Das Licht der Frauen - Zanna Sloniowska - E-Book

Das Licht der Frauen E-Book

Żanna Słoniowska

5,0

Beschreibung

Im Herzen von Lemberg – ein Haus mit einer ganz besonderen Glasmalerei. Hier leben vier Frauen, die einander ebenso lieben, wie sie sich hassen. Sie eint ihr Freiheitsdrang, ihre Aufsässigkeit – und ihre unglücklichen Lieben. Bis zu dem Tag, der alles verändert: Marianna wird auf offener Straße erschossen. Vom Fenster aus beobachtet ihre Tochter, wie sich der Trauerzug zu einer Demonstration auswächst. Marianna war nicht nur eine gefeierte Sängerin an der Lemberger Oper, sondern auch Aktivistin im Kampf für eine unabhängige Ukraine. Unter demselben Fenster steht Jahre später ein Mann, der Mariannas Tochter ihre Heimatstadt näherbringt – und die viel zu früh verstorbene Mutter. Vor dem Hintergrund der bewegten Geschichte der Stadt Lemberg, die jahrhundertelang unter dem Einfluss unterschiedlicher politischer Mächte stand, erzählt Żanna Słoniowska von vier starken Frauen aus vier Generationen, von Müttern und Töchtern, von privaten und gesellschaftlichen Revolten, dem unbedingten Glauben an Freiheit, Emanzipation und an die Liebe.

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Żanna Słoniowska

Das Licht der Frauen

Roman

Mit einem Vorwort der Autorin

Aus dem Polnischen von Olaf Kühl

Kampa

Vorwort

Immerhin kannte ich noch das Lemberg vor dem Krieg.« Mit diesen Worten schließt die Mail eines deutschen Bekannten – vor einiger Zeit hat er eine sehr schöne Lesung für mich organisiert. Ich verstand erst nicht: Was für ein Vorkriegs-Lemberg, wenn er doch in meinem Alter ist? Dann wurde es mir klar. Wörter und Ausdrücke nehmen in diesen Tagen allmählich eine andere Bedeu- tung an.

Der Krieg hat Lemberg erreicht: Heute Nacht gab es mehrmals Luftalarm in der Stadt, und in der Nähe wurde ein Truppenübungsplatz bombardiert, 35 Menschen starben. Ich war einmal mit einem Fernsehteam dort, um die überaus malerische Ruine einer alten orthodoxen Kirche zu filmen – zu Sowjetzeiten diente sie Soldaten bei ihren Schießübungen als Zielscheibe. In der freien Ukraine wurde nicht mehr auf Gotteshäuser geschossen, das durchlöcherte Gehäuse gemahnte an alte Zeiten und Gepflogenheiten.

Und wieder dringt die Geschichte in Das Licht der Frauen ein – als hätte ich den Punkt am Ende des Romans nicht gesetzt.

Seit der Veröffentlichung 2015 habe ich viele Lesungen gegeben – und regelmäßig wurde mir gesagt, dass Lemberg die eigentliche Heldin des Buches sei.

In diesen Tagen wird mein Lemberg zu einer Stadt im Krieg: An ihren Rändern wurden Kontrollpunkte errichtet, es gelten Alkoholverbot und Sperrstunde, Mobilisierung liegt in der Luft: Der Feind kann jeden Augenblick zuschlagen.

Täglich läuten die Glocken der Gotteshäuser unterschiedlicher Konfessionen, und ihre Glasmalereien sind mit Blech abgedeckt – selbst tagsüber dringt kein Licht hinein. Die vier Skulpturen antiker Gottheiten an den Ecken des Marktplatzes ähneln jetzt ägyptischen Mumien, sie wurden in feuerfesten Stoff, in Folie und anderes gewickelt. Man könnte auch an einen Zirkus oder einen Zoo denken, denn jede Figur steht in einem großen Metallkäfig. Christus, der Schmerzensmann auf der Kuppel der Boim-Kapelle, ist schon vor dem Krieg verschwunden, wegen Restaurationsarbeiten. Der kostbare gotische Gekreuzigte aus der Armenischen Kathedrale wurde mit den Füßen voran weggetragen, um ihn an einem unbekannten Ort zu verstecken.

Was die Menschen betrifft, so wechseln nach dem barbarischen Überfall Russlands auf die Ukraine immer mehr von ihrer russischen Muttersprache zum Ukrainischen – wie Marianna, die Heldin des Romans, Ende der 1980er-Jahre. Und aus dem hohlen Toast ihres Onkels Aleksy »auf den friedlichen Himmel zu unseren Häuptern« ist längst ein verzweifelter Hilferuf an die Staaten des Westens geworden, den Himmel über diesem Land, das sich so tapfer verteidigt, zu »schließen«.

Ich stelle mir vor, wie Mikolaj dieser Tage durch das sonnige, vom Krieg heimgesuchte Lemberg spaziert. Er kommt an der Lateinischen Kathedrale vorüber, wo die unbeugsame Beamtin des Stadtrats gerade die Verhüllung der Apostelfiguren beaufsichtigt. Vor den Skulpturen liegen Sandsäcke auf dem Boden, die sie vor den Druckwellen einer Detonation schützen sollen.

»Kann ich helfen?«, fragt Mikolaj.

»Sie sind zu adrett gekleidet«, antwortet sie.

Derweil tragen die Arbeiter eine weitere, diesmal weiße Schutzschicht auf die bereits bandagierten Skulpturen auf.

»Wozu soll das gut sein?«, fragt Mikolaj.

»Die Polen schreiben: Ästhetik ...«, erwidert die Beamtin, während sie etwas auf ihrem Handy sucht. Es geht darum, dass die Skulpturen rund um die Kathedrale erst kürzlich von polnischen Fachleuten restauriert worden sind.

Die Jugendstil-Glasmalerei aus meinem Roman ist ebenfalls gegen Detonationen geschützt worden – ich würde gern glauben, dass die Literatur dazu beigetragen hat. Zumal das Fenster, anders als im Buch, nicht in Stücke zerfallen ist, sondern von Konservatoren wieder zusammengesetzt wurde.

»Geht man in Lemberg noch Kaffee trinken?«, frage ich Mikolaj.

»Ja, ich tue das jeden Tag, anders würde ich es nicht aushalten. Man muss nur vor 17 Uhr da sein, dann machen sie zu.«

Die Pandemie und dann der Krieg haben die Zeit wieder weicher gemacht, an manchen Stellen ist sie geborsten und auseinandergebrochen – zur Beschreibung dieses Phänomens könnte die Uhr im Rijksmuseum in Amsterdam dienen, deren Zeiger ein Mann immer wieder neu malt und auswischt.

Die Skulpturen von Lemberg sind bandagiert, so als wären sie schon zu Wunden geworden.

Gestern wurden in einem Massengrab zahlreiche Einwohner eines hübschen Städtchens bei Kyiv bestattet, in dem einige Lemberger Freundinnen von mir sich Häuser gebaut hatten.

Was, wenn auch Lemberg zerstört wird? Bei diesem Gedanken verliere ich den Boden unter den Füßen. Plötzlich verstehe ich die Bewohner Warschaus im Krieg sehr viel besser.

Eine Erzählung von Seamus Heaney tröstet mich. Als er geboren wurde, pflanzte seine Tante einen Baum neben ihrem Haus, der mit ihm wuchs. Er hing sehr an diesem Baum, bis eines Tages das Haus verkauft wurde und die neuen Bewohner ihn fällten. Statt traurig zu werden, dachte er an den lichtdurchfluteten Raum, in den – wie er glaubte – der tote Baum jetzt gewandert war. Er identifizierte sich so mit ihm wie zuvor mit dem lebenden Baum. Dieser Raum sei eher ein ortloser Himmel (placeless heaven) als ein himmlischer Ort (heavenly place).

Nicht nur Wörter, auch Symbole nehmen in diesen Tagen eine andere Bedeutung an. Kurz vor der Invasion wurde die blau-gelbe Flagge am Gebäude der Kurie gehisst, demselben, aus dem der polnische Erzbischof Bilczewski 1918 während des polnisch-ukrainischen Kampfes um Lemberg Briefe an den ukrainischen Erzbischof Scheptycki schickte. Das wäre wohl nicht geschehen, wenn die Geschichte friedlicher verlaufen wäre.

Diese Flagge, als leicht peinlich und provinziell empfunden von der jungen Heldin in Das Licht der Frauen, wird heute von vielen Menschen auf der Welt mit ganz neuen Augen gesehen. Ihre Farben, früher mit Unterdrückung und Randständigkeit assoziiert, sind zu Farben der Freiheit geworden – und zu Farben der Werte, auf denen das vereinte Europa gründet. Den Farben eines David, der einem riesenhaften Goliath die Stirn bietet, diesmal nicht mit Gesang und Gedichten, sondern mit Waffen.

Wieder dringt die Geschichte in meinen Roman ein – als wäre das, was dort beschrieben ist, nur die Knospe, deren volle Blüte wir erst in Zukunft schauen werden.

Krakau, 13. März 2022

– Sie mutmaßen, erwiderte Stephen mit einer Art halbem Lachen, dass ich möglicherweise darum wichtig bin, weil ich zum faubourg Saint Patrice gehöre, kurz Irland genannt.

– Ich würde noch einen Schritt weiter gehen, deutete Mr. Bloom an.

– Aber ich mutmaße, unterbrach Stephen, daß Irland darum wichtig sein muß, weil es zu mir gehört.

Das Wort »Mama« ist für mich kein Bild, sondern ein Laut. Es beginnt im Bauch, zieht durch Lunge und Kehlkopf in die Luftröhre und bleibt im Rachen stecken. Du bist musikalisch völlig unbegabt, pflegte sie zu sagen, deshalb singe ich nie. Gleichwohl ist die Stimme, die in meinen Eingeweiden entsteht, ihre Stimme, ein Mezzosopran. Solange ich in ihrem Bauch saß, habe ich gedacht, diese Stimme gehöre zu mir, aber als ich geboren war, zeigte sich, es ist ausschließlich ihre. Diese unsere musikalische Verschiedenheit währte elf Jahre lang, bis zu ihrem Tod. Lange Zeit danach war nichts, kein Laut, keine Farbe, nur ein Loch neben dem Schulterblatt. Und als ich erwachsen war, stellte ich fest, dass jetzt sie es ist, die in meinem Bauch sitzt. Jetzt ist sie es, die nichts sehen kann. Wieder ist sie nur eine Stimme, ein schöner Mezzosopran. Und ich stelle mich vergeblich vor den Spiegel, öffne den Mund und versuche, sie aus mir herauszubekommen.

Der Tod

Am Tag ihres Todes erklang ihre Stimme und übertönte viele andere lärmige Laute. Der Tod aber, ihr Tod, war kein Laut, sondern eine Farbe. Sie trugen ihren Körper in einer großen blau-gelben Flagge nach Hause – der Flagge eines Staates, den es noch auf keiner Karte der Welt gab. Sie war straff darin eingewickelt wie eine ägyptische Mumie, an einer Stelle war ein dunkler blutiger Fleck nach außen gedrungen. Als ich da stand und auf diesen Fleck starrte, dachte ich, hier müsse ein Irrtum vorliegen. In der Schule wurde uns erklärt, alle Flaggen wären rot, weil sie in Heldenblut getränkt wären. Sie erzählten uns die Geschichte von dem Arbeiter, der erschossen wurde, als er auf die Straße ging, um mit einer weißen Flagge für seine Rechte zu kämpfen. Als die Schüsse der Gendarmen fielen, färbte sein Blut die Flagge rot. Aber seitdem ist alles anders geworden, inzwischen wusste ich, dass die rote Farbe öfter für Terror als für Befreiung stand. Und dennoch, als ich neben Mamas Leichnam stand, musste ich daran denken, dass Rot besser gepasst hätte. Die rote Flagge war erhaben und tragisch, die blau-gelbe lässig und kitschig. Sie hatte etwas von einem heißen Sommertag, von Ferien auf dem Land. Das Blau sei der Himmel, das Gelb die Getreideähren, sagte Mama. In manchen Augenblicken des Lebens kommt man auf seltsame, manchmal sehr unpassende Gedanken. Hätte Mama erfahren, was ich damals dachte, sie wäre empört gewesen. Kurz darauf, als die Männer, die sie ins Haus trugen, die Flagge abwickelten, um uns die offene Wunde am Schulterblatt zu zeigen, hörte ich auf, mich auf die Farben zu konzentrieren, und begann, an ihre Haut zu denken.

Mama zog sich oft vor dem großen Spiegel aus, ohne sich vor mir zu genieren, und stand nackt da, betrachtete sich und sang bisweilen währenddessen. Ich setzte mich neben sie und streichelte mit meinem Blick ihre weiße, sommersprossige Haut, ihre kleinen, festen Brüste, ihre langen Beine mit den feinen roten Härchen. Sie war meine persönliche Schneekönigin und zugleich all die nackten Venus und bekleideten Madonnen aus den Kunstbänden im Bücherregal. Ihr Leib sprach davon, dass er Geist war, und er wäre vollkommen gewesen, wenn es nicht einen bestimmten Makel gegeben hätte. Auf ihrem Rücken, neben ihrem linken Schulterblatt, verbarg sich eine satinweiße Vertiefung von der Größe eines Ahornblatts – die einzige Stelle ihrer Haut, die nicht von Sommersprossen übersäht war, und sie sah aus wie ein nachlässig angenähter Flicken. Ich verstand, dass das ein Makel war, aber ich liebte ihn von allem am meisten. Oft fragte ich Mama, woher er komme. Die Spur eines feindlichen Geschosses, erwiderte sie dann lächelnd. Als ich klein war, nahm ich diese Antwort sehr ernst und stellte mir vor, wie die Feinde unseres Systems sie eines dunklen Abends verfolgen, Hunde auf sie hetzen, wie sie sich in einer Telefonzelle versteckt, wie die Kugel das Glas in tausend scharfe, glitzernde Splitter zertrümmert, unter deren Hagel ihr Körper wehrlos zu Boden sinken muss. Die Wahrheit aber war eine andere: Als Mama ein Mädchen war, wuchs ihr auf dem Rücken eine Kette von Leberflecken – etwa so wie das Mal, das Gorbatschow auf der Stirn trug –, und die Ärzte beschlossen, sie herauszuschneiden. Auf diese Weise entstand die seidig-helle Delle.

Als nun ihr Leichnam, in eine ukrainische Flagge gewickelt, zu uns nach Hause getragen und vor unseren Augen enthüllt wurde, galt mein zweiter Gedanke genau dieser Stelle ihrer Haut. Ein echtes Geschoss war in ihr rechtes, sommersprossiges Schulterblatt eingedrungen, und ich verstand nicht, dass es auf diese Weise für eine Art Symmetrie gesorgt hatte: die seidige Delle links, das klaffende Loch rechts. Dieser Gedanke war – so wie der mit der Flagge – der Situation ganz sicher nicht angemessen. Ich stand also reglos und angespannt im Zimmer, wo trotz des grellen Sonnenlichts alle Lampen eingeschaltet waren, und versuchte alle unangemessenen Gedanken zu verdrängen. Das führte dazu, dass ein absolut leerer weißer Bereich in meinem Kopf entstand – ähnlich jener sommersprossenlosen Vertiefung in ihrer Haut, ich wusste nur nicht, ob in meiner rechten oder linken Gehirnhälfte. Es war Juli 1988, meine Mutter war im ungleichen Kampf gegen den sowjetischen Totalitarismus gefallen.

 

Am Tag ihrer Beerdigung fühlte es sich so an, als ob die Klänge des Militärorchesters die verschnörkelten Fassaden der Häuser in unserer Straße wegblasen würden. Die ersten Noten öffneten viele Fenster, in denen Gesichter von Menschen erschienen, die ein Erdbeben oder Schlimmeres erwarteten.

»Feiertag, das sind für mich die Klänge eines Blasorchesters«, pflegte Mama zu sagen, wenn wir uns am ersten Mai oder am siebten November durch das Spalier der Milizionäre im Zentrum zu unserem Platz auf der Tribüne kämpften. Die Paraden waren damals die einzigen Massenveranstaltungen, die mir keine panische Angst einjagten. Da gab es Ballons, Fähnchen, vor allem aber eine unangreifbare, von vornherein festgelegte Ordnung. Bei der Menschenmenge von heute war das anders. Wenn eine Sintflut käme, wie in der Bibel, sähe es ähnlich aus. Auch da gäbe es keine Fluchtmöglichkeit. Ich stand am geschlossenen Fenster im ersten Stock, und die Flut an Menschen stieg immer höher. Obendrauf trieb der offene Sarg mit Mama.

Gegenüber unserem Wohnhaus befand sich eine Milizdienststelle, und einige Uniformierte drängten sich auf dem runden Balkon genau auf der Höhe meines Fensters. Was wäre, wenn einer von ihnen jetzt seine Waffe zöge und auf mich schösse, fragte ich mich. Müßige Phantasien! Ohne zu zögern wäre ich statt Mama gestorben, aber ich wusste nur zu gut, dass sie am Tag der Abrechnung Dutzende wie mich gegen eine wie sie gegeben hätten. Sie war groß. Sie wollte sterben. Und es war ihr gelungen.

Der Strom unbekannter Köpfe zog vorbei, seufzte, raunte. Jede seiner Bewegungen war an die in mir aufsteigende Angst gekoppelt. Er hatte die Macht, mich zu verschlingen. In der Menge waren schwanger aussehende Frauen mittleren Alters, eingehüllt in wadenlange Mäntel und graue Kopftücher. Ich wusste, was sie unter ihrer Kleidung verbargen. Dort waren auch schwarz gekleidete Männer mit angelähnlichen Stöcken unter den Armen. Ich konnte mir denken, was das bedeutete. Und zugleich hatte ich keine Ahnung, wer diese Leute waren und was sie mit Mama zu tun haben konnten. Mit ihrem Mezzosopran und der Plattensammlung aller Opern der Welt, mit ihrer hellen Haut und der Angewohnheit, beim Essen zu lesen, mit ihren sehr langen, mandelförmigen Fingernägeln. Sie hatte diese Leute nie nach Hause eingeladen, und sie waren nie auf ihren Konzerten gewesen. Sie hatten sich nie auf der Straße gegrüßt und auch nie gemeinsam Kaffee in der »Armenierin« getrunken. Sie hatten nicht mit ihr zusammengearbeitet und hatten ihr keines der Manuskripte gebracht, die in einer Nacht durchzulesen waren. Und jetzt waren sie hier und klagten, als wären sie ein Ast gewesen, der von ihrem Baum abgeschnitten worden ist! Gestern hatte eine unbekannte Frau an unserer Tür geklingelt und gefragt, wann das letzte Geleit für »unsere Marianna« beginne.

Waren sie schuld an ihrem Tod?

Ich weigerte mich strikt, an der Beerdigung teilzunehmen. Ich stand so lange am Fenster, bis der letzte junge Mann mit Angel hinter der Ecke des Gebäudes, das einem Transatlantik-Schiff ähnelte, verschwunden war, die Trompetenklänge sich in Luft aufgelöst hatten und auf den Pflastersteinen nur einige zerdrückte Zigarettenschachteln der Marke Orbita zurückgeblieben waren. Dann wandte ich mich ab und ging Klavier spielen. Niemand außer mir hätte diese Katzenmusik so bezeichnet, abgesehen vielleicht von meiner Urgroßmutter. Wir verbrachten den Tag in ihrem Zimmer, ohne ein Wort miteinander zu sprechen. In den Übungspausen hörte ich, wie sie mit ihren manikürten, gelben Fingern an der Wand kratzte und wie der Baum auf unserem Hof wuchs.

Aba kam am Nachmittag nach Hause, mit dunklen Ringen unter den Augen, denen ich den frisch gefassten Entschluss ablas, mir von nun an ihr ganzes Leben zu widmen. Von der Beerdigung erzählte sie mir Folgendes:

Die Menschenmenge, die Mamas Sarg zum Lytschakiwski-Friedhof trug, wuchs zusehends an. Als ihr Anfang bereits auf der Hälfte der Piekarskastraße war und sich Medizinstudenten aus allen Institutsgebäuden der Reihe nach anschlossen, wand sich das Ende noch immer am Halicki-Platz. Gerüchte besagten, dass am Friedhof schon Milizeinheiten warteten, aber konnte das irgendetwas an der Ausbreitung des Tsunamis ändern? Ungefähr auf Höhe des Museums für Pathologische Anatomie, in dem seit vielen Jahren, immun gegen den Systemwandel, die Hände des städtischen Henkers in einem Glas mit Formalin schlummerten, hörte das Orchester auf, Chopin zu spielen. Auch die üblichen Sowjetmärsche blieben aus. Stattdessen stimmten die Trompeter das verbotene Tscherwona Kalyna an:

Wir aber sagen – Kopf hoch, Roter Schneeballstrauch,

Heiter soll unsere ruhmreiche Ukraine sein!

Nach und nach setzte der Gesang ein und begleitete die Trompeten – dramatisch und böse. Die Frauen holten Ikonen unter ihren Mänteln hervor, und bald flogen die Gesichter des Heiligen Georg und des Heiligen Mikolaj in die Höhe, aber auch das des Erzengels Michael, blass vom jahrelangen Liegen in Kellern und auf Dachböden.

»Schande über Mariannas Henker!«, rief jemand.

»Schaaande!«, riefen Tausende Kehlen zurück.

»Rächen wir Marianna?«

»Wir schwören, sie zu rächen!«

Wie zur Bestätigung dieser Worte begannen die Männer, vorsichtig die Angelruten zu schwenken und die daran befestigten verbotenen blau-gelben Flaggen zu zeigen. Der Trauerzug schritt voran und näherte sich unaufhörlich den drei Bögen am Haupteingang des Friedhofs. Auf einer Querstraße der Piekarska, der Miecznikowa, war bereits der Straßenbahnverkehr eingestellt worden, und an der gesamten Länge der Friedhofsmauer stand eine Milizionärskette, abgeschottet von einer Reihe gepanzerter Fahrzeuge. Ungeachtet dessen bewegte sich der Demonstrationszug vorwärts.

Als die Sargträger die Höhe der Gleise erreicht hatten, riss der Dirigent, ein kleiner, kahlköpfiger Herr, die Hände in die Höhe. Das war ein unmissverständliches Zeichen: Die Menschen stimmten Noch ist die Ukraine nicht verloren an.

Auch die Milizionäre schienen auf diesen Moment gewartet zu haben. Dem Zeichen gehorchend, begannen sie, den Frauen die Ikonen und den Männern die Flaggen zu entreißen. Dies wiederum setzte die Herren in den schwarzen Kunstlederjacken in Bewegung, die große Schäferhunde an der Leine hielten. Sie stürzten sich auf jene, die in die Seitengassen flohen, sich die bunten Stoffe unter die Arme klemmten und im Laufen die Angelstöcke wegwarfen. Wer gefasst wurde, landete in ihren Wagen.

Aba erinnerte sich an einen Jungen mit einer Flagge, der auf der Flucht zu einem Telefonhäuschen rannte und, da es besetzt war, auf sein Dach kletterte. Dort fühlte er sich sicher: Er steckte sich den Fahnenmast zwischen die Beine und zeigte den Beamten fröhlich den Mittelfinger. Ein Mann in Schwarz gab ein kurzes Kommando, und nach wenigen Sekunden war sein abgerichteter Hund schon auf dem Dach des Häuschens. Wie diese Szene ausging, bekam Aba nicht mehr mit – der Trauerzug hatte den Friedhof erreicht und schritt den Berg hinauf, vorbei an den Gräbern der polnischen Schriftstellerin Maria Konopnicka, des ukrainischen Dichters Iwan Franko und der ukrainischen Opernsängerin Salome Kruschelnytska. Der Dissident Wjatscheslaw Tschornowil, heute mit dunklen Schatten unter den Augen, ging den ganzen Weg neben dem Sarg her. Das erste Mal im Leben schien er nicht zu bemerken, dass seine Leute von Hunden gehetzt, mit Knüppeln verprügelt und in Gewahrsam genommen wurden. Er schritt voran, den Blick geradeaus gerichtet. Gewiss dachte er, dass er hätte sterben sollen, nicht Marianna.

Nur wenige Menschen kamen bis zur Grabstätte, vor allem diejenigen, die Mama persönlich gekannt hatten. Von hier, vom Hügel aus, sahen sie den verwüsteten Friedhof der Jungadler, die Endhaltestelle der Sieben und die abgelegenen Villen von Pohulanka.

»Das ukrainische Volk kann stolz sein auf seine Tochter Marianna, die ihr Leben geopfert hat«, sagte Tschornowil würdevoll, und niemandem wäre es in den Sinn gekommen, darauf hinzuweisen, dass Mama diesem Volk de facto gar nicht angehört hatte.

»Diejenigen, die sie getötet haben, denken, sie hätten unser Lied zum Verstummen gebracht. Doch sogar heute konnten sie sich davon überzeugen, dass es nur umso lauter erklingt!« – In diesem Augenblick heulten wie in einer böswilligen Nachäffung seiner Worte die Milizsirenen auf: Der Abtransport der Demonstranten ging weiter. Ein Weißstorch flog durch den klaren Julihimmel. Heute war Mama nicht mehr in die Flagge gewickelt, das blutdurchtränkte Tuch lag über ihr wie ein Laken. Die Totengräber schlossen den Sarg und ließen ihn vorsichtig in die Grube hinab. In dem Moment fing Aba an zu weinen. Viel später erfuhr ich, woran sie damals gedacht hat: So wie eine schwangere Frau leichter wird, wenn sie niederkommt, so beginnt eine Mutter, die ihr Kind der Erde übergibt, weniger zu wiegen. Vielleicht gelang es ihr deshalb, ohne fremde Hilfe die gewundenen Pfade des Friedhofs nach unten zu gehen, dorthin, wo große orangefarbene Wagen mit der Aufschrift »Wasser« riesige Fontänen auf dem Schlachtfeld verspritzten. Ihre Beine, von der rheumatoiden Gelenkentzündung hässlich verbogen, schritten energischer als üblich. Sie hatten es eilig, zu mir zurückzukommen.

An jenem Tag passierte noch etwas. Ich bekam zum ersten Mal meine Regel. Doch wider Erwarten zierten statt eines majestätischen Stroms von Purpur und Karminrot zwei spärliche schmutzig braune Streifen meine Unterhose. Die Welt schien ein anderer Ort zu sein, als ich mir vorgestellt hatte.

Die Schachteln

Viel später erfuhr ich, dass ich nicht die einzige Deserteurin gewesen war. Gemeint sind keineswegs die falschen Freunde vom Theater oder diejenigen, die aus Angst um ihr Leben nicht auf Mamas Begräbnis erschienen waren. Gemeint ist jemand, der ebenso wie ich bereit war, jeden Tropfen seines eigenen Bluts mit ihr zu teilen. Gemeint ist Mikolaj.

Er war bis zur Hälfte der Piekarska mit dem Trauerzug gegangen und dann unbemerkt in eine kleine Seitenstraße abgebogen, die zuerst die Majakowski- und dann die Zielonastraße kreuzte. Er wohnte in der Lew-Tolstoi-Straße. Auf ganzer Länge dieser Straße wuchsen alte Eichen, wie Säulen, die das Gewölbe eines unsichtbaren Tempels stützten. Seiner Meinung nach ein viel besserer Ort, um um Marianna zu trauern, als der Massenaufzug auf dem Weg zum Friedhof.

Seit Jahren betrachtete er die heruntergekommene Villa an der Tolstoistraße wie einen menschlichen Leib: Die Zweizimmerwohnung im Erdgeschoss, die er seit seiner Geburt kannte, war der Bauch; das Atelier im Keller, das er vor ein paar Jahren von seinem Vater geerbt hatte, der Bereich unterhalb der Gürtellinie; und der Dachboden, der einst seiner beruflichen Leidenschaft die Richtung gewiesen hatte, war der Kopf. (Es gab noch das Stockwerk mit der Wohnung der Nachbarinnen, aber diesen Ort blendete er aus, wenn er an das Haus dachte.) Niemals mehr, verstand er plötzlich, würde er Marianna die Geschichte erzählen, die sich auf dem Dachboden ereignet hatte, und es kam ihm vor, als hätte die Kugel des Scharfschützen nicht ihre Brust, sondern seinen Kopf in Stücke gerissen.

Er schloss die Haustür auf, stieg die Treppe hinab, stieß eine, zwei und eine dritte Tür auf, machte Licht und legte sich auf das mit einem alten Plaid bedeckte Sofa. Der unberührte Bristolkarton auf der Staffelei, der dunkle Vinylsee auf dem Plattenteller, das noch dunklere Meer des ramponierten Flügels, die Möwenflügel der auf dem Bauch liegenden Bücher – alles war wie immer.

Der Tod ist wie ein Keller voller Skizzen, dachte er. Wenn ich sterbe, werden sie in meinem Atelier nichts finden als Skizzen – so als hätte ich nie etwas vollendet. Und den alten Flügel, auf dem ich geklimpert habe.

Von der Zimmerdecke war ein lautes Klopfen zu hören – jemand im Stockwerk über ihm hämmerte mit einem schweren Gegenstand auf den Boden.

»Nicht jetzt!«, rief er gereizt.

Doch die Schläge – hartnäckig, gleichmäßig – verstummten nicht. Er zählte bis zehn und brüllte:

»Mama, lass mich! Ich habe keinen Hunger!«

An einer Wand des Ateliers hing die Fotografie einer jungen Frau, aus deren funkelnden Augen die Überzeugung sprach, dass sie bald gen Himmel fahren würde – es war nicht Marianna.

In einer plötzlichen Eingebung stand er auf, ging zur Wand, nahm das Foto ab und legte es auf den Tisch. Dann stellte er die Leiter an das Bücherregal und holte vom obersten Brett Schachteln herunter, die mit dunklem Stoff verkleidet waren. Darin befanden sich Fotos, sortiert und beschriftet. Er nahm sie heraus und warf sie auf den Tisch, der sich rasch mit Gesichtsfragmenten en face und im Profil, mit Händen und Füßen füllte. Eine Weile mischte er die Fotos wie Spielkarten. Nur wenig später waren sie vom zitternden Spinnennetz der Asche seiner Zigaretten bedeckt.

Die Fotografie der Frau, die bereit ist für ihre Fahrt in den Himmel, lag in der Mitte. Sie hatte die gleichen dunklen und funkelnden, ein wenig zu weit auseinanderstehenden Augen wie er, das gleiche kräftige und dichte Haar. Damals, 1988, trug Mikolaj einen Bürstenschnitt, aber mit dem fortschreitenden Zerfall des Imperiums wurde sein Haar immer länger, ähnlich dem langen, glatten Haar seiner Mutter, das sie gern nach oben kämmte, damit es so etwas wie einen seidigen Hügel bildete.

Ringsherum, wie die Strahlen einer Sonne, ordnete er sieben Porträts von sich selbst aus der Grundschulzeit an. Auf jedem, sogar auf denen aus den offiziellen Klassenalben, hatte er einen leicht stieren Blick, schnitt eine Grimasse oder streckte die Zunge heraus. Bei dem Anblick konnte er sich nicht des Eindrucks erwehren, dass er ein etwas zurückgebliebenes Kind gewesen sein musste. In der Sowjetunion wurden solche Kinder weggesperrt. Die leicht Behinderten wurden auf normale Schulen geschickt, und es wurde so getan, als unterschieden sie sich in nichts von anderen Kindern.

Die Kindheitsporträts umgab er mit späteren Fotos seiner Mutter, die mit der Zeit ihre Heilserwartungen abgelegt und dafür ordentlich zugenommen hatte. Für eines ihrer Porträts besaß er eine besondere Schwäche. Dort stand sie mit ausgebreiteten Armen auf einem Berggipfel, als wollte sie der ganzen Welt verkünden, dass sie diesen Berg geschenkt bekommen habe und mit dieser Geste ihr ewiges Eigentumsrecht bekräftige. In gewisser Weise traf das auch zu. Sie stammte aus den Karpaten, und auf diesem Berg, einige hundert Meter tiefer, stand ihr Elternhaus, das sie verlassen hatte, um zum Studium nach Lemberg zu ziehen, wo sie Mikolajs Vater kennenlernte. Sein Bild platzierte er zu ihren Füßen. Eine vollständige Umkehrung der tatsächlichen Verhältnisse.

Die langen Arme und Beine seines Vaters passten selten ins Bild. Mikolaj hatte seine Statur geerbt. Der Blick seines Vaters, schon in der Jugend düster, schien die Macht zu haben, die Wände und die Decke des Ateliers zu sprengen. Auch sein Porträt umgab Mikolaj mit Fotos eines verrückt spielenden Kindes. Grimassen zu ziehen war damals eine der wenigen ihm zur Verfügung stehenden Formen des Protests gegen die gnadenlosen Lebensregeln, die ihm auferlegt wurden: nicht mit Freunden nach draußen gehen, lernen und Klavier spielen. War sein Vater nicht zu Hause, sorgte die eingeschüchterte Mutter für die Einhaltung der Regeln. Jahre später begriff Mikolaj, dass auch sie in einer Art Gefangenschaft lebte: Sie drohte, zwischen den massiven Mietshäusern der fremden Stadt, in den langen Schlangen vor den Geschäften zu ersticken. Ein anderes Leben führten sie nur in den Ferien, wenn sie zu zweit mit der Vorstadtbahn in die Karpaten fuhren, ins Heimatdorf seiner Mutter, und mit Rucksäcken auf den Berg kletterten, den auch Mikolaj als sein Eigentum betrachtete, auch wenn das durch kein Foto dokumentiert war.

Dieses Mal kam das Klopfen aus größerer Nähe – sie war unten vor seiner Tür. Er seufzte, drückte die Zigarette aus und ging öffnen. Da stand sie, ein Tablett mit der Suppenterrine und dick geschnittenen Weckenscheiben, einer Art langem Weißbrot, in den Händen. Das verwaschene geblümte Kleid und die Filzpantoffeln passten nicht zu ihrer ordentlichen Frisur. Im Alter war sie noch runder geworden, und ihr Blick strahlte einen neuen, unersättlichen Besitzanspruch aus – ein einziger Berg war ihr nicht mehr genug.

»In Lytschakiw haben sie Hunde auf die Menschen gehetzt und sie in Milizwannen gesperrt«, sagte sie weinerlich.

Er nahm wortlos das Tablett und machte ihr die Tür vor der Nase zu.

Die Collage verwandelte sich allmählich in ein Gemenge. Er war es leid, die Fotos zu sortieren, und begann, die Bilder ohne Sinn und Verstand aus den Schachteln zu schütten: seine Bühnenbilder, Proben mit den Schauspielern, Landschaften der Krim und Lemberger Denkmäler. Irgendwann fiel eine Serie mit einem abgemagerten Jüngling in Schlaghose heraus, aus einer Zeit, als er seinen Vater nicht mehr um Erlaubnis gefragt hatte, wenn er rausgehen wollte, und ganze Tage in der künstlerischen Werkstatt von Walery Bortjakow vom Polnischen Volkstheater saß. Dort zeichnete er, schnitt Glas für Mosaikfenster und half, das Bühnenbild zu bauen.

Von der Decke starrten zwei leere Augenhöhlen auf das Chaos auf dem Tisch – die Totenmaske seines Vaters nannte er insgeheim »Auge der Vorsehung«.

Er dachte an den heutigen Morgen zurück. Irgendein Typ hatte Marianna im offenen Sarg fotografiert. Das war unwirklich: Unmittelbar vor seinen Augen wurde die Frau, die er liebte, zu einem Denkmal ihrer selbst, erstarrt zu einer Skulptur, bar jeder Intimität, eingehüllt in die Nationalflagge. Bei diesem Anblick empfand er zwei widersprüchliche Wünsche: sich neben sie zu legen und wegzulaufen, dorthin, wo der Pfeffer wächst. Er war überzeugt, dass sie ein Denkmal verdient hätte, aber ihm wäre ein anderes lieber gewesen, unsichtbar für die Augen, ganz aus Lauten gewebt. Weniger Denkmal als vielmehr ein Ort, an dem die Luft von den von ihr gesungenen Arien vibrierte, immer neu beginnend, sobald sie endeten, ohne Ermüdung, ohne Pause, ohne Beifall. Die Vorstellung des unsichtbaren Grabsteins belebte ihn ein wenig, aber gleich danach kam ihm in den Sinn, dass sie, wenn sie schon hatte gehen müssen, wenigstens ihre Stimme hätte zurücklassen können. Hätte man sie auf wundersame Weise erhalten können, so hätte er sie verwahrt, hätte sie konserviert, hier in seinem Atelier. Es war vor allem ihre Stimme, die er zu berühren und zu besitzen versucht hatte, wenn er Marianna berührt hatte. Seine Phantasie trug ihn noch weiter fort. Er stellte sich vor, er würde zu ihrem Haus laufen, an den Sarg stürzen und dem Nichts diese unvergleichliche Stimme entreißen, sie unter seinen Mantel stecken und damit nach Hause eilen, vorbei an Milizionären und Patrioten, und sich dann für immer mit ihr im Keller einschließen: Ein Perverser war er also, dem ein Teil seiner geliebten Frau genügt.

Ein Windhauch fuhr durchs Fenster und fegte einige Fotos auf den Boden – durcheinander und falsch herum lagen sie dort wie ungewollte Gegenstände. Dies rief noch lebhafter das Bild des Leichnams im offenen Sarg und des Fotografen hervor, der etwas festzuhalten versuchte, was ohnehin schon fest und regungslos war. Er erinnerte sich auch an Mariannas Brustwarzen, wie sie unter seinen Händen hart wurden, und dachte, dass der Tod ein hemmungsloser und erbarmungsloser Liebhaber sei.

Noch eine Zigarette wurde bis zum Filter aufgeraucht, eine weitere Kippe wurde ins Beet des Aschenbechers gepflanzt. Gleich darauf sammelte Mikolaj sämtliche Fotos vom Tisch und vom Boden, stopfte sie in einen Leinenbeutel. Die leeren Schachteln stellte er zurück ins Regal. Er zählte: zehn Schachteln, in jeder ungefähr hundert Fotos. Zehn Schachteln, tausend Fotos, sein ganzes bisheriges Leben. Eine weitere, die elfte, war unberührt geblieben: Statt entwickelter Fotos lagen darin altmodische Fotoplatten. Er hatte sie vor langer Zeit auf dem Dachboden der Villa gefunden, sie waren Teil der Legende, von der er Marianna nicht mehr hatte erzählen können. Anschließend nahm er den Beutel, trug ihn auf den Hof, warf den Inhalt in eine rostige Mülltonne und zündete sie an.

Das kleine Müllfeuer wurde zur Sensation für die Nachbarinnen im ersten Stock, die Mikolaj ignorierte. Sie legten ihre Brüste auf das abgegriffene Balkongeländer und schauten ihm mit schweigender Missbilligung zu. Er stand mit dem Rücken zu ihnen, das Gesicht auf die Tonne gerichtet, aus der dunkle Rauchfahnen aufstiegen. Er dachte darüber nach, dass er nicht ein Foto von Marianna gemacht hatte.

Die Türen

Jeden Abend verschloss Urgroßmutter die Wohnungstür nach ihrem eigenen, ausgeklügelten Ritual – als glaubte sie, sie könnte uns vor ungebetenen Gästen schützen, den gleichen, die ihr Haus im Jahr 1937 aufgesucht und ihren Mann mitgenommen hatten, für immer. Sie selbst kam nie auf diese Geschichte zu sprechen, Aba dagegen rief sie uns regelmäßig in Erinnerung:

»Abends klingelte es an der Tür. Papa sagte, das sei ein Irrtum, er komme gleich zurück, küsste mich zum Abschied und ging mit den Unbekannten weg. Ich habe ihn nie wiedergesehen.«

Das war in Leningrad gewesen, wo Aba und Urgroßmutter vor dem Krieg gelebt hatten. Kein Wunder, dass ich schon früh Angst vor unerwartetem Klingeln an der Tür hatte.

Urgroßmutter prüfte nun immer zuerst, ob die äußere, dunkel gestrichene Tür richtig geschlossen war, dann drehte sie den Schlüssel zweimal im Schloss, hängte die massive Metallkette ein und besiegelte dies mit der anderen, weißen Tür, die sie ebenfalls, aber mit einem anderen Schlüssel verschloss. Diese Konstruktion ließ sich von außen nicht öffnen, worüber Mama sich ärgerte, weil sie gern spät nach Hause kam und dann entweder das ganze Haus wecken oder zulassen musste, dass Urgroßmutter stundenlang aufblieb und auf ihre Rückkehr wartete.

Jede von uns hatte einen eigenen Satz Schlüssel: Der lange und dünne sang im Falsett und öffnete die dunkle Tür, der kurze mit der untypisch runden Endung seufzte im Bass und war für die Haustür unten, der moderne flache Schlüssel passte in den Briefkasten und war schlichtweg unfähig, einen Laut hervorzubringen. Den Schlüssel zur weißen Tür besaß nur Urgroßmutter, und niemand wusste, wo sie ihn tagsüber versteckte.

Diese Türen waren für mich eine furchtbare Qual. Zweifach verschlossen und verriegelt, verstärkten sie mein Gefühl der Unsicherheit noch. Als wäre ich in einer belagerten Festung, und wenn ich sie nur einfach abschlösse, würden die Samen der Gefahr gesät werden und wir dem Eindringen von Fremden ausgesetzt sein, in deren Macht es stand, unsere Welt zu vernichten.

Die äußere, dunkle Tür war leicht. Ich konnte sie schwungvoll zuknallen, um meinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen – wenn ich sauer auf Aba war, weil sie mich zwang, mich wärmer anzuziehen, bevor ich das Haus verließ. Die dunkle Tür enthielt ein »Auge« – einen runden Spion aus gewöhnlichem Glas, der von innen mit einem Stück abgewetzter Pappe abgedeckt wurde. Auch darin witterte Urgroßmutter Gefahr: Erstens merkte der Mensch auf der anderen Seite, wenn der Pappvorhang angehoben wurde, dass er beobachtet wurde, und erfuhr so, dass jemand zu Hause war. Und zweitens hatte er die Möglichkeit, wie Urgroßmutter meinte, durch den Spion anzugreifen.

»Mach erst nur einen winzigen Spalt auf, um dich zu vergewissern, ob es ein Fremder ist oder einer von uns«, brachte sie mir bei. »Ein Fremder steckt einen Metallstab hindurch und sticht dir das Auge aus.«

Der Fremde war immer ein Mann.

Wenn jemand an unserer Gegensprechanlage klingelte, galt es, auf den Balkon zu laufen und nachzuschauen, wer da vor der Haustür stand, und wenn es ein Unbekannter war, zu rufen:

»Zum wem?!«

Das diente der Einschüchterung: Die Person unten wusste nicht, woher die Stimme kam, und suchte verwundert mit der Miene eines Blinden nach dem Fragesteller. Einen Stock höher zu sein verschaffte uns einen Vorteil, ermöglichte uns, die Attacke abzuwehren:

»So jemand wohnt hier nicht!«

Irrtümer kamen häufig vor und beunruhigten Aba und Urgroßmutter sehr. Angenommen, da kam ein Herr, der einen gewissen Pawel Iwanowitsch Pietrow suchte. Nichts Außergewöhnliches, aber man hörte sofort die Anspannung in ihren Stimmen. Lange überlegten sie, wer der Fremde sein und was das alles verheißen könnte – nichts Gutes, natürlich.

Wir wohnten im Stadtzentrum, und nicht selten begann jemand, mitten in der Nacht an unsere Tür zu klopfen. Die unerwartete Störung, wenn wir alle schon im Bett waren, donnerte wie die Engelstrompeten vor dem Jüngsten Gericht, trennte das weiche, häusliche Ebengerade von dem gewalttätigen Jetzt. Das konnten sie sein, und sie besaßen absolute Macht über die Menschen und durften alles: entführen, töten, foltern. Die Knechte der Finsternis waren zwangsläufig schwarz gekleidet.

Die nächtliche weiße Tür war trist und von Melancholie durchdrungen. Sie hing schwer in den Scharnieren, gab einen dumpfen Laut von sich, hatte keinen Spion, und der lange Schlüssel ließ sich nur mit Mühe im Schloss drehen. Wenn ich nachts aufstand und sah, dass die weiße Tür verschlossen war, erfassten mich Hoffnungslosigkeit und Klaustrophobie. Ihre einförmige Fläche ließ mich an das russische Wort глухомань denken, »Einöde«. Die weiße Tür enthielt das weite, grenzenlose Sibirien, die langen Etappen der Zwangsarbeit, endlose weiße Ebenen, das Klicken der Handschellen.

Wie schon gesagt, zwischen der dunklen und der hellen Tür war noch eine Kette. Tagsüber half sie beim Lüften unserer erbärmlichen fensterlosen Küche. Dank der Kette gab es einen Spalt, der Laute und Luft, nicht aber Menschen durchließ: die perfekte Illustration dieses Schwebezustands, der beunruhigenden Existenz hier und zugleich dort. Ich suchte nach Gelegenheiten, diese Ungewissheit zu beenden, öffnete zum Beispiel die Tür sperrangelweit, angeblich, um die Küche gründlich zu lüften, oder ich schloss sie, unter dem Vorwand, dass mir zu kalt sei. Welche Lust lag in diesem eigenmächtigen Öffnen oder Schließen der Tür, welche süße Illusion von Macht! Wenn ich sie öffnete, zeigte der im Flur hängende Spiegel die Glasmalerei im Treppenhaus, und die Küche begann, statt nach gekochten Mohrrüben nach Wald zu duften, während nach dem Schließen für einen Augenblick der kindliche Glaube zurückkehrte, im Haus wären wir sicher.