will. Nach fünf Wochen läuft das Visum der Babina ab. Ich salze weiter bis die Schnecken wegbleiben. Wenn mein Vater im Gemeindehaus das Einladungsschreiben für den nächsten Sommer mit der Babina abstempeln lässt, fange ich an zu salzen. Nacht für Nacht lösen sich die braunen Leiber auf. Wie von allein. Zurück bleiben Schleimspuren, die in der Morgensonne glänzen.

3

»Mila, du richtest hier Schaden an«, hatte Gerlinde gesagt. Wir saßen in ihrer Besprechungsecke, zwischen uns ein Salontisch, auf dem wie immer frische Blumen standen. An dem Tag violetter Mohn. Sie sagte, dass eine Unterbrechung nötig sei. Sie toleriere mein Verhalten gegenüber den Mitarbeitenden nicht mehr und werde es nicht länger verantworten. Selbst bei diesen harschen Worten entglitt ihr der Ton nicht. Ich war ihrer lehrbuchmäßigen Kommunikation überdrüssig und ich hasste die Korbsessel, in denen sie die Gespräche führte. Legte ich die Hände in den Schoß, drückten mir die Lehnen die Kraft aus den Armen. Legte ich die Arme auf die Lehnen, kam ich mir vor wie ein Vogel, der für die Versorgung seines verwundeten Flügels fixiert worden war. Ich war seit Monaten ›angezählt‹, wie man sagt. Mein Blick tastete sich am Rand einer der Mohnblüten entlang. Zarte, leicht zerknitterte Blütenblätter. An einem klebte noch das Kelchblatt. Ich betrachtete die feine Behaarung. Am liebsten hätte ich es zwischen meinen Fingern zerrieben. Mein Blick verschwamm. Ich konnte nichts dagegen tun. Ich hörte Gerlinde sagen, sie habe ein großzügiges und faires Angebot für mich ausgehandelt. Sie und die Direktion verlangten, dass ich ihnen sowohl schriftlich als auch in einer Präsentation glaubhaft darlegte, weshalb ich den Job weiterhin machen wolle, mit welchen konkreten Massnahmen ich das Team in Zukunft zu führen gedächte und wie ich meine Kompetenzen stärken würde. Das Papier musste die Stellungnahme eines Karriereberaters einschließen, der bestätigte, dass mein Plan glaubwürdig und realistisch sei. Die Kosten für die Beratung gingen zu meinen Lasten. Dafür dürfe ich mir die Person aussuchen, die mich beraten solle. Die Zeit würden sie mir zur Verfügung stellen, bezahlt, was bedeutete, dass sie mich für das kommende Semester freistellten. Kommunizieren solle ich, dass ich mich kurzfristig für ein Sabbatical entschieden hätte. Das alles lag in Form einer schriftlichen Vereinbarung vor mir, die ich unterschreiben sollte. »Selbstverständlich erst, nachdem du darüber geschlafen hast«, sagte Gerlinde. »Ich bin mir bewusst, dass wir viel von dir fordern. Aber ich bin mir sicher, dass es sich für uns alle lohnen wird.«

Eine Träne lief über meine Wange. Nein, heulen kam nicht infrage. Das war zu viel.

Ich stemmte mich aus dem Sessel, wartete kurz, bis ich genug Halt in den Füßen spürte, richtete den Rücken auf, griff nach der Mappe mit den Dokumenten, die Gerlinde mir entgegenstreckte, und machte mich auf den Weg zur Tür. »Warte, Mila, noch einen Satz«, hielt sie mich zurück, »ich will dich nicht verlieren, du bist wichtig für den Fachbereich.«

Eine Verwarnung und nach einer vorgegebenen Frist die Auflösung des Arbeitsverhältnisses im gegenseitigen Einvernehmen – Gerlinde hätte sich auch dafür entscheiden können. Mittlerweile kann ich mir vorstellen, dass der Direktor ihr genau das aufgetragen hatte, dass sie allein dieses Konstrukt ausgedacht, und sich auch dafür eingesetzt hatte, mir die Möglichkeit zu geben, selbst eine Entscheidung zu treffen. Als Chefin meiner selbst wäre ich nicht so großzügig gewesen.

Ich musste raus. An die Luft. Allein sein. »Du richtest hier Schaden an.« Ich nahm die Treppe zum Notausgang. Über fünf Stockwerke hallte das Klacken meiner Absätze durch das Treppenhaus. Der gleichmäßige Rhythmus drängte die Tränen zurück. Das Wort Schaden pochte weiterhin in meinen Ohren. Auf dem Weg nach unten verlor es seinen letzten Buchstaben, »schade«, »wie schade.« Ich hörte einen zynischen Ton und die Stimme einer Frau. Nicht Gerlinde.

Bevor ich im Erdgeschoss die Tür aufstieß, wischte ich mit den Zeigefingern an den unteren Wimpernrändern entlang. Es regnete und eine Gruppe von Studierenden stand eng zusammengedrängt unter dem kleinen Vordach. Ich war erleichtert, dass ich niemanden kannte. Sie rauchten und tranken in Ruhe ihre Energydrinks, obwohl der Unterricht angefangen hatte. Ich fragte nach einer Zigarette. Einer streckte mir Papierchen und Tabak entgegen. Ich winkte ab. »Sie sehen aber aus, als ob Sie ganz dringend eine bräuchten. Soll ich Ihnen eine drehen?« Ich nickte.

Gierig zog ich an der Zigarette. Ein Mann in gelber Regenbekleidung und Gummistiefeln schob mit ausgestreckten Armen eine lange Schlange von Einkaufswagen über den Parkplatz neben dem Campus. Mit gesenktem Kopf und mit seinem ganzen Körpergewicht in den ausgestreckten Armen stieß er sich Schritt für Schritt vor. Ein Wägelchen mehr, und er hätte die Schlange nicht mehr bewegen können. Wäre er ausgerutscht, wäre er mit dem Gesicht auf den Boden geknallt. Bei ihm wäre das ein Betriebsunfall. Ich war zu einem Betriebsrisiko geworden. Zu einer Zumutung.

Ich holte Handtasche und Autoschlüssel in meinem Büro und fuhr nach Hause. Ich erinnere mich genau an die Fahrt. Es war mitten am Nachmittag, der Verkehr auf der sechsspurigen Autobahn war dicht, es regnete in Strömen und die Sicht war schlecht. Der Regen hämmerte aufs Dach, an den Seiten rauschte und zischte das aufschießende Wasser, wenn ein Schwall durch die Radkästen schoss, zuckte ich zusammen. Es war wie in einer Autowaschanlage. Ich fürchte mich in Waschanlagen. Allein sitzt man in der dünnwandigen Kabine, mächtige Bürsten stürzen sich von allen Seiten auf den Wagen, kapseln ihn ein, schießen mit Unmengen von Wasser aufs Blech, ein Brausen und Tosen, dass der Kopf schmerzt. Am meisten fürchte ich mich vor der riesigen Rolle, die über die Motorhaube angewalzt kommt und über die Windschutzscheibe und das Dach schrubbt. Was, wenn die Scheibe doch nicht standhält. Ich fuhr mit gemäßigtem Tempo, versuchte mich zu konzentrieren und gleichzeitig kämpfte ich gegen die anschwellende Verkrampfung in meiner Kehle an. Ich drehte die Musik lauter. Kosheen. Wie immer, wenn ich mich mit kämpferischer Kraft aufladen will. Bei der Raststätte fuhr ich ab und parkte. Ich schlug den Takt aufs Lenkrad. Sog die eindringlichen Beats auf. Ich schlüpfte aus den Schuhen, schob den Rock hoch und zerrte mir die Nylonstrumpfhose – die schamlos teure, tadellose Haut der Businessfrau – von den Beinen. Sie riss, und ich spürte die Fingernägel über die Haut an den Oberschenkeln schrammen. Nach einer Weile stieg ich aus. Barfuß. Der Boden war kalt und rau. Ich ging durch den Waschraum in eine der Kabinen. Auch hier war der Fußboden nass, dunkelgraue Schlieren von schmutzigen Schuhsohlen auf hellgrauen Steinplatten, es roch nach Urin. Meine Oberschenkel zitterten und ich setzte mich auf die Klobrille. Ich pinkelte und betrachtete meine bleichen Beine und meine Zehen mit den rot lackierten Nägeln auf dem schmierigen Boden.

Mutter hatte es gehasst, wenn ich außerhalb von zu Hause hatte pinkeln müssen. Sie packte mich am Oberarm, zog mich mit einem Ruck an sich heran und schärfte mir ein, so wenig wie möglich anzufassen und mich auf gar keinen Fall auf die Klobrille zu setzen. Draußen zog sie eine kleine, quadratische Verpackung aus ihrer Handtasche, riss sie auf und rieb mir die Hände mit einem harten, aufdringlich parfümierten Tuch ab, bis sie brannten.

Ich hatte ewig nicht an Rosa gedacht. Warum auch.

Weshalb ich ausgerechnet in einer Autobahntoilette an sie dachte? – Weil ich etwas tat, das mich an sie erinnerte? – Oder war es nur ein simpler Reflex. Weil es einen in einem solchen Moment nach einer Mutter verlangt. Selbst wenn es sie als Mutter nicht mehr gibt.

Ich wischte mich ab, spülte und ging zum Wagen zurück. Zu Hause zerriss ich meine Kopie des Beurlaubungsvertrags.

4

Ich drehte mich auf den Rücken und öffnete die Augen. Es war dunkel. Ein lautes Weinen drang durch das offene Fenster. Das Kind. Es ist also doch da. Direkt über mir. Muss das jetzt auch noch sein, seufzte ich. Es gab oben zwei weitere Schlafzimmer. Warum musste es ausgerechnet das Zimmer über meinem Schlafzimmer bekommen. Es dauerte eine Weile, bis das Weinen leiser wurde und ich es nicht mehr hörte. Ich rollte mich auf die Seite und konzentrierte mich auf meine Atemzüge, wie ich es im Wartezimmer von Dr. B. in einer Zeitschrift gelesen hatte. Kaum war ich eingeschlafen, wachte ich erneut auf. Jetzt klang das Weinen verzweifelt. Ich drehte mich zurück auf den Rücken. Meine Kehle war trocken, meine Augen fühlten sich geschwollen an, mein Nacken schmerzte. Herrgott, schaut denn niemand nach, was das Kind plagt. Ich setzte mich auf und trank einen Schluck Wasser aus dem Glas auf dem Nachttisch. Jammernde Wortfetzen mischten sich in das heftige Weinen. Das heisere Stimmchen zu hören, tat mir leid. Bestimmt schmerzte dem Kind schon die Kehle. Ich stellte mir vor, wie es im verdunkelten Zimmer in seinem Bettchen lag. Wer auch immer bei ihm stand und es zu trösten versuchte, war für das Kind, das sich noch im beängstigenden Traum wähnte, nur eine dunkle Silhouette. Der flüsternde Schatten konnte für das Kind genauso gut ein Wesen sein, das sich als die vertraute Person ausgibt. Ich erinnere mich, wie Mutter jeweils in mein Zimmer kam und mir ein Frotteetuch ins Bett legte. Immer das gleiche. Ergrautes Weiß, mit großen Punkten in Grün, Blau, Rot und Gelb. Das Tuch beruhigte mich. Weil ich mich darauf verlassen konnte, dass es am Morgen noch da sein würde.

Oben wurde das Fenster geschlossen. Wer auch immer es zumachte, die Person hatte noch nicht bemerkt, wie hellhörig dieses Haus war. Wie auch, ich verhielt mich ja so, als wäre ich nicht da. Ich würde das Kind trotzdem hören.

Ich vermutete, dass der Vermieter das Zimmer über meinem Schlafzimmer als das ideale Kinderzimmer angepriesen hatte. Wahrscheinlich hatte er sogar erwähnt, dass es einst sein Zimmer gewesen war. Er hatte die Wohnung seiner Eltern den ganzen Winter über so belassen, wie sie war. Nach über fünfzig glücklichen Jahren in diesem Haus wolle er der Seele seiner Mutter Zeit geben zu gehen, hatte er gesagt. Ich hatte gehört, wie er umherging. Manchmal blieb er über Nacht. Er legte sich über meinem Schlafzimmer auf den Fußboden und gab sich seiner Trauer hin. Es ging mir zu nahe. Ich sagte ihm, dass es mich stört, wenn er in der Nacht über meinem Bett heult. Das hatte er mir übelgenommen.

Ich schaute auf die Uhr. Es war drei. Lange hatte ich nicht geschlafen. Obwohl ich beinahe die ganze Flasche Rotwein getrunken hatte, konnte ich wieder nicht einschlafen. Kaum lag ich im Bett, wirbelten die immer gleichen Fragen und Gedankenfetzen durch meinen Kopf. Wie ein aufgescheuchter Schwarm Krähen. Warum kündige ich nicht einfach, fragte ich mich. Ein einfaches Schreiben und das ganze Theater wäre vorbei. Vielleicht würde mich Gerlinde freistellen.

Und dann? Ich hatte noch nie eine Stelle aufgegeben, bevor ich nicht etwas Neues in Aussicht hatte. Immer hatten sich die Wechsel aus meinem Netzwerk heraus ergeben. Ich hatte keine Erfahrung darin, Bewerbung um Bewerbung zu schreiben und zig Absagen über mich ergehen lassen zu müssen. Die möglichen Zurückweisungen machten mir Angst.

Woran liegt es, dass schon lange niemand ein Jobangebot an mich herangetragen hat, grübelte ich. Hatte K. damals recht gehabt, als er meinte, ich sollte den Job an der Fachhochschule nicht annehmen, das sei eine Sackgasse? Dass ich meine Möglichkeiten damit einengen würde, dass es schwierig werden würde, wieder in die Privatwirtschaft zurückzukehren.

Wie es weiterging, hatte immer gepasst. Hatte ich mich getäuscht? Hatte ich nur aus Bequemlichkeit auf die Jobangebote reagiert, die mir schmeichelten? Angebote von Männern in verantwortungsvollen Positionen, die mein Potenzial erkannten. Was hatten sie in mir gesehen?

Weshalb sah Gerlinde nicht, was sie an mir hatte? Warum sah sie nicht, dass das Team sich gegen jegliche Veränderungen stellte, von denen ich überzeugt war, dass sie unseren Fachbereich weiterbringen würden?

Was hatte sich über mich herumgesprochen? Ein Headhunter rief auch nie an.

Mein Lebenslauf machte immer noch Sinn. Der berufliche Teil auf alle Fälle. Ich hatte nichts falsch gemacht. Karrieretechnisch war nichts passiert. Noch nicht.

Und jetzt? Was war jetzt sinnvoll? Für mich sinnvoll?

Fragen, die ich in der Karriereberatung würde beantworten müssen.

Die Antworten stellten sich tot.

Ich mag nicht. Ich will das nicht, hallte es in meinem Kopf. Ich will nicht nach meinen Träumen gefragt werden, nach meiner Vision und welche Mission ich verfolge. Ich habe keine. Ich will auch keinen Berater, der so lange bohrt, bis man kleinmütig zugibt, dass man dringend seine Hilfe braucht. Es fühlte sich genauso trotzig an, wie es wirkt, wenn ich jetzt darüber schreibe. Einem Berater sagen: Ich habe keine Ahnung was ich will, deshalb bin ich hier, das hätte ich nicht gekonnt. So etwas gibt man nicht so einfach zu. Von einer Führungskraft will das niemand hören. Ich wollte es selbst nicht hören. Ich wollte ungestört meinen Job weitermachen. Aber dafür musste ich anders werden. Kreide sollte ich fressen. Die Auflage war die Aufforderung dazu.

Du musst einen Plan entwickeln. Alternativen. Was ist dein USP, die Unique Selling Proposition, forderte ich mich auf.

Ich fühlte mich auf mich allein gestellt. Auf mich zurückgeworfen, ich gebe es zu. Ich schimpfte mit mir, verlangte, mit dem Selbstmitleid aufzuhören. Aber ich fühlte mich auch gezwungen, all diese Fragen zu beantworten, um den Job zu behalten oder um etwas anderes zu finden.

Du weißt, was du kannst, redete ich mir zu und gleichzeitig wünschte ich mir, es würde mich finden. So wie es mich bisher gefunden hatte. Und was soll ich sagen, wenn ich nach meinen Plänen für den plötzlichen ›Bildungsurlaub‹ gefragt werde? Tangokurs in Argentinien, Gorillas zählen in Uganda, Sozialeinsatz in einem Waisenheim in Indien, Leadership-Programm in Harvard oder am MIT, Jakobsweg? Hauptsache, am Ende kommt eine geläuterte Vorgesetzte heraus. Sozial verträglich, umgänglich, friedfertig, tolerant, mit einem unerschütterlichen Lächeln auf dem Gesicht. Was für einen Aufenthalt in einem buddhistischen Kloster sprechen würde. Und gegen die Zornfalten zwischen den Augenbrauen ein paar Spritzer Botox. Allenfalls war das meine Vision gewesen: unerschütterlich sein. Sie war mir entglitten.

Nach mehreren solcher Nächte und einer SMS von K., Sander habe sich bei ihm erkundigt, ob er den Platz für mich weiter freihalten solle, hatte ich Sander eine E-Mail geschrieben. Ich bat um einen Termin für ein unverbindliches Kennenlerngespräch. Mehr schrieb ich nicht. Sander antwortete umgehend, er freue sich, mich bald kennenzulernen. Seine Sekretärin schickte mir einen Termin und bat mich, vorab einen aktuellen Lebenslauf zu schicken. Ich hatte eine mehr oder weniger aktuelle Version auf dem Computer, die ich kommentarlos hätte senden können. Ich hätte das Dokument nicht einmal öffnen müssen. Dreißig Sekunden und es wäre erledigt gewesen.

Ich hingegen stellte mir sofort vor, wie ich in der Tabelle die Beschreibung meiner noch aktuellen Funktion markierte, den Befehl einfügen Zeile oberhalb anklickte und eine leere Zeile erschien.

Was für eine gemeine Verkaufstaktik, dachte ich: Menschen, die ihre Karriere bedroht sehen, an ihre Bruchstelle prallen zu lassen, indem man sie nötigt, ihren Lebenslauf zu öffnen. Ein Doppelklick und dir wird klar, du wirst dich erklären müssen. Eine Abwärtsspirale mit unbekanntem Ende wird losgetreten. Entlang von Formulierungen, die – wie in einer Geheimschrift –, bereits in den leeren Zellen lauern: »erfüllt unsere hohen Anforderungen nicht mehr«, »Assessment Center zur Weiterentwicklung nicht bestanden«, »neue Aufgaben infolge Umstrukturierung, für die andere Kompetenzen gefragt sind«, »unterschiedliche Vorstellungen über die zukünftige Strategie«, »Kündigung aus wirtschaftlichen Gründen«, usw. Es droht das Ende der Karriere, ein Outplacement oder eine Karriereberatung muss her, koste es was es wolle. Und die Preise waren heftig. Tausende von Franken, um eine Leerstelle zu füllen. Auch das ließ mich nicht in Ruhe. War es das wert, so viel Geld für etwas auszugeben, von dem ich nicht einschätzen konnte, ob es einen Nutzen haben würde, fragte ich mich.

Was ich tun konnte oder tun wollte, um mich in meine Anstellung zurückzubringen, darüber dachte ich in diesen Nächten nicht nach. Auch nicht an den Tagen. Ich war zu sehr mit Abwehr beschäftigt.

Aber was ich abwehrte, das war bereits eingetreten.

Ich stand auf, um den kreisenden Gedanken zu entkommen. Vielleicht sollte ich Dr. B. doch bitten, mir für die Nacht ein Medikament zu verschreiben. Ich ging in der Wohnung umher. Horchte auf Geräusche von oben. In keinem der Zimmer war etwas zu hören. Das Kind schien sich beruhigt zu haben.

Ich war nach der Trennung von Luca in die Wohnung gezogen. Viel hatte ich in den drei Jahren nicht verändert. Eigentlich gar nichts. Ich hatte die Wohnung von einem Architekten übernommen, mit dem Franziska befreundet war. Er verkaufte mir einen großen Teil der Einrichtung. Die von ihm eingebaute Bücherwand mit der integrierten Schlafkoje für seine Tochter, wenn sie bei ihm war, den alten Holztisch mit den vier schlichten Holzstühlen, der mitten im Wohn-/Esszimmer stand, die große Tischplatte aus hellem Ahorn, die im Arbeitszimmer unter dem breiten Fenster angeschraubt war, den runden Klapptisch aus Metall in der Küche mit den beiden Klappstühlen, die Leinenvorhänge einer schwedischen Architektenikone mit den bunten Früchtemotiven. Auch den Bettrahmen überließ er mir. Ich ersteigerte einen roten Sessel mit Fußteil für das Arbeitszimmer und einen Schaukelstuhl inklusive Langhaarziegenfell für den Balkon. Neu kaufte ich nur die Matratze und einen großen Kleiderschrank. Er könnte bleiben, dachte ich, als mich der Architekt durch die Wohnung führte. Der leicht melancholische Ausdruck und das warme Lächeln gefielen mir ebenso wie die Muskeln an den Oberarmen, die sich unter den Ärmeln des grauen Kurzarmshirts wölbten. Er erzählte, dass er mit seiner Partnerin zusammenziehen würde. Und seine Tochter brauche endlich ein eigenes Zimmer, wenn sie bei ihm sei.

Ich hatte ein gebrauchtes Zuhause übernommen. Franziska war entsetzt gewesen. Du musst dir doch viel mehr Eigenes erschaffen, hatte sie gesagt, die Räume zu deinen machen. Ich hatte kein einziges gemeinsam angeschafftes Möbelstück aus der Wohnung mitgenommen, die ich mit Luca gekauft und eingerichtet hatte.

So bin ich. Schnitt und neu anfangen. Den Namen hatte ich behalten. Candrian. Es war nicht so gewesen, dass ich wie Luca hatte heißen wollen oder dass mir der Name besonders gefallen hätte. Ich wollte einfach meinen Mädchennamen loswerden.

An der FH war ich die Candrian. Das wirkte.

5

Am nächsten Tag ging ich zu Antonia, um einzukaufen. Im Sommer richtete sie unter der dunkelroten Sonnenstore einen kleinen Markt ein. Jeden Morgen trug sie frisch gefüllte Sperrholzkisten und Körbe aus dem Keller auf den Vorplatz ihres Ladens, stellte sie auf Tische und Gestelle und schrieb mit einem weißen Stift Preis und Herkunft auf kleine Schiefertafeln, die sie zwischen Früchte und Salatköpfe steckte. Im Laden duftete es nach Parmaschinken, Mortadella, Käse und Waschmittel und manchmal auch nach dem Schweiß ihres Bruders, der ihr oft half, die schweren Kisten in den Laden zu tragen. Mittendrin Antonia. Auf dem fein gekräuselten Haar trug sie verkehrt herum die weinrote Schirmmütze mit eigenem Logo, über der weißen Bluse eine grüne Schürze. So viel Italianità wie möglich, war ihr Motto. Ich beneidete sie um den Stolz auf ihr Geschäft, das sie morgens um acht Uhr öffnete und abends um sieben Uhr schloss, und um die Zuwendung, mit der sie jede einzelne Frucht in eine der hellbraunen Papiertüten gleiten ließ. Man brauchte Zeit, um bei ihr einzukaufen. Aber ich ging immer entspannter nach Hause, als ich gekommen war. Schon wenn ich die Straße hinunter auf das Geschäft zuging, atmete ich auf. Ich konnte mich auf die wohltuende Wirkung von Antonias Laden verlassen, sogar jetzt. Vielleicht sollte ich Antonia anbieten, ihr ein paar Stunden am Tag zu helfen, dachte ich.

Unter der Markise stand ein Kind. Wie es dastand, mit leicht gesenktem Kopf, die blonden schulterlangen Haarsträhnen über dem Gesicht, berührte mich. Ich ging zum Korb mit den Kopfsalaten, die Antonia auf einem Bistrotischchen beim Eingang mit »heute Morgen frisch aus dem Garten« anpries. Das Kind stand vor dem Kistchen mit den Kirschen. In der Hand hielt es ein hellgrünes Kunststoffkörbchen. Konzentriert schaute es auf die dunkel glänzenden Früchte, strich sich mit dem Zeigefinger eine Haarsträhne aus dem Gesicht, suchte sich einen der Stiele aus, hielt ihn mit seinen Fingerchen fest, zog das Kirschenpaar langsam aus dem Haufen, betrachtete es und legte es behutsam in das Körbchen. Bedächtig griff es sich ein Kirschenpaar nach dem anderen. Eine große Ruhe ging von ihm aus. Aber auch Ernst. Und Müdigkeit. Die Haut unter seinen Augen war hellgrau schattiert, als hätte jemand mit den Fingerspitzen Lidschatten hingetupft. Auf den Pfirsichen lag ein weißes Plüschtier. Ich strich mit der Hand über die festen, feuchten Salatköpfe.

Ich hätte dem Kind noch lange zuschauen mögen. Aber eine Frau, etwas älter als ich, erschien in der Ladentür und rief dem Kleinen zu, er solle ihr die Kirschen bringen, sie müsse zahlen. Sie sagte es auf Tschechisch. Der Kleine blickte kurz auf, griff in der gleichen Langsamkeit wie zuvor nach einem letzten Kirschenpaar und verschwand mit dem Körbchen vor der Brust im Ladeninneren. Ich übernahm seinen Platz und tauchte meine Hand vorsichtig in die Kirschen. Sie waren kühl. Ich steckte mir eine in den Mund. Es knackte, als ich vorsichtig zubiss. Genau so müssen sie sein. Fest, saftig und süß.

Ich suchte nach dem Wort für Kirschen. Äpfel fiel mir ein. Nach und nach auch Erdbeeren, Aprikosen, Zwetschgen. Es kam mir vor, als müsste ich die Wörter aus meinem Gedächtnis klauben wie die Kerne aus Antonias Granatäpfeln.

Der Kleine kam an der Hand der Frau aus dem Laden. Sie blieb stehen und prüfte mit gerunzelter Stirn den Kassenzettel. Er saugte an einem Lutscher und schaute mich an. Als ich ihm zulächelte, senkte er sofort den Blick und als sie an mir vorbeigingen, drückte er sich an die Beine der Frau. Antonia kam heraus, winkte ihnen hinterher und rief »Arrivederci, grazie mille, bis zum nächsten Mal.« Sie begrüsste mich und fragte: »Hast du die beiden sprechen gehört? Weißt du, welche Sprache das ist?«

»Irgendetwas Osteuropäisches«, murmelte ich.

Am Nachmittag zwang ich mich, das Kennenlerngespräch mit Sander vorzubereiten. Drinnen. Obwohl es ein schöner, nicht allzu heißer Tag war. Mit der Bise hätte ich auf dem Balkon arbeiten können. Umgeben von Blumen und Kräutern, die gut gediehen. Die meisten waren schon ein ganzes Stück gewachsen. Ich freute mich. Bis jetzt schien ich alles richtig zu machen.

Am Morgen hatte ich Schritte gehört, danach nicht mehr. Trotzdem, ich blieb in Sicherheit. Ich wollte niemanden sehen, niemanden willkommen heißen und auf keinen Fall sagen: »Also, wenn Sie etwas brauchen …«

Ich warf das Notizbuch auf den Tisch, das Franziska mir als Geschenk mitgegeben hatte. Ein dicker Stapel leerer Seiten, zusammengehalten von einem Stoffeinband in Barragàn Pink. Ich liebe diese Farbe. Auf der ersten Seite die Widmung, »Mila mia. Für dich. Mach was draus. Egal was. Deine Franziska«. Sie hatte es nicht lassen können, mich mit gut gemeinten Worten auf den Weg zu schicken. »Ratschläge sind auch Schläge«, hatte ich einmal in einer Fachzeitschrift gelesen. Wie recht die Autorin hatte.

Mein Nacken verspannte sich, eine Schwere kroch meine Wirbelsäule hinauf und breitete sich in meinem Kopf aus. Die Gedanken meiner schlaflosen Nächte brachten sich in Stellung. Ich versuchte mich zu fokussieren. Sander würde mich als Erstes nach den Zielen der Beratung fragen. Ziele. Kaum dachte ich das Wort, schien in meinem Gehirn etwas zu platzen. Wie eine Glühbirne, die beim Licht anmachen mit einem leisen Ping das Ende ihrer Funktionszeit kundtut. Es kam mir vor, als wüsste ich nicht mehr, was überhaupt ein Ziel ist. Geschweige denn, wie ich zu Zielen kommen sollte. Die SMART-Regel. Wie oft hatte ich sie unseren Studierenden vermittelt. Ziele müssen Spezifisch, Messbar, Attraktiv, Realistisch und Terminierbar sein. Blablabla. Meine Hirnregion für Ziele gab nichts her. Alle Synapsen geschmolzen. Out of order. Irreversible damaged. Keine Ahnung, weshalb ich mich plötzlich auf Englisch aufregte. Meine Ziele würden bestenfalls SMRT ausfallen.

Smrt. Ich blieb an dem Wort hängen. Ich zögerte. Dann klappte ich mein Notebook auf und tippte auf der Suchseite »smrt in deutsch« ein.

»Meintest du smart in deutsch?«

Nein, ich meinte nicht smart in deutsch, ärgerte ich mich und tippte das Gleiche nochmal ein. Zwei Spalten ploppten auf. Die linke war mit Tschechisch überschrieben, darunter stand das Wort smrt, gleich daneben, in der rechten, stand Tod. Ich knallte den Deckel des Notebooks zu. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Vielleicht etwas wie traurig, betrübt, einsam. Etwas, das die Babina einst zu mir gesagt hatte, wenn ich auf ihrem Schoß saß und mich müde an ihren fülligen Körper lehnte. Meine Großmutter konnte sehen, wie ich mich fühlte. Sie sagte es mir und es klang, als würde sie mir ein Pixi-Büchlein vorlesen, in dem ich vorkam.

Smrt. Es ist dem deutschen Wort den gnadenlosen Schritt voraus. Aus. Fertig. Schluss. Es ist vorbei. In Tod atmet noch die Angst vor dem Ende.

Ich starrte auf den matt hellgrauen Deckel meines Notebooks. Atmete flach. Versuchte, tiefer zu atmen. Davon wurde mir schwindlig. Aufstehen, das Fenster öffnen, frische Luft einatmen, ins Grüne schauen. Ich blieb reglos sitzen. Die Sprache meiner Kindheit war für mich gestorben. Sie existierte nur noch in Form von überflüssigen Verknüpfungen in meinem Gehirn.