Das Lichtenstein – Modehaus der Hoffnung - Marlene Averbeck - E-Book + Hörbuch

Das Lichtenstein – Modehaus der Hoffnung Hörbuch

Marlene Averbeck

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Beschreibung

Ein Jahrzehnt der Hoffnung Berlin, 1928. Im Herzen dieser vor Kreativität flirrenden Modemetropole ist das Warenhaus Lichtenstein ein Ort, an dem unterschiedlichste Menschen aufeinandertreffen: Hedi, einst Ladenmädchen im Lichtenstein, ist inzwischen mit Hannes, dem Konfektionär des Hauses, verheiratet. Sie haben eine Tochter und teilen die Liebe zur Konfektionsmode – bis Hannes sich einer anderen Frau zuwendet. Thea leitet die Schneiderkontrolle und ist glücklich mit ihrer Großfamilie und Ehemann Georg. Einzig ihr Geheimnis um Sohn Carl hütet sie vor ihm. Schauspielerin Ella hat alles, was sie sich erträumt hat: beruflichen Erfolg und mit Galerist Gustav genau den Ehemann, der es versteht, ihr Leben zu teilen. Nur ihre Freundinnen Hedi und Thea wissen um den schönen Schein, den Gustav brutal zerstört. Die Weltwirtschaftskrise wird für das Warenhaus zur Bedrohung. Ludwig Lichtenstein will einen Pakt mit den Nazis eingehen, um die Kassen wieder zu füllen. Sein Plan spaltet die Belegschaft und vertieft den schwelenden Konflikt mit seinem Bruder Jacob.

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Zeit:12 Std. 38 min

Sprecher:Sandra Voss

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Marlene Averbeck

Das Lichtenstein

Modehaus der Hoffnung

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Figurenübersicht

Hedi Hallberg, geb. Markwardt, hat im Kaufhaus Lichtenstein gearbeitet. Dort hat sie den Konfektionär Hannes Hallberg kennen und lieben gelernt. Die beiden sind verheiratet und haben eine Tochter.

 

Hilde Markwardt ist vor Jahren zur Witwe geworden. Sie steht ihrer Tochter Hedi oft zur Seite und engagiert sich für Frauenrechte.

 

Hannes Hallberg ist Konfektionär im Lichtenstein. Er hat im Krieg ein Bein verloren und leidet unter den Erlebnissen an der Front, die ihm immer wieder schwermütige Phasen bescheren.

 

Ella Feinstein, geb. Winkler, ist Theater- und Filmschauspielerin und das Aushängeschild des Lichtensteins. Sie ist mit dem Galeristen Gustav Feinstein verheiratet und trägt nur auf dem Papier seinen Nachnamen. Beruflich hat sie ihren Mädchennamen beibehalten.

 

Gustav Feinstein ist Galerist, der Prototyp des Berliner Dandys, der inzwischen mit der Schauspielerin Ella Winkler verheiratet ist.

 

Friedrich Lichtenstein hat das Kaufhaus aufgebaut. Er sieht sich als erzkonservativer Preuße. Inzwischen ist er ein sogenannter »Frühstücksdirektor«, der nur noch arbeitet, wenn es ihm passt.

 

Marianne Lichtenstein hat ihren Mann in jungen Jahren geheiratet. Um mit ihr den Bund fürs Leben schließen zu können, ist er konvertiert, vom Juden- zum Christentum.

 

Jacob Lichtenstein leitet – nachdem er seinen Bruder Ludwig vor Jahren im Streit aus dem Haus gedrängt hat – das Lichtenstein. Für ihn zählt, was Kundinnen und Kunden wünschen …

 

Ludwig Lichtenstein hat die letzten Jahre in München verbracht und dort geheiratet. In München hat er begonnen, sich für Politik zu interessieren. Er kehrt mit seiner Frau Noelle nach Berlin zurück – seine Gründe sind vielschichtig.

 

Thea Meuser, geb. Stübner, steht der Schneiderkontrolle im Lichtenstein vor, sie hat im Haus vor Jahren als Näherin begonnen. Sie ist mit dem Zwischenmeister Georg Meuser verheiratet.

 

Sohn Carl Meuser ist musisch begabt und Theas ganzer Stolz.

 

Georg Meuser ist Zwischenmeister und beschäftigt zahlreiche Näherinnen in Heimarbeit.

 

Agnes Stübner ist Theas Mutter, Lenchen und Gerd sind ihre jüngeren Geschwister.

 

Helene Löwy, geb. Schrader, hat vor Jahren Jacobs Herz erobert. Doch Helenes Vater, ein Bankier, hat den Kontakt unterbunden. Sie ist mit Oscar Löwy verheiratet, die beiden haben eine Tochter.

 

Martha Schrader, Gattin des Bankiers Dr. Schrader und Mutter von Helene, ist eine lebenstüchtige Frau, die im Lichtenstein zu arbeiten beginnt.

 

Albert Karmaker ist ein Schauspielkollege von Ella Winkler, inzwischen lebt er in Wien und ist dort am Burgtheater erfolgreich.

Helmut Dillinger, Sohn des Inhabers eines Versicherungsunternehmens. Jacob hat mit ihm die Schule besucht.

 

Käthe ist Haushälterin bei den Lichtensteins.

Regina ist Haushälterin bei Ella und Gustav Feinstein.

 

Sonstiges Personal im Lichtenstein:

 

Lore Müller, auch Müllersche genannt, ist die Vorzimmerdame der Herren Lichtenstein.

 

Grete, ihren Nachnamen kennt kaum einer, ist die Portiersfrau, die Portiersche, wie die Berliner sagen.

 

Karl Kiesewetter ist Lagermeister im Lichtenstein, wie lange schon, weiß eigentlich niemand mehr.

 

Josefine Wagner ist die erste Verkäuferin in der Damenbekleidung.

 

Heiner Hoffmann ist Leiter der statistischen Abteilung.

 

Cilly Meinicke gehört zu den Näherinnen des Hauses.

 

Trude Friedhoff ist Verkäuferin in der Weißwaren-Abteilung. Ihre Tochter Alicia macht eine Lehre im Lichtenstein.

 

Margarete Kaiser ist in der Versandabteilung tätig.

 

Hausmeister Kühn werkelt immer im Hintergrund des Kaufhauses.

 

Tamara Klinger ist Gattin eines Arztes an der Charité und Kundin des Lichtensteins.

 

Frau Geheimrat Kunze ist Kundin im Lichtenstein.

 

 

Im Anhang finden sich

ein Glossar,

ein Verzeichnis realer Persönlichkeiten und Institutionen sowie

ein Nachwort zur Berliner Konfektion.

Berlin, im Januar 1930

Prolog

Als die schwere Tür hinter Ella ins Schloss fiel, sah sie sich hastig um, doch weder im Flur noch im Wartezimmer konnte sie ihn entdecken. Sie hastete zur Anmeldung und lehnte sich gegen den dunklen Tresen, der ihr Halt zu geben schien. Das Zittern der Knie abschwächte.

Die Rezeptionistin langweilte sich offensichtlich.

»Winkler«, sagte Ella mit gesenkter Stimme. »Ich habe um drei Uhr einen Termin.«

Die Augenbraue des Fräuleins sprang in die Höhe.

Innerlich nickte Ella: Ja, sie war absichtlich früher gekommen, weit früher, um nicht mit Gustav gemeinsam auf den Anwalt warten zu müssen.

Plötzlich lächelte das Fräulein und beugte sich vor. »Winkler? Sind Sie die Schauspielerin, die …?«

»Nein, aber wir werden immer wieder verwechselt ob der Namensgleichheit«, log Ella und verfluchte sich innerlich dafür, nicht Feinstein, den Namen, den sie auf dem Papier trug, genannt zu haben.

Das Lächeln erlosch.

Sehr gut! Sie hatte ihr Ziel erreicht. Nicht, dass dieses Weib noch die Zeitungen anrief.

Mit der nun wieder gelangweilten Miene erklärte das Fräulein den Weg in eines der Besprechungszimmer.

Ella atmete auf, als sich die Tür hinter ihr schloss. Ein großer Tisch. Mitten im Zimmer. Ein paar Stühle, dicht gedrängt, geschmacklose Gemälde an den Wänden. Für einen Augenblick hörte Ella die Verachtung in Gustavs Stimme, die er nicht verbergen würde, sollte er ein Urteil zu diesen Pinseleien abgeben müssen. Sonnenlicht schob sich an bodenlangen Gardinen vorbei, kleine Staubflusen tanzten in der Luft.

Die Ruhe vor dem Sturm.

Ella nahm Platz. Hier, in diesem nichtssagenden Raum, würden sie in wenigen Minuten die Scheidung einleiten, das Ende ihrer Ehe besiegeln.

Sie schluckte hart gegen den Kloß in ihrem Hals an und erahnte schon die Schlagzeilen der Zeitungen, die nicht lange auf sich warten lassen würden:

Liebesaus: Berliner Schauspielerin verlässt großen Kunsthändler!

Scheidung bei schillerndem Künstlerpaar!

Nach nur sieben Jahren Ehe – Scheidung bei Ella Winkler!

Aber es gab keinen Zweifel. Zumindest nicht für sie. Das Fass war übergelaufen, als sie nach endlosen Streitereien Zuflucht in einem Hotelzimmer gesucht hatte. Dorthin hatte er ein Päckchen geschickt. Einen Wimpernschlag lang hatte sie gehofft, es wäre ein Versuch, sein Verhalten mit Geschenken wiedergutzumachen. Beim Öffnen der Kiste war ihr das Blut in den Adern gefroren. In diesem Moment hatte sie es verstanden: Seine Wut schien keine Grenzen mehr zu kennen.

Ihre Einsamkeit ebenfalls nicht.

Als der Anwalt und Gustav das Zimmer betraten, schrak Ella auf. Für einen Moment meinte sie noch, das Gewicht der Kiste in den Händen zu spüren. Sie krallte sich an der Handtasche fest, die in ihrem Schoß lag, und musterte Gustav. Mitgenommen sah er aus, nahezu elend. Ihr Ehemann und künftiger Ex-Ehemann.

Ellas Herz füllte sich mit Mitleid, wurde warm und weich. Sie nickte ihm zu und wendete den Blick ab. Energisch schob sie diese aufbrechende Zuneigung gedanklich beiseite. Nichts davon durfte sie zulassen, damit sie nicht noch länger in dieser Ehe verharrte. Sie dachte an die blauen Flecken an ihren Oberarmen von seinen Händen, die Einsamkeit und die durchweinten Nächte.

Kurz zogen Bilder an ihr vorbei, wie er mit ihr gearbeitet, die Stimme trainiert, die Haltung korrigiert, die Ausstrahlung verstärkt hatte. Er hatte sie vorangebracht. Sie war sein Pygmalion geworden. Doch die Zeit des Lernens war beendet, er hatte sein Kunstwerk geschaffen und war nun dabei, sie beide zu zerstören. So dankbar sie war, sie musste weg. Weit weg von ihm.

Der Anwalt, Dr. Pieper, ein junger, gelackter Mann, trug eine Akte unter dem Arm. Wie es wohl war, sich am Scheitern anderer zu bereichern? Seine Worte rauschten an Ella vorbei. Begrüßungsfloskeln, Belanglosigkeiten. Papiere raschelten. Auf der Straße hupten zwei Wagen um die Wette.

Mit einem Mal erhob Gustav sich. Murmelte etwas, das Ella nicht verstand, und öffnete die Flügeltür zum Nebenzimmer.

Dr. Pieper sprang auf und folgte ihm. »Warten Sie bitte, Sie müssen dort lang, den Flur hinab«, sagte er und wies auf die Zimmertür. Als der Anwalt die Flügeltür erreichte, verharrte er. Abrupt. Wurde blass, hob die Hand und brachte kein Wort hervor.

Irgendetwas stimmte nicht. Ellas Stuhl kippte nach hinten, so hastig schob sie ihn zurück, und stürzte ihm hinterher.

Gustav. Allein, im Halbdunkel eines weiteren entseelten Besprechungszimmers.

Kerzengerade stand er neben einem Stuhl, die linke Hand auf der Lehne, die rechte Hand umschloss einen Revolver.

Ellas Blick wanderte den Lauf entlang, den Gustav sich an die Schläfe drückte. Er wartete, bis ihre Blicke sich trafen. Dann sagte er mit leiser Stimme: »Du wirst mich nicht verlassen, Ella!«

Berlin, im Januar 1928

Thea

Sie trat einen Schritt beiseite, damit die Packjungen den Tisch an ihr vorbeitragen und auf dem geräumigen Treppenabsatz vor der Beletage abstellen konnten. Zwei weitere schleppten vier Stühle die Treppe hinauf, ihnen folgte ein Jungspund mit einem Korb, in dem das Geschirr leise klirrte. Dann trat sie ans Geländer, beugte sich vor und sah nach oben. Zwei weitere Etagen, mindestens noch vier weitere Nachbarn. Sie zuckte mit den Schultern und grinste. Das geplante Picknick würde stattfinden – hier mitten im Treppenhaus dieses feinen Stadthauses.

Thea zog ihren Mantel aus, legte ihn auf die Fensterbank und beobachtete die Packjungen kritisch. Ich hätte darauf achten sollen, ob alles ordentlich eingepackt wird. Hoffentlich nehmen die Gläser keinen Schaden, dachte sie und sah sich um. Der weizengelbe Sisalteppich auf den dunkelbraunen Dielen schaffte eine behagliche Stimmung in Kombination mit den sandfarbenen Wänden. Eine große Fensterfront führte den Blick hinaus in einen Hof, in dessen Dunkel Kastanienbäume zu erahnen waren.

Einer der Jungen nieste.

Empört legte Thea den Finger auf die Lippen, um ihn zu ermahnen, leise zu sein. Dann öffnete sie den Korb, nahm das Tafeltuch aus französischem Leinen heraus und breitete es auf dem Tisch aus.

Die Arme verschränkt, blieb Ella neben dem Tisch stehen. »Und ich? Was mache ich jetzt?«

Thea reichte ihr das Besteck. »Schau nach, ob es blank poliert ist. Wir wollen uns mit unserem Gastauftritt ja nicht blamieren. Und du, Georg«, sie winkte ihrem Mann zu und hob nur minimal die Stimme, »geh bitte mit den Jungs den Rest holen.«

Er nickte, tippte sich an die Mütze und verschwand.

Kurz ruhte Theas Blick auf seinen Schultern, während er gleichmäßigen Schrittes die Treppen hinabeilte. Sie atmete durch und spürte, wie gut er ihr tat, wie sehr seine Anwesenheit ihr immer wieder Ruhe gab. Selbst jetzt, in dieser Aufregung, die flirrend zwischen Anspannung und Freude hin und her pendelte. Gedankenverloren trat sie ans Fenster, öffnete es und zupfte aus dem Efeu, der die Hauswand entlangkletterte, eine Ranke ab. Sorgsam schüttelte sie den Schnee ab, wischte die Blätter trocken und drapierte die dunkelgrün glänzenden Blätter auf dem Tisch.

»Ja, das sieht nach was aus«, flüsterte Ella und schob eine der Stoffservietten zurecht, die, inzwischen zu Kunstwerken gefaltet, den Blick auf sich zogen. Die Gläser funkelten, und der Elfenbein-Ton der Teller harmonierte mit dem Tafeltuch.

»Wenn Gustav sich verspätet, dann …«, knurrte Ella. Bevor sie den Satz beenden konnte, ging ein Lächeln über ihr Gesicht. Georg erschien mit dem Tross Packjungen und hatte sowohl Champagner als auch Essen und Gustav im Schlepptau.

»Und ihr meint, es wird funktionieren? Hannes wird es nicht falsch verstehen?« Thea nahm Platz. Es war erstaunlich. Dieser Treppenabsatz vor der Wohnung der Familie Hallberg war größer als die Weddinger Küche, in der sie seinerzeit mit ihren Eltern und den beiden Geschwistern gelebt hatte. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Georg den Packjungen Geld zusteckte. Sicherlich würden sie jetzt das Wochenende einläuten. Zum Kaufhaus zurückzukehren, lohnte sich nicht mehr.

Während Ella den Champagner eingoss, füllte Gustav die Teller. »Sicher wird das funktionieren, es ist ein bewährtes Rezept, sich selbst einzuladen«, sagte er. »Dafür müssen wir aber aufhören zu flüstern.«

Thea blickte auf die Wohnungstür, auf das kleine Schild daneben: Hallberg. Nun, liebe Hedi, lieber Hannes, dachte sie und erhob das Glas, auf euch!

Als Georg sich neben sie setzte, fuhr sie ihm beiläufig über den Arm. »Hast du die Kleider heute noch abholen und ins Lichtenstein bringen können? Ist alles fertig geworden?«

»Nein! Jetzt wird hier nicht gearbeitet. Ob die Kleider der fleißigen Näherinnen fertiggezaubert sind und pünktlich von A nach B gebracht wurden, ob die Knöpfe halten und die neu gelieferten Stoffe euren Vorstellungen entsprechen – das hat Zeit bis morgen«, sagte Ella streng und schob sich die überquellende Gabel in den Mund.

»Ich dachte, eben darum geht es heute: um die Arbeit! Ums Lichtenstein und Hannes’ anstehenden Aufstieg zum Teilhaber«, sagte Georg.

»Ach, ihr Männer! Ihr seid so einfach gestrickt«, erwiderte Ella mit vollem Mund.

Gustav räusperte sich.

Ella hob die Serviette und tupfte sich die Lippen. Dann schob sie den Teller beiseite. »Ein Liedchen könnte nicht schaden«, stellte sie fest. Kurz überlegte sie und wiegte den Kopf. »Wie wäre es mit Bolle reiste jüngst zu Pfingsten?« Sie summte einen Augenblick und begann dann zu singen. Lauthals stimmten die Männer mit ein. Als sie »aber dennoch hat sich Bolle janz köstlich amüsiert« schmetterten, öffnete sich die Tür. Durch den schmalen Spalt konnte Thea Hannes erkennen.

Der Gesang geriet ins Stocken. Gustav konnte sich nicht bremsen, sein letztes »janz köstlich amüsiert« verlor sich im Treppenhaus.

Ungläubig blickte Hannes auf die Szenerie vor sich – ein gedeckter Tisch und vier Bekannte. Singend, auf dem Treppenabsatz vor seiner Tür. »Braucht ihr noch einen Kerzenleuchter?«, fragte er nach zwei, drei Atemzügen.

»Oh, du hast recht, das wäre stimmungsvoll«, erwiderte Thea.

»Was soll das?«

»Mein Guter, nun schau doch nicht so misstrauisch. Wir wollen dir gratulieren – du wirst jetzt Kaufhaus-Chef!«, dröhnte Gustav.

»Ich werde kein Chef, ich werde Teilhaber. Und noch ist das nicht in Stein gemeißelt.«

»Ach, dann gratulieren wir eben nur ein bisschen. Und kommen irgendwann noch mal vorbei, um das restliche bisschen zu gratulieren.«

Ella nickte. »Ja, feiern können wir.«

Hedi erschien hinter Hannes und schaute an ihm vorbei. Sie riss die Augen auf und brach in schallendes Gelächter aus. »Was macht ihr denn da? Hättet ihr doch was gesagt, wir hätten euch einfach mit eingeladen.«

»Ja, aber dieses ganze Kaufhaus-Gerede«, sagte Ella, winkte ab und verdrehte die Augen. »Wir dachten, hier draußen können wir die schmutzigen Witze reißen.«

Nun tauchten im Hintergrund zwei weitere Paare auf. Thea erkannte Dr. Klinger. Der, wenn sie recht informiert war, an der Charité arbeitete, ein sportlicher Mann, enorm tennisbegeistert. Seine Frau Tamara, ein nahezu ätherisches Wesen, kaufte regelmäßig im Lichtenstein ihre Garderobe. Das andere Paar hatte sie noch nie gesehen.

Hedis Wangen glühten. Ohne ein weiteres Wort verschwand sie. Kurz darauf erklang das Grammofon.

Eine Tür im Stockwerk über ihnen wurde geöffnet. Ein Nachbar schaute am Geländer herab. »Was ist denn hier los?«

»Wir feiern die Beförderung vom Hallberg oder so was Ähnliches. Kommen Sie runter, es gibt genug Champagner«, rief Georg jovial.

Noch im Hausmantel kam der Nachbar die Stufen herabgeeilt. Thea war sicher, er hatte nicht einmal seine Wohnungstür geschlossen.

Die markanten Bläsersätze von Shake that thing eroberten das Treppenhaus. Nun hielt es Ella nicht mehr auf dem Stuhl, sie zerrte Hedi mit sich, die dabei war, einen Rollwagen voller Weinflaschen und Gläser ins Treppenhaus zu schieben. Sie versuchte nicht einmal, sich der Begeisterung der Freundin zu entziehen. Beide wiegten sich im Takt, ließen die Knie wackeln, rissen die Arme in die Luft und lachten ausgelassen.

Thea wippte mit dem Fuß im Takt, hörte einen Korken knallen. Tamara Klinger begann zu rauchen. Zwei weitere Nachbarn kamen die Treppen herauf. Sie blieben erstaunt stehen und bekamen von Dr. Klinger Getränke angeboten.

Verstohlen glitt Theas Blick nun an Hannes hinab, der an die Wand gelehnt stand, den Gehstock locker in der Hand. Nichts an seiner Haltung hätte darauf schließen lassen, dass sich unter der Anzughose ein künstliches Bein verbarg. Sie wollte sich gerade erheben, als Hannes sich zu ihr an den Tisch setzte. Sofort lehnte sie sich zurück und griff ihr Glas. Schaute konzentriert auf die silbern glänzenden, aufsteigenden Perlen. »Ich hoffe, du nimmst uns das hier nicht übel?«, fragte sie.

Inzwischen hatten sich auch die Nachbarn, die eben erst die Treppe heraufgekommen waren, ihrer Mäntel entledigt und tanzten.

Hannes wirkte unschlüssig. Dann schob sich ein Grinsen über sein Gesicht. »Na ja, ich habe den Verdacht, es geht weniger um meine Teilhaberschaft. Euch geht’s doch nur darum, das Tanzbein zu schwingen. Oder den Rausschmiss aus unserer Wohnung einzuläuten.«

»Bei dem Lärm könnte euch das passieren. Wenn du deine Gäste nicht im Griff hast, können wir nichts dafür.« Thea zuckte beiläufig die Schultern, ihr Blick blieb an Hedi hängen. Sie trug ein knielanges Kleid, das Hannes im letzten Herbst entworfen hatte. Eigentlich als Nachmittagskleid gedacht, machte es sich durch den dunkelgrünen Crêpe Georgette auch am Abend gut. Die Taille lag im Rücken tief, an den Hüften saß es eng, darüber weit und in weichen Wellen fallend. Schmale Träger betonten die Schultern. Ein Kleid, das Hedis schlanke Silhouette unterstrich. »Und um deine Frau geht es auch. Sie fehlt im Lichtenstein.«

Hannes beobachtete die Tanzenden, denen sich die Ätherische angeschlossen hatte. »Hedi war doch letzthin wieder im Lichtenstein zu Besuch.«

Thea spürte einen Hauch Verärgerung in sich aufsteigen. Jahrelang hatte sie mit Hedi zusammengearbeitet, sie an sechs Tagen die Woche bis zu zwölf Stunden gesehen. Sie hatten die Pausen miteinander verbracht und am Abend die Elektrische genommen. Seitdem die kleine Lou auf der Welt war, hatte sich alles verschoben, denn Hedi blieb zu Hause. »Ja, das war sie«, sagte Thea zögerlich. »Und sie hatte viel Freude daran. Es wäre schön, wenn sie wieder zum Einsatz kommen könnte. Um beispielsweise Kleider vorzuführen.«

»Das liegt ja nun nicht an mir.«

»Liegt es an der Kleinen? An Lou?«

»Natürlich. Hedi ist kein Mannequin mehr, sie ist jetzt Mutter.«

»Wo ist Lou eigentlich? Bei ihrer Großmama?«

»Nein. Wenn sie erst einmal schläft, kann man das Bett wegtragen, ohne dass sie es mitbekommt.«

»Sage mal, was wäre, wenn Lou gelegentlich von deiner Schwiegermutter versorgt wird? Oder von meiner Mutter? Könnte Hedi dann öfter im Kaufhaus vorbeischauen und uns zur Hand gehen?«

»Wenn sie das will.«

»Wir können sie fragen.«

»Meinetwegen. Solange es der Kleinen gutgeht, habe ich keine Einwände.«

»Ach, komm, du würdest dich auch freuen, sie wieder öfter auf der Arbeit zu sehen.«

»Bestimmt.«

»Sie darf kommen? Hand drauf?«

Ungläubig schüttelte Hannes den Kopf. »Vielen Dank für dein Misstrauen.«

Nun lachten sie beide. Zufrieden lehnte Thea sich zurück. Sie spürte Ellas prüfenden Blick auf sich und nickte unmerklich.

Ella riss die Arme in die Luft, noch wilder als zuvor, und umtanzte die Ätherische und Hedi. Ihre gemeinsame Freundin. Die sie nun wieder öfter sehen würden. Kind hin, Kind her.

»Hat Hedi sich beklagt?«

Thea wusste, sie musste nun auf der Hut sein. Hannes klang verunsichert.

»Gib es zu: Das ist ein lang vorbereiteter Angriff, oder? Hat sie ihn mitgeplant?«

Nun lachte Gustav auf. »Entschuldigt bitte, aber ich habe euer Gespräch mitbekommen.« Er beugte sich mit glasigem Blick vor und fixierte Hannes. »Wenn deine Frau gejammert hat, wird es dir Thea nicht sagen. Weiber sind raffiniert. Mit dem Trick hier«, er wies um sich, »hat ein guter Freund, ebenfalls ein Kunsthändler, damals Lovis Corinth retten wollen. Der Maler, du weißt schon. Nach der Hochzeit meinte jedenfalls seine Frau Charlotte, es sei aus mit dem Lotterleben eines Künstlers. Und so ward der Maler Abend für Abend von seiner Gattin an den eigenen Tisch gebeten, an dem stets von ihr geladene Gäste, kultivierte obendrein, Platz nahmen. Der Kunsthändler hat es nicht mit ansehen können und sich mit seiner Frau und Freunden genauso vor ihre Tür gesetzt, wie wir es heute Abend hier machen. Und? Jawohl, er hat Charlotte für sich eingenommen, Lovis durfte wieder mitfeiern. Also, ein bisschen. Hin und wieder. Tja, sieh, wie die Zeiten sich ändern – nun übernehmen die Weiber unsere Tricks, und wen manipulieren sie damit? Rate mal! Uns! Tja, ich sage es dir: Das sind die Geister, die wir riefen!«

Jacob

Sie waren genau nach seinen Vorstellungen gearbeitet: drei kleine, sich aufbäumende Holzpferde, die aussahen, als stammten sie vom Karussell eines Jahrmarktes. Der Besuch eines solchen Vergnügens gehörte zu Jacobs schönsten Kindheitserinnerungen: Los- und Schießbuden, Gedränge, Gelächter. Verliebte und Betrunkene, die über längst zertretenes Gras schwankten. Kinder, die jubelnd umeinander rannten, und Eltern, die sie an diesem einen Nachmittag nicht unentwegt ermahnten. Und ebenjenes sich unermüdlich im Kreis drehende Karussell mit schneeweißen Pferden.

Stunden voller Leichtigkeit und Leichtsinn.

Frei von Verpflichtungen.

Bedächtig betrachtete Jacob die filigran geschnitzten, glänzenden Augen des Pferdes vor ihm, strich über die weiche Mähne. Als Kind hätte er es geliebt, den roten Sattel aus Leder zu erklimmen, sich aufzurichten und das eigene Bild im Spiegel zu betrachten.

Hausmeister Kühn beugte sich vor, um den Sockel des ersten Pferdes mit dem Holzboden zu verschrauben. Immer wieder schob er den mehrfarbigen Schweif beiseite, und als er sich aufrichtete, schüttelte er den Kopf. »Ein Gaul! Im Friseursalon. Und was wird das jetzt, wenn’s fertig ist?«

»Ich möchte einen Bereich für Kinder anbieten.«

»Das sehe ich. Die Gören sollen also auf den Dingern sitzen, während ihnen Löckchen onduliert werden?« Er schüttelte den Kopf. »Da nimmt man nen Topf, eine Schere, und schnippschnapp.«

»Dafür schätze ich Sie, Herr Kühn, Sie sind wenigstens ehrlich. Genau genommen, geht es weniger um die Kinder, es geht um die Kundinnen.«

»Die werden sich wohl kaum auf so einem Holzding niederlassen!«

Jacob schmunzelte bei der Vorstellung. »Nein, aber je mehr Gründe die Damenwelt findet, unser Haus aufzusuchen, umso besser ist das für uns.«

»Ach, Sie meinen, während die Gören sich bereitwillig die Haare schneiden lassen, schauen sich die Damen in Ruhe um, lassen sich Kleider vorführen und so.«

»Ja, in etwa.« Jacob sah zu, wie der Hausmeister sein Werkzeug ausbreitete. Mit dem Alter war Kühn streitbar geworden. Vermutlich die Schmerzen, die ihm sein Rücken seit Jahrzehnten bereitete.

Ein Hausdiener trat in den Friseursalon. »Da ist ein Schreiberling von der Berliner Volks-Zeitung, er sagt, er hätte einen Termin mit Ihnen, Herr Lichtenstein. Soll ich ihn ins Bureau schicken?«

»Nein, die Müllersche hat Urlaub, er soll hierherkommen.«

»Auf die – also auf die Baustelle?«

Kurz sah Jacob sich um. Noch war der Salon nicht fertig, aber es war absehbar, wie außergewöhnlich der Anbau werden würde.

»Ja, schicken Sie ihn gern herein.«

Als der Reporter, ein junger, hochgewachsener Mann, in den Salon trat, hielt er erstaunt einen Moment inne, schob den Hut in den Nacken und sah sich um.

Jacobs Augenbraue sprang in die Höhe. Einen Anfänger schickte ihm die Redaktion, ein deutliches Zeichen nicht vorhandener Wertschätzung. Er winkte dem Mann zu. »Kommen Sie rüber«, rief er. »Lassen Sie uns hier anfangen, wir gehen später ins Bureau.«

Als würde er immer zwischen Holzpferden Interviews führen, lehnte der Jungspund sich gegen den Pferderücken, zückte Stift und Kladde. »Kerling, mein Name. Wie angekündigt, soll der Beitrag am Sonntag erscheinen. Jetzt, Mitte Januar, ist es ruhig, da erreichen die Beiträge eine große Leserschaft. Fangen wir mit den Neuigkeiten an: Warum haben Sie, als Inhaber eines Kaufhauses, eine Spinnerei erworben?« Der Reporter sah skeptisch über den Rand seiner Kladde hinweg.

Jacob lächelte. »Wir haben eine Spinnerei samt Weberei in der Nähe von Frankfurt an der Oder erworben. Wir fertigen jetzt die Stoffe selbst, die wir für die Herstellung unserer Kleidung benötigen.«

»So mit allem, was dazugehört – Faden, Farben, Muster?«

»Durchaus. Wir sind also nicht mehr davon abhängig, was der Markt für unsere Kollektionen bietet, vielmehr können wir selbst festlegen, was wir für unsere Kollektion brauchen.«

»Aber Sie fertigen keine Seide, oder?«

»Natürlich können wir nicht jeden Stoff herstellen, trotzdem verspreche ich mir, künftig mehr Kleidung zu produzieren.«

»Das klingt einleuchtend. So habe ich das noch nicht gesehen. Eröffnet hat das Kaufhaus Ihr Vater, Friedrich Lichtenstein?«

»Ja, nachdem er als junger Mann nach Berlin kam. Es gibt in unserer Familie eine lange Kaufmannstradition.«

»Wann war der Brand im Warenhaus?«

»1913.«

Der Stift flog über das Papier. Der Reporter nickte, ohne aufzusehen. »Das Lichtenstein ist inzwischen bekannt für seine Neuerungen.«

»Wir arbeiten daran, das Einkaufserlebnis für die Kundschaft beständig zu verbessern. Sicher gibt es vieles von dem, was wir bieten, auch bei der Konkurrenz, aber …«

»Warten Sie, langsam, langsam! Also, was gibt es denn im Haus Sehenswertes?«, fiel ihm Kerling ins Wort. »Sie haben jetzt einen Erfrischungsraum, den kenne sogar ich, also zumindest die Sonnenterrasse …«

»Das freut mich. Diesen Bereich haben wir vor zwei Jahren eingeweiht, das können Sie aber trotzdem noch mal erwähnen. Zwei Telefonzellen, eine öffentliche Waage, und unsere Theaterkasse würde ich ebenfalls gern nennen. Letztere gibt es seit ungefähr zehn Monaten. Und damit ein Heer Rad fahrender Boten, deren Hauptaufgabe darin besteht, die Karten am Spätnachmittag den jeweiligen Theatern zurückzubringen, damit sie diese noch an der Abendkasse loswerden.«

Der Reporter zeigte mit dem Stift durch den Raum. »Und dieser Friseur wird jetzt Ihr nächstes Projekt?«

»Ja, mit einem Kinderbereich, wie Sie sehen. Seit vier oder fünf Jahren bieten wir Kinderbekleidung an, und da ist dieser Laden eine sinnvolle Erweiterung.«

»Wie viele Männer und wie viele Frauen arbeiten hier unter einem Dach?«

»Das müsste ich nachschauen lassen.«

»Vielleicht können Sie mir diese Zahl noch liefern. Sie wollen Ihre Lehrlinge nach dem Vorbild von Wilfrid Israels Handelsschule heranziehen – stimmt das?«

Kurz zögerte Jacob, sich gegen den Begriff heranziehen zu verwehren. Schon, um Wilfrid, der als Inhaber des Kaufhauses Nathan Israel Hervorragendes leistete, in Schutz zu nehmen. »Was macht denn in Ihren Augen die Lehre bei Nathan Israel aus?«, entgegnete er. Sicherlich wirkte die Gegenfrage schulmeisterlich.

Kerling überlegte. Er war ein sportlicher, gut aussehender Mann. Das gewellte Haar lag perfekt – entgegen den Gepflogenheiten ganz ohne Pomadeglanz.

Angestrengt ließ Jacob die Fingerknöchel knacken und konzentrierte sich wieder auf die Inhalte. Es galt, die Presse in seine Pläne einzubinden und sie zu nutzen. Das Lichtenstein prosperierte seit Jahren. Viele Kaufleute beobachteten genau, was er unternahm, denn nach dem Brand hatte das Kaufhaus durchaus mit dem Rücken zur Wand gestanden. Trotz der ausgezahlten Versicherungssumme hatte das Lichtenstein einen Kredit aufnehmen müssen, um zu überleben – dann hatte der Krieg erneut alles ins Wanken gebracht. Aber es war Jacob gelungen, das Haus samt seiner Belegschaft durch diese Zeiten, die er gedanklich gern von sich schob, zu manövrieren. Inzwischen schaffte er es, seine Ausgaben aus eigener Kraft zu finanzieren. Selbst den Erwerb der Spinnerei hatte er ohne Bank gestemmt.

Der Reporter unterbrach seine Gedanken. »Soviel ich weiß, gibt sich Herr Israel mit seinen Lehrlingen viel Mühe.«

Gut, wir waren bei der Lehre und bei Wilfrid, dachte Jacob, der sich erneut in seiner Unaufmerksamkeit ertappt fühlte. »Ja, mich hat die Vorstellung angeregt, jeder Lehrling solle mit den einzelnen Herstellungsabschnitten eines Produktes vertraut sein. Dabei geht es nicht darum, die jungen Leute auf das Lichtenstein zu dressieren. Aber nur ein Verkäufer, der Bescheid weiß, wie das Produkt, das er in den Händen hält, entstanden ist, kann umfassend beraten.«

Hausmeister Kühn hatte inzwischen das dritte Pferd vor dem Spiegel verschraubt. Er räumte sein Werkzeug ein und zog sich zurück. Jacob bemerkte, wie krumm er den Rücken hielt. Die Arbeit im Knien hatte ihn angestrengt. Dem Tratsch in seinem Vorzimmer, den die Müllersche mit Begeisterung am Laufen hielt, hatte Jacob entnommen, dass Kühn inzwischen oft über Wochen im Keller des Lichtensteins schlief. Er ging immer seltener nach Hause, weil ihm der Heimweg zu weit war.

Kerling räusperte sich.

»Und …«, Jacob holte Luft, um fortzufahren, »deshalb sollen die Lehrlinge alle Abteilungen des Lichtensteins durchlaufen. Denn was nützt es, wenn sie das eine oder andere Produkt genau kennen, aber den Ort, an dem sie arbeiten, nicht in Gänze?«

»Na, und wenn die Damen im Verkauf gut aussehen, kann das sicherlich nicht schaden.« Kerling grinste.

Kurz zögerte Jacob. Dann beschloss er, über dieses Klischee hinwegzugehen, dieses Bild der Verkäuferinnen, Laden- und Kassenmädchen, die darauf warteten, den reichen Kunden bei der Arbeit kennenzulernen. »Wir bieten unseren Angestellten eine soziale Absicherung und Bildung.«

»Ich hörte, Sie schicken die Kolleginnen und Kollegen zusammen ins Theater?«

Gab es da schon wieder einen Unterton? »Ja, aber lassen Sie mich raten: Sie interessieren sich eher für Sport?«, versuchte Jacob, das Thema zu wechseln. »In einem Ruderklub am Wannsee können unsere Angestellten etwas für ihre Gesundheit tun.«

»Romantisch, so ein Ausflug an den See. Sie wissen, wie es geht!« Der Mann wiegte den Kopf. »Was mich interessiert, und zwar außerordentlich, sind die Gerüchte, die es um Sie und Helene Schrader gibt, die heute eine verheiratete Löwy ist.« Er beugte sich mit unverhohlen lüsternem Blick vor.

Jacob seufzte. Der Mann hatte sich informiert. Zu gut für seinen Geschmack. Nie hatte es eine Schlagzeile zu ihm und seinem Privatleben gegeben. Doch unter den Kaufhaus- und Warenhausbetreibern lief das Gerücht um, er hätte eine Liaison mit Helene gepflegt. Wie recht die Kollegen hatten.

Seine schöne Helene.

Ihr Vater hatte den Kontakt untersagt, weil Friedrich Lichtenstein einst vom Judentum zum evangelischen Glauben konvertiert war. Für diese Entscheidung des Vaters hatte Dr. Schrader Jacob büßen lassen und seine Tochter glänzend unter die Haube gebracht.

»Seien wir ehrlich«, setzte Kerling erneut an. »Die Ausbildung der Lehrlinge, das ist ehrenwert, aber lesen wollen die Menschen doch anderes. Geben Sie mir die Chance, den Artikel ein wenig pikant zu garnieren, und Sie werden weit mehr erreichen als mit diesen Vorträgen über Sonnenterrassen und Kinderkleidung …«

Jacob wollte nicht antworten. Vielmehr wollte er sich kurz den Erinnerungen an Helene hingeben, die so plötzlich in seinen Gedanken erschienen war, weil irgendein dahergelaufener Reporter den Anstand verloren hatte. Das Leben war seltsam, befand Jacob. Er musste stets überlegen, an welchem Tag das Warenhaus in Flammen aufgegangen war, aber das Datum von Helenes Hochzeit hatte sich tief ins Gedächtnis eingegraben. Der Tag, der einem inneren Flächenbrand geglichen und den er nur äußerlich unverändert überstanden hatte. Einen Schutzwall hatte er errichtet auf dem verbliebenen Ödland seines Herzens. Er hatte Helenes Hochzeit akzeptiert und seine ehemalige Geliebte nie wieder kontaktiert.

Jacob registrierte den lauernden Blick seines Gegenübers. »Natürlich erzähle ich Ihnen von Helene Löwy.«

Kerling blinzelte hektisch, spannte den Körper an und presste die Spitze des Stiftes erwartungsvoll aufs Papier.

»Wenn Sie«, Jacob setzte ein Pause, die er genoss, »mir von Ihrer Affäre erzählen, spreche ich auch gern über mein Liebesleben.«

Nun zuckte Kerling zusammen und lehnte sich zurück. Der hastige Schlag der Augenlider verriet Jacob, dass er mit seiner Finte einen Treffer gelandet hatte. »Guter Mann, auch ich bereite mich auf meine Gesprächspartner vor«, fügte er milde lächelnd hinzu.

»Ich denke, ich habe alle Informationen. Vielen Dank, dann werde ich mich ans Schreiben machen.« Der Reporter erhob sich, wobei der Gurt seiner Tasche am Knauf eines Sattels hängen blieb. Hektisch zerrte Kerling daran herum, ohne seinen Interviewpartner noch einmal anzuschauen.

Die Pferde waren noch weit besser als angenommen, stellte Jacob zufrieden fest. »Ja, ich finde auch, dass es reicht! Sie sollten jetzt schreiben«, ergänzte er mit honigweicher Stimme. »Bei Fragen zum Thema stehe ich Ihnen gern zur Verfügung. Machen Sie was draus! Und grüßen Sie die Damen, vielleicht mögen sie ja mal vorbeischauen …«

Hedi

Sie fühlte sich wie ein Backfisch, aufgeregt, fast ein wenig zittrig vor Freude, ganz so wie in ihren ersten Wochen im Lichtenstein. Morgen für Morgen war sie in der Untergrundbahn zur Arbeit gefahren. Inmitten der Menschenmassen, die dicht gedrängt im Zug standen, hatte sie sich geborgen gefühlt. Stolz war sie gewesen, ein Teil derer zu sein, die am Hausvogteiplatz ausstiegen und die Treppen hinaufeilten. Und nun ging sie erneut die Treppen hinauf und wartete auf den Moment, in dem sie das Sonnenlicht erblickte, die in den Himmel aufragenden Häuser samt den Reklamen an Wänden und Fenstern.

Schon damals hatte sie ihn gefühlt, den Puls der Stadt, der hier für die Mode schlug, und heute erschien er ihr noch deutlicher spürbar. Der Lärm quietschender Bremsen einer Elektrischen und das konkurrierende Gebrüll mehrerer Zeitungsjungen empfing sie. Drei Hakenkreuzfahnen hingen aus dem Fenster eines Pelzhändlers und flatterten im Wind. Hedi schüttelte den Kopf, während sie darunter entlanglief. Auf der anderen Seite des Platzes wehten Fahnen der Kommunistischen Partei. Diese Kerle! Ständig wetteiferten sie miteinander, sogar hier – und wenn es nicht Mode war, dann eben Politik.

Sie reckte das Gesicht ins Sonnenlicht, das in den letzten Tagen zu kurz gekommen war. Kurz sah sie vor ihrem inneren Auge ihre Mutter beim Spaziergang mit Lou im Park. Sicherlich war Hilde in Begleitung einer ihrer Freundinnen, mit der sie wieder über die aktuelle politische Lage und die in ihren Augen notwendigen Veränderungen in der Rolle der Frau sprach. Wie weit war die Mutter damals, als die Tochter angefangen hatte zu arbeiten, von ihrem heutigen Engagement entfernt gewesen. Insgeheim hatte Hedi sie belächelt, weil Hilde gefürchtet hatte, Arbeit würde Frauen maskulin machen.

So viele Erinnerungen.

Die schönste blieb Hannes. Jung und unversehrt. Hedi meinte noch immer, das Herzklopfen zu fühlen, das Tremolo in ihrem Leib, sobald er in ihre Nähe gekommen war.

Wie lange lag all das zurück?

Einen Krieg entfernt, verborgen hinter dem Untergang des Kaiserreiches, der Geburt der Weimarer Republik und einer Inflation, in der sie Millionen Reichsmark für Brot gezahlt hatten.

Sie hatten überlebt.

Den Hunger, die Spanische Grippe und Hannes’ grausame Nächte voll blutiger Schatten und sterbender Menschen.

Und Tochter Lou, so lang erwartet, hatte aus ihnen eine Familie gemacht. Dort, wo sie war, gab es Neugier, Staunen und Heiterkeit. Lou brachte Leichtigkeit ins Leben. Zumindest solange sie ihren Willen bekam.

Hedi musste bei dem Gedanken an die Wutanfälle ihrer Tochter schmunzeln.

Hannes’ Erfolg als Konfektionär im Lichtenstein ermöglichte ein sorgenfreies Leben. Sie hatten eine große Wohnung mit honiggelbem Parkett und weißen Flügeltüren, die in den Wänden verschwanden und aus drei nebeneinanderliegenden Zimmern einen Palast machten. Die verschlungenen Stuckarbeiten an der Decke entzückten Hedi immer wieder, und der Balkon bot einen Ausblick in die baumgesäumte Straße. Es war nicht die modernste Wohnung, aber die gemütlichste. Eben ein Zuhause.

Ihr Leben war perfekt.

Zumindest fast.

Denn hin und wieder verspürte Hedi – auch wenn es ihr schwerfiel, sich das einzugestehen – einen Hauch Langeweile. Und sobald sie diesem Gefühl nachgab, kam sie sich undankbar vor. Aber ihre Tage, die fast ausschließlich durch Lous kindliche Welt bestimmt waren, reihten sich perlengleich aneinander. Glänzend schön, aber einförmig und kaum unterscheidbar. Wenn es Herausforderungen gab, dann lagen sie darin, mit der Köchin Haushaltsfragen zu klären. Wie sehr wartete Hedi stets auf den Abend und Hannes’ Heimkehr. Wie oft verspürte sie die Sehnsucht, gemeinsam ein Glas Wein zu genießen, angeregte Gespräche zu führen und danach kichernd und angesäuselt mit ihm unters Plumeau zu schlüpfen? Wie oft erschien er müde und wortlos? Durchaus bemüht, ihr gerecht zu werden und ein wenig zu plaudern, bis er einschlief. Manchmal auf dem Sofa, mitten im Gespräch.

Hedi sog die Luft ein beim Laufen und lauschte dem Knirschen ihrer Schritte auf dem hart getretenen Schnee. Der Weg ins Lichtenstein gab ihr ein Gefühl von Freiheit, obwohl sie niemals den Rückschluss zugelassen hätte, Lou würde ihr Leben einschränken. Dennoch war der Moment des Alleinseins und dass sie dem eigenen Ziel folgte und nicht von den spontanen Eingebungen des Kindes geleitet wurde, eine Besonderheit.

Tatsächlich hatten Thea und Ella das Undenkbare möglich gemacht, weil sie Hedis Sehnsucht nach Abwechslung und nach wirklichen Herausforderungen spürten. Tatsächlich hatte Hannes ihr erlaubt, hin und wieder als Vorführdame im Lichtenstein tätig zu werden. Nicht, dass er es irgendwann konkret verboten hatte, aber mit Lous Geburt war zumindest ihr Leben von heute auf morgen ein anderes geworden. So war das eben.

Hedi erblickte das Lichtenstein und blieb stehen. Die Fassade oder vielmehr die gesamte äußere Erscheinung des Hauses glich einem Willkommensruf. Durch den Ankauf eines Nachbargrundstückes zog sich das Gebäude nun von der Kreuzung an der Leipziger Straße weit in die Jerusalemer Straße hinein. Nicht nur Hannes’ und ihr Leben hatte sich verändert, auch das Kaufhaus war gewachsen, mit der Zeit gegangen. Der Name, der früher golden auf schwarzem, gläsernem Grund geglänzt hatte, war nun über den Fensterfronten in riesigen Lettern befestigt, die abends weithin sichtbar aufleuchteten. Die großen Schaufenster waren geschmackvoll dekoriert: Jedes eröffnete mit der Präsentation einer bestimmten Warengattung – Kleidung, Spielzeug, Kurzwaren und Stoffe, Küchenutensilien – eine andere Welt.

Als Hedi die Einfahrt in den Hof erreichte und den vertrauten Gewölbebogen entlanglief, der sich wie ein Baldachin spannte, war es erstaunlich ruhig. Die morgendlichen Anlieferungen waren offensichtlich bereits erledigt. Eine Gelegenheit zum Luftholen, bevor die ersten Auslieferungen des Nachmittags begannen.

Der Personaleingang des Lichtensteins war unbesetzt. Aber Lagermeister Kiesewetter hatte wie immer alles im Blick. Auch jetzt schaute er in den Hof, als er die Absätze ihrer Schuhe auf dem Kopfsteinpflaster klappern hörte. Seine Augen weiteten sich vor Freude, und bevor er sie lauthals begrüßen konnte, presste Hedi den Finger an die Lippen. Er verstand sofort und flüsterte: »Was führt dich zu uns? Welch Glanz in unserer Hütte … Dein letzter Besuch ist viel zu lange her. Wo ist die kleine Madame?«

Zu gern hätte Hedi ihn umarmt in ihrem Überschwang. Weil er aussah, als wäre die Zeit stehen geblieben. Seine Uniform spannte über dem Bauch, und wie immer waren mehrere Knöpfe kurz davor, sich von ihren Fäden zu lösen. »Madame habe ich bei meiner Mutter gelassen. Ich komme nachher bei dir vorbei, jetzt gehe ich erst einmal Thea überraschen.« Sie winkte, getrieben von ihrer Vorfreude.

Auch der Geruch des Hauses schien unverändert. Der frisch gewienerte Holzboden hatte seinen eigenen Duft, der sich mit den kernseifenähnlichen Ausdünstungen der Politur verband, die das überall blinkende Messing zum Glänzen brachte. Hinzu kamen die Kartonagen, die eine eigene Note verströmten, vermischt mit der Süße des Parfüms, das im Erdgeschoss erhältlich war. Abgerundet wurde all dies – wie sollte es anders sein – durch die Welt der Stoffe. Wolle roch kräftiger als Baumwolle, gefärbter Stoff anders als frisch gemangelter Leinen. Und Seide – sie konnte regelrecht stinken. Eine Vielfalt, zu der sich eine Prise Staub aus dem Lager gesellte, die verriet, dass im Lichtenstein auch hart gearbeitet wurde.

Wenige Minuten später drückte Hedi langsam die Klinke der Tür zur Schneiderkontrolle hinunter. Wie sie es erwartet hatte, stand Thea an einem Zuschneidetisch, auf dem sie die Stoffe und Zutatenpakete prüfte, die über die Zwischenmeister zu den Näherinnen nach Hause gebracht wurden. Sie musterte einen hauchzarten Crêpe de Chine, um dann in einer Liste einen Haken zu setzen. Ihr fest geflochtener Zopf, im Nacken zum Knoten gerollt, der konzentrierte Gesichtsausdruck, die aufrechte Haltung und die kraftvollen Bewegungen, mit denen sie nun den Stoff maß, waren schön wie die Bilder alter Meister.

Thea musste den Blick gespürt haben, denn sie hob den Kopf und zuckte erschrocken zusammen. »Du bist aber früh dran, mit dir habe ich noch nicht gerechnet. Ich dachte, du kommst gegen Mittag.« Sofort eilte Thea ihr entgegen. »Ich freue mich so«, rief sie und umarmte Hedi.

»Ich bin früher gekommen, um noch ein wenig Zeit mit dir zu haben. Vielleicht kannst du mir dies und das erklären, mir zeigen, was das Lichtenstein momentan so ausmacht. Das eine sind Hannes’ Erzählungen, das andere …« Sie blinzelte verschwörerisch, während sie Mantel, Schal und Hut ablegte. »Und dann möchte ich wissen, wie es dir und der Familie geht. Ist Carl weiterhin so ein charmanter Bengel? Was macht Georg? Ist Agnes wohlauf, und wohnen Gerd und Lenchen noch bei euch?«

»Ob sich Männer diese Fragen auch stellen, wenn sie sich auf der Arbeit wiederbegegnen?«

»Nein, niemals!«

Sie lachten beide.

»Du hast mir gefehlt. Das Lichtenstein ist ohne dich nur ein halbes Kaufhaus.«

Hedi wurde es warm ums Herz. »Wie ist denn die Stimmung?«, fragte sie, weil sie nicht wusste, was sie erwidern sollte.

»Das kannst du gleich selbst erleben. Wir müssen unbedingt eine Runde zur Begrüßung durchs Haus drehen, das wird eine Freude.«

»Ich war doch immer wieder mal hier. Es ist ja nicht so, als hätten wir uns nie gesehen.«

»Aber gefühlt ist es eine Ewigkeit her. Die Müllersche, Greta, Frau Kaiser und Trude – die werden überschäumen, das sage ich dir!«

»Frau Kaiser freut sich, wenn ich da bin?«

»Das kannst du glauben. Es fällt ihr durchaus schwer, das zu zeigen, aber ich weiß es.«

»Gut, bevor ich mich diesem Abenteuer stelle, lass mich noch einen Moment ankommen.« Hedi setzte sich an den Tisch und sah auf herumliegende Listen, Skizzen und Schnittbögen. »Das sind die neuesten Entwürfe?« Sie zeigte auf das Stillleben.

»Ja, so ist es.« Thea drehte eine der Skizzen um. »Auf der Rückseite sind die Angaben, was die Zutatenabteilung pro Schnitt oder vielmehr Auftrag zusammenpacken muss. Das ist auf den Knopf genau festgelegt. Und ich schaue, bevor das Paket übergeben wird, abschließend drüber. Die aktuellen Modeschöpfungen verkaufen sich sehr gut.« Sie tippte auf die Skizze eines Kleides. »Das ist allerdings neu, es wurde bisher nur probehalber als Leinenmodell genäht. Es würde dir gut stehen.«

Hedi ließ den Blick schweifen: Die Wand vor ihr war mit Zeichnungen regelrecht tapeziert. Sie erkannte einige Entwürfe von Hannes, die er zu Hause gefertigt hatte. »Meine Güte, habe ich das alles vermisst«, flüsterte sie. Thea hatte einen Ehemann, den Sohn, die beiden Geschwister und ihre Mutter Agnes – ein Haus voller Leben. Trotzdem war sie hier.

Tag für Tag.

Woche für Woche.

Von Montag bis Samstag.

Und Hedi wusste genau, weshalb.

Ella

Die Liebermann-Villa wirkte schlicht, selbst heute im Regen. Kein Stuck, keine Statuen, nichts. All diesen Schnickschnack, den Ella bei einem Mann erwartet hätte, der ein renommierter Maler und zudem Präsident der Preußischen Akademie der Künste war, bot sie nicht. Dafür erinnerte die Villa an Griechenland: links und rechts der Tür eine Säule, die sich in die Höhe reckte, hinauf bis zum Gesims. Kombiniert wurde diese architektonische Spielerei mit hellgrünen Läden neben den Fenstern, die wie ein Gruß aus Italien wirkten. Die Kronen der Birken, die im Garten den Weg gen Westen säumten und auch von der Straße auszumachen waren, weckten die Sehnsucht nach Schweden. Aber die Luft, dieser Geruch aus Wannsee und Wald, das war Berlin.

Ella schaute auf Max Liebermann, der ihr auf dem Weg zum Haus bereits zur Begrüßung entgegengekommen war und nun mit schlurfenden Schritten voranging. Hatte er kein Dienstmädchen, das ihm den Einlass von Gästen abnahm? Es war erstaunlich: Selbst sein Gang wirkte unwirsch. Wie machte er das? Unwillkürlich wölbte Ella die Schultern wie Liebermann und schob den Hals vor. Dann erschrak sie und sah sich eiligst um. Wenn irgendwer sie beobachtete, im schlimmsten Falle Martha Liebermann, die holde Präsidentengattin, was sollte sie denken? Haltungsstudien galt es, zu Hause vor dem Spiegel auszuwerten. Doch vielleicht ließ sich dieser Gang im Spiel übernehmen?

»Nehmen Sie Platz!«, sagte Liebermann, als sie das Atelier betraten.

Der Blick auf den See nahm Ellas Aufmerksamkeit wie beim ersten Besuch in Anspruch. Er offenbarte die Schönheit des Hauses, die nicht in der Fassade oder dem Grundriss, sondern vielmehr in der Aussicht lag: ein liebevoll gestalteter Garten, dessen Blütenpracht im Sommer vermutlich den Blick zum Wasser lenkte. Wie schön musste es dann sein: sonnenblauer Himmel, grüngraues Wasser in leichten Wellen, auf denen unterschiedlichste Boote tanzten, mal ohne, mal mit leuchtend weißen Segeln.

»Sind Sie gut hergekommen?«

»Ja, danke!«

»Es ist hübsch hier draußen. Aber es ist das Ende der Welt, erst recht im Winter.« Liebermann seufzte. Inzwischen stand er vor einem Tisch voller Pinsel, Stifte und Farbtiegel, sortierte sie gedankenverloren, ganz so, als wäre er allein.

Vielleicht hätte ich mich doch nicht für ihn entscheiden sollen?, überlegte Ella. Bei dem Geld, das er forderte, hätte sie laut Gustavs Aussagen drei junge Nachwuchstalente beauftragen können. Und er, der Galerist Berlins schlechthin, musste es wissen. Galten Liebermanns Werke nicht inzwischen als unmodern? Freundlich ausgedrückt, als Klassiker? Sie schaute, während sie sich am markierten Platz positionierte, zur Leinwand hinüber, die jedoch abgewandt zum Fenster stand. Von hier aus konnte sie die weiße Gartenbank sehen, die der Maler mehrfach auf seinen Bildern verewigt hatte.

In Liebermanns Stirnglatze spiegelte sich das Licht, als er hinter die Leinwand trat und seine Arbeit noch einmal musterte. Er wirkte dabei eher wie ein Arzt, der einen Patienten in Augenschein nahm.

»Wie viele Sitzungen werden wir noch brauchen?«

»Das wird sich zeigen. Wenn es fertig ist, ist es fertig.«

»Dürfte ich mich wieder setzen?«

»Ach, das Dienstmädchen war im Atelier, dabei habe ich ihr so oft gesagt, sie soll nichts anfassen.« Er wies auf den abseits stehenden Stuhl.

Als Ella ihn zu ihrem Platz trug, passierte sie die Werkbank, auf der zahlreiche Skizzen und mit gedrängter Schrift beschriebene Blätter lagen. »Das sieht … anregend aus! Entschuldigen Sie bitte, ich wollte nicht neugierig sein, aber es ist ein Stillleben mit ganz eigener Wirkung …«

»Alles gut. Das Land hat mich geehrt. Zum Geburtstag im letzten Sommer. Es war mein Achtzigster. Und nun haben wir schon wieder Februar, wie schnell die Zeit vergeht.«

Ella schluckte. Sie hatte nicht gewusst, wie alt Liebermann war. Sofort überkam sie ein Unwohlsein, ihm mit ihrer Bitte, sie zu porträtieren, Arbeit zu machen. »Das ist nicht Ihr Ernst, ich hätte Sie vielleicht für …«, sie zögerte, um eine Zahl zu wählen, die nicht despektierlich war, »für Anfang sechzig gehalten.« Sie wartete kurz auf seine Reaktion, aber der Blick des Malers wirkte nun entrückt.

»Jedenfalls hat man sich daran erinnert«, sagte er nach einer Weile, »dass es da den schrulligen Maler am Wannsee gibt. Der ja tatsächlich noch lebt. Und dann organisierte man diese Veranstaltung. Eine große Ehre. Seitdem liegen die Sachen dort herum.«

Fieberhaft überlegte Ella, ob sie etwas erwidern musste. Der alte Herr kokettierte eindeutig, tat seinen Bekanntheitsgrad ab.

»Das war die Vorbereitung«, fuhr er fort. »Das Mädchen räumt sie von links nach rechts beim Staubwischen, und ich kann mich nicht entschließen, sie wieder zu verstauen. Wissen Sie, in meinem Alter, da haben Erinnerungen einen anderen Wert.«

»Eine Würdigung Ihres Lebenswerkes, das freut mich für Sie!«

Ein abfälliges Schnauben war die Antwort. »Es fühlte sich ein wenig so an, als wäre ich bereits tot. Aber mein Gott, ich will mich nicht beklagen, alles, was Rang und Namen hat, war zugegen. Auch Ihr Gatte.« Er nahm die Mischpalette, auf der sich verschiedene Farbkegel glänzend in die Höhe erhoben, und tauchte den Pinsel in das Weiß. Er musterte Ella und runzelte die Stirn. »Das ist eine andere Bluse.«

Irritiert sah Ella an sich herab. Sie hatte beim letzten Treffen diese Bluse getragen. Oder etwa nicht? Wer konnte die weißen Dinger schon auseinanderhalten?

Liebermanns Blick sprang zwischen ihr und der Leinwand hin und her. »Diese hier hat einen anderen Kragen, das ist unverkennbar.«

Ella spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg. »Das tut mir leid, ich hatte gestern Abend …«

»Gnädigste, es ist mir egal, was gestern Abend war. Es zählt das Heute. Und heute sind Sie hier. Sich ordentlich vorzubereiten, ist eine Frage des Respekts.«

Ella schloss die Augen. Hoffentlich schickte er sie nicht nach Hause. Dann wäre sie umsonst hierhergekommen. Sie liebte ihr Auto, aber das regnerische Wetter machte die Fahrerei für sie zur Hölle. An den Rückweg wollte sie gar nicht erst denken. Als sie das leise Wischen des Pinsels auf der Leinwand hörte, atmete sie erleichtert aus. Er malte! Trotz des verkehrten Kragens.

»Was hatten Sie denn gestern?« Liebermann klang nun versöhnlicher.

Ella öffnete die Augen. »Ich habe ein Theaterstück abgespielt.«

»Nach einer letzten Vorstellung wird, hoffe ich, ordentlich gefeiert?«

»Ja, wir saßen noch zusammen, und es wurde spät.«

»Haben Sie mir nicht letzthin erzählt, Sie würden gerade zwei Theaterstücke parallel spielen?«

Ella lächelte erfreut. »Ja, das habe ich. In dem einen Theater ist eigens die Uhrzeit der Aufführung vorgezogen und im anderen für eine Stunde nach hinten geschoben worden. So kann ich in beiden Häusern an einem Abend auftreten.«

»Ist das nicht anstrengend?«

»Nein, das kann ich nicht sagen.« Sie liebte den Applaus, wenn sie ehrlich war. Sich gleich zweimal an einem Abend am Bühnenrand zu verneigen, war für sie Glückseligkeit pur. Die doppelten Auftritte erschienen ihr stets wie eine nicht endende Welle der Aufmerksamkeit, von der sie sich gern hinwegtragen ließ. Die Zeitungen hatten darüber berichtet, tatsächlich folgten manche Zuschauer ihr nun binnen eines Abends von einer in die andere Vorstellung. »Daran werde ich mich gern erinnern.« Sie zeigte auf den Tisch mit den Skizzen. »Allerdings wird niemand mein Leben mit einer Ausstellung ehren. Wir Schauspieler hinterlassen nichts Greifbares. Ich könnte meine Figurensammlung ausstellen. Das war’s.«

»Eine Figurensammlung?«

»Ja, vor zwei Jahren habe ich die Königliche Porzellanmanufaktur in Meißen besucht. Da war es um mich geschehen.«

Liebermann schüttelte den Kopf und schwieg.

Ella schluckte. War es albern, ihre Vorliebe für sinnlose Ziergegenstände zu erwähnen?

»Sie haben auch schon Kinofilme gemacht, oder?«

Er wechselte das Thema. Sehr gut, dachte Ella erleichtert. Liebermann war heute interessiert und gesprächig wie in keinem der drei Treffen zuvor. Nun sah er zu ihr herüber, und sie nickte.

»Das ist doch was Greifbares. Und es ist interessant, sehr interessant. Seit dieser Ehrung im letzten Sommer denke ich, ein paar Vorschläge gebrauchen zu können, wie so ein alter Knochen wie ich einen ordentlichen Eindruck machen kann. Vor den Kameras. Das wollte mir nicht gut gelingen. Ob Foto oder Film – damit wird die Realität so unerbittlich eingefangen. Pinsel sind gnädiger. Also, wenn der Maler das will.« Er lächelte.

»Das haben Sie doch gar nicht nötig, was soll man Ihnen noch mit auf den Weg geben, Sie sind …«

»Nun kommen Sie mir nicht mit Höflichkeitsgesten. Da werden Sie sicher einige Hilfestellungen kennen.«

»Ich soll Ihnen Hilfestellungen geben?« Ella konnte nicht umhin, das Wort in die Länge zu ziehen, um ihre Verwunderung zu betonen.

»Warum denn nicht?«

»Ja, also, wir können das versuchen. Gern. Haben Sie denn einen konkreten Auftritt in Aussicht, auf den Sie sich vorbereiten möchten?«

Er wiegte den Kopf. »Nein, ich möchte allgemein denken. Oder vielmehr üben. Muss ich dafür turnen und Laute gurgeln?«

Ella lachte auf. »Vielleicht. Aber ich würde zunächst an den Bewegungen arbeiten und mir die Sprachgestaltung genauer anschauen. Doch dafür muss ich erst einmal wissen, wie Sie agieren, wenn Sie eine Rede halten oder glauben, eine Kamera wäre auf Sie gerichtet. Meist ist eine fehlende Präsenz auf eine Unterspannung zurückzuführen.«

»Unterspannung?«

»Eine fehlende Körperspannung. Manchmal liegt es auch daran, dass man unaufmerksam ist, vielleicht ein wenig nervös – es gibt viele Gründe, und diese werden schnell sichtbar.«

»Da denke ich, mich bei Ihnen in bester Gesellschaft zu befinden, und in Wahrheit werde ich fachkundig beobachtet. Ich denke, ich bin es, der Sie betrachtet, und was geschieht? Sie erwidern meinen Blick und sezieren vermutlich meine Bewegungen, die seltsamen Grimassen, den zerrauften Bart …« Er wedelte drohend mit dem Pinsel in der Luft herum, wirkte aber sichtlich amüsiert. »Nun gut, dann lassen Sie sich mal was einfallen.«

Ob er sie als Künstlerin begriff? Sah er, wie nah die Schauspielerei der Psychologie stand? Wie sehr die aufmerksame Betrachtung gesellschaftlicher Zusammenhänge und die genaue Beobachtung einer Persönlichkeit es erlaubten, sich selbst deutlicher wahrzunehmen und sich zu verändern? Oder war er einer dieser Vertreter, die annahmen, eine Frau auf der Bühne wäre ein Aphrodisiakum fürs lüstern männliche Publikum? Eine Art Gemälde, vielmehr noch die weiße Leinwand, auf der Männer gern ihre erotischen Fantasien hinterließen? Ella erschien ihr Schweigen inzwischen unnatürlich lang, fast unhöflich. »Welche Bilder von Ihnen wurden denn im letzten Sommer ausgestellt?«, fragte sie hastig.

»Über hundert Werke, das kann ich gar nicht so genau aufzählen.«

Liebermann ließ den Pinsel konzentriert über die Leinwand fahren, setzte hier und da kleine Tupfer. Er wirkte lebhaft, um Jahre verjüngt. Zumindest jetzt gab es nicht den Hauch einer Unterspannung. Diese Haltung, die musste sie in ihm erzeugen.

»Es gab in den letzten Jahren immer wieder Kritiker – das muss ich ehrlich sagen –, die mir vorwerfen, ich wäre aus einer anderen Zeit. Ich würde nichts mehr von dem mitbekommen, was die Gegenwart ausmacht. Also habe ich am Abend der Ehrung vom Fluch unserer Zeit gesprochen, von der Sucht nach Neuem. Immer muss etwas Neues her, das Bewährte wird stets ausgetauscht.« Erwartungsvoll sah er sie über den Rand der Leinwand hinweg an.

»Ja, es scheint so zu sein.« Ella fühlte sich ertappt. Gehörte sie doch eindeutig zu denen, die beständig neue Reize brauchten. Und nichts mehr fürchtete, als dass ihr Publikum ähnlich gestrickt sein könnte. Wie sehr graute ihr vor dem Tag, an dem andere Schauspielerinnen ihr den Rang ablaufen würden. Talentiertere, Jüngere, Schönere. Frauen auf der Bühne wurden, wenn sie alt waren, ersetzt. Männer hingegen nicht. Sie durften ihr Können unabhängig vom Aussehen und Alter präsentieren. Für sie als Frau würde das Rollenangebot mit jedem Jahr dünner werden, und mit Ende vierzig – wenn sie die Mutterrollen hinter sich hatte – gab es fast nichts mehr zu tun. Dann galt es zu warten, bis sie vergreist genug war, die Großmutter zu mimen.

Ob sich dann noch irgendwer an sie erinnerte?

Ella reckte den Hals.

War dieses just entstehende Gemälde der Versuch, die letzten Reste Jugend festzuhalten?

Nun lehnte Liebermann sich zurück und schaute zur Decke empor. »Der wahre Künstler strebt nach nichts anderem, als zu werden, der er ist.«

»Dem ist nichts hinzuzufügen.«

»Stand im Ausstellungskatalog. Genug der Eitelkeiten. Drücken Sie noch mal das Kreuz durch, blicken Sie bitte wieder zum Fenster. Jetzt wollen wir mal weiterkommen, schließlich haben wir heute noch einiges zu tun. Wir fangen doch nachher gleich noch an, oder?«

Hedi

Wie bitte? Frau Kaiser führt keine Kleider mehr vor?« Hedi blickte in den Spiegel und befestigte die Haare mit Klammern fester am Hinterkopf.

Thea schüttelte den Kopf. »Nein, sie denkt, sie ist zu alt und dürr. Deshalb meint sie, das wäre eine Vorspiegelung falscher Tatsachen. In dieser Größe müssten die Backfische ran. Die Jungen und Kräftigen.«

»Schade, ich bin sicher, sie sieht immer noch bezaubernd aus. Sie ist so weiblich, fast mütterlich …«

»Bis sie den Mund aufmacht«, ergänzte Thea.

Hedi kicherte. »Ja, diese dunkle, kehlige Stimme und ihre spröde Art, das hat durchaus was von einem preußischen Offizier. Wer ersetzt sie denn?«

»Alice, Trudes Tochter. Sie ist Lehrling in der Konfektion, süße fünfzehn Jahre und genauso hübsch wie die Mutter.«

»Läuft Trude noch als Mannequin mit?«

»Ja, allerdings trägt sie jetzt die Größen für reifere Frauen, sie ist jetzt vierzig Jahre und – sagen wir – weicher geworden.«

»Ja, das habe ich letzthin bei der Begrüßungsrunde gesehen, ihr steht es gut.«

»Verliere bloß kein Wort über Trudes Kleidergröße, wenn die beiden gleich kommen.«

»Niemals! Und sind wir das nicht alle – weicher geworden?«

»Du hast dich in den letzten Jahren um eine Kleidergröße verändert.«

»Na, ich bin jetzt auch zweiunddreißig Jahre alt. Bald steckst du mich auch in die Kleider für reifere Damen.«

»Hör auf zu jammern.«

»Trude hat diesen Teint, dieses Porzellanhafte. Und ich«, Hedi beugte sich ihrem Spiegelbild entgegen, »ich habe immerhin Augenringe.«

Thea schmunzelte. »Jedenfalls kommt heute die Kunze, unsere gnädigste Frau Geheimrat. Sie beehrt weiterhin das Lichtenstein, kauft ihre Kleidung, moniert jedes Mal irgendetwas, schwört, zur Konkurrenz zu wechseln und nie wieder in diesem Saftladen zu erscheinen.«

Hedi schlüpfte in ein Kleid und begann, die Knöpfe zu schließen.

»Immer noch ist sie der Meinung, Konfektionskleidung wird ihrer Figur nicht gerecht«, fuhr Thea fort, während sie die Seitennähte von Hedis Kleid abtastete. »Aber sie probiert inzwischen ungern selbst an, und wenn, dann darf der Konfektionär nicht mehr in der Nähe sein. Das machen wir nun zu dritt – die Kunze, Cilly und ich. Wenn sie neue Kleider braucht, muss alles am Mannequin gesichtet werden. Du darfst nicht lachen, wenn sie Manequeen sagt, sie hält viel auf ihren vermeintlich französischen Akzent. Denn es gilt weiterhin: Mit ihr dürfen wir es uns in keinem Fall verscherzen.«

Hedi betrachtete sich im Spiegel. Das Kleid hatte Hannes entworfen, es war schlicht und edel.

Thea seufzte. »Es ist alles geprüft, mehrfach. Die Nähte sind komplett geschlossen und gerade geführt, die Knöpfe fest vernäht. Die Knopflöcher sind ordentlich gesäumt, der Kragen ist gleichmäßig geschnitten.«

»Warum machst du das überhaupt? Das ist doch nicht deine Aufgabe. Oder ist das eine Erweiterung der Schneiderkontrolle? So eine Art Salonkontrolle?«

»Dein Mann bittet darum. Deshalb.«

»Ach ja? Du hast genug zu tun, weiß er das nicht? Kann das nicht jemand anderes übernehmen?«

»Er hat auch genug zu tun. Aber all das gilt nicht mehr, wenn die Kunze kommt. So«, Thea umrundete Hedi erneut, »nun geht es los. Du siehst wirklich müde aus.«

»Die Kleine macht Kummer. Momentan sind ihre Nächte wieder unruhig – aber lassen wir das, sonst benutze ich unflätige Worte.«

»Das kenne ich, glaube es mir. Mit Gerd haben wir inzwischen ein neues Problem – wir müssen uns den einen oder anderen Abend um die Ohren schlagen, bis der Herr zu Hause erscheint.«

»Er ist nun wirklich alt genug. Da musst du doch nicht warten …«

»Ja, aber er liebäugelt momentan mit den Kommunisten oder sonst so einem Pack, das sich ständig in den Straßen prügelt.« Sie hörten, wie die Tür aufging. Thea wischte einen letzten imaginären Fussel vom Kleid und begab sich in den Salon.

Hedi blieb in der Umkleide und lauschte. Sie erkannte Hannes, dann den Singsang der Kunze, dazwischen erklang hell und warm Theas Stimme. Ergänzt von einem Kichern, anscheinend war auch Cilly dabei. Es war gut, wenn eine helfende Hand zur Verfügung stand, falls noch Accessoires im Haus besorgt werden mussten oder Hilfsarbeiten anfielen.

Thea erschien wieder im Umkleidebereich. »Und raus mit dir! Frau Geheimrat wirkt heute friedlich.«

Hedi zog den Bauch ein, setzte ein Lächeln auf und lief los.

»Herr Hallberg, der Beitrag neulich in der Volks-Zeitung – der war gut, sehr gelungen, ich habe mir gleich einen Termin beim Friseur geben lassen«, sagte die Kunze, während Hedi durch den Salon schritt. Frau Geheimrat wühlte in ihrer Tasche und drückte Hannes einen Zeitungsausschnitt in die Hand. »Hier, das ist er. Falls Sie den noch gebrauchen können.«

Hedi blieb mitten im Salon stehen. Die Hände in die Seite gestützt, versuchte sie, so elegant wie möglich zu warten. Verzweifelt unterdrückte sie ein Gähnen.

Derweil bekam Hannes weitere Papiere überreicht. »Und hier, da habe ich eigene Ideen für Sommerkleider skizziert. Sie können ja mal draufschauen, ob das machbar wäre.« Nun riss die Kunze den Kopf herum und schaute zu Hedi. »Oh, wen haben wir denn da? Das ist ja ein ganz anderes Manequeen.« Sie runzelte die Stirn. »Das Kleid ist ganz ordentlich, aber was ist denn mit dem Fräulein los?«

Hedi musste sich beherrschen, sich ihre Irritation nicht anmerken zu lassen. Was meinte diese Frau?

»Wenn das Fräulein ein derartiges Gesicht zieht – ich weiß nicht –, das inspiriert mich nicht. Hatten Sie nicht letzthin noch ein anderes Manequeen?«

Hedis Kinnlade sackte herab. Sie holte Luft, um erstmals in einer Vorführung aus ihrer Rolle zu fallen.

Doch bevor sie ein Wort von sich geben konnte, ging Hannes dazwischen. »Warten Sie ab«, sagte er und lächelte gewinnend, »lassen Sie uns einen Moment auf das Kleid schauen, dann erklärt sich vieles von selbst. Dieses Modell ist für eine Frau entworfen, verstehen Sie? Eine richtige Frau! Nicht für einen Backfisch. Das Mannequin vom letzten Mal – ja, sie ist zauberhaft, aber nicht in diesem Kleid. Bei diesem Schnitt hier geht es um die Silhouette, um Kurven, eben das, was Frauen ausmacht und sie von Mädchen unterscheidet.«

Frau Geheimrat sah Hannes schmachtend an, ihre Augen schienen mit einem Mal kullerrund zu sein.

Auch Hedi musterte Hannes nun genauer. Der nachtblaue Ton seines Anzugs unterstrich das dunkle Braun seiner Haare. Er hatte heute den silbernen Gehstock bei sich, den er gern nutzte, seit er die hölzerne Stelze gegen das künstliche Bein ausgetauscht hatte. Mit dem Gehstock erweckte er den Eindruck, er würde promenieren.