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Nach dem Tod ihrer Mutter taucht Julia bei ihrer Familie im Herzen der Touraine auf. Ihre Großmutter Suzette empfängt die Enkelin mit offenen Armen, doch ihr Cousin Alex nimmt Julia die jahrelange Funkstille übel. Suzette schlägt ihren Enkeln einen Pakt vor, um sie zu versöhnen: Wenn sie zusammen in ihrem Haus wohnen und sich um ihre Sachen kümmern, erben sie es nach Suzettes Tod. Insgeheim erhofft Suzette sich jedoch, dass sie die alte Familienkonditorei wieder aufbauen, denn Julia ist eine leidenschaftliche Konditorin.
Und so wird Julia mitten in die Familienangelegenheiten geschmissen, knüpft neue Bindungen und entdeckt alte Wunden, als sie im Haus ihrer Großmutter Spuren ihrer Vorfahrin Eugénie findet, die vor über hundert Jahren aus unerfindlichen Gründen das Dorf verließ …
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Seitenzahl: 717
Veröffentlichungsjahr: 2023
Clarisse Sabard
Das Licht unserer Tage
Roman
Aus dem Französischen von Claudia Feldmann und Sabine Schwenk
Insel Verlag
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Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel À la lumière de nos jours bei Charleston, Paris.
eBook Insel Verlag Berlin 2023
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4973.
Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2023© Charleston, une marque des éditions Leducs, 2021
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Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Umschlagabbildungen: FinePic®, München
eISBN 978-3-458-77653-6
www.suhrkamp.de
Für Laury-Anne, Freundin, Lektorin und Liebhaberin exquisiten Gebäcks – danke, dass du ein neuntes Mal daran geglaubt hast.
»Leben heißt darauf bestehen, eine Erinnerung zu vollenden.«
René Char
»Die Zukunft mag schöner erwachen als die Vergangenheit.«
George Sand: Aldo le rimeur
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Motto
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Epilog
Danksagung
Informationen zum Buch
Das Licht unserer Tage
12. Juli 1977
Es war einer jener langen, heißen Sommernachmittage. Thomas fuhr auf seinem nagelneuen blauen Fahrrad, das er zu seinem dreizehnten Geburtstag bekommen hatte. Wie schnell dieses Rad war, fast so, als hätte man Flügel! Während er der alten Eisenbahnstrecke folgte, stellte er sich vor, er wäre bei der Tour de France. Mit diesem Flitzer würde er bestimmt das gelbe Trikot bekommen, da würde Bernard Thévenet sich aber umschauen!
Bei der Kreuzung wechselte Thomas auf den Weg, der am Fluss entlangführte. Unter dem leuchtend grünen Laub der Bäume zirpten die Grillen, und die Wasseroberfläche kräuselte sich im leichten Wind. Am anderen Ufer wiegte sich das hohe Gras der Wiesen. Was für ein schöner Tag! Er trat schneller in die Pedale, als er die Glocken des Kirchturms drei Uhr schlagen hörte. Doch der Untergrund wurde immer unwegsamer, sodass er schließlich abstieg und sein Rad den Rest des Weges schob. Er verspürte ein seltsames, fiebriges Kribbeln im Bauch, und das nicht ohne Grund: Delphine Girard wartete im Schatten einer Pappel auf ihn, verborgen vor neugierigen Blicken. Danach würden sie ihn hoffentlich endlich respektieren, ihn, den Dicken aus der letzten Reihe. Nachts hatte er kaum schlafen können, aber er war trotzdem bester Laune aufgestanden. Dass ein Mädchen wie sie ein Auge auf ihn geworfen hatte! Und Delphine war so hübsch mit ihren dichten blonden Locken, die ihr bis auf die Schultern fielen, ein bisschen wie die von Lindsay Wagner in Die Sieben-Millionen-Dollar-Frau. Sie hatte auch wunderschöne blaue Augen, und jedes Mal wenn Thomas sie sah, bekam er Lust, Come and Get Your Love von Redbone zu singen, seinen Lieblingssong, den er schon so oft gehört hatte, dass die Schallplatte fast zerbröselte. Oh, er wusste natürlich, dass er nicht der einzige Junge war, der sie anhimmelte. Er hatte sich sogar bemüht, sich nichts anmerken zu lassen, weil er überzeugt war, dass er ohnehin keine Chance hatte. Doch nun war er den anderen einen Schritt voraus … Die würden Augen machen!
Als er sich der Stelle näherte, wo sie sich treffen wollten, spürte Thomas, dass er feuchte Hände bekam. Na, aber er würde doch jetzt keinen Rückzieher machen, dachte er und pustete sich die kastanienbraunen Haarsträhnen aus der Stirn. Er legte sein Fahrrad ins hohe Gras und atmete tief durch. Kneifen kam nicht in Frage, zumal er und seine Mutter in drei Tagen in die Ferien aufbrechen würden. Er freute sich schon sehr darauf, endlich den Strand und das weite Meer wiederzusehen. Saint-Palais-sur-Mer. Er liebte es, diesen Namen auszusprechen, der jeden Sommerurlaub wie eine Expedition klingen ließ. Sonnencreme mit Kokosduft, die warmen Priele zwischen den Felsen, Kinder, die die Möwen fütterten, und bergeweise Moules Frites für ihn und seine Mutter!
»Ah, Thomas! Ich dachte schon, du kommst nicht!«
Er war so in seine Gedanken versunken, dass er vor Schreck zusammenfuhr. Da war Delphine, direkt vor ihm, sonnengebräunt, in einem geblümten Kleid, eine Zeitschrift neben ihr auf der Erde. Sie duftete nach Vanille und reifem Weizen. Thomas lächelte nervös und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
»Setz dich doch«, sagte sie und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Alles klar?«
Er nickte und starrte das Foto von Claude François auf dem Titelblatt der Zeitschrift an. Plötzlich war es, als hätte er die Sprache verloren.
»In drei Tagen fahre ich ans Meer«, brachte er schließlich heraus.
»Das ist schön«, erwiderte sie nur und warf ihm aus dem Augenwinkel einen Blick zu.
Sie wirkte genauso befangen wie er.
»Wir fahren zu Jean-Marc«, fügte sie hinzu.
Thomas konnte kaum den Blick von ihren langen Beinen lösen.
»Das ist dein ältester Bruder, nicht?«
Delphine war die Tochter des Schuldirektors und die Jüngste in der großen Familie. Wie Mémé, seine Großmutter, immer voll Bewunderung sagte, genügte ein Blick von ihrem Mann, und schon war Marinette Girard schwanger. Sie hatte mit siebzehn geheiratet und sieben Kinder zur Welt gebracht, von denen eins bei der Geburt gestorben war. Zwanzig Jahre trennten Delphine von ihrem ältesten Bruder.
»Ja, genau«, bestätigte das junge Mädchen. »Weißt du, dass er geschieden ist? Er will hierher zurückkommen und mit seiner neuen Freundin Corinne zusammenleben.«
Natürlich wusste Thomas davon. Einer aus ihrem Ort, der sich scheiden ließ, das sorgte für reichlich Gerede. Doch er verkniff sich jeden Kommentar und schluckte mühsam. Was würde er jetzt um eine Pfefferminzlimonade geben!
»Du wolltest, dass wir uns treffen …«, sagte er nach einer Pause, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam.
Delphine blickte sich nach allen Seiten um, dann erwiderte sie mit etwas festerer Stimme: »Ja, ich dachte, wir könnten vielleicht … miteinander gehen.«
»Miteinander gehen?« Thomas starrte sie mit offenem Mund an.
»Wieso, gefalle ich dir nicht?«, fragte sie, ehrlich überrascht.
Mist, das hatte sie falsch verstanden! Er stellte sich aber auch zu blöd an!
»Doch, doch, du gefällst mir sogar sehr«, stammelte er und wischte sich die schwitzigen Hände an seiner kurzen Hose ab. »Du … Du bist schön wie die Sonne.«
Den Satz hatte er heimlich in einem der Liebesromane gelesen, die seine Großmutter so gerne las. In dem Moment hatte er gedacht, einem Mädchen so etwas zu sagen, würde es bestimmt umhauen. Jetzt jedoch kam er sich lächerlich vor. Aber Delphine lächelte.
»Wenn du willst, kannst du mich küssen«, ermunterte sie ihn.
»Wirklich?«
Statt einer Antwort zuckte sie nur mit den Schultern. Mit seinen dreizehn Jahren hatte Thomas noch nie ein Mädchen geküsst, aber vielleicht wusste Delphine ja, wie es ging. Er beugte sich vor, doch in dem Moment raschelte es im hohen Gras, und hinter ihm ertönte ein boshaftes Lachen.
»Hast du das wirklich geglaubt, du Fettwanst?«
Der Kleine Jacques und seine Bande. Da waren sie, alle drei: Jacques, Thierry und Luc. Sofort ging in Thomas' Kopf eine Alarmglocke los. Wenn die Kerle auftauchten, gab es Ärger, zumal sie mit ihren siebzehn Jahren viel stärker waren als die Schüler, die sie piesackten. Und nicht nur die drei verhöhnten ihn, auch Delphine kicherte. Er wäre am liebsten vor Scham im Boden versunken.
»Wusstest du etwa, dass sie kommen würden?«
Er kniff die Augen zu, begriff nicht, wie das möglich war. Ihr verlegenes Schweigen war grausamer als jedes Geständnis.
»Warum tust du so was?«
Sie blickte nur betreten zu Boden. Die Enttäuschung, als er begriff, dass sie sich nur über ihn lustig gemacht hatte, war furchtbar.
Die drei Jungen kamen auf ihn zu, und Jacques, der Anführer, grinste Thomas schief an.
»Was soll sie denn mit einer Schwuchtel wie dir?«, provozierte er ihn.
Thomas stand auf, gefolgt von Delphine, die sich mechanisch den Staub vom Rock klopfte.
»Lass ihn, Jacques«, sagte sie ohne große Überzeugung.
Doch der scherte sich nicht darum. Er schüttelte den Kopf und schnalzte missbilligend. »Wusstet ihr, dass sein Großvater was mit einem Deutschen hatte? Schwuchteln, allesamt, und so was will einem Mädchen seine Zunge in den Mund schieben!«
Das war zu viel! Thomas sah rot und versetzte Jacques einen Stoß, dass der das Gleichgewicht verlor und rücklings im Wasser landete. Die anderen standen einen Moment reglos da, bis ihr Anführer sich aufrappelte und das Signal gab.
»Jetzt bist du fällig, du kleiner Scheißer!«
Thomas rannte los, doch die drei Jungen waren ihm dicht auf den Fersen. Er dachte nicht mal daran, sich auf sein Rad zu schwingen, um schneller zu sein. Er wollte einfach nur weg, weit weg, zurück in die Rue Lavoir, wo seine Mutter ihm ein Kakaobrot machen würde. Der Schweiß lief ihm übers Gesicht und brannte in den Augen. Er wusste, dass er ihnen nicht entkommen würde. Sie hörten niemals auf, solange nicht ein Erwachsener dazwischenging. Wie sein Spitzname vermuten ließ, war Jacques nicht sehr groß, aber dafür umso gefährlicher.
Keuchend versuchte Thomas, schneller zu laufen. Seine Turnschuhe donnerten auf den harten, unebenen Weg, und sie fühlten sich an, als wögen sie eine Tonne. Er würde es nie bis zum Ort schaffen. Die anderen, die sportlicher waren als er, kamen immer näher. Im Laufen bemerkte er eine Eidechse, die am Stamm einer Eiche hochlief. Ohne nachzudenken, kletterte er in den Baum und klammerte sich an die Äste, als wären es Rettungsringe.
»Komm da runter!«, rief Jacques, der kaum außer Atem war.
»Haut ab!«, schnaufte Thomas.
»Wir könnten hier unten ein Feuerchen machen«, drohte Luc.
Um seine Absicht zu unterstreichen, nahm er aus der Tasche seines roten Hemds ein Feuerzeug, das er vermutlich seinem Vater geklaut hatte, und begann damit herumzuspielen. Thomas schlug das Herz bis zum Hals, und er merkte, wie ihm die Tränen kamen. Doch er würde ihnen nicht noch mehr Grund geben, sich über ihn lustig zu machen! Er kletterte noch ein wenig höher. Ihm taten die Zehen weh, weil er sie so sehr anspannte, aber er musste sich gut festhalten. Er wusste, was ihn erwartete, wenn er hinunterstieg. Die drei würden ihn nicht umbringen, das trauten sie sich nicht, aber sie würden ihm eine Abreibung verpassen. Und er würde wieder seine Mutter anlügen müssen, um ihr keinen Kummer zu bereiten. Wenn die Zeit doch nur schneller verginge, bis er endlich alt genug war, um in die Lehre zu gehen, und diesen Mistkerlen nie wieder begegnen musste!
Unten tauchte nun auch Delphine auf. »Lasst es gut sein«, bat sie. »Ihr habt doch gesagt, es wäre nur ein Streich.«
Jetzt lag Mitgefühl in ihren Augen. Im Grunde ihres Herzens war Delphine nett, daran hatte Thomas nie gezweifelt.
»Misch dich gefälligst nicht ein«, herrschte Jacques sie an und rüttelte grob an ihrem Arm.
Sie stand einen Moment wie erstarrt da, dann wandte sie sich um und lief davon. Thomas wusste, dass ihm niemand helfen würde.
Come and Get Your Love …
Delphine hatte ihn verraten, und er hatte immer noch diesen bescheuerten Song im Kopf, als suchte sein Verstand nach einer Zuflucht. Plötzlich setzte Thierry an, ebenfalls auf den Baum zu klettern.
»Lasst mich in Frieden!«, brüllte Thomas und zog sich noch ein Stück höher.
»Heulsuse! Fettwanst!«
Egal, wer ihn beleidigte, er hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. Als er sich ein Stück vorbeugte, um zu sehen, wo die drei sich befanden, wurde ihm schwindelig. Erschrocken tastete er nach einem festeren Halt, doch sein Fuß rutschte weg. Voller Panik versuchte er, sich an einen dicken Ast zu klammern – vergeblich. Thomas hörte drei überraschte Ausrufe, und in dem Moment begriff er, dass er tatsächlich aus der alten Eiche fiel. Es ging ganz schnell und zugleich ganz langsam, als würde man sich selbst dabei zusehen, wie man eine Treppe hinunterfällt, nur viel gefährlicher.
Unmittelbar vor dem Aufprall dachte Thomas noch: Arme Maman, jetzt verderbe ich ihr die Ferien.
Dann verschlang ihn die Dunkelheit.
Julia, 2013
»Wie schön, dass du gekommen bist!«
Strahlend umarmte mich Aurélie, als hätten wir uns ein halbes Jahr nicht gesehen. Ich brachte nur ein schwaches Lächeln zustande. Zum Glück hatte sie offenbar niemanden außer mir eingeladen.
»Ehrlich gesagt bin ich froh, dass wir nur zu zweit sind«, gestand ich ihr, nachdem der Kellner unsere Bestellung aufgenommen hatte.
Mir war überhaupt nicht danach, meinen Geburtstag zu feiern, aber Aurélie freute sich so, dass mir meine Bemerkung sofort leidtat.
»Entschuldige, ich wollte nicht die Stimmung verderben.«
Sie legte sanft die Speisekarte aus der Hand.
»Schon gut«, sagte sie. »Ich kann mir denken, dass es nicht leicht für dich ist.«
Unsere Cocktails kamen. Ein Aperol Spritz für mich und ein alkoholfreier für meine Freundin, die im siebten Monat schwanger war. Sie erhob ihr Glas, um mit mir anzustoßen.
»Auf deinen Vierunddreißigsten! Ich bin sicher, du wirst diese schwere Zeit gut überstehen.«
»Danke«, erwiderte ich. »Es ist schon eine seltsame Vorstellung – mein erster Geburtstag ohne sie.«
»Immerhin kapselst du dich nicht völlig ab. Es ist wichtig, darüber zu sprechen und nach vorne zu schauen.«
Doch an diesem Abend hatte ich überhaupt nicht das Gefühl, nach vorne zu schauen. Obwohl ich so liebe Menschen um mich hatte, fühlte ich mich schrecklich einsam.
»Ich will dich nicht noch mehr runterziehen, aber im Moment kommt es mir eher so vor, als würde ich in der Luft hängen, ohne irgendeinen festen Halt.«
»Das Leben hat dich in den letzten Monaten ganz schön durchgerüttelt. Aber ich bin sicher, dass die fröhliche Julia, die ich kenne, wieder die Oberhand gewinnt.«
Das hoffte ich auch. Nur dass ich die Bedienungsanleitung verloren hatte. Ich tastete mich blindlings vor, kämpfte mich durch trübes Wasser. Ich wusste nicht, wie es weitergehen sollte, und das war schwer auszuhalten. Innerhalb von sechs Wochen hatte ich meine Arbeit und meine Mutter verloren – meinen Lebensinhalt im Dezember, meinen Hafen im Februar –, und ich fühlte mich vollkommen verloren.
»Das wird schon wieder«, sagte Aurélie, als hätte sie meine Gedanken gelesen.
»Danke.« Nur mit Mühe unterdrückte ich die Tränen, und während des Essens lenkte ich das Gespräch auf ihre Schwangerschaft. Aurélie plauderte munter drauflos, und normalerweise war ihre gute Laune ansteckend, doch ich hörte ihr nur mit halbem Ohr zu. Am Nachmittag hatte mich der Notar meiner Mutter gebeten, in seine Kanzlei zu kommen, und ich war mit einem Knoten im Bauch dorthin gegangen, überzeugt, dass damit das Kapitel endgültig abgeschlossen, aber auch der Schmerz erneut wachgerufen werden würde. Stattdessen hatte mich eine Überraschung erwartet.
Maman … Was hast du da bloß ausgeheckt?
Es war jetzt vier Monate her, dass sie ihren letzten Atemzug getan hatte. Ihr Tod war umso schmerzlicher gewesen, weil alles so schnell gegangen war. Als die Ärzte bei ihr Bauchspeicheldrüsenkrebs festgestellt hatten, schwebte bereits der Schatten des Todes über ihr. Maman hatte mit aller Kraft dagegen angekämpft, aber es war zu spät gewesen. Innerhalb weniger Wochen hatte der Krebs sie mit sich in einen tiefen, dunklen Ozean gezogen und mich hilflos wie ein kleines Kind zurückgelassen. Trotz aller eindeutigen Erklärungen der Ärzte hatte ich mich geweigert, die Möglichkeit ihres Todes in Betracht zu ziehen. Für mich war es einfach unmöglich – eine einstige Rettungssanitäterin konnte sich doch nicht vom Krebs besiegen lassen. Ihre Aufgabe bestand darin, anderen das Leben zu retten, nicht, ihr eigenes zu verlieren. Ihr Tod war ein furchtbarer Schock gewesen.
»Huhu, bist du noch da?«
Aurélie schnippte vor meinem Gesicht mit den Fingern und riss mich aus meinen Gedanken. Ich hatte kein Wort von dem mitbekommen, was sie mir erzählt hatte … Sie gab sich Mühe, mich abzulenken, und so dankte ich es ihr!
»Entschuldige, ich war nicht bei der Sache.«
»Das habe ich gemerkt!«, schnaubte sie. »Es geht um den Namen. Ich finde, als künftige Patentante hast du da ein Mitspracherecht. Romain steht auf klassische Namen wie Gustave oder Jeanne. Ich hingegen hätte lieber –«
»Etwas japanisch Angehauchtes?«, riet ich.
Aurélie hegte eine grenzenlose Leidenschaft für alles, was mit dem Land der aufgehenden Sonne zusammenhing, wo sie am Ende unserer Studienzeit ein Jahr verbracht hatte.
»Ich wusste, du würdest mich verstehen!«, rief sie triumphierend. »Aber das ist jetzt nicht so wichtig … Du machst wieder diese komische Sache mit deinem Mund, also sag mir, was dich beschäftigt.«
»Was? Ich mache doch gar nichts!«
»Doch. Du kaust auf deiner Unterlippe herum, wie jedes Mal, wenn du nervös bist. Und daraus schließe ich, dass es noch um etwas anderes geht als deinen ersten Geburtstag ohne deine Mutter. Jetzt erzähl schon.«
Ihre Freundlichkeit schnürte mir die Kehle zu. Aurélie kannte mich nicht nur in- und auswendig, sie verübelte mir mein Verhalten auch nicht. Dass ihr Baby bald kommen würde, war mir keineswegs gleichgültig, im Gegenteil, ich freute mich sogar darauf, Patentante zu werden. Aber an diesem Abend beschäftigte mich etwas anderes, und sie verdiente es, dass ich ihr wenigstens erklärte, warum ich mich nicht auf unser Gespräch konzentrieren konnte.
»Ich war vorhin beim Notar.«
»Die Wohnung ist also verkauft?«
»Nein … Beziehungsweise sie wird sicher bald verkauft, denn er hat ein Angebot bekommen.«
Aurélie runzelte die Stirn. »Okay, aber was wollte er dann von dir?«
»Maman hatte ihn gebeten, mir einen Brief zu geben. Und zwar heute.«
Voller Mitgefühl beugte sie sich vor. »O Julia, ich verstehe, dass du durcheinander bist! Hast du ihn gelesen?«
Ich wich ihrem Blick aus. »Nein … noch nicht.«
»Was?« Aurélie starrte mich überrascht an. »Wo ist denn deine sonst so zügellose Neugier geblieben? Womöglich steht da drin, dass sie eine Million Euro in einer Höhle auf Belle-Île-en-Mer versteckt hat!«
Ihre Reaktion brachte mich immerhin zum Lächeln. »Ich weiß nicht … Ich will keine Wunde aufreißen, die kaum vernarbt ist.«
Bisweilen überkamen mich immer noch Wellen von Fassungslosigkeit und Zorn, wenn ich daran dachte, dass Maman für immer achtundsechzig bleiben würde. Es war so ungerecht, dass sie auf diese Weise gehen musste, obwohl ihr bei der heutigen Lebenserwartung noch etliche Jahre zugestanden hätten! Aurélie sah, wie mir die Tränen in die Augen stiegen, und legte ihre Hand auf meine.
»Es ist doch ganz normal, dass du traurig bist, Julia. Frédérique war eine wunderbare Frau«, sagte sie voller Wärme. »Aber sie hätte nicht gewollt, dass du so leidest.«
Ich trank ein Glas Wasser, um meine Gefühle in den Griff zu kriegen.
»Ich weiß … Aber ich habe einfach Schiss davor, ihre letzten Worte zu lesen. Sie hat sich nach meinem beruflichen Desaster große Sorgen gemacht. Was ist, wenn darin lauter Vorwürfe stehen?«
Irgendwie wurde ich den Gedanken nicht los, dass meine Mutter ohne diese zusätzliche Belastung die Krankheit vielleicht besiegt hätte. Und deswegen hatte ich Schuldgefühle.
»Ein Grund mehr, ihn zu lesen!«, gab Aurélie zurück. »Dann weißt du wenigstens, woran du bist. Hast du ihn dabei?«
Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte ihn absichtlich zu Hause gelassen, weil ich sonst womöglich den ganzen Abend mit dem Umschlag in der Hand in der Restauranttoilette gehockt und überlegt hätte, ob ich ihn nun öffnen soll oder nicht.
»Nun ja«, sagte Aurélie nach einer kurzen Pause, »vielleicht ist es auch besser, wenn du das in Ruhe und allein tust. Und wenn du reden willst, kannst du mich jederzeit anrufen.«
Ein wenig aufgemuntert nickte ich. Der Kellner brachte uns den Nachtisch. Als er gegangen war, gab Aurélie mir mein Geburtstagsgeschenk, einen Gutschein für einen gemeinsamen Tag im Spa, einzulösen nach der Geburt.
»Ich dachte mir, das tut uns beiden gut«, erklärte sie, als ich mich bei ihr bedankte. »Zum Beispiel wenn ich nach zwei schlaflosen Monaten auf dem Zahnfleisch gehe.«
»Unsinn!«, zog ich sie auf. »Du wirst so hin und weg von deinem Baby sein, dass ich dich mit Gewalt von ihm loseisen muss, um dich in das Spa zu kriegen.«
Aurélie lachte und kostete dann ihren Moelleux au Chocolat.
»Mmh, der ist gut, aber mir fehlen deine Leckereien«, sagte sie. »Dabei hatte ich mich darauf verlassen, dass du für ein paar von meinen Schwangerschaftskilos sorgst.«
Die Patisserie war schon immer eine große Leidenschaft von mir gewesen. Doch leider hatte sie mich anscheinend ohne Vorwarnung im Stich gelassen.
»Ich habe schon seit Monaten nichts mehr gebacken«, murmelte ich. »Ich kann es nicht mehr.«
»Ehrlich gesagt hätte ich mir Gedanken um deine geistige Gesundheit gemacht, wenn du nach allem, was passiert ist, wie eine Besessene Kuchen produziert hättest. Warum gehst du nicht erst mal zur Bank zurück? Ich bin sicher, dass sie dich wieder einstellen würden.«
Autsch. Das dornige Thema, das ich um jeden Preis vermeiden wollte.
»Ich werde darüber nachdenken«, versprach ich ihr, während ich dem Kellner ein Zeichen gab, dass er uns die Rechnung bringen sollte.
Tatsächlich hatte ich keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Es wäre vernünftig, ihren Rat zu befolgen, aber ich hatte keine Lust auf das herablassende Mitgefühl meiner früheren Kollegen und erst recht nicht auf das Getuschel hinter vorgehaltener Hand. Auf diese Weise zurückzukehren, nachdem ich alles hingeschmissen hatte, überstieg meine Kraft. Aber einen Plan B hatte ich auch nicht, also würde mir wohl nichts anderes übrigbleiben.
Nach dem Essen ging ich mit dem quälenden Gefühl nach Hause, eine Versagerin zu sein. Wenn ich vor zwei Jahren, als ich eingewilligt hatte, für einen großen Fernsehsender zu arbeiten, geahnt hätte, was für ein Abgrund sich unter mir auftun würde, hätte ich es mir zweimal überlegt. Aber ich war ja so geschmeichelt gewesen, weil sie wegen meines erfolgreichen YouTube-Kanals auf mich zugekommen waren! Tagsüber Anlageberaterin bei der Bank, war ich abends meiner Leidenschaft für die Patisserie nachgegangen und hatte regelmäßig Rezepte gepostet, die lecker, ästhetisch ansprechend und gleichzeitig für jeden nachvollziehbar waren. Im Handumdrehen hatte ich Tausende von Followern, und von allen Seiten wurde ich mit Anfragen überschüttet. Die Produktionsfirma, die mich kontaktiert hatte, suchte damals jemanden wie mich für eine neue Sendung. Es ging darum, zusammen mit dem großen Willy Dolenc, der durch seine französischen Patisserien, die er in London eröffnet hatte, berühmt geworden war, die Kreationen von Amateuren zu beurteilen. Der Gewinner bekam eine ansehnliche Geldsumme, um sich damit selbstständig zu machen, es lohnte sich also. Mir wiederum hatten sie für zwölf Folgen zur besten Sendezeit eine überaus großzügige Gage angeboten. Es war der perfekte nächste Schritt, ein wahrgewordener Traum. Bis sie mich vor die Tür gesetzt hatten. Und zwei Wochen später hatte ich erfahren, dass meine Mutter krank war …
Ich lag auf dem Bett und presste die Faust auf den Mund, um nicht vor Verzweiflung aufzuheulen. Die Versuchung war groß, eine Tablette zu nehmen, um mich für ein paar Stunden in den Schlaf zu flüchten. Wieder sah ich das Gesicht von Isa vor mir, einer der PR-Managerinnen für die Sendung. Sie hatte eingewilligt, sich mit mir in einem Café in der Nähe des Gare d'Austerlitz zu treffen, bevor sie mit dem Zug nach Toulouse fuhr. Ich hatte mich verteidigt, wollte nicht einfach aufgeben. Doch Isa war gekommen, um mir klarzumachen, dass die Entscheidung der Produzenten endgültig war. Solange ich den Sender – und vor allem Dolenc – nicht öffentlich kritisierte, würde ich keinerlei Schwierigkeiten bekommen. Das sagte sie natürlich nicht offen, aber es schwang unterschwellig mit.
»Und es ist ja nicht so, als ob du auf der Straße stündest«, fügte sie hinzu. »Sie haben dir eine ordentliche Abfindung gegeben.«
Ich konnte es nicht fassen, dass sie mich auf diese Weise vor die Tür setzten. Das empfand ich als zutiefst ungerecht.
»Das war's also? Ihr werft mich einfach raus?«
»Du musst dir etwas anderes suchen, Julia. Ohne diese Plagiatsvorwürfe …«
Sie ließ den Satz unbeendet in der Luft hängen, obwohl sie wusste, dass an der Sache nichts dran war. Rein gar nichts.
»Ich habe nie irgendwen des Plagiats beschuldigt, das weißt du genauso gut wie ich.«
Mein einziger Fehler war, dass ich Fabien ins Herz geschlossen hatte, einen jungen Legastheniker, der am Schulsystem gescheitert war. Doch dann hatte er eines Tages erkannt, dass das Kuchenbacken sein Ding war. Jeder in der Jury sollte einen Kandidaten auswählen, an den er besonders glaubte, und ich hatte beschlossen, Fabien unter meine Fittiche zu nehmen. Das war den Produzenten nicht entgangen, und es hatte ihnen nicht gepasst. Deshalb hatten sie mich unvorteilhaft gezeigt und nur die Sequenzen behalten, in denen ich meinem Schützling Ratschläge gab oder skeptisch die Kreationen der anderen Kandidaten musterte. Ich war plötzlich die Zicke, und das Ganze wurde immer schlimmer, bis ich am Abend des Halbfinales zu Céline, dem Publikumsliebling, sagte, ihr Mango-Passionsfrucht-Dessert erinnere mich an das eines berühmten Patissiers. Es war als Kompliment gemeint, aber so, wie die Szene geschnitten war, klang es, als hätte ich sie des Plagiats bezichtigt – was noch durch Willy Dolenc verstärkt wurde, der auf meine Bemerkung hin die Augen verdrehte. Die Zuschauer zogen ihre Schlüsse daraus, auf Twitter brodelte die Gerüchteküche, und meine Werte auf der Beliebtheitsskala rutschten in den Keller. Laut den großen Entscheidern gab es nur eine Lösung: mich rauswerfen, um die Zuschauer bei Laune zu halten. Heute ein Star, morgen der letzte Dreck. Aurélie und meine Mutter waren überzeugt, dass Dolenc seine Finger im Spiel gehabt hatte, vielleicht aus Angst, dass ich ihn in den Schatten stellte. Dabei sah ich mich gar nicht als seine Rivalin. Im Gegenteil, vor dieser ganzen Affäre hatte ich ihn trotz seines miesen Charakters bewundert.
All das ist vorbei. Hör auf, immer wieder darüber nachzugrübeln.
Mit einem Seufzen drehte ich mich auf die Seite und erschrak, als mein Blick auf den Wecker fiel. Es war schon fast zwei, und ich schlief immer noch nicht. Noch vor kurzem hätte ich in so einer Situation irgendwas gebacken, um zur Ruhe zu kommen. Doch jetzt war es das Letzte, wozu ich Lust hatte. Schließlich kapitulierte ich genervt und stand auf. Meine Schritte führten mich zum Schreibtisch, wo der Brief lag, den mir der Notar gegeben hatte.
Für Julia.
Beim Anblick dieser wenigen elegant geschriebenen Buchstaben hörte ich im Geist sofort Mamans Stimme. Ich ließ den Brief noch einen Moment liegen und sah zur Wand, wo ich ein buntes Durcheinander von Fotos aufgehängt hatte. Sofort fand ich das Porträt meiner Mutter, das ich drei Jahre zuvor in Sauzon aufgenommen hatte, einer der vier Gemeinden auf Belle-Île-en-Mer. Sie hockte neben einem blauen Boot und sah aufs Meer hinaus, verträumt und nicht ahnend, dass die Krankheit bereits in ihrem Körper nistete. Das Grün ihrer Augen war so sanft wie ein Streicheln. Ich hatte sie immer darum beneidet, denn meine hatten den Braunton meiner Großmutter väterlicherseits. Kognakfarben, wie ein Barkeeper, mit dem ich mal kurze Zeit zusammen gewesen war, wenig schmeichelhaft gesagt hatte.
Maman … In dieser Nacht vermisste ich sie besonders. Sie hatte Sauzon so geliebt, war jeden Sommer dorthin gefahren und hatte vorgehabt, sich ganz dort niederzulassen.
»Versprich mir, dass du meine Asche in den Atlantik streust.«
Dieses Versprechen hatte sie mir abgenommen, als ihr klar wurde, dass sie nicht mehr lange genug leben würde, um sich auf diesem kleinen Fleckchen Erde mitten im Meer ein Haus kaufen zu können. Und ich hatte noch nicht den Mut aufgebracht, es einzulösen … Hatte sie mir deshalb geschrieben, um mich daran zu erinnern?
Mit den Fingerspitzen strich ich über ihre Schrift auf dem Umschlag. Wer weiß, vielleicht würde mir dieser Brief ja ein wenig Trost spenden. Ich holte tief Luft und riss ihn auf.
Mein Schatz,
wenn Du diese Worte liest, dann ist es der 3. Juni, und ich bin nicht mehr da, um Dir zum Geburtstag zu gratulieren. Zumindest haben die Ärzte es so vorhergesagt, und ich kenne diese Kerle ziemlich gut – was das angeht, irren sie sich selten. Ich bin also fort, dahin, entfleucht, bye-bye, Frédérique. Aber Du hast doch wohl nicht geglaubt, dass ich ohne ein Wort zu Deinem Vierunddreißigsten von der Bühne abtrete? Ich weiß, Du findest das vielleicht grausam und ungerecht. Aber ich möchte wenigstens versuchen, Dir meine Gründe darzulegen.
Gestern Abend lief eine Wiederholung von Pâtissiers Amateurs, und zwar die Folge, in der Du diesem grässlichen Dolenc erklärst, dass Dir der Apfelkuchen deiner Großmutter besser schmeckt als der von Céline, der Kandidatin, um die es diesmal ging. Er hat nur herablassend gelächelt, aber das war Dir ganz egal. Deine Augen strahlten vor genießerischer Freude und glücklicher Erinnerung. Ach, dieser Kuchen! Wir haben ihn nie genauso hinbekommen, obwohl Deine Großmutter uns das Rezept gegeben hat. Aber ich glaube, ich habe das Geheimnis gelüftet: Meiner Meinung nach ist das, was ihn so einzigartig macht, ganz einfach die Tatsache, dass es ihrer ist. Verstehst Du, was ich meine? Wie auch immer, als ich Dich von diesem Apfelkuchen schwärmen hörte, hat es bei mir plötzlich Klick gemacht. Du hast ein angeborenes Talent fürs Backen, und ich muss völlig vernagelt gewesen sein, als ich Dir damals an den Kopf geworfen habe, Du hättest etwas Besseres verdient. Das war kurz bevor Du aufs Gymnasium gekommen bist, weißt Du noch? Wir hatten Macarons gekauft, und Du hast zu mir gesagt, dass Du davon träumst, Patissière zu werden. Wie dumm ich war!
Du fragst dich bestimmt, worauf ich hinauswill, also höre ich auf, um den heißen Brei herumzureden: Ich möchte, dass Du Deinem Vater verzeihst. Nein, verdreh jetzt nicht die Augen, die Medikamente haben mir nicht den Verstand geraubt. Ich bin vollkommen klar im Kopf, und ich bitte Dich, lies weiter und nimm dies als meinen letzten Willen (das mit der Asche gilt weiterhin, falls Du Dich das fragst).
Wenn ich in den letzten Monaten eins gelernt habe, dann, wie zerbrechlich und kostbar unsere Existenz ist. Ich möchte nicht, dass Du eines Tages voller Reue aufwachst und denkst, es ist zu spät. Glaub mir, ich weiß, wovon ich spreche. Ich gebe mir Mühe, wenn Du mich besuchen kommst, ich spiele die Mutige, aber in Wirklichkeit habe ich Angst. Ich weiß, wie wütend Du auf Deinen Vater bist, und ich bedauere, dass ich Dich nicht schon eher in seine Richtung geschubst habe. Du ärgerst dich jetzt sicher, schließlich war ich es, die Dich von ihm getrennt, der Familie Lagarde entrissen und nach Paris verpflanzt hat. Das war meine Schuld. Aber das Leben geht weiter, unsere Ansichten verändern sich. Ich mache mir Vorwürfe, weil ich Dich entwurzelt habe. Die Angst lässt uns manchmal die größten Dummheiten begehen. Und doch … Jetzt ist die Angst an Deinen Körper gekettet. Du versuchst, es vor mir zu verbergen, aber ich sehe, dass das Licht in Deinen hübschen Augen matter geworden und Dein Lächeln zusammen mit Deinen letzten Rundungen dahingeschmolzen ist. Diese Mistkerle vom Fernsehen haben Dich unglücklich gemacht, und meine Krankheit lähmt Dich. Da ich noch nicht weiß, ob es Engel und Geister gibt, schicke ich Dir meinen Rat sicherheitshalber, solange mein Herz noch schlägt. Vorwärts gehen kannst Du nur, wenn Du ein wenig zurücktrittst. Wenn wir das Gefühl haben, gegen widrige Winde zu kämpfen, liegt die Lösung für unsere Probleme meist in unseren Wurzeln.
Geh diesen ersten Schritt auf Deinen Vater zu, Julia. Er wird es sich niemals trauen, denn er hat noch mehr Angst, als ich damals gehabt habe. Gebt euch die Chance, euch neu kennenzulernen. Bitte ihn, Dir von Marcel und Eugénie zu erzählen, den ersten Patissiers in unserer Familie, denen Du diese Leidenschaft verdankst.
Jetzt, mein Herz, mein Glückskind, bin ich müde. Die Krankheit erschöpft mich, meine Kräfte lassen sehr schnell nach. Ich hoffe, dass ich diese Zeilen nicht vergeblich geschrieben habe und dass Du Dir die Zeit nimmst, sie zu lesen, auch wenn Du wütend auf mich bist (fast freue ich mich, dass ich Deine Schimpfkanonade nicht mehr mitbekomme!). Du sollst wissen, dass Du der Stolz meines Lebens bist, mein größter und schönster Erfolg.
Das Leben macht uns bisweilen wunderbare Geschenke. Zweifle nie daran.
Alles Gute zum Geburtstag!
Ich hab Dich lieb.
Maman
PS: Falls Du inzwischen schon Kontakt mit Deinem Vater aufgenommen hast und es Dir wieder besser geht, kannst Du diesen Brief natürlich verbrennen und vergessen. Falls nicht, pack deinen Koffer und fahr zu ihm, sonst komme ich zurück, das schwöre ich Dir. Und zwar nicht, um Dir zu erzählen, dass es da oben lauter zauberhafte bretonische Inseln gibt, sondern um Dir einen Tritt in den Hintern zu verpassen.
Mit zitternden Händen faltete ich den Bogen wieder zusammen und schloss die Augen. Ein Schluchzen stieg in meiner Kehle auf, und Tränen liefen mir über die Wangen. Maman hatte viel mehr verstanden, als ich gedacht hatte, und ihre Worte trafen mich im tiefsten Kern. Wie naiv ich gewesen war, mir irgendeinen Trost zu erhoffen. Die Zukunft erschien mir ungewisser als je zuvor. Ich las mir ihre Anweisungen noch einmal durch. Ich sollte mich mit meinem Vater versöhnen? Ich verstand gar nichts mehr. Seit er mir den Abend meines zwanzigsten Geburtstags verdorben hatte, ging ich ihm aus dem Weg; unser Kontakt beschränkte sich auf ein paar kurze SMS zu Weihnachten und an den Geburtstagen. Ich erwartete nichts mehr von ihm und er auch nichts von mir. Was sollte das also?
Schönen Dank auch, Maman. Das ist nicht gerade nett von dir.
»Wenn wir das Gefühl haben, gegen widrige Winde zu kämpfen, liegt die Lösung für unsere Probleme meist in unseren Wurzeln.«
Unsere Wurzeln … Meine bestanden nur noch aus Erinnerungen. Ich hatte keine Lust, mich mit ihnen zu befassen, aber sie scherten sich nicht darum und verhöhnten mich trotzdem. Die hölzerne Windmühle gegenüber unserem Haus. Die Feldwege, über die ich so oft mit dem Rad gefahren war. Das Café du Sport mit seinen Stammgästen, die Häkelgardine hinter der Tür, die alte Bank am Fluss. Mein Cousin und ich, immerzu irgendwo draußen und dabei, eine Hütte zu bauen. Das sonntägliche Brathähnchen bei meiner Großmutter und natürlich ihr Apfelkuchen. Die Schwarzweißfotos, die wir uns nach dem Essen oft angesehen hatten, aus der Zeit, als mein Vater Kind gewesen war. Das fröhliche Gelächter im Hintergrund oder das Knistern einer alten Schallplatte. Ich auf den Schultern von Pépé Arthur, der für mich Ma p'tite Julia von Pierre Perret sang, bis ich eines Tages begriff, dass es darin um eine Ziege ging, und wütend wurde. Das war das Leben davor, als noch alles leicht und glücklich war. Vor dem Moment, als alles in tausend Scherben zerbrach.
Wieder spürte ich einen dicken Kloß im Hals. Dem schwindelerregenden Pfad der Vergangenheit zu folgen, war keine gute Idee. Ich hatte ewig nicht mehr an all das gedacht, und jetzt genügte ein Brief, um mich völlig aus dem Lot zu bringen. Ich riss das Fenster auf, um frische Luft zu schnappen. Um diese Zeit waren die Bistros geschlossen und keine Leute mehr unterwegs, außer einem Paar, das laut lachend unten am Haus vorbeiging. Der ganze Boulevard Pasteur lag in tiefem Schlaf, außer mir. Es war idiotisch, mich so aufwühlen zu lassen.
Geh ins Bett, meine Gute. Morgen geht's dir wieder besser.
Ich wischte mir die Tränen weg und versuchte, meine Angst im Zaum zu halten. Als ich am Schreibtisch vorbeiging, warf ich noch einen Blick auf den Brief, bevor ich mich auf mein Kissen sinken ließ. Doch ich wälzte mich weiter hin und her und kam einfach nicht zur Ruhe. Ich hatte das Gefühl, mit Geistern zu tanzen, in einem Wirbel gefangen zu sein, während die Stimme meiner Mutter mich ermahnte, einen Schritt zurückzutreten. Um sechs wachte ich schweißgebadet auf, überrascht, dass ich schließlich doch noch eingeschlafen war. Seltsamerweise war ich hellwach und ein bisschen aufgeregt, wie vor einer Reise. Während ich sonst morgens gerne noch ein paar Minuten liegen blieb, sprang ich jetzt aus dem Bett und machte mir einen starken Kaffee. Eine kalte Dusche, dann noch ein Kaffee. Der Brief lag immer noch auf dem Schreibtisch, und ich las ihn erneut, um mich zu vergewissern, dass der Wortlaut sich nicht verändert hatte. Ich begriff immer noch nicht, wozu es gut sein sollte, in die Touraine zurückzukehren, aber offensichtlich war meine Mutter überzeugt, dass es mir helfen würde. Amüsierte sie sich da oben über das Chaos, das sie in meinem Kopf angerichtet hatte?
Meinetwegen, dann werde ich deinen letzten Willen halt ausführen!
Entschlossen ging ich ins Schlafzimmer und stopfte ein paar Sachen in den Koffer. Als mein Blick auf das Handy fiel, hielt ich inne. Ich sollte meinem Vater wohl Bescheid sagen, dass ich kam. Aber ich hatte keine Lust, ihm alles zu erklären und am Ende doch nur zu hören, dass ich besser in Paris bleiben sollte. Egal, dann würde ich ihn eben überraschen. Wahrscheinlich lief ich nur gegen eine Wand, aber ich hatte ja nichts zu verlieren. Schließlich zwang mich nichts, länger als ein paar Tage zu bleiben. Und selbst wenn nichts dabei herauskam, hatte ich zumindest mein Gewissen beruhigt.
Unten warf ich einen letzten Blick in den Hinterhof mit seinen Blumen und Fahrrädern. Über dem Quartier Montparnasse ging sanft die Sonne auf, aber der Tag würde grau werden, wenn ich hierblieb. In Paris gab es nichts zu tun, nichts, was ich verpassen würde. Es war Zeit, dass ich meinen Mut zusammennahm und herausfand, was meine Wurzeln für mich bedeuteten.
Ah, tu verras, tu verras / Tout recommençera, tu verras, tu verras / L'amour est fait pour ça, tu verras, tu verras …
Ich bog auf einen Feldweg ab und stellte den Motor aus. Das Radio verstummte, und mit ihm Claude Nougaro. Für manche Dinge war ich noch nicht bereit, und das Lieblingslied meiner Mutter zu hören, war eines davon. Ich war drei Stunden am Stück gefahren und hatte keine Pause gemacht, aus Angst, dass ich meine Meinung ändern und umkehren könnte. Ich wusste, dass ich meinen Seelenfrieden nie wiederfinden würde, wenn ich Mamans letzten Wunsch nicht befolgte. Dennoch wurden die Zweifel mit jedem Kilometer stärker. War das, was ich hier tat, nicht vollkommen verrückt? Und jetzt auch noch Nougaro, der Salz in meine Wunden streute … Entschlossen, nicht weiter darüber nachzudenken, schaltete ich mein Handy ein. Eine Nachricht von Aurélie. Sie hätte in dem Chanson auch ein Zeichen gesehen. Doch sie wollte nur wissen, wie es mir ging; sie wusste ja noch nicht, dass ich dreihundert Kilometer von ihr entfernt war.
Ich stieg aus, um die Landschaft um mich herum mit neuem Blick zu betrachten. Im warmen Frühsommerlicht breiteten sich, durchzogen von kleinen Waldstücken, die Felder aus. Die Erde, die noch feucht vom nächtlichen Regen war, verströmte einen leisen Duft. In der Ferne konnte ich den Fluss sehen und oberhalb davon das Dorf mit seinem spitzen Kirchturm. Kein Zweifel: Ich war tatsächlich wieder in Cressigny, dem kleinen, von Wald umschlossenen Marktflecken im Herzen der Touraine. Hier tauschte man beim Zeitungskauf seine Neuigkeiten aus, und kleinere Geschwindigkeitsverstöße wurden mit einer Flasche Ricard geregelt. Was für ein seltsames Gefühl, wieder hier zu sein! Obwohl ich die Gegend in- und auswendig kannte, fühlte es sich so an, als würde ich einen Sprung ins Nichts wagen. Was würde mich bei meiner Ankunft erwarten? Ich ging ein paar Schritte, bis mein Handy ausreichend Empfang hatte. Ein kleiner Plausch mit Aurélie würde mir helfen, meine Aufregung abzumildern.
»Hallo, meine Schöne«, meldete sie sich. »Na, was gibt's Neues?«
»Du errätst nie, wo ich bin …«
»Vor der Patisserie von Dolenc, um eine Bombe hineinzuwerfen?«
Ich musste lachen, aber es klang ein wenig zittrig.
»Viel besser! Ich stehe inmitten von Feldern. Du hältst mich wahrscheinlich für verrückt, aber ich muss zurück in das Dorf meiner Kindheit.«
»Was?«, rief sie aus. »Wie kommt's? Du hast dich doch seit Monaten kaum aus dem Haus bewegt.«
»Ich habe den Brief gelesen.« Ich schilderte ihr kurz den Inhalt. »Einen Moment lang habe ich mich ernsthaft gefragt, ob meine Mutter was geraucht hatte.«
»Wow, das ist ja ein Ding!«, sagte Aurélie. »Zurück zu den Ursprüngen … Und wie fühlst du dich?«
Zögernd gab ich zu, wie nervös ich war. »Ich würde mich ja gerne darauf freuen, aber so ist es nicht, ganz im Gegenteil. Wenn Maman zu ihren Lebzeiten damit gekommen wäre, hätte ich mich nie darauf eingelassen … Ich bin schon ewig nicht mehr hier gewesen.«
Das letzte Mal war vier Jahre her. Damals hatte ich nur einen Kurzbesuch gemacht, als meine Großmutter einen Schlaganfall gehabt hatte. Sobald ich sie in guten Händen wusste, war ich nach Paris zurückgekehrt.
Aurélie sagte, dass sie meine Befürchtungen verstand. Ich hatte ihr gegenüber nie einen Hehl daraus gemacht, wie sehr meine Mutter und ich unter dem Verhalten meines Vaters gelitten hatten.
»Aber weißt du«, fuhr sie fort, »selbst wenn dir die Bitte deiner Mutter verrückt erscheint, es tut dir bestimmt gut, mal ein bisschen rauszukommen.«
Da hatte ich so meine Zweifel, aber das behielt ich für mich. »Wahrscheinlich hast du recht. Solange ich hier bin und versuche, mich mit meinem Vater zu versöhnen, hocke ich wenigstens nicht grübelnd in meiner Wohnung. Übrigens kannst du dir gerne alles aus meinem Kühlschrank holen, weil ich noch nicht weiß, wann ich wieder da bin.«
»Sind da noch welche von diesen göttlichen Tiramisu-Joghurts?«
»Ich glaube schon.«
»Ich wusste doch, dass ich die Richtige als Patentante gewählt habe! Fährst du direkt zu deinem Vater?«
»Erst schaue ich noch bei meiner Tante Méline vorbei. Ich halte dich auf dem Laufenden.«
»Ich bitte darum! Insbesondere falls du plötzlich wie im Kitschroman eine Eingebung hast und beschließt, nach Japan zu gehen, um die weißen Katzen im Tempel von Setagaya anzubeten.«
»Das ist dein großer Traum!«, gab ich lachend zurück. »Mich lockt es ja eher an die Strände Thailands.«
»Warum fliegst du nicht hin?«
»Weil ich immer noch nicht weiß, wie meine Zukunft aussehen wird, und bis dahin werfe ich mein Geld lieber nicht aus dem Fenster. Die Touraine belastet das Budget nicht so.«
»Kluge Entscheidung. Melde dich bald wieder, ja?«
Ich beendete das Gespräch mit deutlich besserer Laune. Im Grunde war ich fast froh, meinem täglichen Elend zu entkommen.
Ich setzte mich wieder ins Auto und fuhr direkt in den Ort, bis zu einer schmalen, blumengeschmückten Straße mit dem hübschen Namen Impasse des Dames. Dort wohnten meine Tante und mein Onkel, in einem bezaubernden Haus mit veilchenblauen Fensterläden, dessen Steinfassade mit Kletterrosen bewachsen war. Ich parkte neben dem kleinen, weiß gestrichenen Eisentor und ging den Weg zum Haus hinauf. Doch als ich den Türklopfer betätigte, rührte sich nichts. Mist … Ich wollte wirklich gerne erst mit Méline sprechen, bevor ich mich mit meinem Vater auseinandersetzte. Sie würde mich auf den neuesten Stand bringen, mir sagen, was mich erwartete. Nur sie konnte mir den nötigen Mut geben. Eine große graue Katze kam um die Hausecke und rieb sich an meinem Bein. Ich bückte mich, um ihr den Rücken zu streicheln, den sie mir schnurrend entgegenwölbte.
»Na, du? Haben sie dich aus Japan hergeschickt?«, fragte ich sie in Erinnerung an Aurélies Bemerkung. »Wo ist denn dein Frauchen?«
Statt einer Antwort verschwand die Katze ebenso schnell, wie sie aufgetaucht war. Da ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, ging ich nach hinten in den Garten, in der Hoffnung, Méline dort zu finden. Und tatsächlich! Sie stand am Vogelhäuschen und war dabei, Brot zu zerkrümeln. Allein ihr Anblick war Balsam für meine Seele. Meine Tante war die Einzige aus der Familie meines Vaters, die zur Beerdigung meiner Mutter gekommen war. Sie war mir eine große Stütze gewesen und hatte mich mit ihren lieben Worten und ihren Gemüsegratins getröstet. Im Gegensatz zu meinem Vater, ihrem älteren Bruder, war Méline eine strahlende Frau. Jemand, bei dem man sich auf Anhieb wohlfühlte. Sie besaß eine unerschöpfliche Geduld, und in ihren Augen lag immer ein Lächeln. Für mich war sie der Inbegriff des Lebens in all seiner Schönheit, des Lebens, das sang und prickelte. Mir fiel auf, dass sie einen gelben Rock trug. Gelb war ihre Lieblingsfarbe, und in ihrer Kleidung war immer etwas Gelbes, weil es sie an die Sonne erinnerte.
»Hallo, Méline!«, rief ich voller Freude.
»Julia?« Verdutzt drehte sie sich um. »Das ist ja eine Überraschung!«
Sie klopfte sich die Hände an der Schürze ab und umarmte mich.
»Wie schön, dich zu sehen, meine Liebe!«, sagte sie. »Aber warum hast du denn nicht vorher angerufen?«
»Na ja, es war ein ziemlich spontaner Entschluss.«
Meine Tante musterte mich einen Moment, als fragte sie sich, ob womöglich etwas Schlimmes passiert war.
»Du siehst müde aus«, bemerkte sie. »Willst du mir bei einem Kaffee erzählen, was los ist?«
Ich folgte ihr, und wir gingen durch den Hintereingang in die Küche, die rustikal, aber gemütlich eingerichtet war. Sie setzte den Kaffee auf, dann drehte sie sich zu mir um.
»Steht dir gut, so ganz natürlich. Du bist hübsch.«
Hübsch? Als ich mich vorhin im Rückspiegel gesehen hatte, war ich mir eher fade vorgekommen mit meinen feinen, langweilig braunen Haaren und dem ungeschminkten Gesicht.
»Danke«, murmelte ich wenig überzeugt. »Obwohl ich nicht weiß, wie du darauf kommst.«
»Unsinn!«, sagte sie und reichte mir die Tasse, die sie gerade gefüllt hatte. »Du bist das Ebenbild deiner Großmutter.«
Die Katze, der ich ein paar Minuten zuvor begegnet war, kam leise herein und sprang mir schnurrend auf den Schoß, was Méline amüsierte.
»Wie ich sehe, hast du Grisette bereits kennengelernt.«
»Beim letzten Mal war sie doch noch nicht da, oder?«, fragte ich.
»Paul hat sie vor zwei Jahren im Wald gefunden. Die Ärmste war vollkommen abgemagert. Sie tat uns leid, also haben wir sie behalten.«
Als sie meinen Onkel erwähnte, fiel mir auf, dass ich ihn gar nicht gesehen hatte. »Wo ist er denn überhaupt?«
»Ein paar Sachen für den Garten besorgen.«
»Ich schließe daraus, dass es mit eurem Projekt vorangeht?«
Méline und Paul planten, ein Bed and Breakfast aufzumachen. Sie hatten in der oberen Etage zwei Zimmer, die sie nicht nutzten, und da sie schon immer gerne Gäste gehabt hatten, war es eine ausgezeichnete Möglichkeit, Gesellschaft zu haben und gleichzeitig ihre Rente ein wenig aufzubessern. Ihr Haus, das aus dem achtzehnten Jahrhundert stammte, war dafür wie geschaffen. Sie hatten es kurz nach ihrer Heirat gekauft und nach und nach renoviert. Beide liebten alte Steine, das hatte sie sogar zusammengebracht. Eines Tages war Paul auf dem Weg zu seinen Eltern, die er besuchen wollte, auf ein Bier ins Café du Sport gegangen, die Bar meiner Großeltern, wo meine Tante damals arbeitete. Er suchte ein altes Haus, das er wieder herrichten wollte, und Méline hatte ihm mit Begeisterung dabei geholfen. Das war 1976 gewesen, und Paul hatte Cressigny nie wieder verlassen.
Méline trank einen Schluck von ihrem Kaffee, bevor sie mir mit ihrer warmen, sanften Stimme antwortete: »Ja, es geht voran, aber wir liegen etwas hinter dem Zeitplan zurück. Jetzt erzähl doch mal, was führt dich hierher?«
Ich beschloss, nicht lange um den heißen Brei herumzureden. »Meine Mutter.«
Sie zog fragend die Augenbraue hoch, und ich nahm den Brief aus meiner Handtasche und schob ihn ihr hin.
»Den hat mir der Notar gestern gegeben«, erklärte ich.
»So? Wie eigenartig!«
Neugierig setzte Méline ihre Brille auf und faltete den Bogen auseinander. Ich beobachtete sie, während sie die Worte las, die mich am Tag zuvor so aufgewühlt hatten. Mit ihren neunundsechzig Jahren hatte meine Tante einige Falten um die Augen und den Mund, doch das beeinträchtigte ihre Schönheit nicht, im Gegenteil, es unterstrich noch die ruhige Kraft, die sie ausstrahlte.
»Was für ein wunderbarer Brief«, sagte sie und legte ihn wieder hin.
Ihre Augen, die vom gleichen Braun waren wie meine, glitzerten feucht. Mir wurde ganz eng in der Kehle, und ich musste schlucken, bevor ich ihr die Frage stellen konnte, die mich beschäftigte.
»Meinst du, es war richtig zu kommen?«
»Du wärst nicht hier, wenn du die Antwort in deinem Herzen nicht schon wüsstest.«
Das entsprach dem, was Aurélie zu mir gesagt hatte. Wenn meine Zweifel doch nur so leicht auszuräumen gewesen wären! Ich rieb mir die müden Augen. Mit einem Mal schien sich mein Wille, nicht länger Trübsal zu blasen, in Luft aufgelöst zu haben.
»Ich weiß einfach nicht mehr weiter, Méline. Egal, was ich tue, ich habe das Gefühl, rückwärts zu gehen.«
Sofort stand sie auf und ging um den Tisch herum zu mir.
»Das tut mir so leid für dich!«, sagte sie voller Mitgefühl und legte den Arm um mich. »Bist du in Behandlung?«
»Nein. So schlimm ist es auch wieder nicht, dass ich mich umbringen will. Mir ist nur, als würde ich vor einer Wand stehen.«
Sie wirkte erleichtert. »Ich mag keine Klischees, Julia, aber manchmal muss man erst hinfallen, um wieder aufstehen zu können. Und wir fallen alle irgendwann. Du bist eine bemerkenswerte junge Frau, und dir fehlt es weder an Klugheit noch an Fantasie. Irgendwann wirst du wieder klarer sehen.«
Das waren keine leeren Floskeln – wenn Méline so etwas sagte, dann war sie auch davon überzeugt. Ich seufzte.
»Mein Gejammer ist schrecklich, nicht? Andere Leute machen viel Schlimmeres durch und kämpfen sich trotzdem vorwärts.«
»So darfst du nicht denken. Es gibt unterschiedliche Arten von Schmerz und alle möglichen Ursachen. Aber das Gefühl ist dasselbe. Du hast das Recht, unglücklich zu sein und in Ruhe deinen Weg zu suchen. Das wird schon, und wir sind für dich da.« Sie strich mir sanft über die Wange.
»Du bist für mich da«, korrigierte ich sie, denn ich wusste ja noch nicht, wie mein Vater reagieren würde, wenn ich bei ihm auftauchte.
Ich fragte sie, ob sie ihn in letzter Zeit mal gesehen hatte. Méline kehrte auf ihren Platz zurück und erwiderte, dass er kaum noch das Haus verließ.
»Eine Nachbarin putzt jede Woche bei ihm. Und ich sorge dafür, dass er sich vernünftig ernährt.«
Ich schüttelte verdutzt den Kopf. Wie konnte es mit meinem Vater, dem angesehenen einstigen Tierarzt, so weit gekommen sein?
»Er macht sich große Vorwürfe, weil er dir und Frédérique solchen Kummer bereitet hat«, fuhr Méline fort. »Die Vergangenheit ist hier an jeder Ecke gegenwärtig, und er denkt, wenn er sich zu Hause verkriecht, schützt ihn das vor dem Schmerz.«
»Und das funktioniert so gut, dass er sich betrinken muss, um an nichts mehr zu denken«, murmelte ich verbittert.
Dabei hatte ihn doch niemand gezwungen, alles kaputtzumachen! Die Geschichte meiner Eltern war so traurig wie klassisch. Zwei Jahre vor meiner Geburt hatten sie sich in Paris kennengelernt. Meine Mutter war nach der Nachtschicht auf dem Heimweg, froh, endlich schlafen gehen zu können. Mein Vater wiederum musste in die Tierklinik und war schon spät dran, deshalb beeilte er sich und passte nicht richtig auf. An der Ecke der Avenue de Breteuil stießen sie zusammen, und anstatt sich zu streiten, wessen Schuld das war, fanden sie sich sympathisch und verabredeten sich. Als Maman mit mir schwanger war, beschlossen sie, sich in der Touraine niederzulassen, wo seine Familie lebte. Alles lief wunderbar – bis zum Sommer 1990, als meine Mutter meinen Vater mit einer anderen Frau im Bett erwischte. Sie reichte sofort die Scheidung ein und zog mit mir nach Paris. Seitdem hatte mein Vater sich in einer Art Dauer-Unglück eingerichtet und angefangen zu trinken. Und ich nahm es ihm übel, dass er das Opfer spielte, obwohl er ganz allein schuld an allem war.
Meine Tante lächelte milde. »Er hat seit einem halben Jahr keinen Tropfen Alkohol mehr getrunken.«
»Wirklich? Er hat mir gestern eine SMS zum Geburtstag geschrieben, aber davon hat er nichts erzählt.«
Es machte mich traurig, dass er es nicht mal über sich gebracht hatte, mir eine solche Nachricht mitzuteilen.
»Mein Bruder war schon immer eher verschlossen. Lass ihm Zeit. Wie lange bleibst du?«
»Ich weiß nicht, das hängt davon ab, wie es weitergeht. Maman war offenbar wichtig, dass Papa mir von Marcel und Eugénie erzählt«, antwortete ich und tippte auf den Brief. »Aber ich verstehe nicht, was sie mit dem Ganzen zu tun haben. Das ist doch seltsam, oder?«
»So seltsam auch wieder nicht. Schließlich hat unsere Geschichte mit ihnen angefangen, und Serge hatte sie immer sehr gerne.«
Dieser Gedanke war mir nie gekommen. Für mich waren meine Urgroßeltern nur unscharfe Gesichter auf alten Fotos. Marcel hatte ich nie kennengelernt, er war bereits mehrere Jahre vor meiner Geburt gestorben, und bei Eugénies Tod war ich gerade mal sechs gewesen.
»Gut, ich werde ja sehen, ob er Lust hat, über die Vergangenheit zu reden … Kann ich vielleicht hier übernachten?«, fragte ich schüchtern.
Méline verzog das Gesicht, und sofort bereute ich meine Frage. »Ich will euch natürlich nicht stören.«
»Das ist es nicht, Liebes, du bist uns immer willkommen. Aber im Moment ist es etwas kompliziert. Alexandre ist wieder hier eingezogen, deshalb geht es mit unseren Plänen auch nicht weiter.«
Verdattert starrte ich sie an. »Alex? Haben er und Tania sich getrennt?«
Die beiden hatten immer wie ein gutes Paar gewirkt. Sie hatten jung geheiratet und waren erst zweiundzwanzig gewesen, als Léonore, die Frucht ihrer Liebe, zur Welt gekommen war. Und sie hatten immer zueinandergehalten, selbst als Tanias Eltern, beide Anwälte in einem Unternehmen, ihnen zu verstehen gegeben hatten, dass sie sich für ihre Tochter eine bessere Partie wünschten.
»Die Boulangerie ist pleitegegangen«, sagte Méline traurig. »Sie haben sich in eine unmögliche Situation manövriert, und die Gerichtsvollzieher haben das Haus beschlagnahmt, um ihre Schulden zu begleichen. Bis sie sich berappelt haben, wohnen sie bei uns.«
Du liebe Güte! Davon hatte ich keine Ahnung gehabt. Mein Cousin, gelernter Patissier, hatte in Tours ein Ladengeschäft gekauft, um sich selbstständig zu machen. Ich war überzeugt gewesen, dass alles rund lief, denn er und Tania konnten gut anpacken. Wann hatte ich eigentlich aufgehört, mich für meine Familie zu interessieren?
Vermutlich seit du deine Karriere über alles andere gestellt hast.
»Das tut mir leid für die beiden. Was ist denn schiefgelaufen?«
»Schwer zu sagen. Ein ungünstiger Standort, die Erschöpfung … Anstatt jemanden dafür einzustellen, hat Alex sich in den Kopf gesetzt, selbst auch Brot zu backen. Das hat ihn so viel Kraft und Zeit gekostet, dass er bei der Patisserie Abstriche gemacht hat.«
»Ich verstehe. Er hat Tiefkühlware genommen …«
Méline nickte. »Und die hat nicht dieselbe Qualität wie das, was er selbst herstellt. Tania hat sich um die Kasse und die Kunden gekümmert, aber das liegt ihr nicht, und das hat man auch gespürt. Schließlich sind die Leute anderswohin gegangen.«
»Das ist ja schrecklich. Haben sie denn wieder Arbeit gefunden?«
Sie nickte erneut. »Alexandre ist bei Delorme in Descartes untergekommen. Das ist nicht toll, aber besser als nichts. Und Tania arbeitet wieder als Haushaltshilfe; in dem Bereich werden immer Leute gebraucht.«
Ich mochte mir gar nicht vorstellen, wie viele Stunden die beiden täglich schufteten, um ihre Schulden abzuzahlen.
»Und wie geht es Léonore damit?«
Bei der Erwähnung ihrer Enkelin fand meine Tante zu ihrem Lächeln zurück. »Ah, unsere Léo! Sie ist eine reine Freude! Sie hat sich schnell in ihrer neuen Schule eingefunden. Und sie arbeitet gerne mit deinem Onkel im Gemüsegarten, das macht ihr Spaß. Außerdem ist sie eine richtige Leseratte; im Moment verschlingt sie meine alten Agatha-Christie-Krimis. Du wirst staunen, wie klug und selbstständig sie schon ist, fast wie du damals in dem Alter.«
»Sie muss groß geworden sein. Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, war sie noch ein Dreikäsehoch.«
»Du wirst sie nicht wiedererkennen. Apropos: Komm doch morgen noch mal vorbei. Mittwochs hat Alex seinen freien Nachmittag.«
Der Vorschlag war verlockend. Mein Cousin und ich waren uns als Kinder sehr nah gewesen, jedenfalls, bis meine Mutter mit mir nach Paris gegangen war. Als Heranwachsende waren meine Interessen großstädtischer geworden, und ich war nicht länger der verkappte Junge, den Alex gekannt hatte. Statt auf Bäume zu klettern, hockte ich stundenlang in meinem Zimmer, hörte Musik und träumte vor mich hin. Der Abstand zwischen uns war größer geworden, und wir hatten uns nur noch aus der Ferne gesehen, jeder mit seinem eigenen Leben beschäftigt. Und die Gelegenheiten, bei denen wir uns sahen, waren immer seltener geworden.
»Sehr gerne«, sagte ich.
Méline strahlte. »Wir könnten ja zusammen Suzette einen kleinen Besuch abstatten«, schlug sie vor. »Sie würde sich auch sehr freuen, dich mal wiederzusehen.«
Suzette war meine Großmutter. Leider hatte ich mich, wie beim Rest meiner Familie, in der letzten Zeit auch bei ihr kaum gemeldet. Seit ihrem Schlaganfall lebte sie in einem Pflegeheim. Ich nickte und versuchte, all die neuen Informationen zu verdauen. Die Müdigkeit holte mich wieder ein, dabei war der Tag noch lange nicht zu Ende.
Ich schob meinen Stuhl zurück. »Tja, ich muss jetzt wohl mal zu Papa. Das Schwerste steht mir noch bevor.«
Méline deutete mit dem Kinn zum Telefon, das auf dem Tisch lag. »Soll ich ihm Bescheid sagen, dass du kommst?«
Ihre Hilfsbereitschaft rührte mich, aber das hier wollte ich allein schaffen.
»Danke, aber das ist nicht nötig. Dann bis morgen«, sagte ich und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
»Bis morgen, Liebes. Und ein guter Rat: Hab Geduld mit deinem Vater.«
Von allen Szenarien, die ich mir ausmalte, stand das nicht gerade oben auf der Liste. Im Gegenteil, allein bei der Vorstellung, mit ihm unter einem Dach zu hausen, bekam ich Depressionen. Aber was blieb mir anderes übrig?
Nach der Scheidung hatte mein Vater das Haus behalten, das unterhalb des Dorfes lag, am Hang, der zum Fluss hinunterführte. Es war nicht sehr groß, drei Zimmer im Erdgeschoss und zwei im oberen Stock. Meine Eltern hatten es gekauft, als mein Vater sich als Tierarzt im Dorf niederließ. Dort hatte ich meine ersten Schritte gemacht und meine ersten Worte gesprochen. Dort hatte ich mir mit neun das Handgelenk gebrochen, als ich wie Mary Poppins das Treppengeländer hinuntergerutscht war. Dort hatte ich meine ersten Kuchen gebacken und meine Geburtstage gefeiert. In diesem Haus hatte ich die schönsten Momente meiner Kindheit erlebt, hatte mit meinem Cousin im Garten Hütten gebaut und Äpfel und Haselnüsse direkt vom Baum gegessen. Zweifellos hatte dieser Ort eine Seele – von der jedoch nicht allzu viel übriggeblieben war, wie ich feststellte, als ich vor dem halb verrosteten Gittertor stand. Der Hauseingang sah nicht viel besser aus, und der Boden war fast überall von Ackerwinde überwuchert. Wäre nicht aus einem halb geöffneten Fenster der Fernseher zu hören gewesen, hätte man glauben können, das Haus wäre seit langem verlassen. Offensichtlich kümmerte sich mein Vater um nichts.
Hätte ich mir doch bloß ein Hotelzimmer genommen! Gereizt drückte ich auf die Klingel. Kurz darauf wurde die Tür geöffnet, und vor mir stand ein Mann mit unrasiertem Gesicht, schütterem grauem Haar, matten braunen Augen und von geplatzten Äderchen überzogener Nase: Mein Vater, der immer so robust gewesen war, war nur noch ein Schatten seiner selbst. Ich war völlig perplex. Und er offenbar auch, denn einen Moment lang dachte ich, er würde die Hand auf die Brust pressen und tot umfallen. Aber er fing sich rasch wieder.
»Ach, du bist's«, sagte er, und seine Stimme klang so rau, als hätte er sie lange nicht benutzt.
Freu dich bloß nicht zu sehr …
Ich hatte mir nicht überlegt, was ich sagen sollte. Ihm an den Kopf zu werfen, dass ich nur die postumen Anweisungen meiner Mutter befolgte, erschien mir nicht sehr klug. So beschränkte ich mich auf das absolute Minimum.
»Ja, ich bin's. Ich musste mal raus. Kann ich für ein paar Tage bei dir bleiben?«
In seinem Blick leuchtete kurz etwas auf, aber ich wusste nicht, was es war. Außerdem verschwand es sofort wieder.
»Ich wüsste nicht, was dagegen spräche«, erwiderte er und wandte sich um.
Mit gebeugten Schultern schlurfte er ins Wohnzimmer, der Inbegriff der Resignation. Entmutigt von seiner Gleichgültigkeit machte ich kehrt, um meine Sachen zu holen. Als ich den Kofferraum meines Peugeots öffnete, hatte ich das bittere Gefühl, doppelt verlassen zu sein: von meiner Mutter wie von der Zuneigung meines Vaters. Natürlich hatte ich nicht mit Begeisterungsstürmen gerechnet, dazu war er nicht der Typ, aber ich hatte doch gehofft, dass er sich trotz allem ein wenig freuen würde, mich zu sehen. Das konnte ja heiter werden.
»Ich störe dich doch nicht?«, fragte ich ihn, als ich zurückkam.
Von seinem Sessel aus blickte er verdutzt auf meinen Koffer und dann zu mir. »Nein. Aber wie lange willst du denn bleiben?«
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